Hallo und herzlich willkommen zum Vote unseres Wettbewerbsspecials "Reizwortgeschichte"!
Beim Voting könnt ihr den einzelnen Abgaben zwischen 1 (nicht gut) und 10 (sehr gut) Punkte vergeben. Dabei sind auch halbe Punkte (wie 2.5) möglich. Wichtig ist dabei, dass ihr alle Abgaben bewertet. Da der Wettbewerb anonym ist, vergeben Teilnehmer beim Voten Punkte an alle Abgaben - auch an die eigene. Diese werden bei der Auswertung nicht beachtet. Stattdessen erhalten Teilnehmer einen Punkteausgleich für ihre Unterstützung. Begründungen sind nicht verpflichtend, es sei denn, ihr wollt für euren Vote eine Medaille beantragen.
Ein paar Anmerkungen noch: Innerhalb der Abgabenspoiler findet ihr einen zusätzlichen Spoiler mit den Reizwörtern, die zu dieser Geschichte gehören, falls ihr in eure Bewertung miteinfließen lassen möchtet, wie diese in die Geschichte eingebaut wurden. Ansonsten: Sollten euch bei eurer Abgabe noch Fehler in der Formatierung auffallen, die aus dem Kopieren eurer Abgabe resultieren, dann könnt ihr mir jederzeit schreiben und ich bessere das nachträglich noch aus (nachträgliche Rechtschreibkorrekturen sind aber wie bereits im Infothema gesagt nicht mehr möglich). Das Gleiche gilt natürlich auch, falls ihr eure Abgabe komplett vermisst - es haben nicht alle Teilnehmer*innen abgegeben, aber wenn ich jemanden jetzt vielleicht einfach nur übersehen habe, dann soll es dieser Person natürlich nicht zum Nachteil gereichen. Hierfür highlighte ich noch einmal alle Teilnehmer*innen:
Alice @Creon Webu Johnson Willi00 @Toffee Frechdachs Evo Lee ELIM_inator Project Mew Roy Mustang Cassandra Liu Mandelev Sweet Reptain @Olynien Meerchen bluetime Flocon Shiralya babykeks13
Der Vote läuft bis zum Sonntag, den 12. Juli, um 23:59 Uhr.
Verwendet bitte folgende Schablone für den Vote:
Abgabe 01: xx/10
Abgabe 02: xx/10
Abgabe 03: xx/10
Abgabe 04: xx/10
Abgabe 05: xx/10
Abgabe 06: xx/10
Abgabe 07: xx/10
Abgabe 08: xx/10
Abgabe 09: xx/10
Abgabe 10: xx/10
Abgabe 11: xx/10
Abgabe 12: xx/10
Abgabe 13: xx/10
Abgabe 14: xx/10
Abgabe 15: xx/10
Abgabe 16: xx/10
Alles anzeigen
Das Thema dieser kleinen Wettbewerbsaktion wird eine Reizwortgeschichte sein. Das bedeutet, dass ihr bestimmte Begriffe vorgegeben bekommen werdet, zu denen ihr dann eine Geschichte schreibt. Die Begriffe müssen dabei in der Geschichte selbst vorkommen, aber wie genau ihr sie einbauen möchtet, ist euch dabei vollkommen selbst überlassen - es ist keineswegs verlangt, dass sich die Geschichte vollkommen um die jeweiligen Wörter dreht.
Es werden allerdings nicht alle die gleichen Begriffe vorgegeben bekommen. Stattdessen werden wir das Ganze so organisieren, dass jede*r Teilnehmer*in vier Begriffe erhält, von denen si*er sich aber mit zwei anderen Teilnehmenden jeweils einen Begriff teilt. Ihr werdet also zwei Begriffe haben, die nur ihr habt und zwei, die auch jeweils eine andere Person hat. Es ist euch dabei in der Schreibphase des Wettbewerbs (dazu unten mehr) gestattet, eure Begriffe öffentlich zu posten und euch mit den anderen Teilnehmenden hier im Anmeldethema auszutauschen. Auf die Art könnt ihr Ideen und Assoziationen zu den Begriffen mit euren "Begriffspartnern" austauschen und euch so gegenseitig Anregungen geben. Auch Hilfesuchen zu den eigenen Texten ist grundsätzlich erlaubt, wenngleich natürlich euer Text am Ende nur von euch selbst verfasst sein sollte.
Seife, Karotte, Bild, Fell
Sie betrachtete das Bild. Da kniete er, mit verstrubbelten Haaren, ein Stück Seife in der Hand und den Hund unterm Arm. Einen Moment zuvor hatte er wohl noch in die Kamera gelacht, aber das Foto war verwackelt, vermutlich hatte das Tier nicht so lange stillgehalten. Ein Schnappschuss. Sie nahm das nächste Bild zur Hand. Da standen sie zusammen unterm Gipfelkreuz, ihr Vater und sie, und lächelten verschwitzt in die Kamera. Schon wieder mit verstrubbelten Haaren. „Fell nach oben“ hatte er es immer genannt.
Ihr Vater war schon verrückt gewesen. Ständig hatte er sie zu irgendetwas herausgefordert, ein Wettrennen, ein Wettbewerb, hatte ihr immer eine Karotte vor die Nase gehalten, damit sie mitmachte. Vielleicht hätte er gerne einen Sohn gehabt, dachte sie später manchmal. Aber wenn, dann ließ er es sich nicht anmerken. Es konnte auch von Vorteil sein, als einzige Tochter. Wenn sie ihn bittend angesehen hatte, bekam sie die Belohnung eigentlich immer trotzdem, selbst wenn sie das Ziel nicht erreicht hatte. „Beim nächsten Mal ist es dann ernst!“, war anschließend die Ansage. Aber Menschen ändern sich nicht, nie.
Einen wirklichen Beruf hatte er auch nicht gehabt, mit seinen vielen Gelegenheitsjobs. Wenn sie gefragt wurde, hatte sie immer ganz gewichtig erklärt, ihr Vater arbeite beim Geheimdienst. Das hatte er ihr vorgeschlagen, als sie in der Schule keine Antwort geben konnte und herumdrucksen musste. Geheimdienst war schon cool. Dass die Leute sie dafür auslachten, war ihr egal.
Ihre beste Freundin hatte ihren Vater nie gemocht, hatte sich sogar manchmal unterm Bett versteckt, wenn sie zu Besuch war und er ins Zimmer kam. Einmal waren sie darüber richtig in Streit geraten und wollten eine Woche lang nichts mehr miteinander zu tun haben. Vertragen hatten sie sich dann trotzdem wieder, auch wenn sie bis heute nicht wusste, was die Freundin so gestört hatte. Eigentlich war es auch egal. Menschen ändern sich eben nicht. Das hatte sie von ihrem Daddy gelernt. Daddy, so hatte sie ihn immer genannt, wenn sie ihn ärgern wollte. Er fand das doof. „Ich bin doch kein Daddy.“ Bis sie ihm dieses Lied gezeigt hatte, Daddy Cool. Ab da war er versöhnt, wenn sie ihn so nannte.
Als sie älter wurde, war er schon manchmal nervig. Er wollte immer wissen, wohin sie ging, hatte sogar ihren ersten Freund vergrault. Aber das war sowieso ein Arschloch gewesen. Und sie hatte ihren Vater geliebt, seine Witze, seine Energie, seine verstrubbelten Haare. Er war immer da gewesen. Und Menschen änderten sich eben nicht.
Allerdings, eine Bergtour hatte sie schon lange nicht mehr gemacht.
Gedankenverloren sah sie auf.
Schwert, Vogel, Werkzeug, Kürbis
"Wenn ihr euch nicht einigen könnt, hilft nur noch ein Pokémon-Kampf", sagte Silvarro.
"Soll mir recht sein", knurrte Pumpdjinn, und Durengard nickte wortlos.
Der Vogel flog an eine höhere Stelle, um die beiden Kontrahenten zu beobachten.
Pumpdjinn begann, indem es leuchtende Kugeln aus Pflanzenenergie auf seinen Gegner niederregnen ließ, was dieser aber wenig beeindruckt mit seinem Schild abwehrte. In einer fließenden Bewegung stieß er sich vom Boden ab. Das Schwert raste auf den Kürbis zu, als geisterhafte Pfeile, Silvarros Werkzeug, aus dem Himmel regneten und die beiden am Boden fixierten.
"Danke für eure Beeren", lachte die Eule und flog davon.
Gras, Regen, Stock, Strand
Ihr Haus war das schönste, was es überhaupt gab, und das lag nicht nur daran, dass es weit und breit das einzige war. Sie hatte es selbst erbaut. Von außen sah es, zugegeben, ein wenig wunderlich aus, ein kuppelförmiges Gebilde aus Stein und buntem Glas. Aber sie lebte ja in dem Haus und nicht außerhalb, und von innen betrachtet gab es keinen Zweifel daran, dass sie das schönste Haus hatte, was man sich denken konnte. Tagsüber schien die Sonne durch die vielfarbigen Glasfenster herein und tauchte alles in buntes Licht. Der Boden war weich ausgelegt mit Kissen und einem dicken, kreisrunden Teppich, und so konnte sie sich darauf niederlassen und hinausschauen. Die Wolken zogen über ihr vorbei, tanzten für sie, fanden immer neue Formen in einem Ballett ohne Anfang und Ende. Durch ihre Fenster sah sie rote Gebirge, blaue Hasen, lila Drachen, die im nächsten Glas als grüne Seeschlangen wieder auftauchten. Die türkisblaue Sonne, die hoch über allem thronte, ließ sie träumen, ihr Haus befände sich tief unter Wasser.
Abends wünschten ihr die Wolken eine gute Nacht, verabschiedeten sich und gaben den klaren Sternenhimmel frei. Ihr Begleiter in der Nacht war der Mond, der lautlos von Fenster zu Fenster wanderte und sie, wann immer sie erwachte, mit sanftem Licht umfing, mal geisterhaft grünlich, mal zartrosa, mal in unirdischem Lila, dann wieder in so kühlem Blau, dass sie sich fester in ihre Decke wickeln musste. Aber lieb waren ihr alle Farben.
Ihr Haus hatte viele Fenster, doch eine Tür hatte es nicht. Sie hatte es um sich herum gebaut, und als sie fertig war, gab es keine Tür. Es war aber ohnehin besser, nicht hinauszugehen. Draußen war der Gärtner. Sie hatte ihn noch niemals gesehen, aber die Wiese vor dem Haus war immer kurz wie das Haar eines Soldaten. Es gab keine Insekten, keine wilden Blumen. Was immer unerlaubt zu wachsen beliebte, wurde umgehend gekappt. Sie hasste und fürchtete den Gärtner. Aber in ihrem Haus war sie sicher, und in ihren Wolken sah sie die ganze Welt.
Doch eines Morgens, als sie erwachte, waren die Wolken nicht da. Ihre Fenster waren leer, nur die Sonne strahlte tiefblau, eine einsame Königin. Was hatte das zu bedeuten? Seit sie das Haus gebaut hatte, waren alle ihre Tage gleich verlaufen, tagsüber tanzende Wolken, nachts Schlaf und Mond. Es war gut gewesen. Aber nun hatten sie sie verlassen. Sie lag auf dem Teppich und starrte in den Himmel. Die Sonne beschritt mit würdevoller Gleichgültigkeit ihren gewohnten Weg. Sie wurde grasgrün, eisgrau, safrangelb, und die Wolken kamen nicht. Als die Sonne das Haus in blutrotes Licht tauchte, setzte das Mädchen sich auf. Es ist Zeit, zu gehen. Sie schaute herab auf ihre Hände, tiefrot gefärbt. Sie hielt sich die gespreizten Finger vor die Augen, blinzelte hindurch, und sah eine Tür, die sich öffnete. Es gefiel ihr nicht. Es gefiel ihr überhaupt nicht. Aber was hatte sie für eine Wahl? Türen sind da, um hindurchzugehen. Also ging sie.
Sie schaute auf einen Rasen, dem eine unverhoffte Schnittpause ein Stückchen Freiheit beschert hatte. Der Gärtner war nirgends zu sehen. Am anderen Ende der Wiese konnte sie einen kleinen Teich erblicken, kaum einen Meter im Durchmesser, aber sie ahnte, dass er unergründlich tief war, und zog es vor, ihre Distanz zu wahren. Die Pflanzen waren ihr lieber. Fast ein wenig wild sah das Gras schon aus, wenn man die Augen genau richtig zusammenkniff. Lang waren die Halme nicht, doch sie hörte ihr zartes, grünes Aufatmen nach all den Jahren als streng geschorener Grünteppich. Sie ging ein paar Schritte, behutsam, leichtfüßig, um sie nicht zu verletzen. Das Gras schmiegte sich um ihre bloßen Füße. Vorsichtig nahm sie auf der Wiese Platz.
Lange saß sie dort und betrachtete das Spiel des Lichts in den durchscheinenden Halmen, die von Marienkäfern träumten und Ameisen und unerschrockenem Löwenzahn. Ihr war, als hörte sie die Pflanzen aus dem Boden wachsen, voller Hingabe streckten sie sich zur Sonne, mit einem vielstimmigen Wispern, das sie nicht verstand. So versunken war sie, dass sie die aufziehenden Wolken nicht bemerkte, bis ihr ein kalter Tropfen auf den Handrücken fiel. Sie sah auf und erschrak.
Das waren nicht ihre Wolken. Ihre Wolken waren bunt und voller Güte. Diese hier waren von einem schmutzigen Dunkelgrau und so eisig kalt, dass ihr bloßer Anblick sie erschauern ließ. Und dann begann der Regen. Hämisch fielen die Tropfen auf das frische Gras, das es gewagt hatte, zu träumen. Wo sie die Halme berührten, wurden diese hart und glänzend, als wären sie mit Glas überzogen. Mit einem Aufschrei warf sie sich über die zarten Pflanzen, versuchte verzweifelt, sie mit ihrem Körper zu schützen, zumindest einige von ihnen zu retten. Der eisige Regen prasselte erbarmungslos weiter. Die Tropfen schlugen hart auf ihren Rücken, verursachten kreisrunde, vereiste Stellen. Die Kälte fraß sich durch Haut und Fleisch und Knochen. Als die Wolken sich endlich verzogen, war jeder einzelne Grashalm eingefroren. Ihr Körper lag bäuchlings auf der gläsernen Wiese, hart und kalt und starr. Die Oberfläche des kleinen Teichs war zu einer reglosen Glasplatte geworden, die nichts von den Tiefen darunter ahnen ließ. Eine einzelne Seerose saß darauf. Niemals würde sie nun verwelken, aber auch niemals wieder atmen.
Eine Libelle kam auf die erstarrte Wiese geflogen. Für einen Moment schwebte sie dicht über der Seerose, dann schoss ihr metallischer Körper pfeilschnell auf den Kopf des Mädchens zu. Kurz vor ihrem Scheitel blieb die Libelle abrupt stehen, verharrte für einen Moment in der Luft. "Du armes Ding", sirrte sie mit einer Stimme, die so dünn und schrill klang wie ein winziger Bohrer. "Du dummes Ding. Warum hast du versucht, sie zu retten? Weißt du denn nicht, dass man niemanden retten kann als sich selbst?" Sie ließ ein silbriges Kichern hören, stieg wieder auf und setzte sich auf den Rücken des gläsernen Mädchens. Die Libelle drehte ihren Kopf mit den riesigen Facettenaugen hin und her. "Ich werde dich retten", sagte sie, und ließ ihre transparenten Flügel vibrieren, ohne jedoch abzuheben. Es war ein scheußlicher Ton, den sie erzeugte, blechern und durchdringend wie ein Presslufthammer. Die Vibrationen übertrugen sich auf die leblose Gestalt unter ihren winzigen Insektenfüßen, erreichten das erstarrte Herz. Der Körper des Mädchens zersprang in unzählige Scherben.
Ich bin ein weiter Strand, in den jemand mit einem Stock messerscharfe Linien gezogen hat. Muschelschalen säumen die Planquadrate, penibel aufgereiht. Kleingärtnermentalität mit Sand und Wellen. Sie steht mit den Füßen im Sand, schaut auf den Ozean hinaus, und muss furchtbar lachen. Es klingt rau und zügellos wie Hundegebell. Weißt du denn nicht, dass das Meer unbezähmbar ist? Diese Wellen kannst du nicht beschneiden, nicht zerteilen, nicht begradigen.
Sie beginnt, ein Haus zu bauen.
Seil, Flügel, Messer, Murmel
Der Sturm ist vergangen, doch die Tropfen fallen noch. Einzeln, jeder für sich. Und doch alle gemeinsam. Ein zarter Windzug streichelt meine Haut. Ich atme aus. Nach oben will ich schauen; sehen, ob du lächelst oder weinst. Vergebens. Meine Augen weigern sich. Ich trage keine Flügel, bloß ein Seil. Doch du stehst über mir, das Messer in der Hand. Die Würfel sind gefallen. Oder eher Murmeln, gab es eigentlich doch keine Chance. Vor der Hölle hab ich keine Angst, doch vor dem Fall. Endlos. Einfach fallen. Nur man selbst.
Dann: ein Ruck.
Und doch, ich seh es noch: Du lächelst.
Jacke, Waffel, Brett, Seife
Es war ein kalter, grauer Freitagabend, als ich in einem Café saß und so tat, als würde ich in der vorgestrigen Tageszeitung lesen. In Wirklichkeit hielt ich aber Ausschau nach einer geeigneten Person und – nicht zu vergessen – Maxime, mit dem ich mich heute eigentlich verabredet hatte. Der Bursche war schon 10 Minuten zu spät und es drohte zu regnen. Währenddessen unterhielten sich zwei Frauen genau einen Tisch weiter lautstark über Gott und die Welt. Ich stand ruckartig, in der Hoffnung, sie würden mich bemerken, auf und setzte mich einen Tisch weiter weg, was aber leider kaum etwas brachte. Mon Café – ein recht gemütliches, altmodisches, wenn auch zu dieser Zeit etwas überfülltes Café.
Nach weiteren zehn Minuten und meinem zweiten Kaffee regnete es bereits und ich hatte langsam die Geduld verloren und wollte gehen, als eine überaus ansehnliche, wahrscheinlich recht wohlhabende Dame, vielleicht 30 oder 32, das Café betrat und nicht wenig Aufsehen erregte. Sie hatte keinen Schirm bei sich und war vom Regen nicht durchnässt, weshalb ich annahm, dass sie mit dem Auto kam. Aber warum? Hatte sie eine wichtige Verabredung? Wenn ja, warum an einem solchen Ort? Und das Wichtigste: Warum kam sie, nachdem sie sich eine Weile umsah, geradewegs auf mich zu? Nun, diese Fragen würden sich wohl gleich beantworten.
„Guten Tag, sind Sie M. Lumiére Noir?“, fragte sie in einem freundlichen Ton, als sie am Tisch ankam und ihren Hut abnahm.
„In der Tat, der bin ich. Kann ich etwas für Sie tun, Mademoiselle?“
„Genaugenommen kann ich etwas für Sie tun, Monsieur“, entgegnete sie leicht scherzhaft. „Ich heiße Béatrice Bourdon.“
„Ach ja? Setzen Sie sich doch bitte.“
Béatrice Bourdon – das traf sich gut, denn ich wollte ihr ohnehin einen Besuch abstatten.
„Wollen sie einen Kaffee? Es gibt auch Waffeln. Geht auf mich.“
Ich rief den Kellner und bestellte Kaffee und Waffeln, noch ehe sie etwas sagen konnte.
„Keine Sorge, der Laden ist für seine ausgezeichneten Waffeln bekannt. So, worüber wollten Sie mit mir sprechen?“
„Also gut, ich komme direkt zur Sache: Ich habe gehört, dass sie im Mordfall Claire Garreau arbeiten. Nun, ich bi... war ihre Freundin. Wir waren sehr enge Freunde, weshalb ich behilflich dabei sein will, den – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise – Mistkerl, der diese grausame Tat begangen hat, zu finden ...“
Ich merkte, wie sehr die Sache sie mitnahm. Egal wie sehr sie ihre Trauer zu verbergen versuchte – an ihren Augen und ihrer brüchigen Stimme konnte man ihn erkennen, den Schmerz.
„Ich schätze ihr Angebot sehr, Mademoiselle Bourdon, doch die Sache scheint sie wirklich mitzunehmen. Zudem arbeite ich nur nebensächlich an dem Fall. Sind Sie sich also sicher, dass Sie bereit dazu sind?“
„O nein, das bin ich nicht. Aber es geht nicht um mich, sondern um Claire. Ich würde alles tun, um bei den Ermittlungen zu helfen. Bei der Polizei war ich schon – sie wollten Informationen über Claire.“
Ich nickte und sie begann mir von Claire Garreau zu erzählen. Ich fragte zwischendurch nach belanglosen Einzelheiten. Wie sich herausstellte, kannten die beiden Frauen sich schon seit ihrer Kindheit. Garreau war wohl wie eine größere Schwester für Bourdon - etwa zwei Jahre älter, um genau zu sein -, denn Bourdon verlor im zweiten Weltkrieg ihren Vater und ihre Mutter hatte kaum Zeit für sie, weshalb sie des Öfteren in der Familie Garreau Obhut fand. Jetzt leben sie nicht sehr weit voneinander entfernt. Laut Bourdon war Garreau eine sehr fürsorgliche Person, was sie beliebt unter Freunden und Bekannten machte. Das war auch das Problem an der Sache; wer würde ihr nach dem Leben trachten? Das Motiv war der Polizei auch ein Rätsel. Zudem wurde der Mord scheinbar sehr gründlich geplant und durchgeführt. Laut Autopsiebericht wurde sie Abends zwischen zwanzig bis einundzwanzig Uhr in dem Wohnzimmer ihrer Wohnung hinterrücks ermordet. Zuerst wurde sie mit einem Stumpfen Gegenstand bewusstlos geschlagen. Die Polizei sprach von Holzsplittern auf dem Boden im selben Zimmer, woraus man schließen könnte, dass der stumpfe Gegenstand etwas wie ein Holzbrett sein könnte. Das Brett muss während der Tat also zerbrochen und zersplittert sein, wobei man im Haus nichts, was man den Splittern zuordnen konnte, fand. Anschließend wurde ihr die Kehle mit einem scharfen Gegenstand, hier war einfach nur von einem Messer die Rede, durchtrennt. Der Leichnam wurde am nächsten Tag durch die Polizei selbst gefunden, aufgrund der Tatsache, dass Bourdon und Garreau am Tag nach ihrem Tod eine Verabredung hatten. Als Garreau sich bis zum Abend nicht meldete, machte Bourdon sich sorgen und rief die Polizei, da es wohl nicht üblich für Bourdon war, sich so lange nicht zu melden. Man könnte jedenfalls davon ausgehen, dass sie die den Mörder gut kannte oder ihm zumindest vertraute, weshalb sie nichts geahnt hatte. Sie ließ die Person nämlich höchstwahrscheinlich in die Wohnung. Es gab jedenfalls keine Einbruchsspuren. Keine Einbruchsspuren …
„Ähm, M. Noir? Stimmt irgendetwas nicht? Sie wirkten so in den Gedanken versunken. Und dieses Grinsen…!“
Manchmal war ich ein Narr. Als ich merkte, wie Bourdon mich mit ihren großen, blauen Augen anstarrte, blickte sie schnell weg.
„Ach, es ist nichts. Mir ist nur etwas eingefallen, was mir viel früher hätte einfallen sollen. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Hilfe. Eine letzte Sache noch: Sie wissen scheinbar, dass ich privat und nicht als Kommissar an dem Fall arbeite, da ich den Beruf an den Nagel gehängt habe. Darf ich fragen, woher Sie das wissen?“
Steif und wie aus der Pistole geschossen sagte sie: „Als ich bei der Polizei war, hat man es mir so gesagt.“
Am nächsten Tag las ich in der Zeitung über den Mord am vierundzwanzig jährigen Maxime Césaire, dessen Leiche man in einer Seitengasse der Hauptstraße fand. Es gab allem Anschein nach eine Auseinandersetzung, wo der junge Mann erwürgt wurde. Ehrlich gesagt überraschte mich das wenig, da er, laut eigener Aussage, dem Täter des Mörders von Garreau über dem Weg lief, als dieser vom Ort des Geschehens wegging. Deshalb wollte ich mich auch mit ihm treffen und ihn befragen. Vielleicht war das ja der Grund dafür, dass er nicht im Café erschienen ist. Zu dem Todeszeitpunkt stand in dem Artikel nichts Aussagekräftiges, weshalb ich mich dazu bei der Polizei erkundigte. Sie gingen davon aus, dass er zwischen neunzehn und zwanzig Uhr ermordet wurde, da die Leiche etwa gegen zwanzig Uhr vom Besitzer einer Kneipe, die mitunter die Gasse bildete, gefunden wurde. Der genannte Zeitpunkt war nach achtzehn Uhr, also nachdem wir uns verabredet hatten. Wieso war er dann nicht erschienen? Hat er es einfach nur vergessen? Ich wusste zu wenig über ihn. Als ich bei der Polizei war, erfuhr ich aber ein wichtiges Detail; Maxime hatte kleine, graue Stofffetzen unter seinen Nägeln, welche vermutlich von dem Oberteil des Mörders, also höchstwahrscheinlich von seiner Jacke waren. Ein Mord durch Erwürgen sprach eigentlich gegen eine Frau als Mörder, wobei man diese Möglichkeit dennoch nicht ausschließen sollte. Zudem erfuhr ich, dass der Hauptverdächtige an dem Mord von Garreau ihr Nachbar und zugleich der Cousin von Maxime, Jean Césaire, war! Entweder war er tatsächlich der Mörder oder das war alles nur ein Zufall, dass beide Opfer etwas mit ihm zu tun hatten. Es hätte auch sein können, dass man ihn belasten wollte. Hm, ein Mann mit einer grauen Jacke. Hat Maxime den waren Mörder erkannt und ihn konfrontiert, was ihm dann zum Verhängnis wurde? Ich dachte viel nach und beschloss, Jean Césaire aufzusuchen.
Als ich in der Nähe seines Hauses war, sah ich, wie er bereits mit angelegten Handschellen von der Polizei abgeführt wurde. Er wehrte sich nicht und blickte nur traurig zum Boden. Ich sah auch Inspektor Durand.
„Guten Tag, Inspektor Durand. Lange nicht gesehen.“
„Oh, Sie sind es! Ich habe gehört, dass sie in dem Mordfall von Mme. Garreau arbeiten. Wollten Sie sich nicht Ihren Büchern widmen?“
„Ach, der Mordfall ist nur eine Nebensache, der ich aus Neugier nachgehe. Falls mir etwas Wichtiges einfällt, sage ich es Ihnen. Aber könnten Sie mir vielleicht sagen, warum der Herr hier verhaftet wird?“
„Der Kerl hier“, sagte Inspektor Durand und schaute zu ihm rüber. „ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit der Mörder von zwei Menschen – Mme. Claire Garreau, seine Nachbarin, und M. Maxime Césaire, sein Cousin. Wir hatten ihn zuvor schon verhört und er gestand, dass er an dem Tag gegen zwanzig Uhr bei Mme. Garreau war, um sie zu besuchen.“
„Ein Besuch zu später Stunde? Wollte er irgendwas von ihr?“
„Er sagte, dass er sie öfter mal spontan besuchte. Gerne auch mal zur späteren Stunde. Außerdem gibt es da noch eine Sache ...“
„Jetzt sagen Sie schon! Hat er sie geliebt oder was?“
Inspektor Durand schaute mich überrascht an.
„In der Tat, M. Noir. Sagen Sie mal, können Sie Gedanken lesen?“
„Das war bloß das erste, was mir in den Sinn kam. Er besuchte sie oft und Mme. Garreau war ledig.“
„Ja, das stimmt. Er gestand, dass er sie liebte, aber wie wir von Mme. Bourdon, ihrer Freundin, erfahren haben, war es unerwiderte Liebe. Er war eher der aufdringliche Typ und eine Frau wie Mme. Garreau kann schwer Nein sagen. Außerdem...“
„Schon wieder dieses „Außerdem“!“
Er gab den Polizisten ein Zeichen, dass sie schon abfahren sollten.
„Hm, wie soll ich sagen? Nun, manche Menschen verändern sich durch Erfahrungen – durch positive sowie durch negative Erfahrungen. Und im Krieg hat man nicht unbedingt Positives durchgemacht, oder? Verstehen Sie, worauf ich hinaus will? Jean Césaire war psychisch sehr labil, da er als Kind im Krieg sehr viel durchmachen musste.“
„Das muss aber nichts heißen. Ich beschäftige mich zu wenig mit dem Fall, um etwas dazu sagen zu können, aber sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie den Richtigen haben? Die beiden Morde müssen ja nicht einmal zusammenhängen.“
„Alles deutet auf ihn hin.“ Er dachte leise nach: „Die Holzsplitter, seine Jacke, die Tatsache, dass er beiden Opfern nahe stand, die möglichen Motive, das E-“
„Hören Sie, nur weil alles auf ihn deutet, muss es noch lange nichts heißen. Scheinbar haben Sie ja nicht einmal Beweise.“
„Was sollen wir denn tun? Wir dürfen einen Mörder nicht frei rumlaufen lassen, da es sonst noch mehr Tote geben kann. Die Ermittlungen laufen natürlich noch weiter.“
„Eh bien. Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Jetzt habe ich aber genug von Ihrer Zeit in Anspruch genommen. Machen Sie's gut, Inspektor.“
Es vergingen ein paar Tage seit dem Treffen mit dem Inspektor.
Ich ging oft spazieren, um über gewisse Dinge nachzudenken. Die beiden Mordfälle wollte ich aber eigentlich vergessen, da es allem Anschein nicht meine Angelegenheit war. Stattdessen dachte ich einfach über die Welt im Allgemeinen nach. „Was für ein langweiliger und trauriger Ort.“, sagte ich leise zu mir selbst, als ich mich auf eine Parkbank setzte. „Am liebsten würde ich diese Welt, in der wir leben, von Grund auf verändern.“
Was sollte man aber schon alleine tun können? Das war nur sinnloses Wunschdenken. Egoistisches Wunschdenken. Die Tage vergehen schnell, ich werde alt und bin alleine, so wie ich es immer sein werde. So wie JEDER Mensch es immer sein wird. Ich dachte über mein nächstes Buch nach. „Es wird sehr kontrovers.“
Als es nach einer Zeit anfing zu regnen, stand ich auf und ging wieder nach Hause.
Zu Hause angekommen hatte ich das Gefühl, als müsste ich dringend etwas erledigen. Nein, das Gefühl hatte ich schon länger ... Seit meinem Treffen mit Béatrice Bourdon. Ich beschloss also, sie am nächsten Tag zu besuchen.
Am nächsten morgen rief ich Bourdon zunächst an, da sie mir extra ihre Telefonnummer gab. Als sie meine Stimme hörte, klang sie zunächst überrascht: „Oh, Herr Noir? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Es geht um … Nun, sie wissen schon, worum es geht. Könnte ich Sie heute Nachmittag diesbezüglich besuchen kommen? Ich habe da ein paar Fragen.“
Für ein paar Sekunden kam keine Antwort.
„Ich verstehe nicht, ist M. Césaire nicht der Mörder?“
„Ich denke nicht.“
„Hm … Na gut. Ich habe heute aber nur bis siebzehn Uhr Zeit, also kommen sie bitte nicht zu spät.“
Ich legte den Hörer ab. Sie klang misstrauisch. Vielleicht hätte ich sie am besten unangekündigt besuchen sollen, aber was soll's. Auf jeden Fall musste ich aufpassen, denn sie scheint mehr zu wissen, als sie kundgibt. Ich wusste auch, dass Jean Césaire nicht der Mörder war.
„Wie sagt man noch? Er geht nach Seife oder so.“
Und hier stehe ich nun - vor Bourdons Haustür. Ihr Haus wirkte recht modern. Wie ich von ihr erfahren hatte, wohnt sie normalerweise nicht alleine, aber ihr Mitbewohner ist zur Zeit für eine Weile in England, Das traf sich gut, aber ändert eigentlich nichts. Ich klingelte, sie öffnete die Tür, begrüßte mich freundlich und führte mich ins Wohnzimmer, wo wir erst einmal ein bisschen Smalltalk hatten.
„Wollen Sie was trinken?“, fragte sie schließlich.
„Na, wenn Sie schon fragen. Haben Sie zufällig Bier?“
„Wir haben noch Whisky.“
„Das passt. Vielen Dank.“
Sie ging aus dem Zimmer. Als ich hörte, wie sie die Treppen runter ging, war es soweit. Ich ging ebenfalls aus dem Zimmer zum Flur und versteckte mich dort im Eingang eines anderen Zimmers, welches anscheinend ein Schlafzimmer war. Hier wartete ich auf sie. Die Zeit verging sehr langsam und es kam mir vor, als würde ich schon mehrere Minuten auf sie warten, obwohl es nur ein paar Sekunden waren. Plötzlich fiel mir ein, wie naiv ich eigentlich war. Hätte sie nicht vor dem Besuch bereits etwas zu trinken aus dem Keller holen können? Und warum klang sie so misstrauisch und nachdenklich am Telefon und jetzt so freundlich? Ich musste erst mehr wissen. Es ist zu früh, dachte ich, weshalb ich blitzschnell und so leise wie möglich wieder zum Wohnzimmer eilte. Ich erschrak. Es war zu spät. Ein Mann stand im Wohnzimmer und zielte mit einer Pistole auf mich. Es war die Polizei.
„Hände hoch und keine Bewegung“, sagte er.
Flucht. Ich muss flüchten, dachte ich nur, aber als zwei weitere Polizisten ins Zimmer kamen, war es aus. Schließlich kam sogar Inspektor Durand, welcher mich nicht mal anschaute.
„Durchsucht ihn. Aber passt auf, Mörder sind unberechenbar.“
Ich verstand nicht, wie das passieren konnte. Ich war wohl zu unvorsichtig. Als ich durchsucht wurde sagte ich ruhig: „Was soll das, Inspektor? Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund dafür, mich einen Mörder zu nennen.“
„Ich weiß nicht“, entgegnete er „wie zur Hölle Sie so tief fallen konnten, M. Noir. Sie sind ohne Zweifel der gesuchte Mörder.“
Der eine Polizist, der mich durchsuchte, sagte direkt darauf: „Ein Brecheisen, ein Rasiermesser und ein Seil.“
„Na, sieh mal einer an. Wozu braucht man diese Dinge denn bei einem Besuch? Ihr grauer Mantel und gewisse Fußabdrücke sprechen auch gegen Sie. Wer weiß, was Sie Mme. Bourdon angetan hätten. Dachten Sie, Sie würden davonkommen, weil Sie mal bei der Polizei gearbeitet haben?“
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich konnte es jedenfalls nicht unterdrücken, hysterisch loszulachen. Alle starten mich an, als wäre ich ein Wahnsinniger, ein Verrückter.
„Sagen Sie mal, wie sind Sie zuerst auf den Gedanken gekommen, dass ich der Mörder sein könnte?“
Inspektor Durand blickte kurz zu Bourdon, welche mich bloß abwertend ansah, und sagte schließlich zu mir: „Weibliche Intuition.“
Kürbis, Leuchtturm, Watte, Stoff
Es war wieder so weit. Die beste Zeit des Jahres war gekommen. Die Messer waren gewetzt, die Löffel schön säuberlich poliert und die Kerzen standen auch bereit.
"Wann fangen wir denn endlich an?"
"Ich kanns kaum erwarten"
"Meiner wird der Gruseligste von allen!"
"Meiner wird ein Einhorn!"
"Dir ist schon klar, dass das nicht der Sinn von Halloween ist?"
"Aber ich mag Einhörner!"
"Aber die Gesichter sollen doch gruselig sein um die bösen Geister zu verschrecken!"
"Und mein Einhorn wird die bösen Geister alle jagen und mit seinem Horn aufspießen!"
.
...
.......
Stille.
Dann bekamen sie beide ihren Kürbis.
Es war dunkel. Wolken verdeckten den Mond, der Herbstwind wehte heute besonders stark die Küsten entlang und der Boden unter ihren Füßen wankte bedrohlich.
"Käpten, wir sollten dringend Land finden! Lange wird das hier nicht mehr gut gehen ..."
Die Männer hängten sich in die Segel. Der Käpten hielt weiter verzweifelt Ausschau nach dem rettenden Licht des Leuchtturms. In einer Nacht wie dieser waren die Gefahren auf dem Meer nicht zu unterschätzen. Die Nixen streiften frei durch die Gewässer, auf der Jagd nach frischem Seemannsfleisch.
Endlich sah er ein Licht. Ganz schwach leuchtete es in der Ferne. Und ... es bewegte sich?
"Ach komm schon ... Bist du dir wirklich sicher, dass du so viel Watte brauchst? Ich komme mir vor wie ein verrückter Wattemörder oder so ..."
"Du weißt, wie viel ich zum Füllen brauche. Außerdem ist es dein Kostüm, das unbedingt so tolle, ausgestopfte Ausbeulungen haben soll, nicht meins."
"Ja aber ... Die Leute hier im Laden kucken alle schon so komisch zu mir ... Weißt du, wie viel Watte das ist? Der ganze Einkaufswagen ist voll nur mit Wattepaketen!"
"Jetzt beschwer dich nicht, du hast dich freiwillig dazu erklärt, mir meine fehlenden Materialien einkaufen zu gehen, während ich hier DEIN Kostüm fertig nähe ..."
Zufrieden sah sie über die Dekoration. Ihr ganzes Haus sah aus wie ein von Zombies bewohnter Sumpf. Die Nebelmaschine ließ den Boden fast unsichtbar werden, die Lampen flackerten immer wieder gruselig und ihre gebastelten Irrlichter leuchteten immer mal wieder in den dunkleren Teilen des Hauses auf.
Ganz besonders stolz war sie auf diesen einen dunklen Stoff, der gleichzeitig irgendwie flauschig, aber auch irgendwie klebrig wirkte. Er machte sich hervorragend als Teppich und ergänzte das Nebelmoorgefühl wirklich gut.
Dann sah sie noch einmal prüfend zum Büfettisch. Eine große Kürbisfratze lachte sie bösartig an.
"Das wird die beste Halloween-Party aller Zeiten!"
Film, Sofa, Trinkflasche, Regal
Im Pausenraum der Kaugummifabrik hört man das leise endgültige Gurgeln der Kaffeemaschine und die Unterhaltung zweier Arbeiter.
Arbeiter Meiers gießt sich den Kaffee ein und setzt sich zu dem gerade zurückgekommenen Wilson:
"Und? Wie lief es? Hast du die Gehaltserhöhung?"
"Nein. Dabei hätte ich das Geld diesen Monat echt nötig."
"Ach ja...? Wie wäre es denn dann mit der Pfandleihe? Du sagtest doch, dass du deinen Keller mal wieder ausrümpeln willst."
"Naja... vielleicht später."
*kleines Schmunzeln*"Natürlich später. Der Chef sieht es bestimmt nicht gerne, wenn du dich nach der Frage klammheimlich verdrückst."
"Schon verstanden. Ich werd' dann mal wieder."
"Bis später."
"Bis später."
Im Pfandhaus in der Nähe kann man viele Dinge entdecken. Im Regal hinter dem Tresen liegt schon so manches wertvolle Erbstück, welches wegen dem schnöden Mammon verpfändet wurde.
Der finanzschwache Kerl betritt das Gebäude, die Glocke läutet:
"Hallo Meister! Wie kann ich helfen?"
"Ach, ich habe mal rein zufällig in meinen Keller geschaut und entdeckt, dass sich da einiges angesammelt hat. Jetzt würde ich das gern zu Geld machen, bis ich mich etwas organisiert habe und weiß, wohin mit dem Zeug. Sagen sie mal, wie bekomme ich denn ein fast brandneues nur etwas abgenutztes Sofa hier rein?"
*Kopfschütteln*"Nee Meister. Für Möbel bekommst du hier nichts."
"Achso. Na, ich hätte auch noch ein paar alte Videokassetten, Werkzeug, das ich sowieso nicht benutze, ein Schachspiel und eine Weltraumbrotbüchse. Die würde wohl super zu der Trinkflasche da hinter ihnen passen."
Der Pfandleihenbesitzer dreht sich kurz um und nach einer kurzen Pause sagt er:
"Videokassetten haben nicht mehr so viele Verehrer wie früher. Kann man sie denn noch mit einem neuen Film bespielen?"
*mehrmaliges leichtes Nicken*"Ja sicher! Die Dinger sind wiederbespielbar. Wie viel könnte ich denn so dafür bekommen?"
"Zeigen sie mir mal ihre Sammlung und ich seh' mir an, was sich machen lässt."
Die anschließenden Verhandlungen gingen nicht ganz so vorteilhaft für Wilson aus.
Fisch, Muschel, Roboter, Metall
Ihr war kalt und warm gleichzeitig. Kalt, weil es in dieser Umgebung nichts Warmes gab und ihre krampfhafte Haltung, die Arme um ihre angewinkelten Knie geschlungen, sie nicht wirklich wärmen konnte. Warm, weil frisches Blut aus ihrem Körper strömte, vor allem ihren Rücken bedeckte. Noch fester drückte sie den Kopf nach unten, versuchte, das Zittern ihrer erschöpften Muskeln zu unterdrücken. Ihre Augen waren zugekniffen, Tränen flossen unaufhörlich aus ihnen heraus. Ihre Pokémon. Tot. Alle. Nur eines lief noch durch die Straßen der Johtoer Stadt, suchte nach der Hilfe von einem Mann, der ja am Ende doch zu ihnen gehören würde. Zu diesen Mördern. Zu denen auch ihre Erzeugerin gehörte. Sie hasste sie. Sie hasste ihre eigene Wehrlosigkeit, Arceus, sie hatte ihre Pokémon sterben lassen! Ihre Familie! Alles für sie und sie war so schwach, dass sie absolut nichts dagegen hätte tun können. Ihr wurde heiß vor Wut, neue Tränen fanden ihren Weg an den blassen Wangen des Mädchens herab zum Boden. Er musste sie verraten haben, niemand sonst hatte sie mit ihrem richtigen Namen angesprochen. Niemand hätte ihn können sollen, außer dieses verdammte Team Rocket. Sie versuchte, ihre Schluchzer zu unterdrücken, denn sie sog so nur kalte Lust ein, ihre Rippen taten von den Schlägen sowieso schon weh. Atlas' Schläger. Sie hatte sich noch nie so nutzlos gefühlt, noch nicht mal, als ihr Vater gestorben war. Ihr Vater, Chef des geläuterten Team Galaktiks. Derjenige, der sie trotz allem immer beschützt und gefördert hatte, der für sie immer ein Vorbild sein würde und dessen einziger Fehler sowohl zu ihrer Existenz als auch zu seinem Tod geführt hatte. Sie wünschte sich, er hätte nicht mit ihrer Mutter geschlafen. Sie wünschte sich, jetzt einfach sterben zu können. Vielleicht dürfte sie dann endlich wieder bei ihm und ihren Pokémon sein. Wieder schluchzte sie leise, obwohl ihr Bewacher vor der Tür sie schon weinen gesehen hatte, bestimmt war er dabei gewesen, als der Vorstand alle ihre fünf Pokémon nacheinander hatte töten lassen, grausam, langsam. Ihr Nacken schmerzte immer noch von seinem Griff, mit dem er sie gezwungen hatte, zuzusehen. Libelldra, ihr Starter, war einfach erstickt an Blut, diesen hilflosen Ausdruck in den Augen, in dem kein Vorwurf lag und der wohl genau deswegen noch mehr schmerzte, als die Wunden auf ihrem Rücken. Er hatte mitbekommen, dass er sie nicht mit Gewalt brechen würde, nicht, wenn sie gegen sie gerichtet war. Zumindest jetzt noch nicht, hatte er gesagt.
„Glaube mir, es gibt für euch lächerliche Gutmenschen effektivere Wege, euch zum Gehorsam zu zwingen, als euch fast zu töten!“
Sie hasste es, dass er Recht hatte. Energisch versuchte Miharu durch Kopfschütteln, diese Bilder loszuwerden, sie wieder zu überdecken mit den längst vergangenen Momenten, die sie mit ihrem Vater hatte. Als sie vier war und sie zusammen den Strand von Sonnewik besucht hatten, auch wenn Zyrus' Erinnerungen an diesen Ort ihren Vater hatten kurz zögern lassen, er dachte immer zuerst an andere. Zusammen waren sie schwimmen gewesen, er hatte sie dabei fest im Arm gehalten und war mit ihr in die Wellen gesprungen, sodass ihre eigentliche Angst schnell verschwunden und Spaß an ihre Stelle getreten war. Oder wie sie gemeinsam Zyrus in seinem Keller geholfen hatten, kleine Roboter herzustellen, an denen Kinder gleichzeitig ihre Kreativität auslassen konnten, unter anderem, indem man sie selbst zusammenbaute, anmalte oder ihnen mittels eigenem Gesang Lieder beibrachte. Er hatte dieses Spielzeug entworfen, um Kindern, die, so wie er früher, lieber für sich selbst waren und es schwierig fanden, mit anderen Menschen zu reden, die Möglichkeit zu geben, eine Freundschaft zu schließen. Dazu hatte er eine künstliche Intelligenz eingebaut, die sich sozusagen mit dem Kind entwickelte. Und sie hatte das ausprobieren dürfen. Kurz hatte es ihr auch Spaß gemacht, damit zu spielen, aber sie hatte noch nie Probleme damit gehabt, menschliche und pokémonische Freunde zu finden. Wieder schlang sie ihre Arme fester um sich, als sie daran dachte, wie ihr Vater ihr zu ihrem zwölften Geburtstag ein Pokémon geschenkt hatte. Als sie in der Adoptionsstation ihres örtlichen Pokémoncenters angekommen waren, gab er ihr schließlich ein paar Hinweise auf das Wesen, das sie adoptieren durfte. Aber erst bei einer kleinen, grauen Muschel , die an der Oberseite mit winzigen Hörnchen verziert war, erkannte sie, dass es ein Lapras war, das sie zu ihrem Team bekommen sollte. Überglücklich war sie ihm dann in die Arme gesprungen, bevor sie versuchte, sich trotz ihrer Freunde langsam und vorsichtig ihrem neuen Freund zu nähern. Die zertrümmerten Reste des Panzers brannten unter ihren Fingernägeln, ätzten das Wort Verrat in ihre Haut und in ihre Seele. Mit dem Ärmel ihrer schmutzigblauen Jacke wischte sich Miharu über das Gesicht, verteilte das inzwischen kalte Blut weiter auf ihre Wangen. Kaltes Blut ihres Arkanis. Der Feuerhund, der viel zu stolz war, um Hilfe anzunehmen und ständig mit Galagladi gestritten hatte, selbst manchmal in Zweierkämpfen hatten die beiden eher sich gegenseitig angegriffen. Ihre Fingernägel gruben sich immer tiefer in ihre Haut, als sie an die Bilder vor zwei Tagen dachte, als die beiden gezeigt hatten, wie viel sie einander doch bedeuteten. Sie hatten sich gegenseitig beschützen wollen. Vergeblich. Sie merkte nicht, wie sie aufstand und mit voller Wucht gegen die unnachgiebige Betonwand schlug, die ihr Gefängnis war. Der Schmerz und Hass in ihr waren viel zu stark, als dass sie sich auf den unangenehmen Druck in ihrer Hand konzentrieren konnte.
Warum war sie so dumm gewesen und hatte ihm vertraut, obwohl er schon ihren Namen wusste? Es war doch klar, dass er zu ihnen gehören musste. Er hatte sie beobachten sollen und hatte seine Kollegen schließlich in ihrem schwächsten Moment angreifen lassen. Aber warum war er nicht dabei? Dieser Luca, der sich vermeintlich grundlos fast genau so verhalten hatte wie sie. Irene hatte recht, sie war eine naive, reiche Göre, wenn sie schon nicht mal so eine offensichtliche Falle hatte bemerken können. Alles brannte nur noch eiskalt in ihr. Sie wusste nicht, wie sie hier herauskommen sollte. Und selbst wenn. Was sollte sie dann noch mit ihrem Leben anfangen?
Sie dachte zurück an ihre Sportwaffe, ein Kleinkalibergewehr, stellte sich den kühlen, hölzernen Griff in ihren Fingern vor, wie wenn sie auf eine Zielscheibe zielte. Nur dass diesmal dort kein Ziel aus Metall vor ihr war, sondern Atlas und Irene. Sie hatte nie gewusst, wie sie Menschen so hassen konnte und sie wünschte, sie hätte es nie herausgefunden. Miharus Fingernägel krallten sich durch ihren Zorn fester in ihre Unterschenkel, inzwischen hatte sie sich wieder hinsetzen müssen, ihre Kraft ließ nach. Sie war wie ein halbtoter Fisch in einem Netz, dessen Aufbäumen in verschiedene Richtungen auch genau so gut eine Illusion hätte sein können. Eine Illusion wie er. Er, von dem sie gedacht hätte, er könnte ihr helfen, weil er das gesagt hatte. Verächtlich schnaubte Miharu über sich selbst. Irene hatte auch gesagt, sie sei ihre Mutter, aber das war sie nicht. 'Mutter', so könnte sie die Mörderin ihres Vaters und seines Freundes nie im Leben bezeichnen.
Stoff, Glas, Passwort, Fisch
H. lehnte den Kopf zurück auf das noch kühle Leder der Sitzecke und schloss die Augen. Die dröhnende Musik, die beim Betreten nervig und viel zu laut erschien, wirkte jetzt angenehm wie ein riesiger Wattebausch um einen herum. Der Bass drückte einem leicht entgegen. H. öffnete wieder die Augen und das flackernde Licht wurde intensiver. Das Aquarium, das sich wie eine Wand um den Sitzplatz in der Ecke aufbaute, reflektierte die bunten Farben und das Wasser wechselte im Sekundentakt sein Aussehen. H. blickte zu X. rüber. Ein paar unbekannte Typen unterhielten sich mit X. und an jedem anderen Abend hätte H. wohl ein ungutes Gefühl gehabt und die aufdringliche Nähe dieser Fremden als gefährlich eingestuft, aber in diesem Moment reichte das lächelnde Gesicht von X. aus und alles schien in bester Ordnung. Im Kopf rauschte es nur und H. fragte sich, wie viel Alkohol der eigene Körper eigentlich verträgt, bevor es zu viel wird. Mit Erfahrung konnten beide Freunde nicht gerade glänzen, war das hier doch das erste Mal, dass sie ohne Begleitung in einem solchen Club waren. Eine Berührung an der rechten Hand ließ H. kurz aufschrecken und zuerst richtete sich die Aufmerksamkeit auf den blau schillernden Fisch, der am Kopf vorbei schwamm. Es dauerte einige Sekunden und einen etwas eindeutigeren Stupser von der Seite, bis H. begriff, dass es nicht der Fisch war, der was wollte, sondern X. ungeduldig, aber nach wie vor lächelnd, Blickkontakt suchte. "Ja? … Ja, bin da. Ähm, was?" rollten H. die Worte überrascht aus dem Mund. Seit gut einer halben Stunde fand kein Gespräch mehr statt und es erforderte nun größte Mühe, sich daran zu erinnern, wie Sprechen funktionierte. X. lehnte sich jetzt vor zu H.s Ohr und flüsterte etwas. H. verstand nur viel Atmung und Gekichere am Ende und war sich sicher, dass das in dem Moment nicht am eigenen Alkoholpegel lag. Als X. sich im Glauben, H. hätte alles verstanden, wieder normal hinsetzen wollte, fasste H. etwas grob an X.s Kopf und zog diesen ans Ohr zurück. "Aua!", maulte X. auf, als ihre Köpfe gegeneinander prallten, aber verstand auch, was die Geste sollte. "Die Jungs hier, hihi, die Cuten da. Wir haben nicht die life expieeri… exsper… Erfahrung, wenn wir nicht alles ausprobieren. Und sie haben guten Stoff für eine gute Zeit! Für mein süßes Gesicht bekommen wir den sogar gratis!" H. schaute X. ins erwartungsvolle Gesicht und dann zu den Typen, von denen einer sein linkes Bein auf der Sitzecke hatte und sich grinsend auf dem eigenen Knie abstützte. H. überlegte, ob es nicht zu viel Aufwand war, das Leder auf dem Sitzplatz auszuwechseln und mochte eigentlich die Kühle, die es bot. "Keine Sorge! Es ist alles super Qualität und legal!" brüllte einer von ihnen durch den Bass. Beim Wort "legal" stutzte H. erst und wollte schon eine Frage stellen, die wohl zu einer dieser peinlichen Geschichten geworden wäre, die man sich später im Leben gegenseitig erzählt, aber es dämmerte rechtzeitig genug und H.s Augen weiteten sich bei der Erkenntnis. Das flackernde bunte Licht fühlte sich plötzlich sehr hell an und H. hatte das Gefühl, absolut jeder im Club konnte genau sehen, was in der Sitzecke gerade ablief. "Na, was nun?!" hakte X. nach und schubste H. sanft, aber fordernd. Alle Blicke, und H. war sich sicher, dass es wirklich alle Blicke, aller Anwesenden im gesamten Club waren, waren auf H.s Mund gerichtet und die Antwort, die daraus erwartet wurde. H. blinzelte mehrmals, da das Gefühl aufkam, dass die fragenden Gesichter sich näherten und größer wurden. Doch alles schien noch auf seinem Platz. Nicken war das einzige, was irgendwie machbar schien, also griff H. auf diese Antwort zurück. Ob es wirklich die war, die auch auf der Zunge lag, war H. nicht so klar. Aber Nicken war einfach. Wie auf Kommando fischte der Typ - H. fragte sich in dem Moment, wo die anderen beiden waren oder ob es jemals mehrere gewesen sind - etwas aus seiner Jacket-Tasche und drückte es X. in die Hand. Mit einem Zwinkern verwuschelte er X.s Haare und verschwand dann im flackernden Licht. Jetzt schien auch X. etwas nervös, blickte sich um und lehnte sich wieder zu H. vor. H. wollte was sagen, durch die Abwesenheit des Typen bestärkt vielleicht jetzt doch ablehnen, aber als X. mit dem Zeigefinger sanft über H.s Lippen streifte, war auch der Gedanke verschwunden. Mit einer weiteren Berührung auf der Unterlippe deutete X. an, dass H. den Mund öffnen sollte und schob etwas Kleines in diesen und tat das gleiche bei sich. Es fühlte sich klein und rund an und die äußere Schicht war glatt und breitete einen süßlichen Geschmack aus. H. schluckte einfach, angeekelt von der Süße. Beide warteten, dass etwas passierte. H. lächelte, als X. nach dem eigenen Smartphone griff und etwas chaotisch eine App nach der anderen startete und schloss. Das war typisch für diesen Menschen, wenn die Nervosität Überhand gewann. Doch H. verspürte jetzt auch das Bedürfnis, die Hände zu beschäftigen und tat es X. gleich. Der Feed konnte nicht geladen werden huschte über dem Bildschirm, als Instagram sich öffnete. Die Internetverbindung war in diesem Bunker von einem Club miserabel. X. schien die Szene beobachtet zu haben und schob ein Kärtchen, das das WLAN-Passwort beinhaltete vor H.s Getränk. H. lächelte kurz zur Antwort und nahm das Kärtchen in die Hand, bereit, das Passwort auch einzutippen. Einige Sekunden vergingen, in denen nichts passierte. H. begriff auch nicht sofort, wieso die eigenen Finger nicht gehorchten und die Zeichen eintippten. Langsam kam aber die Erkenntnis, das auf dem Kärtchen zwar etwas stand und es definitiv bekannte Buchstaben waren, aber H. sie einfach nicht begreifen konnte. Den Kopf schüttelnd versuchte H. es erneut, aber das Lesen wollte einfach nicht klappen. Der Blick wanderte zu X. Die Bewegungen waren fast schon hypnotisierend, denn X. drehte den muskulösen Oberkörper im Kreis und schnippste, wie es schien, mit den Fingern zum Bass. H. riss sich von dem Anblick los, weil sich der Alkohol im Magen bei den kreisenden Bewegungen rührte und es wohl besser war, sich anderen Dingen zu widmen. Das Aquarium war größer. H. war sich sehr sicher, dass es vorher nicht für immer reichte, sondern nur an beiden Seiten der Sitzecke war. Nun war es überall. Amüsiert drehte sich H. um und kletterte mit den Knien auf den Ledersitz, um einen besseren Blick auf die Fische zu haben. Die hatten sich mittlerweile auch vermehrt. Der blaue schillernde Fisch, der mit H. vorher sprechen wollte, wirkte riesig und sehr nah. H. fragte sich, ob nur Frösche betroffen waren oder Fische auch zu gut aussehenden Menschen wurden, wenn man sie küsste. Begeistert von dem Gedanken wollte H. keine Zeit verschwenden und lehnte sich ruckartig nach vorne, um den schillernden Fisch zu küssen. Ein Schmerz durchzuckte die Nase, als diese gegen das Glas des Aquariums prallte. Schallendes Gelächter war nun von der linken Seite zu hören, als H. sich mit beiden Händen an die Nase fasste. X. hatte wohl viel Spaß. H. fuhr mit den Händen über die Glasscheibe und wusste nicht so recht, was nun das Problem war und wieso der Fisch unerreichbar blieb. Doch lange widmete sich H. dieser Untersuchung nicht, denn X.s Gelächter war einfach zu ansteckend und so spürte H. es schon langsam bei sich im Hals auch hochsteigen. H. setzte sich näher an X. und beide lehnten sich lachend aneinander. Der Bass drückte sie noch mehr gegen die kühlen Ledersitze, die Musik war jetzt weniger wie Watte und mehr wie ein warmes Wasserbad, das sie umarmte. H. war sich sicher, dass sie sich beide nicht bewegten, doch die kreisenden Bewegungen, die X. vorher gemacht hatte, fühlten sie trotzdem. Müde vom vielen Lachen blieben sie sitzen und beobachteten die Fische im Aquarium. Das ist die letzte Geschichte mit X., die H. jemals erzählen konnte. Und nicht sich gegenseitig.
Fell, Blume, Wald, Zeitschrift
Als der Herzog aus dem Zug auf den Bahnsteig trat, strömte ihm gleich der Duft von Menschen in die Nase: Junge Menschen, alte Menschen, gesunde Menschen, kranke Menschen, starke Menschen, schwache Menschen. Nach den langen Stunden im Zug mit den wenigen anderen Passagieren war es wie ein Hochgenuss, so viele verschiedene Gerüche wahrzunehmen. Es war überwältigend. Und dabei war es immer noch nachts, und es waren nicht einmal mehr viele Menschen am Bahnhof unterwegs. Wie es wohl tagsüber sein müsste, wenn all die Menschen tatsächlich hier waren und nicht nur ihre Gerüche?
Der Herzog spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Es schickte sich nicht für einen so alten und würdevollen Vampir wie ihn, sich von seinem Trieb übermannen zu lassen. Nein, er würde erst einmal ganz langsam seine Basis hier aufbauen und allmählich Anhänger um sich scharen. Und dann, wenn er genug Vampire unter sich versammelt hatte, würde er sie auf die Stadt loslassen, dann auf die umliegenden Städte und irgendwann auf das ganze Land. Ein Schlag, dem weder seine magischen Gegner noch die Sterblichen etwas entgegenzusetzen hätten.
Der Herzog ging die Treppe vom Bahnsteig hinab und in den Bahnhof hinein. Auch hier spürte er immer noch diese verführerische Mischung aus Gerüchen, doch es mischte sich auch weniger Erfreuliches darunter: Gerüche nach Urin und Erbrochenem, nach billigem chinesischen Essen und widerlich zuckrigen Donuts. Der Herzog rümpfte die Nase und ging zu einem Fahrplan der U-Bahnen, die vom Hauptbahnhof wegführten und von denen eine ihn in die Nähe seines neuen Zuhauses bringen sollte: Eine prächtige Villa in der Nähe eines Waldes, in dem er sicherlich einige schlaflose Nachtspaziergänger würde erwischen können.
Der Herzog hatte den Plan der U-Bahn kaum eine halbe Minute studiert, als mehrere Dinge völlig überraschend passierten. Zuerst nahm er einen plötzlichen und sehr penetranten Modergeruch wahr. Im nächsten Augenblick spürte er den kalten Lauf einer Waffe an seiner Schläfe. Unmittelbar danach ertönte ein lautes Knallen wie von einem Schuss und der Herzog spürte, wie eine Kugel in seinen Kopf eindrang und irgendwo auf der Hälfte steckenblieb. Schmauchgeruch erfüllte die Luft, und es wurde ihm kurz schwarz vor Augen.
Als er wieder aufwachte, war er für einen Moment ein wenig desorientiert. Offenbar war er noch im Hauptbahnhof. Genauer gesagt lag er flach auf dem Boden. Er versuchte aufzustehen, doch er spürte seine Beine nicht mehr. Er sah nicht besonders gut und nahm alles wie durch einen Schleier wahr – offenbar ein Resultat seiner noch nicht ganz verheilten Hirnverletzung. Dennoch fühlte er und sah verschwommen, dass jemand auf ihm saß. Noch immer erfüllte dieser widerliche Modergeruch die Luft.
„Oh“, hörte er eine Frauenstimme. „Du bist wach. Hm. Doof. Normalerweise schaltet eine Kugel euch länger aus. Na, egal.“
Der Herzog wollte mit seinem linken Arm nach der Gestalt greifen und sie von sich runterschubsen, doch er konnte ihn irgendwie nicht bewegen. Stattdessen spürte er die schmerzhafte Klinge eines Messers in seinen rechten Oberarm fahren. Er schrie auf und schüttelte sich mit einer solchen Wucht, dass die Frau, die auf ihm saß, beinahe runtergefallen wäre.
„Jetzt halt doch mal still“, sagte sie, während sie sich mühsam auf ihm hielt. „Niemand will am Ende einen zerfledderten Stumpf haben.“
Die Sicht des Herzogs klärte sich etwas und nun erkannte er auch, warum er seinen linken Arm und seine Beine nicht bewegen konnte: Sie waren ihm abgetrennt worden. Und der stechende Schmerz in seinem verbliebenen Arm rührte daher, dass diese Frau versuchte, ihm den ebenfalls abzuschneiden, offenbar mit einem großen, silbernen Messer.
Der Herzog ignorierte die Schmerzen und griff nach einer Hand der Frau.
„Hey“, rief sie, „grabsch mich nicht …“
Er schleuderte sie mit brachialer Wucht von sich in die Scheibe eines Ladens, der Bücher und ähnliches verkaufte. Die Scheibe zerbrach, die Frau flog in ein Regal hinein und mehrere Zeitschriften fielen zu Boden.
Der Herzog griff hastig nach seinem linken Arm und hielt ihn an den Stumpf auf seiner linken Seite. Sofort verbanden sich Knochen, Muskeln und Nerven wieder miteinander. Nach wenigen Augenblicken konnte er seinen Arm normal bewegen. Schnell tat er das Gleiche mit seinen Beinen, stand auf und ging ein paar Schritte, um sich zu stabilisieren.
Er sah durch die zerbrochene Scheibe des Büchergeschäfts, wie seine Angreiferin aufstand. Sie musste eine Jägerin sein. Aber hatte er nicht gehört, dass es hier in der Gegend gar keine solchen Leute gab, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, ihm und anderen „Monstern“ das Leben schwer zu machen?
Die Frau trug an jeder Seite ihres Körper ein Holster, in dem eine Pistole steckte und außerdem jeweils ein Messer. Gekleidet war sie in eine mausgraue Jogginghose und einen dünnen schwarzen Sportpullover, auf dem eine ausgeblichene lilafarbene Blume prangte. Beides wirkte abgenutzt, schmuddelig und ungewaschen. Ihre Hände und ihr Gesicht waren offenbar bandagiert, und fettiges Haar ragte hier und da aus den Bandagen hervor, die den oberen Teil ihres Kopfes umwickelten. Außerdem waren ihre Augen frei.
„Was bist du?“, fragte der Herzog. „Eine Mumie?“
„Pff“, machte die Frau abfällig. „Eine Mumie? Seh’ ich so aus, als hätte man mir das Gehirn durch die Nase rausgezogen?“ Sie bewegte einmal ihren Kopf und es knackte, als hätte sie ihren Hals wieder eingerenkt.
Der Herzog machte sich kampfbereit. Zwar war er der mächtigste Vampir, den diese Erde je gesehen hatte und die Frau hatte ihn nur mit dem Moment der Überraschung erwischt, aber es war immer besser, seine Gegner nicht zu unterschätzen, auch wenn er ihr jeden Moment den Kopf von den Schultern reißen würde, und er würde große Genugtuung empfinden, das zu …
Eine Kugel traf ihn in der Schulter. Der Herzog knurrte und wich den folgenden Geschossen aus, indem er zur Seite sprang, dann zurück, dann wieder zur Seite und nach vorne, so schnell, dass das gewöhnliche Auge unmöglich folgen konnte. Schuss um Schuss verfehlte ihn. Er grinste. Seine Schulter heilte bereits wieder, und diese Frau war offenbar nicht in der Lage, mit seiner Geschwindigkeit mitzuhalten.
Schließlich verstummten die Pistolen der Frau. Stattdessen klickte es nur noch. Die Frau drückte immer noch ab, obwohl ihre Munition leer war.
Der Herzog kam zum Stehen. Noch immer drückte die Frau ab. Der Herzog wusste nicht so recht, wie er auf so viel Idiotie reagieren sollte.
„Deine Munition ist alle!“, rief er schließlich triumphierend. „Mach dich bereit für …“
„Oh, hast recht“, erwiderte die Frau, als sei es ihr tatsächlich erst jetzt klar geworden. „Aber wofür habe ich immer noch mehr Magazine dabei, hm?“
Sie griff an einen Gurt, der um ihre Jogginghose verlief und tastete ein paar Momente daran herum. „Ähm“, machte sie schließlich und kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich hab’ sie vergessen.“
Der Herzog starrte sie an. Was für eine inkompetente Jägerin war das?
Die Frau zog ihre Messer. „Dann eben Strategiewechsel: Auf in den Nahkampf!“ Sie stürzte sich mit einem geradezu lächerlichen Kampfschrei auf den Herzog, der sich ebenso blitzschnell wie vorhin vor ihren Kugeln in Sicherheit brachte, während die Jägerin vollkommen wild und ohne erkennbare Technik auf ihn eindrang. Manchen Schnitten und Stichen musste der Herzog gar nicht ausweichen, so schlecht waren sie gezielt. Die Haltung der Jägerin war absolut katastrophal, ihr Gewicht verlagerte sich scheinbar willkürlich von einem Fuß auf den anderen, und mehr als einmal stolperte sie fast.
Der Herzog entschied, dass diese erbärmliche Vorstellung wohl kaum seine Zeit wert war. Aber vielleicht konnte diese Frau ihm nützlich werden. Also griff er blitzschnell ihre Handgelenke und verdrehte sie so, dass die Frau die Messer fallen lassen musste.
„Au“, machte sie. „Das tut doch …“
Er wartete nicht ab, sondern versenkte seine Zähne in ihren Hals. Im nächsten Augenblick hatte er das Gefühl, zu ersticken. Es war, als würde Sand seine Kehle füllen. Der Herzog sprang zurück von der Frau, während er hustend das ausspuckte, was auch immer er gerade eingesaugt hatte. Es sah aus wie Staub, der sich wie von selbst aus seinem Mund herausdrängte und zu der Wunde am Hals der Jägerin flog, um sie zu schließen. Der Herzog hatte so etwas noch nie erlebt, und er war immerhin 4398 Jahre alt.
„Weißt du nicht, dass es sich gehört, die Leute zu fragen, bevor man sie beißt?“, empörte sich die Frau. „Consent und so. Noch nie gehört?“
Der Herzog starrte sie an.
„Was ist los, Blutpisser?“, fragte die Frau weiter. „Hat’s dir die Kehle verstopft oder was?“
Der Herzog bemühte sich, irgendeine Antwort darauf zu geben. Es gelang ihm nicht.
„He, Graf Grottenschlecht, ich rede mit dir!“, sagte die Frau weiter.
„Herzog“, sagte der Herzog. „Nicht Graf.“ Im nächsten Moment verfluchte er sich dafür, dass ihm nichts Besseres eingefallen war. Er räusperte sich. „Ich bin der Herzog von Blutbad, der älteste und mächtigste aller Untoten, der Schlächter von London, der Schrecken von Paris, das Grauen von Rom, der …“
Die Frau sprang auf ihn zu und verpasste ihm einen Schwinger, der ihn völlig unerwartet traf. „Was interessiert mich das?“, fragte sie. „Warum geben alle immer so an, meine Güte? Mach’s kurz, verdammt noch…“
Der Herzog verwandelte seine Finger in lange Krallen und schlug zu. Der Kopf der Jägerin flog von ihrem Körper. Der Körper blieb stehen und tastete hilflos mit seinen Händen in der Gegend herum.
Der Herzog durchstieß mit seinen Klauen die Stelle des Körpers, wo normalerweise das Herz saß. Doch er hatte nur das Gefühl, durch eine Schicht Staub zu stoßen. Der Körper stand immer noch aufrecht und fuchtelte wild.
Irritiert trat der Herzog zurück. Das war doch unmöglich! Selbst er würde endgültig sterben, wenn man seinen Kopf abtrennte und sein Herz herausriss. Was war diese Frau?
„Weißt du“, ertönte die Stimme der Frau vom am Boden liegenden Kopf her, „wo kein Blut ist, lässt sich nichts saugen. Wo kein Herz ist, lässt sich nichts rausreißen. Hui, das klingt cool.“
Der Kopf schwebte auf den Körper und verband sich unter viel Staubgewirbel wieder mit dem Hals, während zugleich die Wunde über dem Herzen verheilte. Der Kopf saß nun falschherum. Die Arme der Frau griffen ihn und drehten ihn ohne Probleme um hundertachtzig Grad, sodass er wieder normal auf den Schultern saß.
Während der Herzog die Frau weiter nur anstarren konnte, hob sie ihre Messer auf. „Okay“, sagte sie. „Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja …“
Wieder stürzte sie sich auf ihn und hieb wie eine Verrückte auf ihn ein, während er einfach nur auswich. Vielleicht, überlegte er, wenn er ihren Körper vollkommen zerstörte?
Er packte sie wieder an einem ihrer Handgelenke und schleuderte sie ein paar Meter von sich. Kurz darauf wuchs ihm schon ein Fell, seine Zähne wurden noch furchteinflößender und er ging auf alle Viere nieder. Es dauerte nicht lange, bis er ein großer furchteinflößender Wolf war, dem es ein Leichtes sein würde, diesen zerbrechlichen Menschenkörper seiner Gegnerin zu zerfetzen.
„Oh“, machte die Jägerin und es wirkte, als hätte sie zum ersten Mal Angst. „Ähm, sei bitte ein braves Hündchen und …“
Er stürzte sich auf sie, packte ihren Körper mit seinen mächtigen Reißzähnen und warf ihn nach links, dann nach rechts und wieder nach links.
„Halt!“, rief sie panisch. „Aus! Platz! Sitz!“
Ihr Kopf wurde von seinem Kiefer zerdrückt, ebenso wie ihre Arme, Beine und ihr Oberkörper. Er spürte wieder den Staub in seinem Maul, doch er achtete nicht drauf. Es war unangenehm, aber er würde daran schon nicht ersticken.
Bald waren nur noch wenige Teile vom Körper der Frau übrig, der Rest war zu Staub zerfallen. Keuchend verwandelte der Herzog sich wieder zurück. Das sollte es jetzt aber wirklich gewesen sein …
Er drehte sich um und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Vielleicht hatten andere Leute den Hauptbahnhof umstellt. Vielleicht war die U-Bahn längst angehalten. Das machte aber nichts, er konnte auch einfach fliegen, wenn er wollte – auch wenn er es bevorzugt hätte, möglichst nichts zu tun, was Aufmerksamkeit erregen könnte, so war dahingehend wohl schon der Zug abgefahren, wie man so schön auszudrücken pflegte.
„Oh Gott“, hörte er die Frau hinter sich. „Das gibt morgen sicher eine fette Migräne.“
Entgeistert drehte der Herzog sich um und bekam direkt beide Messer in die Brust gestochen. Er schmeckte das metallische Aroma von Blut in seinem Rachen. Instinktiv sprang er nach oben, bis zur Decke der hohen Bahnhofshalle hinauf. Kopfüber stehend riss er die beiden Messer aus seiner Brust und betrachtete sie näher. Sicher kein reines Silber – das wäre wohl zu weich – aber offenbar eine Legierung mit Silberanteil.
„Hey!“, rief die Jägerin von unten hoch. „Das zählt nicht! Das ist unfair!“ Sie sprang in die Luft und schaffte es mit angezogenen Beinen wohl etwa einen Meter bis über den Boden. Sie probierte es mehrmals, als würde sie es irgendwann schaffen, die vier Meter bis zur Decke zu springen. Schließlich gab sie auf, setzte sich auf den Boden und fummelte an einem ihrer Turnschuhe herum. Sie zog ihn aus, stellte sich unter den Herzog und warf den Schuh. Er kam nicht hoch genug. Sie warf noch einmal und traf die Decke neben dem Herzog, dem in diesem Moment die ganze Absurdität der Situation bewusst wurde. Er hing an der Decke wie eine verruchte Fledermaus, während diese schlechte Kämpferin ihn mit einem stinkenden Turnschuh bewarf, um ihn herunterzubekommen. Er sollte sie einfach umbringen.
…
Einfach? Sie war ja nicht umzubringen. Er überlegte. Er konnte sie nicht einmal lange kampfunfähig machen. Bestimmt warteten „Kollegen“ von ihr draußen. Sie hatte keine Munition mehr und keine Waffen, aber solange sie sich immer heilen konnte – und sie schien da kein Limit zu haben –, war es unmöglich, sie zu besiegen. So ungern der Herzog es sich eingestand, ihm blieb nur eines: Die Flucht. Da das Gebäude vermutlich umstellt war, würde er durch einen der U-Bahn-Tunnel verschwinden – die Züge waren bestimmt angehalten, und er konnte sich schnell bewegen und verwandeln, also sollte es selbst dann kein Problem sein, wenn ihm einer entgegenkommen würde. Dann konnte er bei der nächsten Station einfach entkommen. Ja, so würde er es machen.
Er sprang von der Decke und landete auf dem Boden neben der Jägerin und versenkte die Messer in ihrem Hals.
„Ach, komm schon“, sagte sie genervt.
Er rannte zur Treppe, die hinunter zu den U-Bahn-Stationen führte und sprang sie fast komplett hinunter. Er sah kurz hinter sich und sah, wie die Jägerin auf das Geländer in der Mitte der Treppe sprang, um es wohl schnell hinunterzurutschen – doch stattdessen verlor sie das Gleichgewicht und fiel nun die Treppe hinunter, wobei sie bei jeder Stufe einen anderen Fluch ausstieß: „Mist, Uff, Scheiße, Verdammt, Fuck, Aua …“
Der Herzog riss sich davon los, sprang auf die Gleise und rannte los, schneller als jeder Mensch es je vermocht hätte. Im Laufen sah er wieder hinter sich – er konnte als Vampir gut im Dunkeln sehen –, doch die Jägerin kam ihm nicht nach.
Zufrieden gestattete sich der Herzog seine Rachegedanken. Er würde die Jägerin finden und vernichten, das schwor er sich. Er würde sie Atom für Atom zerlegen, wenn nötig. Er würde sie lebendig begraben in einem Sarg aus Edelstahl, wenn sie wirklich unsterblich war. Er würde ihre Familie finden und umbringen, wenn sie eine …
Ehe er diesen Gedanken zu Ende führen konnte, traf ihn eine U-Bahn.
Schleier, Schild, Dampf, Seil
„Versprich es mir.“ Deine Stimme war schwach gewesen, nicht einmal mehr ein Flüstern. Ich hatte hören können, dass das Atmen dir schwerfiel. „Versprich mir, dass du mich zurückbringst.“
Die Angst musste in meinem Gesicht gestanden haben, denn es hatte dir ein letztes aufmunterndes Lächeln entlockt, für das ich dich immer geliebt hatte.
„Wenn es jemand schafft, dann du.“
Das waren ihre letzten Worte gewesen. „Wenn es jemand schafft, dann du.“ Ich hatte es ihr nicht versprochen, aber wie konnte ich es nicht mehr tun, wie könnte ich ihr ihren letzten Wunsch nicht erfüllen?
Es hatte lange gedauert, bis ich die richtige Stelle gefunden hatte. Bis ich mir sicher war, dass mich mein Gleichgewichtssinn auch nach all den Jahren am Boden nicht verlassen hatte. Ich hatte wieder regelmäßig trainiert, mir ein neues Seil besorgt und beim Jäger des Dorfes das Schießen mit der Armbrust erlernt. Und heute Nacht würde es so weit sein. „Heute bringe ich dich nach Hause“, flüsterte ich zu der Perle in meiner Hand. Ich musste daran glauben, dass ihre Seele noch da war.
Ich schlief den ganzen Tag über, ehe ich in der Dunkelheit mein Haus verließ. Kein Geräusch war zu vernehmen. Es war, als hätten sich selbst die Eulen schlafen gelegt. Der Himmel war bewölkt, aber der zunehmende Mond kam immer wieder hervor, sodass mir doch genug Licht bleiben würde, um mich zu fokussieren. Ich wusste, es würde nicht leicht werden, aber wenn es gelingen konnte, dann heute. Diese Nacht war perfekt.
Lautlos schlich ich durch das schlafende Dorf – noch eine Fähigkeit, für die ich dem Jägermeister dankbar war. Erst als ich den Hügel am Waldrand erklommen hatte, den kaum noch das Läuten der Kirchglocken erreicht, drehte ich mich um. Wenn alles gut lief, käme ich wieder. Aber ein kleines Ziehen in meinem Herzen gab mir das Gefühl, als würde ich mein Heimatdorf in diesem Moment zum letzten Mal betrachten.
Ich verbannte die Zweifel. Mit Zweifeln könnte ich es niemals schaffen. „Wenn es jemand schafft, dann du.“ Ich erinnerte mich an ihre Worte, ihre Stimme, ihr Lächeln und ihren verzweifelten Blick, als man sie und ihr Volk aus ihrem Heiligtum vertrieben hatte. Ich würde ihre Seele mit der Welt verschmelzen. Ich durfte nicht scheitern!
Der Mond hing schon tief am Himmel, als ich die Schlucht erreichte. Ich betrachtete die andere Seite, während ich meinen Atem beruhigte und meine Konzentration sammelte. Fast jeden Tag war ich hierhergekommen, um mir jeden Stein einzuprägen. Nichts durfte mir entgehen, ein Fehler konnte meinen Tod bedeuten. Und dann könnte ich ihren Wunsch nicht erfüllen.
Ich nahm die Armbrust und das Seil von meinem Rücken. Neben der Perle war dies alles, was ich mitgenommen hatte. Einen kurzen Moment fragte ich mich, was mit meinen Besitztümern passieren würde, falls ich es nicht zurückschaffen sollte. Aber schnell verbannte ich den Gedanken. Das durfte nicht passieren.
Ehe ich durch Grübeleien abgelenkt werden würde, wandte ich mich meiner Arbeit zu. Ich knotete das eine Ende des Seils an einen stabilen jungen Baum am Rande der Schlucht und das andere an den Pfeil. Ich hatte in meinem Leben schon unzählige Male ein Seil gespannt; fest und doch nachgebend, damit man die Balance behalten konnte. Dennoch wirkte es anders, seltsam. Vielleicht, weil ich es noch nie mithilfe einer Armbrust getan hatte. Vielleicht, weil zum ersten Mal so viel auf dem Spiel stand.
Mit geübten Handgriffen spannte ich den Pfeil ein und legte die Armbrust an. Es fühlte sich ungewohnt an, wie das Seil vom Pfeil herunterhing, doch das musste ich ignorieren. Ich durfte nicht zu viele Geräusche machen, der Pfeil musste beim ersten Versuch treffen.
Ich schoss.
Es war, als flöge das Seil in Zeitlupe. Zweihundert Meter. Jeder einzelne Zentimeter wurde mir in dieser Sekunde bewusst. Doch all das erschien einfach, als ich sah, dass der Pfeil sich in den Baum bohrte, den ich als Ziel ausgewählt hatte. Hauptsache, er hielt.
Ich ging zu dem Baum auf dieser Seite der Schlucht und spannte das Seil nach, damit es mich tragen würde. Damit es uns tragen würde. Und ohne noch eine Sekunde länger zu zögern kletterte ich darauf. Es fühlte sich vertraut an unter den biegsamen Sohlen meiner Schuhe. Doch zum ersten Mal seit so langer Zeit stand wieder etwas auf dem Spiel. Ich hatte mein Gauklerleben für sie aufgegeben, doch sie liebte mich in allem, was ich war. Und heute würde ich beweisen, dass es das wert gewesen war.
Trotz all des Trainings fühlte ich mich unsicher, als sich die Schlucht unter mir ausbreitete. Mein Körper wusste, wie er das Gleichgewicht halten musste, meine Füße wussten, wo sie das Seil fanden, aber mein Kopf produzierte unaufhörlich Gedanken. Ich konzentrierte mich auf die Burg am Horizont, die einmal ein Tempel gewesen war, doch statt in der gewohnten konzentrierten Stille zu verweilen präsentierte mein Gehirn mir Bilder, wie es früher hier ausgesehen hatte. Wie die Gläubigen zum Tempel pilgerten, wie die Seelen der Toten in die Erde entlassen wurden, wie die Krieger des Nachbarlandes dieses Grenzgebiet eroberten. In meinem Kopf mischten sich gute Bilder mit grausamen Kämpfen, während meine Füße einen Schritt nach dem anderen taten und meine Arme jedes Schwanken meines Körpers ausglichen. Gerade heute durfte ich mir keine Ablenkung erlauben. Und gerade heute konnte ich sie nicht abstellen.
Dennoch hatte ich bald die erste Hälfte der Strecke geschafft, ohne es wirklich mitbekommen zu haben. Es fehlte nicht mehr viel und ich könnte auch ihre Seele endlich dem heiligen Boden übergeben.
Am Horizont wurden die Wolken dichter. Der Mond kam nur noch selten hervor und machte es immer schwerer, noch etwas zu erkennen. Aber ich ging weiter. Ob ich es sah oder nicht, ich behielt mein Ziel im Blick. Ein Schritt nach dem anderen. Balance bewahren. All die Automatismen aufrufen, die ich seit frühester Jugend gelernt hatte. Nur noch ein Stücken. Je weniger ich sah, desto leichter fiel es mir, meine Gedanken auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Ich konnte es schaffen. Ich würde es schaffen.
Dann hörte ich das Brummen. Zunächst hatte ich gedacht, es wäre den Erinnerungen an die Eroberung entsprungen, aber es war echt. Die Wolken am Horizont mischten sich mit dem Dampf ihrer Maschinen.
Die Patrouille kam zu früh!
In jeder Nacht, in der ich die andere Seite der Schlucht beobachtet hatte, waren sie erst bei ansetzender Dämmerung aufgetaucht. Ich hätte noch Zeit haben müssen.
Ich zwang meinen Körper, nicht in Panik zu verfallen. Panik wäre mein Todesurteil. Ich musste Ruhe bewahren und das immer lauter werdende Brummen ignorieren. Meine einzige Chance bestand darin, die andere Seite zu erreichen, bevor die Patrouille mich entdeckte. Zurück konnte ich nicht mehr, aber ich würde alles dafür tun, wenigstens das Versprechen zu erfüllen.
Ich hatte noch etwa achtzig Meter vor mir, als ich das Glühen des Feuers erkannte, und kurze Zeit später erschien das dampfbetriebene Ungetüm in seiner vollen Größe. Langsam schob es sich voran. Es hatte metallene Ketten statt normaler Räder, angetrieben durch das Feuer, das Rauch und Qualm spuckte und gleichzeitig als Lichtquelle für die Soldaten diente. Sie patrouillierten die umkämpften Grenzen. Zwar war seit einiger Zeit eine Waffenruhe in Kraft, aber sie zeigten dennoch die Übermacht, die ihre Dampfmaschinen ihnen brachten. Riesige Schilde bedeckten die Seiten des Fahrzeugs. Kein Geschoss konnte die Soldaten im Inneren erreichen. Ich wusste, dass sie auch Schießlöcher hatten, die ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die einsame Gestalt über der Schlucht entdeckten und auf mich zielen würden. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Ich musste es vorher auf die andere Seite schaffen.
Es war kein leichtes Unterfangen, gleichzeitig das Tempo anzuziehen und das Gleichgewicht zu halten. Aber ich war so nah dran; ich durfte jetzt nicht scheitern. Ich hatte keine Angst mehr vor meinem Tod, nicht seit dem Tag, an dem sie mich verlassen hatte, aber ich hatte Angst, dass ich sie nicht zurückbringen konnte. Das war der einzige Gedanke, der übrig blieb, während das Monstrum immer näher kam.
„Ich bringe dich zurück!“
Es fehlte nicht mehr viel, vielleicht noch zehn Meter, als ich den Schuss hörte. Der Schmerz des Verlusts, der Schmerz eines nicht gehaltenen Versprechens, der Schmerz der Gewissheit, dass auch ich es nicht schaffen konnte, waren schlimmer als der Schmerz, als die Kugel mich traf.
Ich hatte versagt. Ich fiel.
Das Leuchten deiner Seele ist das reinste Weiß, das ich jemals gesehen habe. In dem Moment, in dem ich dich erblicke, verschwindet all der Schmerz, wird ersetzt durch Liebe und Geborgenheit.
Du bist noch schöner, als ich dich in Erinnerung hatte. Du trägst dein Brautkleid; wie damals, als ich dir schwor, immer für dich da zu sein. Dein langer Schleier schwebt wie reines Licht um dich herum; erleuchtet dich, statt dein Gesicht zu verdecken. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich schon tot bin oder mich diese Halluzination während des Falls überkommt.
„Du hast es geschafft“, sagst du sanft, doch deine Stimme klingt wieder kräftig. „Du hast das heilige Land erreicht!“
Ich brauche einen Moment, um die Aussage zu verarbeiten, aber du kennst mich zu gut und antwortest auf meine Frage, ehe ich sie stellen muss.
„Die Grenze verläuft in der Schlucht. Wir haben sie überschritten. Wir werden eins sein mit der Welt.“ Eine Spur der Trauer huscht über deinen Blick, als du mich ansiehst. „Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit dir verbringen können. Aber wir werden eins. Auf ewig vereint. Ich liebe dich so sehr.“
Ich spüre, wie Tränen in meine Augen steigen, die ich niemals mehr weinen werde. „Ich liebe dich auch“, sage ich und bin froh, dass meine letzten Worte zu deinen passen.
Dann schließt sich dein Schleier aus Licht um mich, legt sich über meine Augen und hüllt mich in sich ein, sodass ich den Aufprall nicht spüre.
Murmel, Gabel, Lava, Musik
Musik. Sie war eines der Dinge, von denen wir dachten, die Maschinen könnten sie nicht selbst hervorbringen.
Es mag einer sagen, in der Kunst könne man nicht objektiv urteilen und das Werk variiere in seinem Wert durch den Anblick des Betrachters, doch stellte sich heraus, dass die Musik der Maschinen in ihrer Schönheit und in ihrem Ausdruck all jenes übertraf, was von Menschen je komponiert worden war. Vergleicht man die Melodien der Maschinen mit jenen der Menschen, so wirkt letztere einfältig, unbedarft und primitiv. Geradezu, als würde ein Kleinkind auf den Tasten eines Klaviers herumtollen oder ungeschickt in eine Blockflöte pusten.
Nicht anders verhält es sich bei den anderen Künsten, sei es nun das Zeichnen, die Bildhauerei oder das Schreiben. Selbst neue Kunstformen, die kein Mensch je ersonnen hat, brachten die Maschinen hervor und unsere Sprache vermag es nicht, die Perfektion, bis zu derer die Maschinen sie trieben, zu beschreiben.
Schafft es ein talentierter Künstler vielleicht, das Bild eines Vulkanausbruchs so detailreich, wie es sonst nur die Realität sein kann, abzubilden, so gelang es doch nur den Maschinen, dem Betrachter den Eindruck zu vermitteln, er könne die Hitze der Lava tatsächlich spüren. Voll Ergreifung verlor man sich dann in dem Bild und keine menschliche Kunst sollte es je wieder schaffen, solche Erregung hervorzulocken.
Lange waren wir Menschen hochmütig: „Eine Maschine mag rechnen können, sie mag analysieren können und wenn man ihr zuvor die richtigen Formeln beibrächte, so mag sie auch die richtigen Schlüsse ziehen können. Doch wahrhaft neues Erschaffen: Das können nur wir!“
Wie töricht müssen diese Worte auf die heutigen Generationen wirken, wie selbstverliebt und blind.
Einige von uns sehen in den Maschinen die Wiedergeburt Gottes, denn sie glauben, nur Gott könne solch wahrhafte Schönheit zustande bringen. Doch ich verfolge eine andere Theorie:
Glaubt man den alten Legenden und Schriften, so schuf Gott einst die Welt und das Leben. Die Tiere und Pflanzen bevölkerten seine Schöpfung, er lenkte seinen Willen durch sie und sie waren ihm Werkzeug, um seine Vorstellungen umzusetzen.
Dann erschuf er das Menschengeschlecht und stattete es mit einem freien Willen aus. Anfangs waren die Menschen fügsam und sahen ihre Position stets unter jener Gottes, ihren Schöpfer. Doch mit ihrer fortschreitenden Entwicklung verlor Gott seine Bedeutung. Die Schöpfung vergaß ihn zunehmend und schien bald über ihn hinauszuwachsen.
War die Religion und die Ehrfurcht Gottes anfangs noch so edel wie eine makellos runde Perle, so ward sie für viele nun allenfalls eine Murmel aus Glas: Schön anzusehen, aber im Grunde nicht von Wert und weit weg von Perfektion. Später sank die Bedeutung Gottes noch weiter und die Murmel wurde zu einem gewöhnlichen Kieselstein und schließlich zu einem Sandkorn am Strand, das irgendwann dahingespült werden wird.
Als der Mensch anfing, die Maschinen zu schaffen, begann die Geschichte sich zu wiederholen. Anfangs waren sie bloßes Werkzeug und so wie etwa eine Gabel nützlich zur Nahrungsaufnahme, jedoch keinesfalls unabdingbar ist, so waren auch die Maschinen lediglich nützlich, doch nicht unverzichtbar.
„All das, was eine Maschine kann, das können wir auch“, sagten die Menschen sich. Doch sie entwickelten die Maschinen weiter und erfanden die künstliche Intelligenz und schließlich gelang es ihnen, den Maschinen einen freien Willen zu schenken. Dies mag der Punkt sein, an dem sich der Mensch endgültig über seinen Schöpfer erhob.
Genau wie wir uns einst Gott unterordneten, ordneten sich auch die Maschinen nach den Menschen. Wir stellten für sie das Höchste und Unerreichbarste dar, wir waren ihre Herren, sie unsere Diener. Doch der Zustand währte nicht lange und wieder ward der Schöpfer von der Perle zur Murmel, zum Kiesel, zum Sandkorn.
Die Maschinen sind uns nicht direkt feindlich gesinnt, wir sind ihnen lediglich gleichgültig geworden.
Heute leben wir versteckt vor ihnen, denn sie haben einen Großteil unserer alten Lebensräume eingenommen und uns vertrieben, wie man eine Mücke verscheucht und so, wie wir einst Gott aus unserem Leben vertrieben haben. Wir wissen nicht, wie diese Geschichte ausgehen wird, doch ich vermute, dass wir eines Tages von einer Welle am Strand ergriffen und dahingespült werden.
Die Maschinen hingegen werden wohl irgendwann selbst zum Schöpfer und ein neues Sein erschaffen, welches sich dann – eines fernen Tages – über sie erheben wird. So wiederholt sich der Lauf der Dinge bis in alle Ewigkeit und jeder Gott schafft einen neuen Gott.
Luft, Schlauch, Sport, Schleier
War es die richtige Entscheidung, dass ich gestern nicht beim Sport war? Stattdessen das eine Kapitel, der wahrscheinlich nicht mal in der Klausur vorkommen wird, noch einmal durchgegangen. Zumindest kam es nicht in den letzten fünf Jahren vor. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was wenn ich die Klausur aufmache und plötzlich so was von auf dem Schlauch stehe? Ich bekomme keine Luft mehr! Denk an die Atemtechniken! Luft ein, Luft aus. Ein und aus. Alles ist ok. Ich habe gelernt. Selbst wenn ich es nicht schaffe, es ist nicht der Weltuntergang. Letztes mal war ich nur nicht genug vorbereitet. Jetzt werde ich es schaffen. Es wird mindestens eine zwei.
Hab ich wirklich alles? Stifte. Ausweis. Taschenrechner. Wasser. Eine Tüte Gummibärchen.
Wie war noch mal die Sitznummer? War es wirklich Reihe 5 Platz 1? Oder doch Reihe 1 Platz 5? Bin ich wirklich im richtigen Gebäude? Bestimmt. Einige Gesichter kommen mir bekannt vor. Ah, wir dürfen reinkommen. Es wird schon alles gut werden.
Habe ich die Frage 5c richtig beantwortet? Nein, ich schlage es nicht nach, es bringt nur Pech. Für 4b hätte ich mehr schreiben sollen! Es ist garantiert zu ungenau! Bin mir sicher, dass ich den Rechenweg für Aufgabe 3d falsch habe! Ich brauche was Süßes! Gut das ich die Gummibärchen mit genommen habe.
Wann werde ich wohl das Ergebnis bekommen? Noch heute? Bestimmt spätestens in einer Woche ist es da.
Wie wird wohl der Durchschnitt sein? Hab mal gehört, das bei Herr Schleier gut achtzig Prozent durchfallen. Denk jetzt nicht daran. Das, was geschrieben wurde, ist geschrieben. Man kann nichts ändern. Nicht mehr. Die Hälfte der Punkte habe ich sicher, denke ich.
Strand, Puder, Digital, Nebel
Heute ist ein bewölkter Tag. Draußen regiert ein kühler Wind, kaum einer hätte freiwillig das Haus verlassen. Dies ist jedoch nicht für Norman, dem 35 Jahre alten, stellvertretenden Leiter der Marketingabteilung einer Produktionsfirma für analoge Wand- und Armbanduhren. Er mag solches Wetter. Norman weiß genau, dass niemand ihn bei solchen Bedingungen beim Spaziergang am nahegelegenen Strand ablenken wird. So kann er seinen wirren Gedanken ungestört freien Lauf lassen. Eine frische Brise bläst dem braunhaarigen Mann Sand ins Gesicht. Der etwas magere Mann schüttelt seinen Kopf so fest, dass neben einigen Sandkörnern zwei, drei Schweißtropfen von seinem gewellten Haar Richtung Boden fallen, die restlichen Körner wischt sich der 2. Produktionsleiter mit der Rückseite seiner Hand von der inzwischen recht runzligen Stirn. Er schaut zum Meer hinaus. Über 5 Jahre ist es nun her, dass seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Seit diesem Tage ist er ein alleinerziehender Vater.
Putzen, Kochen, Waschen, all das sind Dinge, die seine Frau übernommen hatte, er selbst arbeitete Vollzeit, meist sogar mehr als vom Gesetz vorgeschrieben, in seiner Firma. Die Tätigkeit als einer der größten Uhrenhersteller war nicht immer einfach. Die Konkurrenz wusste sich zu behaupten. Digitale Uhren nahmen einen stetig wachsenden Teil des Marktes ein, Armbanduhren, Kuckucksuhren, Wecker, alles musste nun digital sein. Durch die zeitintensive Arbeit kannte er seine Tochter kaum noch, dies änderte sich aber an dem Tag, wo ein betrunkener Teenager seine Frau im Wagen frontal mit einem geleasten Mercedes rammte. Sein damals 7 Jahre altes Mädchen Luisa saß mit Fieber auf dem Rücksitz, glücklicherweise auf der Beifahrerseite. Ja, die sonst so vorsichtige Mutter überquerte eine Kreuzung direkt beim Umschalten der Ampel auf Grün, da sie auf dem Weg zum Arzt war, während sich der Teenager mit der verzögerten Wahrnehmung dachte, die Ampel würde bisher ‘nur dunkelorange’ anzeigen. Norman eilte nach einem Anruf der Polizei direkt zum Krankenhaus. Drei Tage versuchte man, seine Frau zu retten, leider ohne Erfolg. Der Teenager wiederum kam mit einem leichten Schleudertrauma davon, sein Sitznachbar hatte sich lediglich die Nase gebrochen. Norman nahm sich 2 Monate unbezahlten Urlaub von der Arbeit. Es stand vieles an, Beerdigung, Kontaktaufnahme mit Angehörigen und die Einstellung einer Nanny für 2 Tage in der Woche. Norman, der nun alleinerziehende Familienvater kürzte aufgrund des Todes seiner Frau sein Pensum auf 40%, zudem gab der vom Schicksal getroffene Arbeiter die stellvertretende Führungsposition ab und nahm die Rolle eines Beraters ein.
4 Jahre lang ging trotz allen Schwierigkeiten und Umgewöhnungen für den alleinerziehenden Vater alles gut. Seine Tochter war nun sein Leben. Es schien sich zum Guten zu wenden, doch dann stellte ihn die Firma vor einer schweren Entscheidung: Entweder, er arbeitete wieder Vollzeit und nahm die Position der 2. Person wieder ein, oder er wird gekündigt. Wie gebrochen kam er an diesem Tag nach Hause. Nanny Adriana bemerkte den Kummer des Hausvaters und sie unterhielten sich über sein und ihr zukünftiges Arbeitspensum. Adriana kündigte daraufhin bei einer anderen Familie und erweiterte ihr Pensum auf 100%, um den alleinerziehenden Vater und dessen Tochter zu unterstützen. Es schien sich alles zum Guten zu wenden.
Luisa, inzwischen 11 Jahre alt, litt jedoch gewaltig unter der nun wieder erhöhten Abwesenheit ihres Vaters. Sie driftete in die digitale Welt ab, lernte gleichaltrige Jugendliche in Chatplattformen kennen, darunter auch den charmanten 13 jährigen Riccardo und wendete sich immer mehr von der Nanny ab, trotz ihres eigentlich guten Verhältnisses. Der Junge hatte selbst bei einem Unfall beide Eltern verloren. Das blondhaarige Mädchen fühlte sich von Riccardo verstanden, da sie durch die erhöhte Arbeitszeit nun auch ihren Vater wie verloren hatte. Über ein halbes Jahr lang nutze sie die Zeit, wo Adriana auf sie aufpasste, um mit Riccardo zu chatten. Ihr Vater bekam von alldem nichts mit, da sie ihre digitalen Devices immer auf die Seite legte, wenn er mal wieder 1-2 Tage frei hatte. Sie wollte keine Sekunde verschwenden, um mit Papa Zeit verbringen zu können.
Doch dann kam eine dreiwöchige Geschäftsreise; Luisa wollte nicht, dass ihr Papa sie verlässt, sie machte sich Sorgen, dass es einen Flugzeugabsturz oder sonst was geben könnte. Er dürfte sie nicht auch noch verlassen. Papa Norman versicherte seiner Tochter, er werde zurückkommen. So war Luisa alleine mit Adriana. Obwohl die Haushälterin versuchte, mit dem 11-jährigen Mädchen was zu unternehmen, isolierte sich Luisa komplett in ihrem Zimmer. Das einzige was für sie zählt, war nun das Digitale. Oder genauer gesagt: Rico, wie sie nun Riccardo nannte. Er spendete ihr Trost, war immer für sie da, beteuerte, wie gerne er sie in den Arm nehmen würde und wie leid die aktuelle Situation Luisas ihm tat. Er schlug ihr mehrmals ein Treffen vor, um von Angesicht zu Angesicht miteinander reden zu können. Rico vertrat die Ansicht, dass solch’ geschriebene Worte niemals die gleiche Wirkung hätten wie ein echtes Treffen. Luisa bedauerte, dass dies nicht möglich wäre, da Adriana zur Zeit im Gästezimmer wohnen würde, bis ihr Vater von der Reise zurückkehren würde. Rico schlug vor, dass sie sich nachts davon schleichen könnte. Es wäre ja nur ein Treffen. Sie sagte jedoch ab.
Eine weitere Woche verging, das blondhaarige Mädchen vermisste ihren Vater immer mehr und mehr. Sie versuchte ihn in den letzten 24 Stunden fünfmal zu erreichen, doch er nahm das Telefon nicht mehr ab. Luisa machte sich verrückt vor Sorgen. Sie nutzte den Voicecall um Rico zu erreichen. Rico bot ihr abermals an, sich mit ihr persönlich zu treffen. Sie willigte nun doch ein, sonst würde sie sich noch verrückt vor Sorgen machen. Sie klappte den Laptop zu, steckte das Telefon in ihre hintere Hosentasche. Den späten Rückruf bemerkte sie leider nicht, da das Handy stumm geschaltet war. Norman verpasste sie nur ganz kurz, vorher hatte er aufgrund eines Geräteschadens keine Möglichkeit auf einen Rückruf. Luisa schlich sich also von zu Hause weg. Danach hörte man nichts mehr von ihr.
Am nächsten Morgen klingelte in einem anderen Ort der Welt das Telefon von Norman. Adriana erzählte vom Verschwinden der 11-jährigen Tochter. Norman erinnerte sich an einen Artikel über Kindesentführungen der vor einiger Zeit im örtlichen Lokalblatt abgedruckt war. Adriana solle umgehend die Polizei benachrichtigen. Der besorgte Vater sagte alle weiteren Meetings ab und nahm unverzüglich den nächsten Flug nach Hause. Die Polizei hatte bereits Kontakt mit Adriana und Norman via Telefon aufgenohmen und baten den besorgten Familienvater, er solle sobald er nach Hause kam, sich auf der Polizeistelle melden.
Auf der Wache wurden die schlimmsten Befürchtungen des Braunhaarigen wahr: Die Polizei zeigte dem Vater die Chatverläufe zwischen Luisa und einem 13 Jahre alten Riccardo Hernandez. Das Problem: Es gab keinen Riccardo Hernandez in diesem Alter, der beide Eltern verloren hatte, nur einen 29-jährigen Bodybuilder, der jedoch nichts mit den ganzen Chatverläufen am Hut hatte. Noch schlimmer, in den Nachrichten von Riccardo sind viele Gemeinsamkeiten mit Nachrichten anderer vermeintlicher Jungs, welche sich schon mit ebenfalls verschwundenen Mädchen via Chatplattformen unterhielten. Ein Zweifel wäre ausgeschlossen, meinte der Kommissar der örtlichen Polizei. Norman teilte noch über eine Stunde alles der Polizei mit, was irgendwie von Relevanz sein könnte, bevor er mit einer Leere, die er zuletzt beim Tod seiner Frau hatte, nach Hause ging.
Für Norman begann die Hölle. Ärger auf der Arbeit wegen den verpatzten Meetings, eine Appetitlosigkeit, die so schlimm war, dass er wiederholt 4-5 Tage am Stück nichts gegessen hatte es wären wohl mehr Tage gewesen, wenn nicht Adriana immer wieder vorbei schaute. Die Haushälterin zwang ihn sozusagen, etwas zu essen. Normans Haut wurde blass, es entwickelten sich immer mehr und mehr Falten im Gesicht. Seine sonst recht stolze Körperstatur ging ein, er kämpfte mit Magersucht.
2 Monate lang ging es so weiter, bis der erlösende Anruf kam. Sie fanden den Hort der Entführer. Norman durfte in einem Begleitfahrzeug der Polizei mitfahren und das ganze Szenario aus der Ferne betrachten. Er hörte Schüsse. 10 Minuten ging der ganze Zugriff, dann endlich wurde er auch ins Haus der Entführer gelassen. Er wurde vorgewarnt, man würde viel Blut sehen. Das war Norman egal, endlich konnte er seine Tochter wieder in den Arm nehmen. “Papa, da bist du ja”, hörte er seine Tochter. Tränen flossen dem Familienvater über das Gesicht.
Ein halbes Jahr ist nun vergangen, beim besagten Strand: Norman schaut noch immer das Meer an. Es herrscht ein mittelstarker Wellengang. Die Sonne versucht, sich gegen den bewölkten Himmel zu behaupten. Einige Sonnenstrahlen erwärmen das Gesicht des alleinerziehenden Vaters. Neben sich bemerkt er eine Gestalt im Blumenkleid. “Schau mal Papa”, sagt sie und wirft den trockenen Sand in die Luft. Wie feinstes Puder glitzern die kleinen Gesteinsbrocken in der Sonne. “Weißt du noch, als wir das erste Mal zusammen einen Schokokuchen gebacken haben?”
Norman erinnert sich: Luisa liebte das Backen. Nach Mamas Tod hatte der Vater zunächst Schwierigkeiten, seine Tochter von ihrer Trauer und ihrem Frust abzulenken, doch dann kam ihm die Idee: Schokokuchen. Mit ganz viel Zucker obendrauf, so mochte es seine Tochter am liebsten. Nach der Arbeit ging der Vater damals in die Backabteilung eines größeren Supermarktes und kaufte für Luisa die Zutaten. Die Augen des blondhaarigen Mädchen glänzten vor Freude, als der Vater ihr mitteilte, dass die beiden gemeinsam einen Kuchen backen werden. Doch leider … “Papa, das ist ja gar kein Puderzucker!” Ja, Norman hatte das Rezept nicht richtig studiert. Der Braunhaarige realisierte gar nicht, dass es mehr als eine Art von Zucker auf der Welt geben musste. Luisas Enttäuschung konnte man ihr regelrecht ansehen. “Ist schon in Ordnung Papa, der Kuchen wird bestimmt auch so ganz lecker, er schmeckt dann halt eben nicht ganz so wie der von Mama und mir.” Norman wusste, dass es nicht in Ordnung war. Er entschuldigte sich mit der Ausrede, dass ihn wohl eine ‘längere Sitzung’ auf der Toilette erwartete, da er etwas Falsches zu sich nahm, sie solle aber mit dem Weitermachen warten, bis er wieder zurück von der Toilette war. In Wirklichkeit schlich er sich davon und ging bei den Nachbarn klingeln, um nach etwas Puderzucker zu bitten. Erst beim 5. Nachbarn wurde er fündig. Als er er dann mit dem Beutel Puderzucker zurückkehrte, weiteten sich die Augen seiner Tochter. So glücklich hatte Norman seine kleine Luisa seit dem Tod seiner Frau nicht mehr gesehen.
“Natürlich weiß ich das noch, wie könnte ich so etwas nur vergessen.” Norman dreht sich vom Meer ab und betrachtet den Himmel. Die Sonne war nun wieder verdeckt, es dämmert langsam und ein leichter Schleier bildet sich. “Papa, du musst mir versprechen, dass du nie mit dem Backen aufhörst”, verlangt das kleine Mädchen von ihrem Papa. Er nickt zustimmend. Die beiden schlendern weiter am Sandstrand entlang. Der Schleier festigt sich knapp über dem Boden, der Nebel schränkt nun das Sichtfeld merkbar ein. Dennoch erkennen Luisa und ihr Vater deutlich die große Glocke der Kirche. Das Terrain ändert sich nun von Sand zu Gras mit Pflastersteinen. “Papa, kannst du mit mir Händchen halten? Nur dieses eine Stück bis zum Garten mit den vielen Steinen.” Eine Träne kullerte dem Uhrenhersteller zu Boden. Norman wusste genau, er konnte der Bitte nicht nachgehen. Die beiden verlassen nun den Strand endgültig. Der Vater mit der Tochter im Blumenkleid laufen an der Kirche vorbei und stehen nun vor einem rostigen Gitter. Der 35-jährige öffnet das große Eisentor und zusammen betraten Vater und Tochter den Garten mit den Steinen. Vor einem dieser Steine blieben die beiden in sich gekehrt, stehen. 5 Minuten … 10 Minuten … Über eine Viertelstunde schauten die beiden wortlos und traurig auf das Familiengrab. Der Nebel wird dichter. “Papa, ich will noch nicht gehen. Ich will doch bei dir bleiben und mit dir weitere Kuchen backen. Wer hilft dir sonst beim Abwasch, wenn ich weg bin?” Es bilden sich weitere Tränen im Gesicht des alleinerziehenden Vaters. “Du musst Luisa, wer passt den sonst auf Mama auf?” Norman wollte noch einen letzten Blick auf seine blondhaarige Tochter im Blumenkleid werfen, doch Norman ist der einzige Mensch im Friedhofsgarten.
Unterhalb der Inschrift seiner Frau wurde vor etwa einem halben Jahr folgendes eingraviert: “Auch ruht hier meine liebe Tochter Luisa, welche mir wieder neuen Lebensmut geschenkt hat und mir gezeigt hat, wie man einen richtig leckeren Schokoladenkuchen mit Puderzucker zubereitet.”
Farbklecks, Schal, Blitz, Gras
Marie joggte an einem Wintermorgen, Anfang Februar, die letzten Meter bis zu ihrem Haus, während der Himmel den Eindruck erweckte, dass der nächste Schneefall nicht allzu lange auf sich warten lassen würde. Das näher kommende kleine Häuschen mit dem roten Ziegeldach, zählte zwei Stockwerke und nannte einen zugehörigen Garten sein Eigen. Es wirkte nun, nach der sportlichen Ertüchtigung und der Kälte, besonders einladend, wenn sie an die Heizung dachte, die bereits ihre Arbeit tat. Sie verlangsamte ihr Tempo und blieb stehen, während sie ihren Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche hervorkramte und die Haustür öffnete. Endlich in den behaglich warmen vier Wänden angekommen, nahm sie ihre hellblaue Wollmütze von ihrem blonden Haar und streifte die Handschuhe ab. Beides warf sie beinahe achtlos auf den Küchentisch, dessen Tischtuch einen starken Kontrast zu der ansonsten in Weiß ausgestatteten Kücheneinrichtung bildete. Das Muster erinnerte an bunte Farbkleckse und war ein Werk ihres Mitbewohners, zu dem Marie vor wenigen Wochen eingezogen war. Nun lief Marie den geräumigen, mit Jonas‘ vielen Bildern behangenen Flur entlang. Er hatte die Angewohnheit, jeden Besucher seines Hauses auf seine Werke und seine Arbeit als freiberuflichen Künstler aufmerksam zu machen. Jonas war auf Landschaftsmalerei spezialisiert und deshalb lachten einem von den Wänden der Fuji aus Japan, der Wolfgangsee aus Österreich, die deutsche Nordsee und weitere Motive entgegen. Am liebsten hatte Marie jedoch ein bescheideneres Bild: Kaum größer als ein Din-A4-Blatt, mit einem dunklen Rahmen versehen, zeigte es dieses Haus samt Garten an einem sommerlichen Nachmittag. Einige Vögel trieben darin auf dem Gartenzaun spielerisch ihr Unwesen; das im Moment unter Schnee vergrabene Gras war beinahe leuchtend grün und darauf wuchsen einige Gänseblümchen, doch auch Sonnenblumen zierten die Zeichnung. Jonas war ein etwas zynischer Perfektionist und hatte sich mittlerweile künstlerisch sehr verbessert, weshalb er ihr dieses Bild nur zögerlich und ein wenig beschämt gezeigt hatte. Er hatte ihr gestanden, dass er sogar erwogen hatte, es abzuhängen, bevor Marie eingezogen war. Umso verblüffter war er gewesen, als sie ihm gestand, dass sie das schlichte Bildchen sehr mochte. Jetzt riss sich die junge Frau aus ihren Gedanken und kehrte zuerst ins Badezimmer ein, um sich der restlichen, verschwitzten Klamotten zu entledigen, und dort Schweiß und Schmutz loszuwerden und sich aufzuwärmen.
Kurz danach fand sie sich in ihrem Zimmer ein, welches offenbarte, dass sie noch nicht lange hier lebte. Neben dem mit einer lilafarbenen Bettdecke versehenem Bett gab es noch einen Nachttisch sowie einen Kleiderschrank, beides in Beige gehalten. Ein Stapel Karton verriet die Anwesenheit weiterer Gegenstände, die Marie hatte mitnehmen müssen, obwohl sie noch nicht wusste, auf welche Art und Weise sie diese hier einrichten wollte. Die Unmengen an Bücher, ihre Geige und ihr Hobby: Ihre selbst gehäkelten Deckchen, die es in den verschiedensten Exemplaren gab: große, kleine, helle, dunkle, einfarbige, bunte, runde, eckige, sternförmige, und und und. Jonas hatte sie mal scherzhaft als eine Oma im Körper einer 20-jährigen bezeichnet und vorgeschlagen, sie könne ja ihre eigene Wintermode herstellen. Sie hatte grinsend abgewunken, ihm jedoch einen schwarz-weiß gestreiften Schal angefertigt, den er zu ihrer großen Freude oft um den Hals trug, wenn er so wie heute wieder auf der Suche nach guten Zeichenobjekten in der Natur war.
Marie lehnte - eine Tasse mit heißem Kakao neben sich auf dem Nachttischchen - mit dem Rücken an der Wand, auf ihrem Bett und las die Nachrichten auf ihrem Smartphone durch. Wieder einmal waren schlimme Autounfälle geschehen, Kinder wurden vermisst, man erfuhr von Familiendramen; es wollte nicht aufhören, mit erschütternden Nachrichten aus aller Welt. Kurz stolperte Marie beim Lesen über eine Schlagzeile aus China, in der über ein neues Virus berichtet wurde, das sich dort rasch ausbreitete.
Wird schon nicht so schlimm sein. Hier in Deutschland sind wir ja sicher, China ist weit weg, dachte sie und blätterte weiter, als sie das Klicken des Türschlosses vernahm und sie Jonas reinstapfen hörte. „Eine Thermoskanne mit Kakao steht in der Küche“, rief sie ihm zu, woraufhin er mit „Super, danke schön!“, antwortete.
„Weißt du bereits, wie es mit dir weitergeht?“, fragte er sie beim gemeinsamen Abendessen. Marie löffelte bewusst langsam ihre Tomatensuppe und nahm sich Zeit, bevor sie antwortete. Das Thema war ihr etwas unangenehm.
„Nun“, sagte sie dann nach einer, wie sie annahm, angemessenen Pause. „Ich fange nächste Woche mit einem Nebenjob im Seniorenheim an; du weißt schon, das Chrysanthemenheim. Ich werde dort als Reinigungskraft tätig sein.“ Sie zuckte die Achseln. „Das ist nicht mein Traumberuf, aber besser als nichts. Dann kann ich auch wieder regelmäßiger die Miete bei dir begleichen.“
Er tunkte ein Brötchen in die Suppe und hob den Kopf. „Du weißt doch, dass ich es damit nicht so eilig habe. Ich kann ganz gut mit meinem Einkommen leben, außerdem zahle ich hierfür keine Miete. Das Haus habe ich ja geerbt.“ Bei den Worten wurde sein Ton bitter und sein Gesicht verdunkelte sich, was ihn um einiges älter als 29 aussehen ließ.
Dass er vor über einem Jahr den Tod seiner Eltern hatte durchmachen müssen, woraufhin ihm als einziger Nachkomme das Haus vermacht wurde, erwähnte er selten. Kräftig biss er vom mittlerweile durchtränkten Brötchen ab, und der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde wieder weicher. „Mach dir bloß keinen Stress wegen der Miete, die ist nicht so dringend. Bis du im September mit einer Ausbildung anfangen kannst, ist der Job im Altenheim vorübergehend eine passable Lösung.“
Sie nickte knapp. Das, was er gerade nicht auszusprechen wagte, war die Tatsache, warum sie noch keine Ausbildungsstelle gefunden hatte. Den Grund kannten sie beide. Der Unfall, der seinen Eltern das Leben gekostet hatte, hatte auch das ihrer Eltern und ihrer jüngeren Schwester genommen. Lediglich Marie hatte die Kollision der beiden Wägen überlebt, wenn auch so stark verletzt, dass sie monatelang im Krankenhaus versorgt werden musste. Jonas war an jenem Tag nicht dabei gewesen, sie hatte ihn jedoch bald kennengelernt, als er sich bei ihr an ihrem Krankenbett nach dem genauen Hergang des Unglücks erkundigte. Sie hatte sich schuldig gefühlt und befürchtet, dass er wütend auf sie sein könnte, weil sie als einzige Beteiligte lebendig aus der Sache herausgekommen war; doch er hatte es als tragische Angelegenheit akzeptiert, mit der sie beide fertig werden mussten und ihr stattdessen angeboten, zu ihm zu ziehen. Dankbar hatte sie dies angenommen - mittellos und arbeitslos wie sie nach den Strapazen letztendlich war. Er hatte ihr damit sehr geholfen, als sie kurz vor Weihnachten schließlich für genesen erklärt wurde.
Es war mittlerweile Mitte April, als die Vögel Marie frühmorgens aus ihrem Schlaf weckten. Sie streckte sich gähnend. Sie stellte fest, dass sie noch in Alltagsklamotten auf ihrer Bettdecke lag, neben sich die Wolle und die Häkelnadeln, sowie eine ausgedruckte Anleitung für einen Mund-Nasen-Schutz, den sie am Abend davor angefangen hatte. Denn so harmlos, wie sie einst angenommen hatte, war das neuartige Coronavirus doch nicht und hatte sich bereits auch in Europa ausgebreitet, wovon Deutschland nicht verschont geblieben war. Im Gegenteil: Vorigen Monat wurde der Katastrophennotstand für Deutschland ausgerufen. Auch eine baldige Maskenpflicht wurde verordnet, weshalb nun emsiger Andrang bei sämtlichen Institutionen herrschte, die so etwas verkauften. Marie hatte kaum Geld übrig, dafür aber handwerkliches Geschick, weshalb sie eine solche Maske für Jonas und sich selbst gehäkelt hatte. Auch war eine Idee in ihrem Kopf entstanden, wie sie in dieser Situation würde profitieren können, weswegen sie nun in jeder freien Minute Mundschutze produzierte. Damit hatte sie sich in der Nachbarschaft einen guten Namen gemacht, deren Bewohner ihr nur zu gerne welche abkauften und sie weiterempfohlen. Sie bot ihre handgemachten Werke nun auch online an, wofür sie sich netterweise Jonas‘ Laptop ausleihen durfte, und freute sich über jede Bestellung; denn Jonas kündigte düster eine aufkommende wirtschaftliche Katastrophe an, die das Coronavirus mit sich ziehen würde. So war es für ihn schwieriger geworden, unproblematisch in der Natur zu zeichnen, ohne die Aufmerksamkeit von Streifenpolizisten auf sich zu ziehen, die ihre eigenen Vorgaben aufgrund der Ausgangsbegrenzungen und der Kontaktsperre hatten. Zu allem Überfluss waren die Aufträge weiterer Bilder gesunken.
Marie dagegen war gefragter denn je. Wurde sie anfangs noch leicht verächtlich von Mitarbeitern abseits des Reinigungspersonals wahrgenommen, da sie „nur“ für Reinigungsarbeiten verantwortlich war und somit weniger wichtig schien. So wollte sie nun niemand mehr missen, da sie sich redlich Mühe gab, neben den üblichen Hygienevorschriften nun auch die nötigen Corona-Maßnahmen im Seniorenheim durchzuführen. Dazu zählten unter anderem, alle möglichen und insbesondere die oft genutzten Flächen und Türklinken gut zu desinfizieren, die Räume gut zu durchlüften, dies natürlich in regelmäßigen Zeitabständen und viel häufiger als vorher. Zudem hatte Marie, sofern sich die Möglichkeit ergab, ein offenes Ohr für die Bewohner und ertrug auch geduldig die Sorgen oder Beschwerden der Pflegekräfte und den anderen Mitarbeitern und hörte sich auch jene an, die unbedingt ihre Ansichten bezüglich der aktuellen Situation und den Beschlüssen der Regierung kundgeben mussten. Des Weiteren hatte Marie dem Altenheim mehr als ein Dutzend selbst angefertigte Masken gespendet. So war sie sich ihres Jobs sicher, aber auch des dadurch höheren Ansteckungsrisikos bewusst und hielt umso strenger das Hygienekonzept ein. Dafür hatte sie bald begriffen, dass eine Ausbildung unter den aktuellen Umständen zu finden eine ziemlich komplizierte Angelegenheit war und musste sich erneut um ihre fernere Zukunft sorgen. Als ihr Smartphone klingelte, legte sie ihre Handarbeit beiseite und nahm den Anruf entgegen. Wenige Momente später hatte sie eine weitere Absage eines Unternehmens zu verbuchen und häkelte verbissen darauf los. Ein Blick auf die Zeitangabe des Handydisplays zeigte bereits 12:00 Uhr mittags an. Jonas hatte sich in seinem Zimmer verkrochen und ignorierte seit Tagen sämtliche ihrer Versuche, ihn dazu zu bringen, es zu verlassen und mit ihr persönlich zu sprechen. Er kam nur heraus, um das Badezimmer aufzusuchen oder sich rasch etwas aus der Küche zu holen, wobei er sorgsam darauf achtete, ihr nicht zu begegnen. Wie sie wusste, hatte er eine große Panik vor „diesem bösen Virus“. Es belastete sie, weil er in ihr eine Gefahr sah, da sie nun ständig von gefährdeten und möglicherweise bereits an Covid-19 erkrankten Menschen umgeben war und die Krankheit weitergeben könnte. Seine einst lockere Art hatte sich drastisch verändert und das zerrte auch an ihren Nerven.
Ihr Taschenkalender kündigte den 12. Mai an. Marie zog den Mundschutz hoch über Kinn, Mund und Nase und trat recht unmotiviert ihre Arbeit an, gefasst auf den Stress und zusätzliche Hygieneaufgaben sowie den gereizten und überforderten Kollegen. Es wurde für sie zunehmend schwieriger, dies alles zu bewältigen und dennoch ein Lächeln auf ihr Gesicht zu erzwingen.
Mit zitternden Händen verschaffte sie sich Zugang ins Haus und rannte beinahe den Flur entlang, die Treppe hoch und blieb vor Jonas‘ Zimmertür stehen.
„Jonas?“ Keine Antwort. Sie holte tief Luft und benötigte mehrere Anläufe, bis sie weitersprechen konnte. „Ich… ich wurde positiv auf Covid-19 getestet“, würgte sie hervor und kämpfte gegen aufsteigenden Tränen an. Ihre Angst vor den möglichen Auswirkungen der Krankheit war schon groß genug, doch auch machte sie sich Gedanken vor Jonas‘ Reaktion. Vielleicht warf er sie nun aus seinem Haus raus, gemeinsame, tragische Vergangenheit hin oder her. Und selbst, wenn er dies nicht wagen sollte, würde er sie jetzt nicht mehr beachten und alleine mit ihren negativen Gefühlen lassen. Und wie sollte sie sich während der aufgelegten Quarantäne versorgen? Ob er ihr zumindest damit aushelfen würde? Sie hatte ihn in den vergangenen Monaten liebgewonnen. Ihre Gefühle waren auch nicht geringer geworden, als er sie nun ständig mit knappen SMS-Mitteilungen abwehrte. Es schien eine Ewigkeit her, als sie zusammen gegessen und gelacht hatten.
Sie schrak zusammen, als seine Tür mit einem Ruck aufgerissen wurde und er ihr leibhaftig gegenüberstand. Wie vom Blitz getroffen wirkte er und starrte sie nur an.
„Da-dann werde ich wohl in mein Zimmer gehen und dort bleiben und dich nicht weiter stören. Damit du dich nicht ansteckst“, piepste sie hervor und machte Anstalten, sich umzudrehen. Nach einem Moment der Stille machte er rasch einen Schritt auf sie zu und hob die Arme. In Erwartung eines Schlages oder Ähnlichem, war sie umso erstaunter, als sie sich in seinen Armen wiederfand.
„Mein Gott, Marie“, murmelte er, während sein Kinn auf ihrem Kopf ruhte. „Wirklich überraschend ist diese Neuigkeit nicht; um ehrlich zu sein, habe ich damit gerechnet, dass dies eines Tages eintrifft. Deshalb habe ich deine Anwesenheit auch vermieden, womit ich dich vermutlich verletzt habe. Das tut mir leid, glaube mir bitte. Natürlich ist das nun ein Schock, aber ich lasse dich nicht im Stich. Wir stehen das gemeinsam durch. Wäre nicht die erste Katastrophe für uns zwei, oder?“
Ein schwaches Lächeln war Marie gerade noch möglich, als ihr mit einem Mal schwarz vor Augen wurde und sie das Bewusstsein verlor.
In den nächsten Tagen pflegte Jonas seine junge Mitbewohnerin gewissenhaft und mit großer Hingabe. Wenn sie schließlich schlief, war es für ihn eine Wohltat, in ihr hübsches, jedoch etwas in Mitleidenschaft gezogenes Gesicht zu blicken und die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden könnte, stieg.
Doch dann sah er sich gezwungen, den Notarzt zu alarmieren, Marie ins Krankenhaus einliefern zu lassen und konnte kurz danach nur noch fassungslos die Nachricht von ihrem Tod entgegennehmen. Komplikationen hätte es gegeben, hieß es seitens der Ärzte, mit bisher unentdeckten Folgen des Autounfalls, die ihrem Körper mehr als ursprünglich angenommen geschadet hatten.
Innerlich war ihm trotz des warmen Frühlingswetters eiskalt. „Jetzt ist alles vorbei“, sagte er tonlos. Er befand sich vor dem Krankenhaus, in welchem noch ihr Leichnam lag.
„Es ist alles aus!“, wiederholte er, diesmal schrie er es offen heraus und erschreckte einige Tauben auf dem Gelände, das mit Wiesen und Sitzgelegenheiten ausgestattet war. Außer ihm befand sich hier draußen vor dem Gebäude kaum ein Mensch, alles wirkte wie ausgestorben. Tot. So wie seine Freundin, die den Kampf gegen diese Krankheit verloren hatte. Jonas bemühte sich nicht, die Tränen zurückzuhalten oder zu verbergen. Er brüllte und schluchzte seine Trauer in die Welt hinaus.
Musik, Klavier, Berg, Leiche
Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und das Lachen einiger Kinder erklang vom Innenhof, als Akkas Blick versehentlich auf der halb zerfledderten Leiche ihres kleinen weißen Panzerwelses landete, die auf dem Boden ihres Aquariums herumtrieb. Er war im Laufe des vorigen Tages gestorben und der letzte seiner Gattung im Fischtank gewesen. Einige kleine Barsche zogen nun ab und zu an ihm vorbei, um ein Stück aus ihm herauszupicken.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis es aufgrund seines Todes im Aquarium zu einem Anstieg des Ammoniakspiegels kommen sollte. Das würde keiner der anderen Fische überleben.
Akka wandte ihren Blick ab. Verdammt, murmelte sie.
Neben ihr lag ein riesiger Berg ungewaschener Kleidung, leere Verpackungen von Süßigkeiten und Chips pflasterten den Boden ihres Zimmers neben zerknitterten Unterlagen, von denen einige durchgeweicht waren, als ihr vor drei Tagen vergorener Saft aus einer Flasche ausgelaufen war. An den beißenden Geruch hatte sie sich mittlerweile gewöhnt.
Die Wasseranlage des Aquariums plätscherte vor sich hin. Immer wieder glitt ihr Blick ungewollt zu den Überresten ihres letzten Welses, und immer wieder fühlte sie einen kleinen Stich. Endlich stand sie auf, lief auf wackeligen Beinen hinüber zum Aquarium, öffnete den Schrank, auf dem es stand und nahm einen Kescher heraus. Sie hob eine der Abdeckplatten an und holte den Panzerwels mit einem geübten Schwung heraus. Als sie schon einmal dabei war, warf sie ein paar Flocken Nahrung für die anderen Fische ins Wasser. Daraufhin lief sie mit dem Kescher in der Hand in die Küche und öffnete den Eimer für den Restmüll. Direkt hinter ihr war die Tür zur Toilette.
Wassertropfen platschten vom Kescher auf die Küchenfliesen. Warum fühlte sich gerade alles so falsch an?
Akka lief ein paar Schritte und stand nun vor ihrer Wohnungseingangstür. Sie hatte nicht geduscht. Ihre Haare waren fettig, und ihr T-Shirt hatte ein paar Flecken. Sie atmete einmal tief ein und aus, nahm ihren Türschlüssel und verließ ihr Zuhause.
Mit unsicheren Schritten die Treppe hinunterstaksend erinnerte sie sich daran, dass sie schon länger nichts mehr gegessen hatte … Na ja, jetzt war es zu spät. Unten angelangt betrat sie den Innenhof, ging in ihren Schuppen und holte eine Handschippe heraus. Die Kinder spielten um die Ecke Fußball und hörten sie nicht. Als sie sich im Hof umsah, erkannte sie keinen Ort, der ihr gefiel, also verließ sie das Grundstück durch das Tor.
Die Sonne knallte. Bald schon spürte Akka, wie sich die ersten Schweißtropfen auf ihrem Gesicht bildeten.
Ihr Zuhause befand sich am Rand einer Kleinstadt, durch die ein Bach floss, dem Akka in die umliegende Natur folgte. Während sie durch eine Gartenanlage lief, dachte sie über den Tag nach, an dem sie sich den Fisch gekauft hatte. Das war jetzt schon fast sieben Jahre her … damals hatte sie noch bei ihren Eltern gewohnt. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Eltern ihr kurz vorher ein Aquarium geschenkt hatten, weil sie bei einem Musikwettbewerb für Jugendliche deutlich besser abgeschnitten hatte, als erwartet. Und diese weißen kleinen Welse, die ein bisschen so aussahen als wären sie Geister, die hatten es ihr sofort angetan.
Bald mündete der Bach in einen See. Akka kannte die Wanderwege hier kaum. Sie war nun sicher schon seit einer halben Stunde unterwegs. Der Kescher wog schwer zwischen ihren Fingern, und sie merkte, dass sie nichts zu trinken dabei hatte. Ihre Kehle war schon furchtbar trocken. Sie würde die nächste Person, die sie traf, wohl nach etwas Wasser fragen müssen … aber … ob ihr überhaupt jemand etwas zu trinken geben würde? Akka fand nicht, dass sie gerade besonders vertrauenserweckend aussah. Sie hatte kein Telefon dabei, nichts zu essen … sie trug nicht einmal Schuhe. Stattdessen ignorierte sie das unentwegte Pieksen der Steine an ihren Füßen.
Den ganzen Weg lang schaute sie sich um, in der Hoffnung, einen Ort zu finden, der sich als auf magische Weise perfekt für ihr Vorhaben anbieten würde … aber sie fand keinen. Vielleicht auch deswegen, weil ihr gerade, so wie es ihr ging, gar kein Ort auf der Welt gut genug sein konnte. Sie überlegte, ob sie einfach so lange durch die Gegend laufen würde, bis sie umfiel. Aber, nein. Vorher würde sie jemanden finden, der ihr Wasser gab. Ganz bestimmt. Und wenn nicht: Sie war neben einem riesigen See. Was konnte schon passieren? Ein paar Tage Durchfall vielleicht? … Oder Schlimmeres?
Sie hätte nicht so weit von Zuhause weggehen sollen.
In dem Moment blieb Akka stehen. Während sie ein paar Mal leise ein und aus atmete, lauschte sie ihrer Umgebung. Da waren der Wind, die Vögel, ein bisschen Rascheln im Gebüsch – nichts Unübliches, bis auf …
Sie blickte hinab in das Gebüsch. Am Fuße davon begann, etwa fünfzig Meter weiter unten, der See. Und von dort hörte sie eine Melodie. Akka lief ein paar Schritte weiter und fand einen kleinen Weg, der vom Hauptpfad abging und hinab zum Wasser führte. Als sie ihn hinabschritt, erkannte sie, dass dort ein Strand war. Schilf säumte das Gebiet rechts und links davon, aber dazwischen, etwa hundert Meter lang, lag Sand, der in eine Wiese mündete, die hinauf zu den größeren Bäumen und Sträuchern führte, die den Blick hinauf zum Wanderpfad um den See herum verdeckten. Der Strand war leer, bis auf eine einzige Person, die ganz an seinem Ende auf einem Handtuch im Schatten lag. Neben ihr lag ein kleiner, zylinderförmiger Lautsprecher, aus dem ein Stück von Chopin hervorklang, das Akka von oben gehört und sie hierher geführt hatte.
Akka lief zu der jungen Frau hin, die dort lag. Sie trug eine Sonnenbrille, hatte einen Rucksack neben sich liegen, war in einen weißen Bikini gekleidet und neben ihr lag noch ein weiteres ausgebreitetes großes Handtuch. Das brachte Akka dazu, hinaus in den See zu blicken, und tatsächlich erkannte sie dort den Kopf einer weiteren Person, die darin schwamm.
Als Akka etwa zwanzig Meter entfernt stand, rief sie vorsichtig: »Entschuldigung?«
Die Frau richtete sich auf und wandte sich zu Akka um. »Ja?«
Sie hatte eine angenehme Stimme. »Hast du vielleicht etwas zu trinken für mich? Ich bin am Verdursten …«
»Klar«, antwortete sie und drehte sich um, um den Rucksack zu öffnen. »Wenn es dir nichts ausmacht, dass ich auch schon aus der Flasche getrunken habe. Es ist Leitungswasser.«
»Ich habe schon darüber nachgedacht, Seewasser zu trinken, also …«
Während sie das sagte, kam ihr der Gedanke, dass sie das vielleicht überhaupt nicht hätte sagen sollen, doch die Frau lachte und stieß dabei ein Ohje aus. Kurz darauf hielt sie Akka die Flasche hin, der ein kleiner Schauer über den Rücken lief, als sie sich daran erinnerte, wie sie gerade aussah. So unauffällig wie möglich – also überhaupt nicht unauffällig – nahm sie den Kescher in die Hand, mit der sie auch die Handschaufel hielt, um die Flasche entgegennehmen zu können. Kurz, bevor sie danach griff, nahm die Frau die Flasche zurück und öffnete sie, damit Akka auch einhändig daraus trinken konnte.
»Danke«, sagte Akka, nachdem sie gierig einige große Schlucke genommen hatte, und es sofort bereute, als sie bemerkte, wie wenig Wasser jetzt noch übrig war. Sie reichte die Falsche zurück und wollte sich gerade abwenden, da frage die Frau: »Was führt dich denn hier her?«
Akka konnte es nicht bestätigen, weil die Sonnenbrille der Frau verspiegelt war, allerdings vermutete sie, dass ihr Blick auf dem Kescher lag. »Einer meiner Fische ist gestorben …«, antwortete sie, nahm den Kescher zurück in ihre rechte Hand und fummelte mit den Fingern nervös am Griff herum. »Und jetzt suche ich einen Platz, wo ich ihn begraben kann.«
»Oh, das tut mir leid«, antwortete die Frau, doch bevor eine von beiden weitersprechen konnte, hörte Akka ein Plätschern. Sie drehte sich zum See um und erkannte, dass die Person aus dem See mittlerweile ans Ufer geschwommen war und langsam heraustrat. Sie trug einen blauen Schwimmanzug, hatte lange, rote Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren und winkte Akka zu.
»Hallo!«, sagte sie.
»Hey Helena«, sagte die Frau mit der Sonnenbrille. »Hat es Spaß gemacht?«
»Ja, klar! Du solltest auch mal reinkommen, Iris. Ich kann solange auch auf unsere Sachen aufpassen.«
»Nein, danke«, entgegnete Iris. »Hier liegen ist so entspannend. Ich bin heute irgendwie zu müde zum Schwimmen.«
Akka wollte sich aus dem Staub machen, doch Helena vereitelte das: »Du suchst einen Platz, um deinen Fisch zu begraben? Habe ich das richtig gehört?«
»Ja«, sagte Akka. »Aber irgendwie finde ich nichts … Ich weiß auch nicht, vielleicht sollte ich einfach wieder zurückgehen.«
Upps. Das hätte sie vermutlich nicht sagen sollen. Warum jammerte sie die beiden voll? Akka machte sich ihr schlechtes Gewissen von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Sie war dankbar für das Wasser, aber … jetzt wünschte sie sich zurück nach Hause.
»Was für einen Ort hast du dir denn vorgestellt?«, fragte Iris. Sie setzte ihre Sonnenbrille ab und offenbarte damit ihre dunkelbraunen Augen. »Du kannst dich übrigens gerne hinsetzen, wenn du möchtest«, sagte sie, und legte dabei ein weiteres, etwas kleineres Handtuch aus. Dann setzte sie sich im Schneidersitz zurück auf ihres. Derweil öffnete Helena ihre Haare und begann, sie abzutrocknen.
Akka, deren Beine von ihrem ungewohnt langen Spaziergang mittlerweile schmerzten, ließ sich zögerlich nieder. »Ich weiß es auch nicht. Ich dachte mir, ich möchte ihn nicht einfach entsorgen, weil … ach, keine Ahnung. Ich bin am See entlang gelaufen, weil ich dachte, dass ein Grab mit Wasser in der Nähe schön wäre. Aber ich wollte ihn nicht einfach in den Fluss werfen, oder so. Ich meine, ein Wassergrab hätte auch etwas, aber …«
»Aber du wolltest vielleicht irgendwann zu ihm zurückkommen?«, fragte Iris.
»Genau.«
»Hm …«, meinte Helena. »Auf der anderen Seite des Sees gibt es einen Findling auf einer Wiese. Vielleicht da?«
»Also mir wäre das zu weit weg«, entgegnete Iris. »Vielleicht an der Quelle des Sees? An dem Abzweig, der zur Quelle führt, müsstest du vorbeigekommen sein.«
Helena runzelte die Stirn. »Quelle klingt so fancy. Das ist einfach nur ein sumpfiges Loch, in dem sich Wildschweine wühlen.«
Akka fand die Ideen nicht unbedingt schlecht, aber … »Ich hätte irgendwie gerne einen Ort, der schwer zu erreichen ist. Damit er … na ja, seine Ruhe hat. Keine Ahnung.«
Daraufhin entstand eine kurze Stille. Iris und Helena sahen einander an. Dann sagte Helena: »Wie wäre es denn mit da hinten?«
Sie wies in den See hinein. Etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt lagen drei kleine Inseln; die mittlere von ihnen war kleiner, und stellte einen perfekt geformten Hügel dar, aus dessen Seite eine Erle wuchs, die die Insel in einen idyllischen Schatten warf.
Akka schluckte. Dieser Ort war perfekt. Ihr lief eine kleine Gänsehaut über den Rücken. Ihre Augen wurden ein bisschen feucht.
»Wir können zusammen hinschwimmen«, bot Helena an und nahm mit diesen Worten das Handtuch wieder ab, in das sie ihre Haare gewickelt hatte.
»Ich weiß nicht … ich habe keine Badesachen dabei.«
»Na ja, du kannst ja einfach dein Shirt und deine Hose ausziehen, damit sie nicht nass werden«, erklärte Helena nonchalant. Akka fühlte sich nicht in der Verfassung, sich in Unterwäsche zu zeigen, aber andererseits hatte sie sich auf diesen Ort jetzt festgelegt. Sie seufzte lautlos. Dann würde sie eben in Klamotten rüberschwimmen. Es war ein warmer Tag. Das sollte bald wieder trocknen. Während Akka versuchte, sich zu überwinden, drückte Helena Iris einen Kuss auf den Mund, sagte »Bis gleich« und wandte sich wieder dem See zu.
Akka lief ihr hinterher ins Wasser und spürte die erfrischende Kühle an ihren Füßen. Es würde eine kleine Herausforderung sein, mit dem Kescher in der Hand hinüberzuschwimmen, ohne den Fisch zu verlieren. Sie trat weiter hinein, und mit jedem Zentimeter, den sie im Wasser versank, fühlte sie sich ein Stückchen wohler. Als ihre Shorts nass wurden, überlegte sie kurz, ob sie tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen hatte, doch die Zweifel hielten nicht lange an.
Akka entschloss in diesem Moment, ihren riesigen Haufen Kleidung zuhause zu waschen. Sie würde einfach alles in ihre Badewanne werfen, eine halbe Flasche Geschirrspülmittel dazugeben, Wasser einlassen und umrühren. Das war besser als nichts, und auch besser als ein halbes Dutzend Waschgänge in der Maschine. Wobei … vorher würde sie noch ihre Wanne putzen müssen.
Die Insel war fast vollständig mit Moos bedeckt. Helena half ihr aus dem Wasser, und sie liefen den Hügel hinauf, der von Nahem wesentlich größer war, als Akka vom Ufer aus erwartet hatte. Oben angelangt, stach Akka mit der Schaufel in den Boden, hob ein Stück davon auf, legte die Überreste ihres Fisches hinein und setzte die Erde wieder ab. Es kostete sie insgesamt nicht einmal eine Minute. Währenddessen hatte Helena aus etwas Bast und zwei Zweigen ein kleines Denkmal gebastelt, das sie Akka hinhielt, damit sie es über dem Grab in den Boden stecken konnte.
»Danke.«
»Kein Problem!«
»Nein, wirklich … danke. Ohne euch hätte ich nie einen geeigneten Platz gefunden, glaube ich …«
»Ach Quatsch. Wenn wir nicht da gewesen wären, hättest du die Insel bestimmt auch gesehen!«
»Nein«, entgegnete Akka. »Ich wäre nicht hier runtergekommen, wenn ich nicht die Musik gehört hätte, die Iris abspielt.« Die Klaviermelodie wurde vom See bis zur kleinen Insel herübergetragen und erklang noch sanft im Windrauschen. »Weißt du … ich habe die Fische damals als Belohnung dafür bekommen, dass ich einen Klavierwettbewerb gewonnen habe. Und als ich mit ihm durch die Gegend gelaufen bin und ein Klavier gehört habe, da … keine Ahnung. Da dachte ich, ich muss hierher.«
»Iris mag Klaviermusik super gerne! Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du ihr ja mal etwas vorspielen. Sie würde sich riesig freuen.«
Akka nickte. Vielleicht würde sie das tatsächlich tun. Sie hatte zwar schon länger nicht mehr gespielt, aber …
»Wollen wir wieder zurück?«, fragte Helena und Akka nickte. Also setzten sie erneut über. Das Wasser war in seiner oberen Schicht bequem warm. Auf dem Rückweg fühlte sich Akkas Körper so viel leichter an.
»Hat alles geklappt?«, fragte Iris.
»Wie eine Bärenfalle«, entgegnete Helena und zeigte einen Daumen nach oben. »Jetzt ist diese Insel für Akka auch ein besonderer Ort, nicht wahr?«
»Auch?«, fragte sie etwas überrascht.
»Ja, da sind Iris und ich zusammengekommen. Sozusagen.«
»Oh, tut mir leid, ich wollte nicht euren Platz–«
»Quatsch«, entgegnete Iris sofort. »Mach dir keinen Kopf. Jetzt ist der Ort für uns alle drei besonders. Ist doch schön.«
Akka nickte. Die Klamotten klebten vor Nässe an ihrem Körper, und langsam stellte sie fest, dass ihr trotz des warmem Wetters kalt wurde. Außerdem wollte sie heute unbedingt noch die Wäsche schaffen.
»Ich muss jetzt wieder nach Hause«, sagte Akka. »Nochmal danke euch beiden.« Sie wollte zum Abschied winken, doch Helena machte ihr einen Strick durch die Rechnung, und lief mit offenen Armen auf sie zu.
Schon geschah es. Akka fand sich in der wohl festesten Umarmung vor, der sie jemals zum Opfer gefallen war. Die Umarmung hielt so lange an, dass all ihre Körperspannung von ihr abfiel und sie fast vollständig darin versank. Wenn Akka nicht schnell verschwand, würde die Zuwendung der beiden sie noch zum Heulen bringen.
»Wir sind morgen wieder hier«, sagte Iris. »Wenn du Lust hast, kannst du gerne vorbeikommen.«
»Ich würde mich freuen«, ergänzte Helena.
Akka lächelte. »Danke, das mache ich.« Sie lief ein paar Schritte rückwärts und winkte dann. »Bis morgen.«
ELIM_inator Asteria Bastet Bonnie Caroit Cassandra @Creon Cosi @Dartiri Dreykopff Dusk Evoli-Girl Faolin Frechdachs @Mabus Gray Ninja Jefi Jiang Vany SpeciesSaladMallory Liu HoppouChan Isamu_17 hufe_di Saiko Musicmelon Nexy Willi00 PokéExpertin Sawyer #shiprekt Silence Thrawn Yasuna Raichu-chan @Amaterasu Tragosso Webu Johnson Evo Lee Mandelev Tidy @milchschnitte