„Allein schon der Springbrunnen ist größer als unsere Wohnung, oder Foli?“, schätzte das Mädchen ein, als sie von ihrer Stadtkarte nach oben sah. Sie ließ ihren unsicheren Blick nach rechts und links schweifen und ihr zappelndes Pflanzenpokémon aus ihren Armen springen. Arkani neben ihr wedelte wild mit seinem Schweif, als es Anstahlten machte, über den Zaun springen zu wollen.
„Nein, Arkani!“
Enttäuscht sah die Feuerhündin sie an und neigte den Kopf zur Seite, ihre Trainerin kam herüber und kraulte das Pokémon kurz hinter den Ohren. Es war ein heißer Tag heute, selbst für ihre alte Heimat Johto, auf den Straßen waren kaum Menschen zu sehen. Vielleicht lag das auch daran, dass sich die Leute in ihren riesigen Villen aufhielten, die sie die ganze Straße runter schon hatte betrachten dürfen, überlegte das Mädchen.
„Wir wohnen zwar jetzt hier, aber ich will nicht, das gleich die Polizei kommt und uns einbuchtet, weil sie denkt, wir brechen hier ein. Lass uns warten, bis unsere Nachbarn uns kennen, okay Große?“, erklärte sie ihrem Pokémon und suchte ein Klingelschild, um festzustellen, ob sie denn wirklich richtig war an diesem Haus. Arceus, auch wenn er gesagt hatte, er würde sie aufnehmen wirklich glücklich hatte er mit der Entscheidung nicht ausgesehen, als sie sich über Rayke (Skype) kennen gelernt hatten. Gut vielleicht hatte das auch an ihr gelegen, aber zwei Wochen nach dem Tod der Mutter konnte er auch nichts Anderes erwarten. Endlich fand sie das Schild und den Knopf, die ihr Gewissheit gaben über ihren Aufenthaltsort. Sie drückte vorsichtig auf die Klingel, aus Angst, den Messingknopf irgendwie kaputt zu machen und rief ihr Folipurba zu sich, das durch den Zaun ein wenig ihr neues Zuhause erkundet hatte. Vor Schreck fuhr sie ein wenig zusammen, als die Klingelplatte sich drehte und plötzlich einen kleinen Monitor freigaben. Der Bildschirm zeigte einen Mann mit blauen Haaren und starrem Blick, der sie ein wenig unsicher werden ließ. Das war nicht ihr Vater, zu faltig und eingefallen sein Gesicht und sein Blick war auch etwas...lebendiger gewesen, oder? Trotzdem entschied sie, sich freundlich vorzustellen, immerhin sah er aus, als würde er hier wohnen, vielleicht der Freund ihres Vaters? Es konnte jedenfalls nicht schaden, höflich zu sein.
„Guten Tag. Ich bin Miharu Seira und suche Saturn...“
„Tanaka?“, erwiderte ihr gegenüber, bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. Er sprach genau so unfreundlich, wie er wirkte und das macht sie jetzt doch nervös, sie nickte nur schnell, bevor sie ihre Worte wiederfand.
„Ja, genau, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ist er zufällig da? Ich bin seine...“ Wieder kam sie nicht zum Ende ihres Satzes
„Tochter, ich weiß. Nein, er ist nicht da, aber er hat mich gebeten Sie hereinzulassen“, erklärte er. Nun wirkte er eher nervös, aber so schnell fiel das Miharu nicht auf. Enttäuscht ließ sie den Kopf sinken. Warum war ihr Vater nicht zuhause? Er hatte den Termin scheinbar nicht vergessen, sonst hätte er seinen... Freund? Nicht über ihre Ankunft informiert. Wollte er sie nicht kennen lernen? Ein wenig zitterte sie bei diesem Gedanken vor Trauer, Wut. Warum hatte er das dann nicht gleich gesagt? Sie wäre auch ohne ihn klargekommen, aber nun hatte sie sich schon ein wenig an ihn geklammert, gehofft, ein neues Heim haben zu können. Oder war ihm etwas passiert? Erst nachdem sie angsterfüllt aufgesehen und sich dann ein wenig beruhigt hatte, erkannte sie die Nervosität ihres Gesprächspartners, der sie fragte, ob alles in Ordnung wäre. Ohne etwas weiter überlegen zu können, platze die Frage aus ihr heraus.
„Ist etwas mit ihm passiert?“, brach sie hervor, dass ihr gegenüber nun noch nervöser aussah, half nicht gerade zu ihrer Beruhigung. Ihr Herz pochte schmerzhaft, obwohl sie ihren Erzeuger noch nicht mal kannte, aber sie hatte sich eben dumme, glückliche Hoffnungen gemacht.
„Nein, er befindet sich in einem guten gesundheitlichen Zustand, aber es... ist schwierig.“
„Er kann...“ Stille.
„Er hat...“ Wieder Stille.
Miharu musste genau zuhören und das Zwitschern der Staralilis ignorieren, um die Stimme des Mannes zu erkennen, der scheinbar unterdrückt fluchte.
„Bin noch schlimmer im Zwischenmenschlichen Bereich als er... warum hab ich ja gesagt...Wie erklär ich ihr dass...“ Irgendwann schien er sich gefangen zu haben und betätigte den Toröffner, um das Mädchen hereinzulassen, dass nun noch verwirrter war als vorher mit dem Versprechen, ihr gleich mehr zu erklären. Sie nickte und schnappte sich ihre große Reisetasche, ihre restlichen Sachen müssten schon hier angekommen sein, jedenfalls hatte ihr Vater ihr das geschrieben. Sie rief ihr Arkani erst mal zurück und ging durch das metallene Tor, das sich mit einem ganz leichten, kurzen Quietschen geöffnet hatte, ihre Laubkatze vorsichtshalber auf den Arm genommen. Während sie den sandigen Weg um den Springbrunnen und zur weiß gemauerten Villa entlang ging, fiel ihr auf, das hier fast nur grüner Rasen zu finden war, hin und wieder unterbrochen durch einige, wahrscheinlich wild gewachsener Bäume, immerhin aber auf gleicher Länge gehalten. Aufwendig gestaltete Blumenbeete und rankelnde, blühende Pflanzen über der ebenfalls weißen Mauer fand sie hier im Gegensatz zu den anderen gut betuchten Häusern hier nicht. Vielleicht legte ihr Vater darauf nicht so einen großen Wert? Genau so wenig wie auf sie? Unsicher senkte sie den Kopf und drückte sich an ihre neugierig umher sehende Katze. Ihm ging es ja scheinbar gut, warum war er dann nicht hier und ließ sie mit seinem Freund alleine, der scheinbar eine geringe Kommunikationskompetenz besaß? Sie merkte nicht, wie langsam sie die Treppen hinaufschritt, erst, als vor ihr bereits die Tür aufging. Sie war Teil eines großen, zweiflügeligen Tores, das man wohl öffnen könnte, wenn ein großer Empfang geplant war und ebenso weiß wie der Rest der Fassade. Vor ihr stand der Mann, den sie eben noch per Bildschirm betrachtet hatte und fuhr sich unruhig durch die struppigen Haare.
„Komm erst mal rein und fühl dich wie Zuahuse“, begann er zu reden und wandte sich zum gehen, sie folgte, stockte aber, als er sich noch einmal umdrehte.
„Also, eh, nicht, dass das dein Zuhause aus Johto wäre, aber es ist dein Zuhause, wenn auch vielleicht nicht vom Gefühl aber zumindest offiziell und dein Vater will auch, dass du hierbleibst, aber nicht eingesperrt natürlich aber...“ Miharu stutze erst, dann begann sie ein wenig zu kichern, auch aus Erleichterung. Scheinbar meinte ihr gegenüber es zwar gut, wusste aber nicht so recht mit der Situation umzugehen und verrannte sich dabei, das zu zeigen in seinen Begriffen.
„Ist schon in Ordnung, ich verstehe, glaube ich, was Sie meinen.Danke für ihre Mühen“, versuchte sie den Mann zu beruhigen, der nun doch ebenfalls ein wenig erleichtert aussah.
„Da..danke.“ Die Antwort kam schnell, anscheinend eher spontan und ehrlich, trotzdem schien er immer noch nicht wirklich zu wissen, was nun folgen würde. Er ging bestimmt in eine Richtung und Miharu entschied sich, ihm durch die lichtdurchflutete Eingangshalle zu folgen, durch die sich ebenfalls die Farbe weiß zog, allerdings abgewechselt mit ein paar dunkelblauen Elementen. Auf Miharu wirkte das Haus irgendwie gleichermaßen freundlich und kalt, vor allem, als sie den breiten Flur links entlang gingen und sich zeigte, dass das weiß sich weiter als Farbe durch die Räume zog.
Sie entdeckte ein paar Bilder an der Wand, wohl irgendwelche Kunstdrucke, keine persönlichen Fotos, die Zuhause die Wände ihrer Wohnung geschmückt hatten, von ihr, ihrer Mutter, ihren Freundinnen und Freunden. Als sie am Ende des Flurs in eine lichtdurchflutete Küche mit Essbereich traten, die ungefähr die Größe ihrer alten Wohnung hatten, hielt Miharu an, den Blick wieder nach unten gesenkt. Ihre Arme klammerten sich um das Junge Pflanzenpokémon. Dieser verdammte Unfall! Warum hatte es ausgerechnet ihre Mutter treffen müssen? Das Gewitter, warum war es so stark gewesen, dass ihre Mutter nichts mehr hatte sehen können und auf der Straße ins Schleudern geraten war? Sie brauchte sie doch! Mit ihren fünfzehn Jahren war sie ja doch kaum in der Lage, auf sich selbst acht zu geben, wem wollte sie etwas vormachen? Yuki hatte noch so viele Pläne gehabt, jetzt, wo sie endlich aus dem Gröbsten raus war, Erkundungen von alten Ruinen, Bücher schreiben, entspannter leben, weil ihr Kind nun auch langsam selbst Geld verdiente. Miharu hatte ihrer Mutter noch so viel geben wollen. Yuki hätte diese Villa verdient, nicht sie. Und einen Partner, der sie vergötterte, dass sie stolz auf ihre Tochter sein konnte, weil diese ihr Ziel erreicht hätte und Champ geworden wäre. Wenigstens kurz hatte sie die Nagashifolge auf den Thron der Top Vier unterbrechen wollen. Und nun? Würde sie hier Cynthia als Champ folgen können? Würde sie hier in der Schule ähnlich gute Noten schreiben? Freunde finden? Und würde sie wieder eine Familie haben?
Erst später bemerkte sie die Tränen auf ihrem Gesicht und dass der noch namenlose Freund ihres Vaters sie panisch anstarrte.
„Ich... das ist die Küche und das Esszimmer, wir nutzen längst nicht alle Zimmer der Villa und meist kochen wir auch nicht, entweder ist der Bringdienst unser Nahrungsmittellieferant oder unsere Haushälterin kocht eine Kleinigkeit“, versuchte sie sich scheinbar in Fakten zu verstecken und wandte den Kopf in jede Richtung, nur nicht in ihre. Sie nickte.
„Zuhause haben wir uns abgewechselt beim Kochen, wenn Sie möchten, kann ich auch hin und wieder was zusammenwerfen“, bot sie an, um im Gespräch Abwechslung zu finden und er schien das dankbar anzunehmen. Nachher würde sie mit ihrer Freundin telefonieren, da würde sie sich besser verstanden fühlen, auch wenn sie ihrem Gegenüber keinen Vorwurf daraus machte.
„Ja, das würde auch ernährungstechnisch einen positiven Effekt auf unsere Gesundheit haben.“
„Mein Name lautet übrigens Zyrus, Zyrus Akagi und ich bin der Lebensgefährte deines Vaters“, fügte er nach einer Welle des Schweigens an und Miharu nickte wieder.
„Meinen Namen kennen Sie ja schon, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, ich hoffe, wir kommen gut miteinander aus“, antwortete sie und Lächelte ein wenig verlegen, wischte sich die Tränen aus den Augen und bemerkte so gerade noch, wie ihre Laubkatze aus ihren Armen sprang und auf die Theke springen wollte. Hastig sprang sie ihr hinterher und fing sie noch rechtzeitig ein.
„Folipurba, du weißt ganz genau, dass du auf den Küchenmöbeln nichts verloren hast!“ Ihr ernster Gesichtsausdruck blieb nicht lange, die großen, braunen Augen, die unschuldig funkelten, vertrieben ihn, sodass Miharu nur noch halbherzig mit den Augen rollte und entschuldigend zu Zyrus blickte. Er sah aus, als ob er gelächelt hatte, oder es zumindest versuchte.
„Pokémon sind bis auf die Küche in jedem Raum des Hauses gern gesehen, die meisten befinden sich allerdings Im Garten oder im sich anschließendem Wald nach hinten heraus. Vielleicht wäre es nur gut, unsere Pokémon mit den deinigen bekannt zu machen, um etwaige Missverständnisse und Kämpfe zu vermeiden. Ich bin... nicht gerade angetan von Gewalt in Form von Kämpfen, aber dein Vater hat mir erzählt, dass du dies auf einer höheren Schule erlernt hast und es deine Persönlichkeit positiv beeinträchtigt, also möchte ich es dir nicht verbieten... Er sagte, du würdest hier auch eine Schule in diesem Themenbereich besuchen wollen?“ Zyrus wirkte weiterhin nervös, auch wenn er jetzt schon etwas mehr erzählte und aus seinem scheinbar großen Wortschatz die passenden Worte nun auswählen konnte. Auch wenn sie ihn vielleicht ein wenig merkwürdig fand, entschied sich Miharu, sich um ihn zu bemühen, immerhin machte er einen netten Eindruck und sie war froh darüber, dass sie hier ihre Pokémon halten und wahrscheinlich auch kämpfen durfte, soweit sie ihn verstanden hatte.
„Ja, das hatte ich vor. Danke, dass ich meine Pokémon hier halten darf. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie machen würde“, entgegnete sie ehrlich und kraulte ihrer Katze den Kopf, während sie Zyrus durch den Gang zurück folgte und erklärt bekam, dass es hier unten Abstellräume, ein kleines Gäste – WC und Gästezimmer gab. Dann waren sie wieder im Flur angekommen. Über die mittig angelegte Marmortreppe gelangten sie auf die Galerie, durch die die oberen Räume erreichbar waren. Wieder wählten sie den linken Flur, der Ähnlichkeiten mit dem unteren Gang hatte, jedoch weniger Türen beinhaltete.
„Das ist gut zu beobachten. Es liegt nicht im Interesse von uns und vor allem deinem Vater, dass du dich hier unwohl fühlst“, beschwichtigte er sie, sorgte dafür, dass sie stehen blieb.
„Wo ist er jetzt?“, machte Miharu ihrer Neugier Luft, strich sich ihre lila gefärbte Strähne zurück in ihr dunkelblaues Haar, merkte wie er inzwischen etwas locker gewordener Begleiter sich wieder etwas versteifte. War das wirklich wahr? Wollte er wirklich, dass sie sich hier zuhause fühlte? Warum war er dann nicht da? War sie wirklich so sehr ein Eindringling für ihn? Dann warum überhaupt diese Show? Wieder ballten sich ihre Fäuste, doch bevor sie noch irgendwie reagieren konnte, erklang Zyrus' Stimme, irgendwie panisch.
„Es ist nicht so, wie du denkst. Es ist nur... schwierig für ihn. Er hatte selbst nicht gerade eine ideale Vaterfigur und hat jetzt Angst, genau so zu sein wie sein Vater, er will dir nicht wehtun!“
Verwirrt blickte Miharu auf. Er selbst hatte nicht viel über sich erzählt, als sie sich am PC kennen gelernt hatten, nur gesagt, dass sie zu ihm kommen könnte, wenn sie das wollte. Sie wusste nur, dass er 38 war, wegen irgendetwas vorbestraft und danach irgendwie reich geworden. Saturn Tanaka. Sonst hatte sie nicht viel über ihn gewusst. Ihre Mutter hatte ein wenig über ihn erzählt, gesagt, dass er wohl eine ironische, sarkastische Ader an sich hatte, viel über die Welt nachdachte und sich für Geschichte und für Technik interessierte. Sie selbst hatte ihn dann durch FireVulpix laufen lassen, herausgefunden, dass er teils Sicherheitssysteme entwickelte und teils mit der Niroota Cooperation gemeinsam nützliche Programme erstellte. Aber persönlich? Er soll nett gewesen sein, ein Charmeur hatte Yuki gesagt, nur irgendwie hatte es nicht sollen sein, er hatte sich schließlich von ihr getrennt und war zurück nach Sinnoh gegangen, bevor sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Und war nicht mehr auffindbar, jedenfalls nicht mit den Mitteln, mit denen Yuki ihn gesucht hatte.
Zyrus hatte es wohl inzwischen aufgegeben, auf sie zu warten und machte unsicher mit der Führung durch das Haus weiter, zeigt ihr das große Wohnzimmer, das direkt über der Küche lag und in dem in einem Körbchen ein Hundemon schlief, sich aber interessiert aufrichtete und zu ihnen herüberging. Langsam setzte Miharu ihr Folipurba ab, das sich vor dem Feuerhund versteckte, hockte sich hin und streckte vorsichtig die Hand aus, sodass Hundemon für sich erkennen konnte, ob sie als gefährlich einzuschätzen war. Dabei sah sie nicht zu Boden, um ihre Gleichrangigkeit zu betonen, jedoch auch nicht direkt in die Augen, was als Herausforderung galt. Das Pokèmon legte interessiert den Kopf schief, schnüffelte ihre Hand und lief sich danach sogar ein wenig streicheln, während es das verängstigte Folipurba betrachtete. Vorsichtig schnüffelte auch dieses an Hundemon und kam ihm Stück für Stück näher, bevor Hundemon es schließlich abschleckte. Erschrocken kletterte die Laubkatze wieder an Miharu hoch, die daraufhin lachte, den Höllenhund noch einmal streichelte und dann wieder aufstand, um Zyrus weiter zu folgen.
„Das hier wäre dein Zimmer“, erklärte Zyrus schließlich an der dritten Tür rechts, die wie alle in einem dunklen grau gehalten waren und öffnete diese. Es war nicht ganz so groß wie die Küche und das Wohnzimmer, hatte jedoch ebenfalls eine Fensterfront. In der Mitte standen die Kartons, in denen sich vermutlich ihr restliches Zeug befand. In der Nähe der Fensterfront stand ein großer, weißer Eckschreibtisch, auf ihm ein Laptop, ein Drucker, eine Lampe, Schreibutensilien. Der große und bequeme Bürostuhl stand mit dem Rücken zu einer Korkwand, an der noch keine Zettel befestigt waren. An der Zimmerseite des Schreibtisches stand ein Regal in seiner Höhe, auf dem ein Flachbildschirm stand, dahinter lag ein kleines Sofa in rot. Der Fußboden war ein dunkles holzbraunes Parkett, das nur an einigen Stellen von roten, kleinen Teppichen unterbrochen wurde. An der linken Wand stand ein weißes, hohes Regal mit einer Glasscheibe. Auf der rechten Seite stand etwa auf der Höhe des Schreibtisches ein raumhohes Regal, das als Raumtrenner diente und hinter dem ein großes Bett zum Vorschein kam, das auf der Fensterseite einen kleinen Nachttisch stehen hatte. Miharu hatte den Mund vor staunen geöffnet und nicht wieder zubekommen, erst recht nicht, nachdem Zyrus ihr gezeigt hatte, dass die zwei Türen auf der rechten Seite in einen begehbaren Kleiderschrank und ein separates Badezimmer mit Wanne führten. Ungläubig berührte sie schließlich die technischen Geräte auf ihrem Schreibtisch, zu dem außerdem ein Poketch gehörte, die Außenseite mit einer eleganten Gravur ihres Namens verziehrt. Als sie von ihrem Schweigen wieder zu sich kam,wandte sich der wieder sichtlich verwirrte Zyrus an sie.
„Auch wenn die Abwesenheit materieller Dinge in seiner Lebensgeschichte nur als gering problematisch von ihm erlebt wurde, wollte Saturn sicher gehen, dass es dir in diesen Bereichen an nichts mangelt“. Vorsichtig nickte Miharu. Auch wenn es auch für sie kein Problem war, nicht immer das allerneueste zu haben oder dafür arbeiten zu müssen, war sie trotzdem beeindruckt, ein wenig baff. War das vielleicht ein Versuch, sie zu erkaufen? Oder vielleicht hatte ihr Vater ja auch Schuldgefühle und versuchte nun, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie war überrascht von dem Gedanken, der ihr danach kam. 'Hätte er sich mal früher so um uns gekümmert!' Er hatte nichts von ihr gewusst und sie hatte ihn damals nicht vermisst, schüttelte Miharu energisch den Kopf. Sicher, es war bestimmt manchmal hart gewesen, vor allem natürlich für ihre Mutter und besonders am Anfang, aber es war gegangen. Sie hatten halt jetzt Zeit, sich gegenseitig kennen zu lernen. Hoffentlich würde das gut gehen..
Sie nickte Zyrus zu, als er sagte, dass er sie erst einmal allein lassen würde, sodass sie ankommen und sich einrichten könnte und dass sie ihn in seinem Büro gegenüber finden könnte, wenn sie etwas brauchte. Bevor sie damit anfing, brauchte Miharu noch eine Weile, sah aus dem großen Fenster hinaus zum Waldeingang, über den sich bald schon die Abendsonne senken würde. Heute war Samstag, übermorgen würde sie schon in die neue Schule gehen, deren Uniform schon in ihrem Schrank hing. Das Zimmer war zwar groß und zweckmäßig eingerichtet, ihr gefielen auch die Farben und vor allem der Ausblick, aber mehr noch als das ganze Haus war es irgendwie leer. So leer wie sie sich seit sechs Wochen fühlte. Folipurba, das gerade den besten Ort für ihr Körbchen in Miharus Bettnähe gesucht hatte, lief zügig auf ihren leisen Pfoten zu ihrer Trainerin, strich um ihre Beine, als die Tränen das gerahmte Foto ihrer Mutter benetzten, das sie auf den Nachttisch stellen wollte. Wie gerne hätte sie sie jetzt gefragt, ob ihr Vater sie wohl wirklich wirklich hier haben wollte, ob sie ihm vertrauen konnte. Sie hatte Angst davor, dass er sie nicht mögen konnte, eher nicht davor, dass er sie schlecht behandelte, wobei, würde sie sich dann überhaupt wehren können? Würde er ihr weiter aus dem Weg gehen? Immer wieder dachte sie daran, während sie ihr Zimmer einräumte, ihre eigenen Geräte neben die neuen stellte. Es wurde langsam ihr persönlicher Raum, mit Dingen, die sie gerne mochte, Bildern von ihren Freundinnen, Pokémon und das gab ihr ein wenig Zuversicht, vielleicht würde sie ja doch glücklich werden.
Während sie gerade die letzten Dinge platzierte, merkte sie, wie Absol, das sie inzwischen auch aus dem Ball gelassen hatte, sich neugierig in Richtung Tür bewegte. Um zu verhindern, dass das mutigere Absol sich mit einem ihrer neuen Mitbewohner anlegte, folgte Miharu ihrem Pokémon auf den Gang.
„Irgendwann musst du mit ihr reden, sie macht einen angenehmen, verständnisvollen Eindruck auf mich.“
„Du bist ja auch nicht der Idiot, der ne schwangere Frau sitzen lassen hat und sich eher unfreiwillig so versteckt hat, das sie keine Unterstützung von ihm bekommen hat. Wahrscheinlich denkt sie jetzt, ich hab mich einfach so aus dem Staub gemacht.“ Miharu schreckte innerlich auf bei dieser Stimme, die aus dem Raum gegenüber kam. Das war die Stimme des Mannes, der sie erzeugt hatte, auch wenn sie wesentlich aufgeregter schien, als vor vier Wochen. Und anscheinend hatte er ihr nicht geglaubt, als sie gesagt hatte, dass er sich deswegen keine Gedanken machen brauchte.
„Den Eindruck machte sie eher nicht. Sie schien eher verunsichert der Tatsache, dass du sie nicht persönlich in Empfang genommen hast. Das trug meiner Meinung nach dazu bei, dass sie sich ungewollt gefühlt hat“, erklärte nun wieder Zyrus' Stimme. Trotz seiner Unsicherheit hatte er sie relativ gut eingeschätzt, was Miharu erstaunte.
„Na ganz toll. Das wollte ich genau nicht. Super. Wie soll ich das denn wieder hinkriegen? Ohne dass sie mich hasst? Wahrscheinlich plant sie gerade, wie sie hier am schnellsten wieder wegkommt. Vielleicht wäre es auch besser so für sie.“ Der letzte Teil des Satzes ging halb in Miharus Tränen unter, nur mühsam konnte sie ihr Schluchzen so lange unterdrücken, bis die Hand vor ihrem Mund lag. Er wollte, dass sie ging. Er wollte sie nicht in seiner Nähe. Ihr Vater mochte sie nicht. Schon in der Drehung begriffen, hielt sie Absol zurück, zog sie wieder näher an den Raum heran. Was sollte das? Hasste sie jetzt auch noch ihr Pokémon und wollte, dass sie sich das länger anhören musste? Sie würde sofort verschwinden, irgendwie würde sie sich schon alleine durchschlagen, wenn nur das Nachtwesen sie endlich loslassen würde, bevor die beiden Erwachsenen sie bemerkten! Als Absol sie plötzlich auf den dunklen Holzboden fallen ließ, waren die beiden Männer schon an der Tür zu ihrem Büro, sie sah noch, wie Saturn zu ihr hastete, in dem Versuch, sie aufzufangen. Sie fiel trotzdem.
Ihr Atem ging immer noch schnell, ihre Sicht war verschwommen von ihren Tränen, als Saturn ihr aufhalf, sie fragte, ob alles in Ordnung wäre. Absol strich schuldbewusst um ihre Beine. Miharus Blick traf auf den ihres Vaters, in ihrem Inneren trafen der Wunsch aufeinander, wegzulaufen vor seiner Aussage und der, hier zu bleiben, wegen seines besorgten Ausdrucks. Zyrus ergriff als erstes das Wort.
„Es scheint, du hast dem Gespräch eine angstauslösende Aussage entnommen“, fragte er halb, ihr Blick schwankte zwischen dem Gesicht ihres Vaters und dem des anderen Mannes. Plötzliches Begreifen ergriff ihren Vater, bedauern erfasste seine Augen und dann spürte sie eine zögerliche Umarmung, die sie nicht erwiderte, aus der sie sich aber auch nicht ziehen mochte, weil es eines der Dinge war, die sie sich gewünscht hatte und die sie brauchte.
„Miharu, ich... ich meinte das nicht so. Ich meine, ich hab's gesagt, aber... das war meine Angst, etwas falsch zu machen. Ich wollte keine Fehler mit dir machen, auch wenn wir uns noch nicht mal richtig kennen und deshalb dachte ich, es wäre besser für dich, wenn du irgendwo unterkommst, wo es Menschen gibt, die Ahnung von Erziehung haben. Ich habe sie nämlich nicht.“ Der Redefluß erdrückte Miharu, ließ sie eher fragend zurück, aber er passte zu der Umarmung, fühlte sich echt an, voller Zuneigung. Erst war sie wütend auf Absol gewesen, aber nun verstand sie, was ihr Pokémon wollte. Vielleicht hätte sie durch weiteres Zuhören das herausbekommen, was ihr Vater ihr jetzt gesagt hatte. Sie bemerkte, wie sich die Umarmung ein Stück weit löste und Saturn ihr wieder direkt in die Augen sah. Sie hatte die Haarfarbe von ihm bekommen, genau so wie ihr schelmisches Grinsen, hatte ihre Mutter immer gesagt und ihre Fähigkeit, Situationen nach außen hin völlig ruhig anzugehen, aber die Augenfarbe hatte sie von ihrer Mutter, genau wie die Sommersprossen, die auf ihrer hellen Haut noch deutlicher zum Vorschein kamen, auch diese teilte sie sich mit ihm.
Irgendwie musste sie jetzt lachen, das Geräusch entwich ihren Lippen, bevor sie es wieder einfangen konnte, nun lächelte auch ihr Vater etwas beruhigt, aber weiterhin nervös.
„Ist schon in Ordnung, denke ich. Mama ist mit mir... immer relativ offen umgegangen und hat vieles auch mit mir besprochen und daher dachte ich irgendwie, du wolltest mich nicht und konntest es mir nur nicht sagen. Entschuldige bitte. Ich.. ich wollte dir keine Probleme machen, sondern, dass wir uns einfach kennen lernen und irgendwie verstehen“, flüsterte Miharu halb, doch Saturn schien es zu hören, lächelte und drückte sie dann noch einmal an sich.
„Ich bin nicht gerade ein Talent darin, auszudrücken, was ich fühle und was ich will, aber ich werd's versuchen, weil du mir wichtig bist und ich dich auch gerne kennen lernen will“, antwortete Saturn. Nun schimmerten auch in seinen Augen Tränen, ihre Umarmung blieb noch eine Weile bestehen. Absol saß brav neben Zyrus, betrachtete die Situation gespannt, eben so Zyrus, auch wenn er sich schließlich zurückzog, um den beiden Zeit zu geben, sich kennen zu lernen. Vorsichtig strich er dem Nachtwesen über den Kopf und verschwand schließlich wieder in seinem Büro.