Wer ein solches Schubladendenken betreibt, wer unterstützt, dass ungeimpfte Menschen mehr und mehr aus der Gesellschaft ausgetoßen werden und all diese Gedanken nach außen trägt, trägt effektiv zur Spaltung der Gesellschaft bei. Kann man nicht anders sagen.
Aha. Dann muss ich mich wohl schuldig bekennen, zur Spaltung beigetragen zu haben und gleichzeitig beichten, dass ich auch weiterhin dazu beitragen werde. Aber um ganz am begrifflichen Anfang anzufangen, klären wir vielleicht mal, was die in der letzten Zeit vielzitierte "Spaltung" überhaupt bedeuten soll. Dass einfach nur unterschiedliche Ansichten in der Gesellschaft herrschen, kann es wohl nicht sein bzw. kann es nicht als Defizit angesehen werden, denn sonst ist eine nicht gespaltene Gesellschaft wohl realistisch betrachtet nicht möglich; ganz zu schweigen davon, dass ja der einzige Ausweg aus solcher Spaltung wäre, dass alle die gleichen Ansichten haben, und das wird wohl auch keiner wollen.
Bleibt also Spaltung in dem Sinne, wie er im ersten Teil des Zitats beschrieben wird, mithin also im Sinne der Ausgrenzung einer Personengruppe bzw. in der Verschärfung von Ungleichheiten. Nun haben wir solche Spaltungen in der Gesellschaft ebenfalls seit Jahr und Tag: Arm und reich, cis und trans, hetero und nicht-hetero, Schwarz und weiß, behindert und nichtbehindert, depressiv und nichtdepressiv (sehr spezifisches Beispiel, ich bin sicher, das hat keine später klar werdende Bedeutung) und dennoch kümmern derartige Spaltungen der Gesellschaft die Gesellschaft herzlich wenig. Wobei hier anzumerken ist, dass diese Spaltungen und Diskriminierungen drei wesentliche Elemente aufweisen: Erstens, dass sich keine Person aussuchen kann, ob sie zu der jeweils benachteiligten Gruppe gehört oder nicht, zweitens, dass es für die besagten Spaltungen bzw. Ungleichheiten keinen vertretbaren Grund gibt bzw. eben keinen Grund, der nicht am Ende menschenfeindlich wäre und drittens, dass diese Spaltungen und Ungleichheiten nicht klar zeitlich begrenzt sind (schön wär's).
Wenn es dann nun um den Vergleich mit der Spaltung zwischen geimpft und ungeimpft geht, dann ist zunächst offensichtlich zu bemerken, dass niemand die Ausgrenzung von Ungeimpften allgemein befürwortet, denn natürlich ist allen klar, dass sich manche Leute schlicht nicht impfen lassen können, und daher geht es hier besten- oder schlechtestenfalls, je nachdem, wie mensch es betrachten will, eigentlich um einen Unterschied zwischen Impfwilligen und Impfunwilligen. Wenn nun bestimmte Regelungen Impfunwillige Menschen aus Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausschließen, so kann das schlicht zwei Zwecken dienen, nämlich erstens dem Schutz anderer Menschen (ich würde mich hier zumindest so weit aus dem Fenster lehnen, dass 2G+ etwas sicherer ist als 3G) und andererseits natürlich auch dazu, Druck auszuüben, damit sich endlich mal geimpft wird, wofür es, ich sage es nicht zum ersten Mal, ohnehin sehr gute Gründe gibt und keine sinnvollen dagegen. Insofern sehen wir also, dass es sich hier erstens um keinen "Ausschluss" handelt, aus dem sich nicht sehr einfach herausbewegt werden könnte und der zweitens aber nun einmal auch nicht so unberechtigt ist. Die Methode des "Drucks" mag natürlich moralische Bedenken hervorrufen (wobei es monatelang ohne versucht wurde und offensichtlich hat das so viel dann auch nicht gebracht), aber diese sind keine Totschlagargumente, die Beschränkungen für Ungeimpfte als vollkommen und unter allen Umständen indiskutabel gelten lassen würden. Die Frage solcher Methoden (der Sicherheitsaspekt steht übrigens so oder so) ist immer eine Abwägungssache, und es sollte sich auch mal überlegt werden, was jeweils auf der anderen Seite steht, oder besser, wer. Denn während ständig die "Spaltung" beklagt wird, wird offenbar komplett aus dem Blickfeld verloren, was nun einmal die ganze Zeit an Schäden entsteht. Ich habe mehrmals von der Belastung des Gesundheitssystems und der Pflegekräfte gesprochen, es ließen sich zusätzlich die Toten und Langzeitgeschädigten aus grundsätzlich vermeiddbaren Infektionen bzw. schweren Verläufen anführen, aber da alles das wohl nicht geklappt hat und es hier ja jetzt auch spezifisch um Ausschlüsse aus der Gesellschaft geht, versuche ich es mal wieder auf die persönliche Schiene und mit anderen Spaltungen bzw. Ausschlüssen, auch wenn ich wohl insgesamt nicht mehr Empathie werde erwarten dürfen als letztes Mal.
Aber gut: Ich habe eine Sozialphobie und Depression. War eigentlich schon seit längerer Zeit so, aber ich hatte durchaus noch ein geregeltes und nettes Leben. Ich konnte mich beispielsweise in Seminaren in der Uni melden und mich beteiligen. Ich hatte auch ein paar Sozialkontakte und machte Kampfkunst und Selbstverteidigung. Das Leben war manchmal anstrengend und deprimierend, aber das hielt sich in Grenzen. Nun jedoch, etwas mehr als anderthalb Jahre, nachdem es hier in Deutschland mit Covid so richtig schön losging, kann ich mich in den wenigen Präsenzseminaren, die es überhaupt noch gibt und bei denen ich die Kraft zur Teilnahme habe, eben nicht mehr so schön beteiligen, denn selbst wenn ich dazu die Energie und den Mut während der Sitzung aufbringe, darf ich den Rest des Tages darüber nachgrübeln, ob die Antwort jetzt überhaupt passend und wenigstens halbwegs clever war und nicht in etwa einfach dumm und unpassend. Zur gleichen Zeit sind meine Depressionen allgemein schlimmer geworden und ich habe als Resultat zunehmend Schwierigkeiten, mich auf die Seminare überhaupt ausreichend vorzubereiten. Sport als Ausgleich ist natürlich auch erst einmal gestrichen worden und geht jetzt zwar grundsätzlich wieder, aber nachdem ich lange gesundheitlich angeschlagen war und jetzt vielleicht wieder teilnehmen könnte, muss ich mich zugleich fragen, ob das eigentlich moralisch vertretbar wäre. Sport mit engem Körperkontakt während der Pandemie? Ist ja nicht so gut und wahrscheinlich wäre ich dann auch nur noch einer dieser frivolen Partygeimpften, von denen hier im Thema ja immer zu lesen war, geistige Gesundheit hin oder her. Und bald ist ja auch Weihnachten und ich will Heiligabend nicht wie letztes Jahr in Quarantäne und allein verbringen müssen. Also fällt Sport wohl eher noch mindestens den Rest des Jahres flach (wie auch andere Sachen), und was danach ist, weiß ich auch nicht. Nebenbei habe ich letztens die Nachricht bekommen, dass aufgrund der Tatsache, dass Leute sich den Impfnachweis von Freund*innen "ausleihen", jetzt auch noch immer ein amtliches Ausweisdokument mit sich geführt und nachgewiesen werden muss, dass der Impfnachweis auch wirklich der eigenen Person gehört, mit anderen Worten, die Geimpften müssen aufgrund der Verantwortungslosigkeit anderer selbst weitere Kontrollen über sich ergehen lassen, die alle Abläufe verzögern.
Aber zu mir zurück: Am Ende des Tages macht eine Sozialphobie die Reduzierung sozialer Kontakte vielleicht kurzfristig einfacher für mich, aber ich bin nun einmal dennoch kein Misanthrop und letztlich ebenso auf soziale Kontakte angewiesen. Die Bilanz ist daher mittlerweile nicht weniger, als dass ich dem Aufhalten der Pandemie über Selbstisolation und Kontaktbeschränkungen einen wesentlichen Teil meiner geistigen Gesundheit geopfert habe. Ich erwarte nicht, dass mir irgendjemand von heute auf morgen eine Lösung der Pandemiesituation präsentiert, die die Pandemiesituation beendet und mir damit ermöglicht, wieder mehr Kontakte zu haben und an der Rückkehr in ein halbwegs geregeltes Sozial- und Universitätsleben zurückzukehren. Ich erwarte und will nicht, dass morgen alle Beschränkungen fallen gelassen werden. Ich erwarte nicht, dass es nie wieder einen Lockdown gibt. Ich erwarte auch nicht, dass die Pandemie in der nächsten Zeit enden wird (2022 habe ich ohnehin schon abgeschrieben). Aber ich erwarte, nachdem ich hier ein doch relativ großes Opfer erbracht habe, dass andere Leute sich vielleicht noch einmal überlegen, ob einen Piks zu verweigern, von dem sie, es kann nicht oft genug gesagt werden, auch noch selber profitieren (!!!), wirklich schwerer wiegt. Denn eine hohe Impfquote ist ein wichtiges Instrument, um ein Ende der pandemischen Situation schneller zu erreichen und/oder es wahrscheinlicher zu machen. Ein Ende, nachdem ich endlich mal an meinen Problemen arbeiten könnte. Und gerade Leute, die den "Ausschluss" oder die "Spaltung" beklagen, sollte das, wenn sie denn aufrichtig sind, ernsthaft interessieren: Denn ich bin jetzt, im Moment, von der Gesellschaft aufgrund meiner Depression und sozialen Ängste ausgeschlossen. Andere sind es auch. In der Gesellschaft existierte schon immer eine Spaltung zwischen Depressiven und Nichtdepressiven, und diese Spaltung wird mit jedem Tag tiefer, den diese verdammte Pandemie geht. Und die anderen Spaltungen, die ich oben erwähnt habe? Ja, auch die werden tiefer. Wie es mit dem Graben zwischen arm und reich aussieht, kann sich jede*r mit gesundem Menschenverstand denken.
Insofern kann ich hier eigentlich sehr leicht die Gegenthese unterbreiten: Jede Person, die sich impfen lassen kann und es aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen nicht tut, leistet letztlich einen Beitrag zur Fortsetzung der pandemischen Situation und damit konsequenterweise auch einen Beitrag zur Vertiefung realer Spaltungen in der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund und auch vor dem Hintergrund meiner eigenen Situation befürworte ich durchaus Maßnahmen, die dafür sorgen, dass sich mehr Leute impfen lassen und nachdem sie es nun wirklich lange auch einfach freiwillig tun konnten, ist es meiner Ansicht nach auch vertretbar, wenn es dabei einen gewissen Druck gibt.
Hierbei sollte übrigens noch etwas bedacht werden, was ich oben als dritten unterschied zwischen dem "Ausschluss" von Ungeimpften und realen Diskriminierungen erwähnt habe: Dieser "Ausschluss" ist temporär. Egal ob die Pandemie morgen, in einem Jahr oder meinetwegen in zehn Jahren endet, die Ungeimpften gehen so oder so raus in die zurückgewonnene Normalität, ohne Einschränkungen, ohne Langzeitschäden, ohne dass sie ihre Entscheidung irgendwie noch verfolgt. Was ist aber mit Leuten wie mir? Ich werde auch nach der Pandemie noch Monate, vielleicht Jahre darum kämpfen, wieder auf mein psychisches Niveau von vor der Pandemie zu kommen. Wenn ich bis dahin überlebe, wohlgemerkt. Wir Depressiven werden unter einem realen Ausschluss noch lange leiden, während die Ungeimpften sich des Lebens freuen dürfen. Und all die anderen Spaltungen und Diskriminierungen, die ich eingangs erwähnt habe, werden natürlich exakt das gleiche Problem haben.
Aktuell gehe ich einmal wöchentlich zur Therapie. Die Sitzung dauert eine knappe Stunde, aber weil es anstrengende emotionale Arbeit ist, laugt es mich quasi für den ganzen Tag aus. Und abseits der Therapie habe ich natürlich immer meine Phasen. Rechnet das mal bitte auf gegen im schlimmsten Fall eine Impfung alle sechs Monate, gerne auch finanziell.
Um Einwände vorwegzunehmen: Nein, ich gebe natürlich nicht Impfunwilligen die Alleinschuld an der Situation und auch ich habe einen ordentlichen Rochus auf die Politik und hasse sie für all das, was sie verschlafen hat. Und ich habe sogar, solange das Impftempo noch ein wenig stockt, Verständnis für Leute, die sich gerne impfen lassen möchten, aber nicht mehrere Stunden investieren können, um in einer Schlange zu stehen oder sonst was. Aber ich habe absolut Null Verständnis für Leute, die auch unter besseren Bedingungen noch, keine Ahnung, einem Impfstoff misstrauen, der bereits millionenfach verimpft wurde und der wohl am besten überwachte Impfstoff aller Zeiten ist oder aber (am besten in Kombination mit eben erwähntem "Grund") noch auf einen Totimpfstoff warten, der bei Zulassung dann sehr viel weniger erprobt ist als alles, was wir jetzt schon haben. Es ist sicher absolut legitim, den Beitrag, den Ungeimpfte an der Verlängerung des Pandemie und den damit verbundenen Problemen haben, auch zu benennen, und der Verweis auf die Politik, mag sie auch den größeren Beitrag haben (vielleicht würde ich ja über die Politik schreiben, würde mir nicht de facto vorgeworfen werden, die Gesellschaft mit meiner Meinung zu spalten), ist hier auch keine Ausrede, das nicht zu tun.
Ich würde mich insgesamt einfach freuen, wenn Leute ihren Beitrag leisten würden, dass Personen wie ich oder Leute, denen es noch viel schlechter geht (denn ich bin wohl vergleichsweise noch in einer relativ guten Situation) bald mal wieder an ihren Problemen arbeiten können oder zumindest die bloße Hoffnung schöpfen dürfen, dass dem irgendwann mal so sein wird. Die Leute könnten aber auch, und das ist nun wirklich das Minimum, uns, die wir uns ein Ende des Elends herbeisehnen und Maßnahmen der Politik, die darauf abzielen, entsprechend gut finden, nicht einfach mal so in die Schublade der "Gesellschaftsspalter*innen" stecken (nachdem sie Schubladendenken vorher kritisiert haben). Aber anscheinend geht nicht einmal das.
We just can't have nice things, can we?