NaNoWriMo 2020

Miriam fehlt. Das war mein erster Gedanke, als ich die Schafherde sah. Aber was hatte ich anderes erwartet. Miriam fehlte immer. „Kenny!“, rief ich, doch unsere Schäferhündin hatte das Fehlen unserer Ausreißerin schon selbst bemerkt. So ein kluges Tier. Manchmal war ich mir sicher, dass alle unsere Tiere klüger sind als die Menschen, die versuchen, auf sie aufzupassen.

Nun wies die Schäferhündin mir die Richtung, während sie weiterhin auf den Rest der Herde achtete. In die Berge – wohin auch sonst? Miriam war nicht nur eine geborene Regelbrecherin, sondern auch eine leidenschaftliche Kletterziege. Nur halt im Körper eines Schafes. Und so kam es, dass ich nicht zum ersten Mal durch die Felsen kraxelte und nach einem vermissten Schaf suchte, das ganz entgegen seinem Verhalten genauso schneeweiß wie der Rest ihrer Herde war.

Es dauerte mindestens zwanzig Minuten bis ich Miriam endlich gefunden hatte. Heute hatte sie sich wirklich besonders gut versteckt. Die zerklüfteten Felsen um sie waren steil, so steil, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ihr Flügel gewachsen waren, die sie dort hinauf getragen hatten. Wie sollte ich ihr nur folgen?

„Miriam!“, rief ich, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Das war riskant, das wusste ich. Denn entweder gab sie sich geschlagen und sah ein, dass ich am längeren Hebel saß, oder sie zeigte sich von ihrer ganz rebellischen Seite und machte auf dem Absatz kehrt, um sich ein neues Versteck zu suchen.

Heute aber tat sie nichts von all dem. Sie stand nur bewegungslos da. Ihre Augen starrten in die andere Richtung, auf einen Punkt, den ich hinter den Felsen nicht sehen konnte. Mein Magen zog sich zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Sie würde mich nicht ignorieren. Sie würde versuchen, mich auszutricksen und mir zeigen, dass sie besser klettern oder laufen konnte als ich, aber sie würde mich nicht ignorieren. Dafür kannten wir uns zu gut. Irgendetwas musste passiert sein.

Panik stieg in mir auf, während ich mich mühsam Zentimeter um Zentimeter die Felswand empor arbeitete. Warum musste sie sich auch unbedingt einen so unzugänglichen Platz aussuchen, um mich so zu erschrecken?

Schwer atmend kam ich schließlich bei ihr an. Sie bewegte sich kaum, aber ich spürte, dass sie in meiner Gegenwart etwas ruhiger wurde, dass sie mich als Unterstützung ansah gegen das, was auch immer da gerade vor ihr war. Ich versuchte ihrem Blick zu folgen, aber ich sah nichts. Felsigen Boden und eine karge Pflanze, die entweder durch fehlende Nährstoffe oder fehlendes Sonnenlicht einging. Oder durch beides. Ich hatte keine Ahnung, was Miriam so in Panik versetzt hatte, aber so sehr mich dieses Schaf manchmal auch zur Weißglut brachte, ich vertraute ihr. Dies war nicht einer ihrer Scherze. Sie hatte wirklich Angst vor dem, was auch immer sich da im Schatten versteckte. Also stand ich nur da und wartete darauf, zu erfahren, was es war.

Schafe sind Fluchttiere, wenn also Miriam entschieden hatte, dass Flucht keine Option war, dann war Flucht keine Option. Bewegungslos starrten wir in die gleiche Richtung, bis sich das, was auch immer es war, als erstes bewegte.

~504 Wörter

Erst passierte nichts. Dann schimmerte die Luft. Man konnte nicht sagen, dass die Luft sich bewegte, nein, etwas bewegte sich und die Luft war das einzige Zeichen dafür, dass dieses Etwas überhaupt dort war. Es war wie eine leichte Unebenheit vor den trockenen Blättern. Es bewegte sich. Und ich spürte Miriams Atem neben mir schneller werden. Hektischer. Was auch immer es war, sie ging nicht davon aus, dass es uns freundlich gesinnt war.

Miriam reagierte zuerst, als es aus dem Nichts auftauchte. Sie schubste mich beiseite, unter die Flugbahn unseres Angreifers, sodass ich zwar hart auf dem felsigen Boden aufkam, aber nicht zurück in die Schlucht stürzte, aus der ich gekommen war.

Noch während ich mich aufrappelte und mich zu orientieren versuchte, verschwand das Etwas, was uns angegriffen hatte wieder. Nur kurz erhaschte ich einen Blick. Es war einer dieser Momente, in denen das Gehirn das, was es gesehen hatte, erst zeitversetzt verarbeitete. Ich entdeckte Miriam ein paar Meter rechts von mir, ebenfalls unverletzt, als ich kapierte, dass uns ein Leopard angegriffen hatte. Ein Leopard mit ungewöhnlich gelbem Fell und bronzefarbenen Punkten, der vor unseren Augen verschwunden war, sobald er sich nicht mehr bewegt hatte.

Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben. Aber wenn ich es nicht glaubte, da war ich mir sicher, dann würden Miriam und ich hier oben sterben. Und das war nicht gerade mein Ziel für diesen Tag gewesen. Eigentlich hatte ich nur die Schafe zusammentreiben wollen, um mich so schnell wie möglich mit einem Buch auf die Terrasse zu verkrümeln. Und jetzt war ich auf einem Berg und wurde von einem offenbar magischen Tier angegriffen, von dessen Art nicht einmal die nicht-magische Form in dieser Gegend leben dürfte.

Ich hatte keine Ahnung, wie, aber mein Gehirn schloss auf einen Zusammenhang. Die Raubkatze war sichtbar gewesen, als sie uns angriff. Jetzt, wo wir an ihrer und sie an unserer Stelle stand, so reglos wie zuvor, war sie wieder unsichtbar. Wenn sie sich bewegt, wird sie sichtbar. Und schätzungsweise stimmt ebenso, dass sie uns angreift, sobald wir uns bewegen. Nur dass sie uns offensichtlich auch angreift, wenn wir uns nicht bewegen. Im Endeffekt scheinen Miriam und ich eindeutig den Kürzeren gezogen zu haben.

Wieder passierte nichts. Mir war nicht wohl dabei, dieses Mal weiter von Miriam entfernt zu sein, aber wenigstens würde das Biest uns nicht beide gleichzeitig erwischen können.

Dann war da wieder dieses leichte Schimmern in der Luft. Miriam musste es gespürt haben, sie hatte gewusst, dass dieses Schimmern die erste Bewegung der Raubkatze war, die einzige Vorwarnung, dass sie sich gleich auf einen stürzen würde. Jetzt allerdings blieb die Frage, auf wen sie sich stürzen würde. Auf Miriam oder auf mich? Wie sollte man das von einer Bewegung ausmachen, die eigentlich gar keine war? Zumindest keine, die man sehen konnte.

Ein lautes Geräusch hinter mir ließ mich den Leoparden vor mir für den Bruchteil einer Sekunde vergessen. Kurz darauf war ich sicher, dass wir nun sterben würden. Entweder durch den Leoparden vor uns oder gegen das zweite Monster hinter uns. Die Raubkatze sprang, die Luft glitzerte, ihr senfgelbes Fell erschien in der Luft vor uns und wieder ertönte hinter uns dieses Geräusch. Es war, als würde man mit Holz auf den Felsen schlagen.

Und dann fiel die Katze vor uns zu Boden und verschwand. Fast so, als hätte man ihr jeden Schwung der Vorwärtsbewegung genommen, fiel sie einfach gerade nach unten, angezogen von der Schwerkraft. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht einfach verschwunden war, sondern sich nur wieder nicht bewegte, aber ich wagte den Blick nach hinten, um zu sehen, welche Gefahr uns dort erwartete.

Es war ein Junge, nein, ein junger Mann. Er sah haargenau so aus, wie man sich klischeehaft südamerikanische Ureinwohner vorstellte. Und er hielt einen langen Stab in der Hand, knorrig und gebogen, mit dem er vermutlich eben auf den Fels geschlagen hatte.

Er sagte etwas. Ich verstand ihn nicht, aber die Bedeutung seiner Worte erreichte dennoch mein Gehirn. „Schnell, iss die Blätter.“ Nur ergaben sie keinen Sinn.

Miriams Blick huschte hin und her. Zu dem fremden Mann, zu mir, zu der Stelle, an der die Raubkatze verschwunden war, wieder zu dem Mann. Dann wandte sie sich der vertrockneten Pflanze zu und fraß ihre Blätter. Ich war wie erstarrt. Mein Kopf versuchte, die Situation zu begreifen, jetzt wo etwas weniger Gefahr von der unsichtbaren Bestie auszugehen schien.

„Dein Schaf scheint klüger als du“, kommentierte der Mann in seiner fremden Sprache.

Das wusste ich vorher schon, dachte ich und beschloss, auf Miriam zu vertrauen. Schnell griff ich nach einem Blatt und schob es ich mir in den Mund. Erst passierte gar nichts. Dann merkte ich, wie ich schwer wurde. Erst meine Arme und Beine, dann der Rest meines Körper und schließlich mein Kopf. Das Gefühl erinnerte mich daran, nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag auf der Farm ins Bett zu sinken und nur noch zu schlafen. Ich war mir nicht sicher, ob ich schlief oder in Ohnmacht fiel, aber ich hatte noch den bitteren Geschmack des Blattes im Mund, als die Welt um mich schwarz wurde.

~848 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Nachdem ich mich um dem Nukuparden gekümmert hatte, folgte ich dem Mädchen und ihrem Schaf in meine Welt. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie sich bereits von der Reise erholt und schaute sich überrascht um. Nicht, dass ich es ihr verdenken könnte – dies sah so überhaupt nicht nach dem Ort aus, von dem aus sie gekommen war. Die Felsen waren immer noch da, aber ihr abweisendes Grau war einem weichen Ocker gewichen, über dem sich ein violett schimmernder Himmel erstreckte. Wenn wir uns weiter ins Innere der Welt vorwagen würden, würde sie vermutlich nicht mehr glauben können, dass das Blatt des vertrockneten Busches etwas mit ihrer Farbwahrnehmung gemacht hatte.

Sie zitterte leicht, als sie sich zu mir umwand, um mir genau das zu sagen: „Was ist mit diesem Vieh passiert? Und was für ein Gift war in diesen Blättern?“

Okay, offensichtlich sagte sie doch etwas mehr, als ich erwartet hatte. Ich musste echt mehr mit Menschen arbeiten – ich war ja furchtbar aus der Übung!

„Der Nukupard ist zurück dort, wo er hingehört, hier kann er dir nichts anhaben“, erklärte ich, ohne viel zu erklären. Eins nach dem anderen, niemanden überfordern, das war uns von klein auf so beigebracht worden. „Und ich den Blättern war kein Gift. Der Übertritt mithilfe der Whawha ist etwas holprig, das muss ich zugeben. Dir war kurz schwarz vor Augen, oder?“

„Mit anderen Worten, ich bin tot, weil ich auf dich gehört habe.“

„Tot? Was? Nein, natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf?“ Sie sah mich an mit einem Gesichtsausdruck, der sagte, dass das völlig offensichtlich war, aber mir erschloss sich ihre seltsame Reaktion wirklich nicht. Großvater hatte recht. Wir konnten nicht weiterhin getrennt leben. Aber würde sie wirklich ...

„Hallo-ho?“ Das Mädchen wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. „Wenn wir nicht tot sind, was ist dann passiert?“

Verdammt! Was war heute bloß los mit mir? Nicht nur konnte ich nicht vernünftig Gedanken empfangen, ich versank auch zu oft in meinen eigenen.

„Entschuldige. Du bist in Whenao. Die Pflanze, die Whawha, das ist eine Torpflanze. Wenn man von ihren Blättern isst, kann man zwischen den Welten wechseln. Aber sie ist vertrocknet, deshalb war die Reise für dich wahrscheinlich noch etwas holpriger, als sie ohnehin schon wäre. Und ich weiß, dass das völlig verrückt klingt“, um so viel zu wissen, musste man noch nicht einmal die Macht des Gedankenempfangs haben, „aber komm erst mal mit mir mit. Ich muss dir etwas zeigen, bei dem du mir vielleicht helfen kannst.“

„Also hast du den komischen unsichtbaren Leoparden auf mich losgehetzt, um dich als glorreichen Retter aufzuspielen, weil du meine Hilfe brauchst?“

„Was?“ Wie kam sie nur immer auf solche Ideen? „Nein. Der Nukupard ist aus dem gleichen Grund bei dir aufgetaucht, aus dem ich deine Hilfe brauche. Ich hatte damit nichts zu tun.“

Sie schnaubte. Sie war nicht überzeugt. Ihr Schaf – Miriam, wie ich in ihren Gedanken aufschnappte, als sie sich nach ihm umsah – hingegen schon. Es sah mich an und fragte sich, wann ich wohl endlich loslaufen würde.

„Hier geht’s lang“, sagte ich und wandte mich in die entgegengesetzte Richtung zu dem Punkt, an dem in der anderen Welt der Nukupard zu Boden gegangen war. Hoffentlich würden keine weiteren Monster den Wechsel zwischen den Welten schaffen.

Schweigend liefen wir nebeneinander her und verließen das felsige Tal, an dem die Welten einander näher waren. Hier, auf der freien Ebene, erinnerte kaum noch etwas an die Welt, die das Mädchen kannte. Ich spürte, wie Angst und Neugierde sich mischten, als sie als sie einzelne Reihe cyanfarbender Nadelbäume betrachtete, die sich vor uns erstreckte. Sie speicherten den Tau in ihren Nadeln und hatten so als einzige die letzten Jahre überlebt. Es war ein deprimierender Anblick, wenn man wusste, dass hier einmal ein Dschungel gestanden hatte. Wenn man es nicht wusste, so spürte ich von Miriam und dem Mädchen gleichermaßen, war es ein umwerfender Anblick einer endlos scheinenden Ebene.

Ich bedeutete nach rechts, wo wir uns in der Nähe der Felswand halten mussten. „Hier geht’s lang.“

Ich wusste nicht genau, warum das Mädchen mir folgte, auch wenn es mich wahnsinnig machte. Aber sie ging nur weiterhin stumm neben mir, stellte keine Fragen und machte keine Anstalten, in eine andere Richtung zu wechseln. In dieser Stille von Gedanken und Gesprächen merkte ich nur, dass das Schaf sich freute, ein Abenteuer zu erleben. So konnte das auf keinen Fall weitergehen! Wenn ich üben wollte, musste ich sprechen.

„Wie heißt du?“, fragte ich also schließlich in die Stille.

Sie antwortete nicht. Mochte sie ihren Namen nicht? Vertraute sie mir so wenig? Wurde ich ernsthaft immer schlechter?

„Miriam“, sagte sie schließlich.

„Ernsthaft?“, entfuhr es mir. „Du heißt wie dein Schaf?“

„Woher weißt du, wie mein Schaf heißt?“ Unglauben und Wut mischten sich in ihrer Stimme.

Verdammt! Ich wollte doch nicht alles auf einmal loslassen! Aber jetzt war es wohl eh zu spät. „Ich kann Gedanken spüren. Eigentlich. Meistens. Aber ich bin wohl etwas eingerostet, weshalb ich nur wenig von dir mitbekomme, also wollte ich wissen, wie du heißt.“

„Das ist ja ekelhaft“, erwiderte das Mädchen, das vielleicht Miriam hieß – eine Reaktion, die ich noch nie erlebt hatte. Was sollte daran denn ekelhaft sein?

„Schon mal was von Privatsphäre gehört“, fragte sie, als könnte sie selbst meine Gedanken erraten.

„Ich hör ja nicht, was du denkst“, versuchte ich sie zu beruhigen, „es sind mehr die Gefühle und Beweggründe dahinter.“

„Trotzdem irgendwie pervers“, meinte sie. „Ist das der Grund, warum ich deine komische Sprache verstehe? Alles Teil der Gehirnwäsche?“

Oh, da hatte ich ja gar nicht drüber nachgedacht! Wo zur Hölle war ich nur mit meinen Gedanken? „Keine Gehirnwäsche. Eine magische Sprache, die jeder versteht. Nur um sie zu sprechen, muss man lange lernen. Wenn du möchtest, kann ich aber auch zu deiner wechseln.“

„Auch egal“, winkte sie ab.

„Ich hab dir jetzt so viel erklärt. Und gleich wird es noch mehr. Kannst du mir jetzt wenigstens verraten, ob dein Name wirklich Miriam ist?“

„Ich finde ja, mich in eine andere Welt zu verschleppen ist Ausgleich genug für dein Wissen.“ Sie sah mich prüfend an. „Also gibt es einen Namen gegen einen Namen.“

„Tamaku“, sagte ich.

„Mara“, sagte das Mädchen.

„Wir sind da“, dachte das Schaf.

Ich weiß nicht genau, woran Miriam es erkannt hatte, aber sie hatte recht. Wir waren da. Oder zumindest so nah, wie man ein Schaf mitnehmen konnte, denn vor uns ragte eine recht steile Felswand empor. In der Legende hieß es, sie sollte den Awai schützen, aber eigentlich war sie eher ein nerviges, als ein unüberwindbares Hindernis.

„Da müssen wir rüber, also wird dein Schaf wohl leider hier warten müssen.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Mara, während Miriam bereits drei Meter über uns auf einem Felsvorsprung stand und blökte.

„Das gibt’s nicht“, sagte ich, doch als ich zu Mara blickte, merkte ich, dass auch sie sich bereits auf den Weg nach oben gemacht hatte.

„Kommst du auch?“, fragte sie, als sie Miriam erreichte, die im nächsten Moment schon weitersprang.

„Auf der anderen Seite einfach wieder runter“, sagte ich, während ich mir meinen Kopi auf den Rücken schnallte und den beiden hinterher kletterte.

Auf der anderen Seite angekommen, floss der Awai. Das heilige Wasser wirkte sandig, was mir noch mehr Sorgen machte als die Tatsache, dass es noch immer von den blauen Tannen weg, den Berg hinauf floss. Mara hingegen, schien die zweite Tatsache mehr zu faszinieren.

„Das Wasser fließt den Berg rauf“, erklärte sie das Offensichtliche.

„Ja“, sagte ich und ließ ihr einen Moment, die steinernen Stufen zu betrachten, über die der Awai floss. Weg von uns. „Deshalb brauche ich deine Hilfe“, erklärte ich dann. „Das ist der Awai, der heilige Fluss oder das heilige Wasser – je nachdem, wen du fragst. Aber irgendetwas ist in den letzten Jahren aus dem Gleichgewicht geraten. Der Awai hat angefangen zu leiden. Er flüchtet vor uns und dem Leben in dieser Welt, zurück zu seiner Quelle. Mein Großvater war der Überzeugung, dass es daran liegt, dass wir die Verbindung zu euch Menschen abgebrochen haben. Es soll ein altes Ritual geben, das von einem Menschen und einem Taingatao durchgeführt werden kann, um dem Wasser neue Lebenskraft zu schenken. Aber die Trennung der Welten sollte fortbestehen. Deshalb ist es in Vergessenheit geraten.“

„Du meinst also, weil mein Schaf abgehauen und von einem unsichtbaren Leoparden angefallen wurde, muss ich dir jetzt helfen, deine Welt zu retten?“

Ich sah sie an und konnte einfach nicht ergründen, was sie dachte, also seufzte ich einfach uns sagte: „Ja, sieht ganz so aus.“

~1413 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Ich starrte auf den bergauf fließenden, offenbar heiligen Fluss und fühlte mich, als müsste jeden Moment das Kamerateam um die Ecke kommen, um die Sache aufzulösen. Noch viel verrückter konnte es doch gar nicht mehr kommen, oder?

„Komm mit“, sagte Tamaku in seiner seltsamen Sprache, „ich zeig dir die Quelle.“

Ob ich mich jemals daran gewöhnen würde, eine Sprache zu verstehen, von der ich nicht ein Wort kannte? Wobei das zugegebenermaßen eigentlich meine geringste Sorge sein sollte.

Während die Felswand, die wir hatten überwinden müssen, um zu dem Fluss zu kommen, unwegsam, wenn auch nicht so schlimm wie manch anderer Ort gewesen war, den Miriam schon erklettert hatte, führte entlang des Flusslaufes eine unscheinbare Treppe den Berg hinauf. Immer ein paar Schritte bis zur nächsten Ebene, kleinere Stufen zu den größeren Absätzen, die den Berg ausmachen.

Während wir schweigend hinaufstiegen, betrachtete ich den Fluss, welcher trotz der Fülle an Wasser kein wirkliches Flussbett zu haben schien. Es war eher, als hätte man auf einer Schrägen ein Glas ausgeschüttet – nur dass dieses Wasser in die falsche Richtung floss.

Ein Schritt nach dem anderen, sagte ich mir zum wiederholten Male. Ich würde Tamaku nicht wissen lassen, dass ich der festen Überzeugung war, dass mindestens einer von uns gerade den Verstand verlor und mich nur eine gewisse Neugierde weiter trieb, von der ich dachte, sie durch das gebrochene Bein und zerstochene Gesicht an meinem achten Geburtstag verloren zu haben. Zumindest wusste ich seitdem, was ein Wespennest war und dass man sich von so etwas fernhalten sollte. Vermutlich galt das Gleiche auch für seltsame Männer und magische Flüsse. Aber Miriam blieb ruhig, also konnte ich auch noch eine Weile mitspielen.

Seit Tamaku was von Gedankenlesen oder was auch immer gesagt hatte, versuchte ich, meine Gedanken nahe bei mir zu behalten. Was auch immer das zu bedeuten hatte. Aber ich wusste nicht, was er vorhatte, also besaß er kein Recht, dasselbe Wissen von mir zu erhalten.

Irgendwann erreichten wir die Spitze, auf der tatsächlich eine Quelle entsprang. Wobei „entsprang“ eigentlich das völlig falsche Wort war, denn dort, wo das Wasser eigentlich aus dem Felsen sprudeln sollte, versickerte es in der sandigen Erde. Oder dem Felsen, der kein Sandstein war, aber dennoch eine ähnliche Farbe hatte. Wer wusste das hier schon so genau.

„Das ist Whenao“, sagte Tamaku in die Still und ich bemerkte, dass er nicht die Quelle meinte. Er sprach von der Aussicht, also hob ich den Blick. Und das, was ich sah, war noch unglaublicher, als der umgekehrte Fluss.

Das erste, was mir auffiel, waren die Farben. Die Welt glitzerte in allen Farben des Regenbogens und in noch ein paar anderen, für die ich nicht einmal Namen hatte. Ich hatte den violetten Himmel für ein Phänomen der Sonne gehalten, vielleicht ginge die Sonne hier später auf, hatte ich gedacht. Und die cyanfarbenden Bäume, dachte ich, wären eine optische Täuschung, aber all das konnte ich mir doch nicht nur einbilden. So viel Fantasie besaß ich eindeutig nicht.

„Die Ebene, von der aus wir gekommen sind“, erklärte Tamaku und zeigte in die entsprechende Richtung, „war früher einmal ein großer Urwald, gespeist von Awais Stärke. Die Berge hinter uns“, er drehte sich nach links, „das sind die Panonga, sie existieren in allen Welten und halten sie zusammen.“

„Moment, Moment“, unterbreche ich ihn, „willst du damit sagen, es gibt noch mehr Welten?“

„Die Schamanen gehen davon aus, aber wir wissen sonst nur von eurer.“

„Sehr beruhigend“, sagte ich, aber meine Stimme triefte von Ironie. Allerdings wusste ich nicht, ob ihm so etwas überhaupt bekannt war, denn er ging nicht weiter darauf ein, sondern fuhr mit seinen Erklärungen fort.

„Die Ebene dort“, er zeigte auf die Fläche auf der anderen Seite des Berges, welche vom Gebirge komplett in Schatten gehüllt wurde, „nennt sich Waorema, der Ort, den das Licht nie berührt. Dort liegt Otarangi, ein Dorf von Schattenläufern. Wenn du genau hinsiehst, kannst du vielleicht den Rauch ihres Feuers erkennen.“

Ich starrte in die Dunkelheit. Es war schwer, überhaupt etwas zu erkennen. Irgendwann, meinte ich Bäume auszumachen, deren Blätter dunkler waren als jedes Schwarz, das ich kannte. Das Land schien eigentlich gar keine Ebene zu sein. Stattdessen zogen sich sanfte Hügel wie Wellen durch mein Blickfeld und wirklich, in der Nähe weiterer Felsen in der Farbe getrockneten Blutes meinte ich, ein paar Rauchschwaden zu erkennen. Gleichzeitig konnte ich mir aber auch vorstellen, dass ich einfach nur so lange in die Dunkelheit gestarrt hatte, bis mein Kopf sich einbildete, irgendwelche Informationen von meinen Augen erhalten zu haben.

Als ich wieder zu Tamaku blickte, erschien mir sogar seine dunklere Haut blendend hell und ich kniff die Augen zusammen. „Wieso leben sie dort?“, fragte ich, um einen Moment Zeit zu gewinnen.

„Warum leben wir hier oder ihr da? Sie sind eine andere Spezies von Taingatao, die sich an das Leben in der Dunkelheit angepasst haben.“

„Und man sollte sich vor ihnen in Acht nehmen.“

Meine Augen hatten sich schon wieder so weit an die Helligkeit gewöhnt, dass ich die Überraschung in Tamakus Blick erkennen konnte. „Nein. Wieso? Sie sind Taingatao wie du und ich. Na ja gut, eigentlich nur wie ich, aber sie sind unsere Freunde. Wie kommst du darauf, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen müsste.“

Ich zuckte mit den Schultern, um nicht über meine Vorurteile sprechen zu müssen und zeigte nach links, dorthin, wo sich Wüste und mehr trafen. „Was ist das?“

„Morua“, sagte Tamaku und sein Ton verriet mir, dass das der Ort war, den man besser nicht besuchen sollte. „Dort wirst du ertrinken. Im Sand oder im Wasser oder in beidem.“

Mehr sagte er nicht, sondern starrte nur in die Richtung, in der nichts anderes zu sein schien, als ein endloser Ozean von Hellbraun und Dunkelblau, die sich immer wieder vermischten und trennten. Der eine Ort, an dem alle Farben genauso aussahen, wie sie sein sollten, sollte der gefährlichste sein. Das machte ja Mut.

„Und dorthin“, meinte Tamaku, als er sich aus seiner Trance gelöst hatte und auf einen dunklen Tannenwald zwischen der Monsterwüste und der Ebene mit den blauen Bäumen zeigte, „werden wir jetzt gehen. Denn dort liegt mein Dorf.“

„Und warum sind wir dann überhaupt hier oben?“, fragte ich. „Wenn wir eh dort hinten hin müssen? Das wäre doch viel sinnvoller gewesen, wenn wir unten geblieben wären.“

Ein leichtes Lächeln umspielte Tamakus Lippen. „Ich wollte euch meine Welt zeigen“, antwortete er und legte Miriam eine Hand auf den Kopf – eine Berührung, die sie offensichtlich sehr genoss. Ich hingegen wusste noch immer nicht ganz, was ich davon halten sollte. Jetzt, wo ich alles gesehen hatte, war mir eher danach, zu Kenny und dem Rest der Herde zurückzukehren.

„Bitte, Mara, bleib noch“, bat Tamaku. Verdammt, ich hatte zu stark darüber nachgedacht, sodass er es mitbekommen hatte. Was musste er mich auch mit dieser im wahrsten Sinne des Wortes unglaublichen Welt ablenken?

„Warum?“

„Weil ich sonst nicht weiter weiß. Du bist der erste Mensch, der seit Ewigkeiten hier ist. Du bist die letzte Hoffnung, die ich habe, um diese Welt vielleicht noch zu retten.“ Er wirkte wirklich verzweifelt. Und ich nicht überzeugt. „Bitte, bleib wenigstens noch ein bisschen. Lern meinen Stamm kennen. Und dann kannst du dich immer noch entscheiden.“

„Aber du hast keine Ahnung, was ich machen muss?“

Das Lächeln, das Tamaku mir zuwarf, wirkte ehrlich erleichtert. „Das finden wir zusammen raus.“

~1217 Wörter

Die Sonne ging unter und tauchte alles in einen vertrauten, roten Schimmer, als wir Tamakus Dorf erreichten. Wenigstens etwas, was nicht völlig bizarr war. Um uns herum standen Hütten aus Lehm und Stein mit Stroh auf den Dächern, umgeben von einem Wald in allen Schattierungen von Blau und tatsächlich auch Grün.

Zunächst dachte ich, dass wohl alle Leute unterwegs waren, doch kurz nachdem wir das Dorf betreten hatten, kamen uns schon die ersten Leute entgegen. Die meisten musterten mich neugierig oder abschätzig, schenkten mir sonst aber keine weitere Beachtung. Und das war eindeutig besser als beachtet zu werden, wie ich kurze Zeit später erfahren musste.

Ein älterer Mann, vielleicht Ende fünfzig, wenn die Leute hier wenigstens normale Lebensspannen hatten, war stehen geblieben und zeigte angewidert direkt in mein Gesicht und fragte etwas in einer Sprache, die ich tatsächlich nicht verstand. Ich wusste nur, dass es definitiv keine freundliche Begrüßung gewesen war.

Ich spürte die Wut in mir aufkochen, so klar, dass Tamaku sie ganz bestimmt auch spürte, denn er beeilte sich zu sagen: „Das ist Mara. Sie ist ein Mensch und hilft uns, Awai zu heilen.“

„Du hast einen Menschen mitgebracht?“ Die Stimme erklang von hinter dem Mann und ließ auf eine Autorität schließen noch bevor ich den jungen Mann mit dem silbernen Kopfschmuck sah. Ich wusste nicht, warum er in dieser Sprache sprach, deren Worte ich begreifen konnte, aber ich vermutete, er tat es, um sich wichtig zu machen.

„Tamonga ...“, begann Tamaku, aber er wurde jäh unterbrochen.

„Nein, Tamaku, die Regeln sind eindeutig.“

„Ein Nukupard hat sie angegriffen, was hätte ich den tun sollen?“

„Du hättest den Nukuparden töten und diesen Menschen“ – er sprach das Wort mit purer Verachtung aus – „dort lassen sollen, wo er hingehört. Du weißt genau, dass sie überhaupt erst der Grund sind, warum Awai leidet.“

An Tamakus Stöhnen konnte ich erkennen, dass die beiden diese Unterhaltung nicht zum ersten Mal führten. „Das ist eine Legende. Dir sollte eigentlich klar sein, dass die Menschen nichts damit zu tun haben. Das war nur unsere Schuld.“

„Du hast eindeutig zu viel Zeit mit unserem Großvater verbracht.“

„Ich glaube eher, du zu wenig.“

In dem Moment, in dem ihre Verwandtschaft ausgesprochen worden war, erkannte ich sie auch. Sie hatten beide die gleiche runde Nase und einen ähnlichen Schwung der Lippen. Nur ihre Augen waren unterschiedlich. Tamakus waren in einem dunklen Grün, während Tamongas Augen einem gefrorenen See ähnelten.

„Mutter wird wissen, was mit ihr zu tun ist“, sagte Tamonga nun. „Ich muss auf die Jagd.“ Und damit verschwand er, ohne auf eine Antwort zu warten.

Tamaku stöhnte erneut. „Nur weil das Feuer entschieden hat, dass er die Führung des Stammes von Mutter übernehmen würde, führt er sich so auf, als wüsste er über alles Bescheid. Dabei sollte klar sein, dass Dinge zwischen Himmel und Erde existieren, die niemand erklären kann.“

Zum ersten Mal seit wir angekommen waren, wurde von mir erwartet, etwas zu sagen. Aber ich war noch immer zu perplex von all dem, was ich gerade miterlebt hatte, dass ich keine Ahnung hatte, was ich hätte erwidern sollen. Langsam bereute ich, nicht direkt zurückgegangen zu sein, wenn mich eh keiner hier haben wollte.

Ich wusste nicht, ob Tamaku meine Gedanken mitbekommen hatte, aber er sagte nur: „Wenigstens mit einer Sache hat Tamonga recht; Mutter wird wissen, was zu tun ist.“

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch folgte ich Tamaku über den Platz in der Mitte des Dorfes. Wenigstens hatte ich Miriam an meiner Seite. Ohne das Schaf würde ich diese Sache unter Garantie nicht durchstehen.

Das Gebäude, zu dem Tamaku uns führte, sah stabiler aus als alle anderen. Wirklich hervorstechen tat es jedoch durch die Tatsache, dass es um einen riesigen Baum gebaut worden war. Ich hätte vielleicht auf eine Eiche getippt, wenn zwischen den blass türkis schimmernden Blättern nicht kleine orangefarbene Beeren gehangen hätten.

„Der Medizinbaum“, erklärte Tamaku, als er meinen Blick bemerkte. „Alles an diesem Baum hat heilende Kräfte, deshalb wurde hier unser Dorf errichtet. Und deshalb findet man dort die Schamanen und die Leitung unseres Stammes.“ Dann schob er das Tuch beiseite, dass anstelle einer Tür die Lücke in der Wand verdeckte und verschwand im Inneren.

„Na dann wollen wir mal, he?“, sagte ich zu Miriam, ehe ich ihm folgte.

In der Hütte schlug mir als erstes ein süßlicher Duft entgegen, der sich mit dem bitterer Kräuter mischte. Das runde Gebäude schien wie ein Kuchen in einzelne Räume aufgeteilt zu sein, zumindest war der Raum, den wir betraten rechts und links von zwei Wänden eingegrenzt, welche am Stamm des Medizinbaums endeten.

Direkt vor uns auf einem rot bestickten Kissen saß eine Frau, deren Ähnlichkeit zu Tamonga verblüffend war. Sie glich ihm bis aufs Haar, dessen rote Strähnen ihr offen über die Schultern fielen. Auf dem Kopf trug sie eine schlichte, hellblaue, fast schon durchsichtige Haube. In keinster Weise kam diese Kopfbedeckung an die Pracht jener heran, die Tamonga getragen hatte, aber dennoch musste man nur einen Blick auf die Frau werfen und wusste um ihre Autorität. Als ihre blauen Augen auf meine trafen, durchfuhr mich ein Schauer. Ohne ihren Blick von mir zu lösen, fragte sie ihren Sohn: „Tamaku, warum hast du das Gesetz gebrochen?“ Die Ruhe in ihrer Stimme ließen ihre Worte nur umso bedrohlicher wirken.

„Es war eine notwendige Maßnahme“, sagte Tamaku mit schwacher Stimme. „Sie wird uns helfen, Awai zu retten.“

Jetzt wanderte ihr Blick doch zu ihrem Sohn und ihr winziges Lächeln ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. „Du hast zu viel Zeit mit deinem Großvater verbracht“, konstatierte sie exakt dasselbe, was auch Tamonga schon gesagt hatte. „Aufgrund ihrer Angst, gehe ich davon aus, dass sie nicht weiß, dass wir sie dafür nicht hier töten werden.“

„Töten?“, fragte ich mit einer hohen und piepsigen Stimme, die eigentlich überhaupt nicht meine war. Als ich zu Tamaku sah, wirkte er allerdings auch ziemlich überrascht.

„Mein lieber Schwiegervater hat also mal wieder den wichtigsten Teil ausgelassen“, meinte Tamakus Mutter herablassend. „Was hast du denn geglaubt, wie dieses Ritual aussehen würde, mein Lieber?“, fragte sie ihren Sohn. „Dass sie ein paar magische Bewegungen ausführen müsste? Nein. Früher wurde alle drei Jahre ein Mensch geopfert. Die Legende besagte, dass Awai nur überlebte, wenn sein Wasser rot von Menschenblut sei. Wir haben diese Tradition irgendwann beendet, weil sie zu barbarisch war und Awai auch ohne das Blut aus der anderen Welt überlebte. Als du also meintest, sie da“, sie deute abwertend auf mich, „würde uns helfen, musste ich doch annehmen, dass sie geopfert werden sollte.“

Mit jeder Sekunde bekam ich mehr das Gefühl, dass diese Frau keine besonders freundliche Herrscherin war. Wenn sie bereits so herablassend mit ihrem eigenen Sohn sprach.

„Sicher gibt es noch eine andere Möglichkeit –“

„Verschwende nicht meine Zeit, Tamaku“, unterbrach sie ihn. „Bring sie zurück oder töte sie an der Quelle, ist mir egal, aber wenn sie morgen früh noch hier ist, dann opfere ich euch beide!“

~1148 Wörter

Keiner von uns sagte ein Wort, während wir die Hütte verließen und Tamaku uns durch das leere Dorf führte. Miriam trottete weiter neben mir her, aber es kam mir vor, als hätte das Gespräch selbst ihr den Sinn für Abenteuer ausgetrieben. Erst als wir in einer winzigen Hütte am Rande des Dorfes ankamen, merkte ich die Müdigkeit, die von all der Anstrengung des Tages kam, den Kletterpartien und dem Laufen über die endlose Ebene – ganz zu schweigen von der Aussicht, am nächsten Morgen voraussichtlich tot zu sein. Dennoch wollte mein Körper nur eines: Schlaf.

„Du kannst das Bett haben“, sagte Tamaku und deutete auf einen kaputten Sack aus Stroh, der neben einem Stuhl mit einem dunkelgrauen Sitzkissen darauf das einzige Möbelstück in dem kleinen Raum war.

„Und du?“, fragte ich, obwohl alles in mir danach schrie, das Angebot einfach anzunehmen.

„Miriam und ich werden es uns auf dem Boden gemütlich machen. Nicht war Miriam?“, er kraulte das Schaf hinterm Ohr und sofort war Miriam seine beste Freundin.

Dann ging Tamaku zur Wand, die dem Bett gegenüberlag und holte etwas aus einem Beutel, den ich kaum erkannt hatte, weil er die selbe Farbe wie der Boden hatte. Es dauerte ein kleines Bisschen bis er mit dem, was er tat, fertig war, und ich setzte mich auf den Strohsack, um zumindest meinen müden Beinen eine Pause zu gönnen.

Schließlich wandte Tamaku sich wieder mir zu. In jeder Hand hielt er eine Tasse. „Ich weiß, dass du müde bist“, sagte er und ich versuchte gar nicht es abzustreiten. Inzwischen war ich sogar zu müde, um mir noch darüber Gedanken zu machen, dass dieses Gedankenlesen eigentlich gruselig war. „Und ich weiß, dass du erwartest, nicht schlafen zu können, weil zu viel passiert ist und du zu viele Fragen hast. Also möchte ich dir als erstes sagen, dass ich wirklich nichts von der Opferung wusste und dafür sorgen werde, dass du lebend in deine Welt zurückkehren kannst.“

Trotz allem, was passiert war, glaubte ich ihm. Ich nickte nur, weil mein Kopf keine Wörter mehr fand.

„Für den Fall, dass du mir nicht vertraust“, sagte er trotzdem, „habe ich zwei Tassen gebraut. In diesen Tassen findest du die Antworten auf alle Fragen, die du zu dieser Welt hast. Es ist ein mächtiger Zauber, von dem weder meine Mutter noch mein Bruder wissen, dass ich ihn beherrsche. Sie sehen in mir nur den Versager, für den das Feuer keine Aufgabe hatte. Sie wissen nichts von der Macht, die mein Vater mir vererbt hat. Ich kann spüren, dass es meine Aufgabe ist, Awai zu retten. Aber ich werde es nicht auf deine Kosten tun. Für alles, was du durchmachen musstest, hast du Antworten verdient. Es wird viel sein. Vielleicht erinnerst du dich nach dem Aufwachen nicht direkt an alles, aber es wird da sein, ohne dass du sagen kannst, woher du es weißt.“ Er hielt mir die beiden Tassen in seinen Händen entgegen. „Such dir eine Tasse aus. Ich trinke die andere, damit du siehst, dass ich nie vorhatte, dich zu vergiften.“

Ich musste schmunzeln, als ich mich daran erinnerte, was ich ihm vorgeworfen hatte, als wir in dieser Welt aufwachten. Ich bezweifelte, dass ich das alles verstehen würde, wenn ich aus einer dieser Tassen trinken würde, aber ich versuchte es trotzdem. Ich nahm die Tasse aus seiner linken Hand und wir tranken gleichzeitig. Der Inhalt der Tasse schmeckte genau so, wie es bei seiner Mutter gerochen hatte: bittersüß. Ich spürte das Kribbeln zuerst in meinen Fingerspitzen, ehe es sich in meinem ganzen Körper ausbreitete.

„Leg dich hin“, sagte Tamaku während er sich vor dem Bett ausbreitete, „der Schlaf kommt gleich und beantwortet deine Fragen.“

Ich war nicht vollkommen überzeugt und hatte immer noch etwas Angst, aber ich legte mich hin. Und kaum berührte mein Kopf den Sack war ich schon in den Schlaf gesunken.

Die Nacht erschien mir ewig lang und kurz wie ein Wimpernschlag zugleich. Ich erinnere mich kaum noch daran, was ich geträumt habe. Alles, was geblieben ist, sind Bilder von Tassen. Tassen in allen Farben, Formen und Größen und in jeder versteckte sich ein Geheimnis.

Manchmal vergleiche ich es mit einem Fiebertraum, manchmal tue ich es als Unsinn ab. Aber als ich kopfüber in die erste Tasse eintauchte, erschien der Nukupard vor mir und ich erkannte, seine Verbindung zur Natur und seinen Hunger, weil das Wasser floh.

Ich besuchte viele Tassen. Alle zeigten mir bereitwillig ihr Geheimnis. Als ich schließlich aufschreckte, weil der laute Klang eines Horns durch das Dorf schallte, hatte mich bereits die Dunkelheit umgeben und alles, woran ich mich erinnerte, war eine bunte Parade an Tassen.

Aber plötzlich, ergab alles einen Sinn.

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