Part III: Die kleine Raupe
Das wehklagende Geräusch wurde immer lauter, je weiter sie am Fuß des Hanges entlangliefen. Rose, Max und die anderen blickten immer wieder nach links und rechts. Zum einen waren sie sich sicher, dass sie weiterhin von irgendetwas Finsterem beobachtet wurden. Und zum anderen waren sie der Quelle des Klagens deutlich näher gekommen, denn nun war es so deutlich zu vernehmen, als würde es direkt neben ihnen sein.
Doch wie oft sie sich auch umschauten, sie konnten kein Pokémon erkennen, weder ein Wildes noch eines, das so kläglich schluchzte. Doch es war sehr nah und Max glaubte, dass dieser Wald verwunschen sein musste, sodass sie dauerhaft von eisigen Gebilden und Phantomschluchzern heimgesucht wurden. Doch Rose schien nicht aufzugeben. Ihre geweiteten Augen funkelten und sie blickte sich immer wieder so schnell um, dass ihr Gesicht nicht mehr scharf zu erkennen war.
„Schwärmt aus und sucht!“, sagte sie zu den anderen, die nur rumstanden und sich umblickten. „Vielleicht ist es irgendwo im Schnee begraben …“
„Du kannst den Befehlston gleich mal sein lassen, ja?“, knirschte Vane. Rose warf ihm einen warnenden Blick zu: „Ein Wort noch und du kannst was…!“
„Was wäre eigentlich, wenn all das nur eine Falle ist?“, rief Emil ein, ehe Roses Gesicht gänzlich rot vor Wut wurde. Sie blitzte ihn an, doch Emil ruckte mit ernster Miene nach hinten in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
„Ich weiß nicht, wie es dir ergangen ist, doch ich glaube schon, dass wir von dieser Eule da hinten ziemlich eingehend betrachtet wurden.“
„Du hast es auch gespürt?“, wandte sich Max an Emil, während er einen umliegenden schneebedeckten Busch inspizierte, in dem sich aber nichts versteckt hielt. Rose wollte aber von einer möglichen Falle nichts wissen, denn jäh wandte sie sich einem anderen Buschwerk zu und durchwühlte dieses mit bestimmter Vorsicht.
Ein paar Minuten des erfolglosen Suchens verstrichen, dann sah Max, wie Shadow seltsam steif einen Baum nicht weit von der Gruppe anstarrte.
„Was ist los, Boss?“, rief Vane, der dies ebenso bemerkt hatte. Shadow regte sich nicht, doch seine Stimme war konzentriert und ruhig, als er ihnen antwortete: „Da hinten … der schneebedeckte Baum, von dem mehrere Eiszapfen herunterhängen …“
„Was ist damit?“, riefen Max und Rose ihm zu. Max klang gegen seinen Willen neugierig und er wusste, dass er jetzt nicht die Vorsicht fallen lassen durfte. Rose hingegen klang fast desinteressiert, als wollte sie sich nicht ohne guten Grund von der Suche nach dem Klagen abbringen lassen. Nun trat Shadow ein paar Schritte auf den Baum zu. Auch Max blickte diesen nun genauer an.
Es war ein schaurig schöner Anblick. Auch wenn die schneebedeckten Zweige der Bäume um und über ihnen auf dem Hang den Himmel verdeckten und der untere Teil des Waldes daher im größeren Schatten verborgen lag, glitzerten die Eiszapfen, als würden sie von innen heraus angeleuchtet werden. Helles Licht flammte hinter Max auf und er sah, wie Emil einen Leuchtorb aus seinem Panzer hervorgeholt hatte. Das Licht wurde abermals von den kristallin wirkenden Eiszapfen und auch vom Schnee auf den Ästen widergespiegelt und es war, als würde ein Meer von Glitzer sich über dem Baum ergießen. Shadow war nun nach genug an den Baum herangetreten und seine schwarze Schattengestalt stellte in der glitzernden Szenerie einen starken Kontrast dar. Er ging vorsichtig unter den Eiszapfen einher und schien diese genauer zu untersuchen.
„Ja, hier ist etwas!“, rief er begeistert und laut aus. Max spürte sofort, dass dies ein Fehler für ihn war. Etwas rauschte und klirrte und eine Sekunde später fielen sowohl Schnee als auch Eis auf Shadow herab. Vane und Emil erschraken laut und auch Rose blickte bestürzt und panisch auf. Sofort eilten sie zu Shadow und fürchteten um seinen Anblick, doch kurz darauf war Erleichterung in ihren Gesichtern abzulesen. Die Eiszapfen waren, so fest wie sie waren, direkt durch Shadows Schattenkörper hindurch gefallen. Einzig der Schnee lag wie eine weiße unförmige Wollmütze auf seinem Kopf. Nachdem der Schrecken abgeklungen war, kugelte sich Vane fast vor Lachen. Auch Rose atmete erleichtert auf, ehe sie wieder ernst wurde: „Wir haben keine Zeit für diese Albernheiten, Shadow!“
„Als ob ich mich freiwillig bildlich von Eis durchlöchern und von Schnee begraben lassen würde …“, murrte Shadow verdrießlich und schüttelte sich den Schnee ab. „Tatsächlich habe ich was gefunden. Schaut mal, was jetzt noch als einziges am Baum hängt!“
Sie traten näher an den Baum und betrachteten den nun einzigen Eiszapfen, der verblieben war. Erst beim genaueren Hinsehen konnte Max erkennen, dass er nicht glatt und spitz, sondern viele eisige Noppen besaß und stumpf war. Zumal schien dieser nicht vom Ast zu wachsen, sondern zu hängen. Eine dünne Schnur aus Eis führte vom oberen runden Ende nach oben. Fast hatte es den Anschein, als befände sich ein seltsames eisiges Pendel vor ihnen. Und nun, da sie diesem nahe standen, hörten sie das Wimmern klar und deutlich aus diesem herauskommen. Aufmerksam und skeptisch blickten sie dieses an.
„Sagt mir nicht“, begann Emil langsam und sah ganz danach aus, als wollte er vorsichtig seine Kanonen ausfahren, „wir haben uns wegen diesem kleinen Ding hier Sorgen gemacht?“
„Es sieht aus wie …“ antwortete Vane und hob eine stahlbesetzte Kralle. Bevor Max oder die anderen ihn aufhalten konnten, tippte Vane ein paar mal gegen den Eiszapfen. Sein Nagel verursachte ein Ticken, dass seltsam in der Stille widerhallte, die sie umgab. Und der Eiszapfen begann zu zittern. Mit einem Mal riss die dünne Schnur aus Eis und der Eiszapfen fiel wie ein Stein zu Boden. Rose schrie erschrocken auf und schaffte es noch rechtzeitig, ihn mit ihren Armen aufzufangen. Die obere Spitze schlug Risse und mit einem lauten Knall sprang der Eiszapfen an der Stelle auf. Max, Iro und Emil hoben die Arme, um sich vor den Splittern zu schützen. Sie blickten auf die freigelegte Stelle des Zapfens, der innendrin mit einem weißen Sekret gefüllt schien, die sich regte.
„Wuäh … was ist das denn?“, stieß Vane angeekelt hervor und trat ein paar Schritte weg. Max fand, dass er in seiner Reaktion übertrieb, musste ihm aber Recht geben, dass es keinen angenehmen Anblick darstellte. Auch Rose schien drauf und dran, den Zapfen doch noch fallen zu lassen, als dann das Wimmern wieder laut aus diesem hervordrang. Rose blickte bestürzt die anderen an, die ihr ratlose Blicke zuwarfen. Sie räusperte sich und beugte sich vorsichtig zu dem Sekret herab: „Ähm … Hallo? Alles in Ordnung?“
Das Wimmern erstarb mit einem Schlag. Das Sekret begann zu pulsieren und anzusteigen. Es träufelte über den Rand und rann über Roses Hufe. Sie schauerte und verzog angeekelt das Gesicht, doch wollte oder konnte sie den schleimüberzogenen Zapfen nicht loslassen. Etwas festeres und weißes quoll nun aus diesem hervor und winzig kleine Füße waren zu erkennen, ehe sie vom weißen Körper verdeckt wurden. Das Wesen, das herauskam, hatte weiße und fettige Haut, die sich in Falten über den Rand des Eiszapfens schob. Max fand, dass es wie geschmolzene Eiscreme aussah, dessen schwarze Knopfaugen mit Sekret bedeckt waren. Es blinzelte mehrmals, um die Augen frei zu haben, und blickte sich mit seinen dicken und glänzenden Wangen um, bis es Rose erblickte, die es immer vor sich ausgestreckt in den Armen hielt. Es öffnete seinen Mund und prustete dabei Schleim in Roses Gesicht, „Mami?“
Eine Zeit lang lag Stille zwischen ihnen. Das Wesen schaffte es, seine Augen frei vom Sekret zu bekommen, und blinzelte Rose mehrmals an. Die Augen weiteten sich vor Aufregung und das Wesen rief lauter und fröhlicher aus: „Mami! Mami! Du bist endlich gekommen!“
„Äh…“, antworte Rose, die völlig perplex von dieser Ansprache war. Mit halb geöffnetem Mund starrte sie das Wesen an, das innerhalb seines Eiszapfens aufgeregt auf und ab zu hüpfen schien. Dann schüttelte Rose den Kopf, als ob sie sich endlich auf die sonderbare Situation eingestellt hatte: „Warte mal! Ich bin nicht deine Mutter!“
„Aber Mami!“, rief das kleine Wesen hell auf, „du hast gesagt, dass du mich von hier abholen würdest, wenn du fertig bist …“,
„Ich bin aber trotzdem nicht deine Mutter!“, wiederholte Rose bestimmt. Das kleine Wesen erstarrte und blickte Rose lange an. Sofort standen dem kleinen Wesen Tränen in den Augen, die in kleinen Eiskristallen zu Boden fielen. Rose blickte hilflos auf und die Fassungslosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Das kleine Wesen rief nun lauter aus: „Lass mich sofort runter!“
„Ich muss wohl sehr bitten!“, entgegnete Rose aufgrund dieses Befehlston, doch das kleine Wesen zitterte nun erregt und schrie nun derartig laut, dass sich Max und die anderen die Ohren zuhalten mussten: „LASS MICH RUNTER! LASS MICH RUNTER, DU GEMEINES ETWAS!“
Immer wieder plärrte es diese Aufforderung und mit jedem Mal wurde sein Schreien durchdringender.
„Um Himmels Willen, Rose!“, rief Shadow über das Plärren hinweg. „Tu es schon!“
Rose tat auch wohl nichts lieber als dieser Bitte Folge zu leisten, denn mit angewidertem Gesicht legte sie das kleine Wesen auf den Boden ab. Sofort hörte es auf zu schreien und blickte die anderen musternd an.
„Keiner von euch ist meine Mami!“, stellte es dann laut und enttäuscht fest und versuchte, auf dem Boden zu krabbeln. Es schaffte es, sich ein paar Zentimeter nach vorne zu bewegen, dann blieb es stehen und zitterte erneut. Dann schrie es erneut derartig laut auf, dass sie sich alle wieder die Ohren zuhalten mussten: „MAMI! MAMI! WO BIST DU NUR?“
Abermals blickten sich die Erkunder hilflos an und sie alle stellten sich dieselbe, das wusste Max: „Wo sind wir hier reingeraten?“
Emil schien bald genug von dem Geplärre zu haben, Genervt ließ er eine Kanone ausfahren und schoss einen Hyperstrahl in die Luft, der laut in der Luft widerhallte. Doch das stellte sich bald als ein Fehler heraus. Es rauschte von oben und eine riesige Schneedecke fiel von den obenliegenden Ästen herab, die alle unter sich begrub. Max fühlte eine kalte Welle ihn von allen Seiten umfassen. Er wühlte sich mit halber Belustigung durch den Schnee und tauchte auf, als sich die anderen ebenso aus diesem wühlten. Sie blickten sich und lachten kurz über deren Schneehüte. Dann krabbelte auch das Wesen auch schon aus dem Schnee hervor.
„Hörst du nun auf zu schreien?“, fuhr Emil es sofort an. Das Wesen blickte ihn mit wachsamen Augen an und ein finsteres Funkeln lag in ihnen: „Bist du ein Böser? Gehörst du zu denen, vor denen mich Mama gewarnt hat? Du hast mich fast zu Tode erschrocken, ich mag dich nicht! Gehört ihr alle dazu?“
Und kaum hatte es die Worte gesagt, heulte das Wesen, das sich wie eine Raupe auf dem Schnee bewegte, erneut auf: „MAMI! MAMI! WO BIST DU NUR? ICH BIN ALLEIN VON FREMDEN UMGEBEN!“
„Was machen wir nun?“, war Shadows Frage, während er sich mit zugehaltenen Ohren zu den anderen wandte. Max fand, dass dies eine durchaus berechtigte Frage. Zwar hatten sie ein Ziel, doch er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, ein solch hilfloses kleines Pokémon allein zu lassen. Es sah schließlich danach aus, als wäre dieses vollkommen hilflos. Den Gedanken hatte auch Rose, denn sie beugte sich zu der kleinen Raupe hinunter und sah ihr mit sorgenvoller Miene in deren Augen: „Wie lange bist du denn hier schon alleine, Kleines? Und wie heißt du?“
Die Raupe beäugte sie argwöhnisch und Rose erhob daraufhin ihre Hufe, als würde sie sich ergeben: „Wir sind nicht gefährlich! Ich kann dir versichern, das wir dir nichts tun wollen!“
„Ihr gehört also nicht zu den Bösen?“, fragte die Raupe skeptisch. Rose schüttelte lächelnd den Kopf.
„Wie sehen diese Bösen denn aus?“, warf Vane ein.
„Sie bestehen ganz aus Eis und haben einen ziemlich unheimlichen Blick! Deswegen habe ich mich auch in diesem Kokon versteckt!“, erklärte die Raupe aufgeregt. Die anderen wechselten Blicke.
„Wir haben vorhin so ein Ding zerstört“, erklärte Shadow dann ohne Weiteres. Die Raupe machte große Augen. Sie wandte sich an Rose, die bestätigend nickte.
„Dann seid ihr wohl nicht die Bösen, oder?“, fragte die Raupe abermals nach, dieses Mal aber lag etwas weniger Skepsis in ihrer Stimme.
„Wir sind nur Erkunder, die zum Lawinenberg wollen“, erklärte Iro beiläufig. Max fand, dass sie nicht so offenherzig über ihr Reiseziel reden sollten, denn allmählich war er es leid, die Überraschung anderer bezüglich ihres Reiseziels zu sehen. Und wie erwartet machte auch die Raupe große Augen und wandte sich Iro zu: „Hey, da wollte auch Mami hin!“
Das erstaunte dann Max. Er und Iro tauschten Blicke mit den anderen, die verdutzt dreinblickten.
„Du sagst, deine Mutter ist zum Lawinenberg unterwegs?“, fragte Rose vorsichtig nach. Die Raupe murrte, als sie sich wieder mühselig umdrehen musste, doch sie war sofort wieder aufgeregt, als sie Rose antwortete: „Genau! Mami sagte mir, ich soll hier auf sie warten, während sie zum Lawinenberg gegangen ist. Das ist schon fünf Jahre her und langsam mache ich mir Sorgen, dass-“
„Fünf Jahre?!“, rief Rose entsetzt aus und stolperte nach hinten. Max drehte sich der Magen um. Instinktiv wusste er, was das zu bedeuten hatte, dass eine Mutter solange ihr Kind zurückließ. Und sie tat es bestimmt nicht freiwillig, dachte Max sich dabei. Dieselbe Reaktion sah er auch den anderen an, einzig Vane schüttelte mit schiefem Lächeln den Kopf: „Ich will nichts sagen, Kleine, aber … bist du sicher, dass deine Mama hierher zurückkommen wird?“
„Sie hat es versprochen!“, rief die Raupe so laut, dass sie alle fast wieder die Ohren zuhalten mussten. Dann aber senkte sie betrübt den Blick und ein leises Schluchzen kam von ihr: „Es ist aber mittlerweile so lange her … Mami hat gesagt, dass sie nur kurz zum Lawinenberg gehen wollte. Ich habe das Gefühl, dass sie aufgehalten wurde … deswegen kann sie nicht zurück …“
„Bist du sicher, dass es das ist?“, entgegnete Vane skeptisch und Max spürte in einem Anflug von Panik instinktiv, dass das Stolloss frei heraussprach ohne darauf zu achten, was er sagte.
„Ich meine, nach fünf Jahren sollte es klar sein, dass deine Mama dich entweder verlassen hat oder get-“
„Vane!“, rief Rose so scharf dazwischen, dass alle anderen zusammen zuckten. Vane, dem gerade sein Fehler bewusst wurde, verstummte schlagartig, doch die Raupe schien sich den Rest selbst zusammenzureimen. Ihre schleimüberzogene weiße Haut lief rosa an und mit vor Wut bebender Stimme wandte sie sich an Vane: „Meine Mami würde mich niemals im Stich lassen und getötet werden kann sie nicht! Sie ist dafür viel zu stark!“
Vane ließ beschämt den Kopf sinken, dass er diese Worte angedeutet hatte. Max war froh, dass er nun daraus seine Lektion zog. Er selber war neugierig, was genau es mit der Mutter dieser Raupe auf sich hatte, doch bevor er fragen konnte, kam Rose ihm zuvor: „Was genau ist denn eigentlich passiert? Wieso musstest du dich überhaupt verstecken?“
Die Raupe antwortete nicht direkt. Sie wandte ihren wütenden Blick von Vane ab und musterte jeden der Erkunder nochmal eindringlich. Sie entschied sich wohl, allen zu vertrauen, denn sie sprach nun ruhiger, aber Sorge und Angst mischten sich in ihrer Stimme:
„Vor fünf Jahren hat Mami mich in diesen Wald gebracht. Sie wirkte ziemlich aufgeregt, da irgendetwas Böses und Mächtiges dieses Gebiet betreten hatte. Sie wollte so schnell es geht zum Wächter, um ihn dabei zu helfen, das Böse abzuwehren. Vorher aber hat sie mich eindringlich darum gebeten mich hier versteckt zu halten, bis sie wiederkommen würde. Und während sie weg und ich hier versteckte war, habe ich gespürt, wie diese bösen Dinger den Wald nach mir suchten. Ich konnte zwar nicht viel sehen, aber ab und an habe ich sie ziemlich nahe an meinem Baum scharren gehört. Ich hatte dermaßen Angst, dass sie mich erwischen würden. Ich wusste, dass ich sterben würde, wenn sie mich je finden würden! Und obwohl mir meine Mami fehlte und ich am liebsten geheult und nach ihr gerufen hätte, durfte ich keinen Mucks von mir geben!"
Bei der Vorstellung, irgendwo zu verharren und zu hoffen, nicht von suchenden Feinden gefunden zu werden, überkam Max das Schaudern. Allein im Wald in so einem beengten Raum, nicht groß dazu fähig, sich zu bewegen. Und tagein und tagein bestand für die Raupe die Gefahr, doch noch entdeckt zu werden. Und das für fünf Jahre, die sich wahrscheinlich wie eine Ewigkeit angefühlt haben mussten. Jähes Mitleid stieg in Max auf und auch die anderen wirkten so, als wäre ihnen übel bei dem Gedanken.
„Dann habe ich vor wenigen Stunden mitbekommen, wie diese Dinge aufgeregt sich entfernt hatten, und kurz darauf habe ich aus der Ferne Kampfgeräusche sowie Schreie gehört. Dann war es still und es war, als durfte ich endlich wieder einmal meine Stimme benutzen. Und dann habe ich es nicht mehr ausgehalten …“
„Ja … das haben wir gehört …“, nickte Shadow langsam. Rose biss sich auf die Lippen und sah mit feuchten Augen das kleine Ding vor sich an. Iros Blick wirkte starr vor Anspannung und Entsetzen, die Max nur teilen konnte. Abermals wechselten sie Blicke, bis sich Rose dann wieder räusperte: „Es tut mir wirklich leid, was dir widerfahren ist, Kleines!“
Sie hob einen Huf und wollte andächtig die Raupe streicheln, die erst zurückwich. Dann aber gestattete sie Rose es, dass sie ihre Stirn tätscheln ließ. Sofort brach die Raupe in Tränen aus: „Du streichelst mich genau wie Mami! Sie fehlt mir gerade unendlich!“
Rose stoppte und ihr Mund verzog sich. Dann konnte sie ihre eigenen Tränen nicht zurückhalten und sie beugte sich hinunter, sodass sie die Raupe vorsichtig in den Arm nehmen konnte. Das Schluchzen beider hallte mehrfach zwischen den Bäumen wieder. Und je mehr es auf sie alle einwirkte, umso fieberhafter dachte Max nach. Dann, nach mehreren Minuten, lösten sich Rose und die Raupe voneinander und diese sprach unter Schniefen wieder zu allen anderen: „Ihr sagtet, ihr wolltet zum Lawinenberg?“
Kaum, dass Shadow, Iro und Max bestätigend nickten, schüttelte sich die Raupe, um ihre Augen von den Tränen freizubekommen: „Dann nehmt mich bitte mit! Ich will erfahren, was aus Mami geworden bist! Und gegeben falls werde ich sie retten!“
„Du … was?“, entgegnete Rose völlig baff und betrachte die Raupe mit großen Augen. Diese bentgegnete ihrem Blick: „Lass mich raten: Du hältst mich für klein, schwach und hilflos?“
„Ist das nicht offensichtlich für alle?“, entgegnete Emil trocken. Auch Max kam nicht drum zuzugeben, dass die Raupe bisher nicht gerade einen Eindruck danach machte, dass sie allein zu irgendetwas imstande war. Doch die Raupe bebte und abermals lief vor Wut ihr weißer Kopf rosa an: „Ich kann trotzdem meine Mami retten! Einer von euch müsste mich nur tragen und mit zum Lawinenberg nehmen. Wäre das möglich?“
„Ähm … nun …“, entgegnete Shadow, der sich belustigt an die anderen wandte: „Wäre von euch jemand bereit, den … nun ja … Babysitter zu spielen?“
„Du denkst wirklich daran, dieses kleine Ding mitzunehmen, Boss?“, warf Vane mit Blick auf die Raupe skeptisch ein. „Es könnte gefährlich werden. Und wenn wir uns verteidigen müssen, laufen wir doch Gefahr, es dabei zu verletzen, wenn wir es mit uns herumtragen.“
„Wenn sollte es wer sein, der sowieso gerade nicht groß kämpfen kann“, sagte Emil und Max entging nicht, dass er einen flüchtigen Blick auf Iro und dessen bandagierten rechten Arm geworfen hatte. Auch Iro schien dies gespürt zu haben, denn er schnaubte verächtlich über der diese Anmerkung, ohne Emil eines Blickes zu würdigen. Rose beugte sich vor und die Raupe blickte sie aufmerksam an.
„Bist du dir sicher, dass du mit uns kommen willst? Gerne können wir dafür sorgen, dass du hier weiterhin gut versteckt bleibst und wir kommen wieder, sobald wir deine Mama gefunden haben. Denn wenn du mit uns mitkämst –“
„Ich weiß, dass die Firntundra an sich schon gefährlich ist, doch …“, und ein Lächeln spielte sich über das Gesicht der Raupe, „ich kenne eine Abkürzung, die uns direkt zu dem Lawinenberg bringen kann. Und durch meine Mami weiß ich auch, wie man diesen Berg fast gefahrlos erklimmen kann!“