NaNoWriMo 2020

-- Perspektivwechsel --

Ich lag bereits wach, als das Dröhnen der Hörner einen Vorfall ankündigte. Keiner in unserem Dorf, sonst wären auch Trommeln dabei, nein, es musste sich um ein Problem in Waorema geben. Zumindest hoffte ich sehr darauf, weil Hilfe für etwas in Morua Selbstmord entspräche und ein Vorfall in Panonga sicherlich als meine Schuld angesehen würde.

„Was glaubst du, ist los?“, fragte Mara. Ihre Stimme hatte alle Verwirrung und Angst verloren, die sie nach der Eröffnung meiner Mutter gestern Abend erfüllt hatte.

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Wenigstens dieses Ritual hatte gewirkt wie es sollte, auch wenn ich mich selbst kaum mehr an die Träume der Tassen erinnern konnte. Nur Eines wusste ich mit Sicherheit: Es gab eine Möglichkeit, Awai zu helfen. Und ich würde herausfinden, wie.

Ohne Mara eine Antwort zu geben, spähte ich nach draußen, wo sich die Krieger unseres Stammes zusammenfanden. Die meisten von ihnen schienen kaum die Augen offen halten zu können, nachdem sie vermutlich noch bis weit in die Nacht auf der Jagd gewesen waren. Aber wenigstens bestätigte ihre Kleidung, dass sie nach Waorema reisen würden.

„Im Süden, in Waorema ist irgendetwas passiert.“

„Waorema ist das Schattenland“, sagte Mara. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob es eine Frage sein sollte, nickte ich. „Wir sollten mitgehen.“

„Was?“ Zum ersten Mal seit unserem Zusammentreffen fühlte ich mich wie derjenige, der keine Ahnung hatte. „Warum?“

„Du hast doch selbst gesagt, das niemand weiß, wie stark du bist. Vielleicht könnten wir helfen.“

„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist.“

„Aber“, Mara ließ mich kaum meinen Satz zu ende sprechen, „was ist, wenn das Feuer keine Aufgabe für die genannt hat, weil es größer ist als alles, wofür es schon Zeichen gegeben hat.“

„Du verstehst das nicht.“

„Doch, ich verstehe das.“

Kurz überlegte ich, ob der Zauber letzte Nacht nicht doch eine schlechte Idee gewesen war.

„Tamaku. Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber eine meiner Fragen bezog sich auf den Wechsel zwischen den Welten. Du sagst, die Verbindung wurde vor langer Zeit abgebrochen. Aber es ich nicht einfach möglich, zwischen den Welten zu wechseln, nur weil man ein paar Blätter kaut. Es braucht zusätzlich eine starke Verbindung. Du bist die Verbindung. Ohne dich wären Miriam und ich nicht hier.“

„Das ist Blödsinn, die Tiere wechseln häufiger, wenn sie hier Probleme haben.“

„Die Tiere sind ihre eigene Verbindung.“

Okay, es war eindeutig anstrengend, wenn das Mädchen, dass noch vor einem Tag nicht mal eine Idee gehabt hatte, dass andere Welten als ihre existieren, nun mehr über meine wusste als ich.

Ein Lachen entfuhr ihr und ich konnte eindeutig Gefühle von Überraschung und Begeisterung wahrnehmen. „Was ist los?“

„Das hab ich gespürt“, sagte sie, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Okay, das Ding hat eindeutig übertrieben“, entgegnete ich. Offensichtlich war sie inzwischen besser im Gedankenspüren als ich. Ohne irgendwelche Übung. Dann konnte ich auch einfach sagen, was ich dachte. „Aber das heißt trotzdem nicht, dass wir helfen können.“

„Doch, das können wir“, wiederholte sie nachdrücklich und wandte sich dann zu ihrem Schaf. „Wir müssen kurz los. Du bleibst hier und verlässt nicht diese Hütte. Auf keinen Fall.“

„Bist du wahnsinnig?“, fragte ich. „Ich will nicht, dass alles nach Schafdung stinkt, wenn wir wiederkommen.“

„Nach dem, was deine Mutter gestern sagte, vertraue ich niemandem hier“, erklärte sie. „Außer dir.“

Ich seufzte und wandte mich an meine Vorräte. Ich nahm je eine Apea für Mara und mich heraus und legte Miriam ein paar Beeren hin. „Frühstück“, sagte ich, als ich Mara eine der weißen Früchte in die Hand drückte. „Müsste ein wenig wie eure Birnen schmecken.“

-- Perspektivwechsel --

Als wir in Waorema, nicht weit des Dorfes Otarangi, ankamen, hatten sich meine Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt, sodass ich zumindest Formen in den einzelnen Schatten erkennen konnte. Um hier leben zu können, bräuchte man schon Katzenaugen. Wie die Pferde überhaupt sehen konnten, wo ein sicherer Platz zum Landen war, war mir erst Recht ein Rätsel.

So sehr ich es auch genoss, vor Tamaku mit meinem neuerworbenen Wissen über seine Welt zu glänzen, alles hatte der Traum mir nicht erklärt. Und ich glaube auch, dass das ziemlich offensichtlich war, als Tamaku mit unserem Reittier ankam und ich es einfach nur angestarrt habe. Die Pferde dieser Welt, hatte er mir erklärt, heißen Kapoiho, Wolkenpferde. Wie alles andere in dieser Welt auch kommen sie in allen Farben des Regenbogens, manchmal in allen gleichzeitig. Und neben Mähne und Schweif, welche komplett aus pastellfarbenen Wolken bestehen, bauschen sich auch kleine Wölkchen um ihre Füße. Und so können sie fliegen.

Der Weg nach Waorema hatte nicht ganz so lange gedauert, wie wir zuvor zu Fuß unterwegs gewesen waren, aber lange genug, dass Tamaku mir einen ausführlichen Bericht über diese unglaublichen Tiere hatte geben können. In der Rolle des Reiseführers fühlte er sich eindeutig besser.

Kaum waren wir gelandet, spürte ich seine Anspannung, ehe ich hinter ihm vom Kapoiho stieg. Tamaku selbst war noch nicht einmal ganz auf der Erde, als ich verstand, warum.

„Was, um Awais Willen, tut ihr denn hier“, fragte eine vertraute Stimme. Tamongas Kopfschmuck blitze in einem Licht, das nicht existierte, noch ehe er nah genug vor mir stand, als dass ich sein Gesicht hätte erkennen können.

Ich wusste, dass Tamaku nach der Begegnung mit ihrer Mutter im Nachteil war, also antwortete ich. „Wir werden helfen.“

„Ach ja?“ Abfällig musterte Tamonga mich und unter seinem Blick stellten sich mir die Nackenhaare auf. „Das bezweifle ich. Wer hat überhaupt zugelassen, dass ausgerechnet du an ein Kapoiho kommst?“, wandte er sich nun an Tamaku.

„Hast du nichts Besseres zu tun?“, fragte der nur, während er das Pferd an einen der pechschwarzen Bäume band.

„Ja, habe ich, deshalb kann ich für dich und dein Menschlein nicht den Babysitter spielen“, erwiderte Tamonga.

„Brauchst du auch nicht“, entgegnete ich wütend.

Kopfschüttelnd wandte er sich zum gehen. „Wenn ihr drauf geht, ist das nicht meine Schuld.“

„Es ist selten ratsam, sich mit dem zukünftigen Stammesführer anzulegen.“

„Es ist auch nicht ratsam, mächtige Magier zu unterschätzen.“

Tamaku warf mir ein Lächeln zu, aber ich sah selbst in der Dunkelheit, dass es seine Augen nicht erreichte.

Tamonga hatte inzwischen die Stimme erhoben. Er sprach zu seinen Kriegern. Ob noch andere Frauen unter ihnen waren, konnte ich nicht erkennen. Viel schlimmer war aber seine Sprache.

„Das macht er mit Absicht“, meinte ich. Die Tassen hatten mir zwar viel gezeigt, aber eine neue Sprache konnte selbst dieser Zauber nicht über Nacht lehren.

„Unter Garantie“, stimmte Tamaku mir zu. „Er sagt, der Süden sei ohne Licht schon immer mit weniger Wasser ausgekommen, aber das komplette Schwinden von Awai würde dazu führen, dass die Waldriesen verrückt spielen und Otarangi angreifen.“

„Waldriesen?“, fragte ich.

„Riesige Wesen, die aus den schwarzen Wäldern geboren werden. Sie verschmelzen mit den Schatten – niemand hat sie je zu Gesicht bekommen. Manche hielten sie sogar für Legenden, weil sie friedlich neben den Taingatoa lebten, aber nun scheinen sie ebenso unberechenbar wie der Nukupard, der dich angegriffen hatte.“

Plötzlich ließ ein Beben den Boden unter uns vibrieren und ich konnte mich nur mit Mühe auf den Beinen halten. „Bitte sag mir nicht, dass sie das sind und hierher kommen.

„Ich muss es nicht sagen“, erwiderte Tamaku. „Du weißt es schon.“

~ offensichtlich nur 1200 Wörter, obwohl ich mir sicher war, dass es gestern noch 1201 Wörter waren, was ich auch eingetragen habe ...

Selbst wenn sie nicht mit den Schatten verschmolzen, waren die Waldriesen unglaublich schwer zu sehen. Oder es lag nur daran, dass meine Augen diese Dunkelheit nicht kannten. Auf jeden Fall erschien es mir eher so, als würde ich ihre Präsenz spüren, als dass ich sie sah. Alles, was ich erkennen konnte, waren riesige Schemen. Die meisten liefen in Richtung Dorf, doch natürlich kamen auch einige auf uns zu.

„Was jetzt?“, fragte ich Tamaku und gab mir keine Mühe, meine Angst zu verbergen.

„Du wolltest hier her“, sagte er, ehe er meine Hand nahm und mich von den Bäumen wegzog. „Es heißt, in den Felsen sind sie ungelenker“, erklärte er, als ich gerade im letzten Moment die Steinformationen erkannte, die die hügelige Weite vor uns durchzogen.

„Was ist mit dem Pferd?“

„Das kann nichts für Awais Leiden. Komm mit!“ Tamaku zog mich weiter hinter die Reihen der Krieger, die sich ängstlich aber entschlossen den Riesen entgegenstellten.

Schließlich forderte die Dunkelheit doch ihren Preis. Ich hörte das Brüllen hinter mir, wollte mich umdrehen, doch noch bevor ich etwas erkennen konnte, verlor ich den Halt. Ich stolperte über einen der Felsen, die immer wieder wie aus dem Nichts in unserer Laufbahn auftauchten. Tamaku versuchte zwar, mich auf den Beinen zu halten, doch der Schwung war zu groß. Sein Griff lockerte sich und ich versuchte mich, so gut es ging mit den Händen abzustützen. Schmerz schoss in meine Schienenbeine und Handflächen, wo ich gegen den harten Stein kam – das würde schlimme Schürfwunden geben. Aber ich durfte nicht bleiben, denn von einem Riesen zerquetscht zu werden, war eindeutig schlimmer.

„Alles in Ordnung?“, fragte Tamaku und ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher sein konnte, ob er es sah.

Als ich versuchte, mich wieder aufzurappeln, fuhren meine Finger durch eine Kuhle, die sich irgendwie nicht natürlich anfühlte. Das Brüllen der Riesen mahnte mich zur Eile, aber irgendwas sagte mir, dass diese Kuhle wichtig sein könnte. Auf allen vieren hockend fuhr ich sie mit den Fingern nach und irgendeine Erinnerung schien sich in den Ecken meines Kopfes zu regen.

„Tamaku“, rief ich ihn zu mir, „sieh dir das an!“

Er warf einen unsicheren Blick auf das Gefecht hinter uns, dann ging er vor mir in die Hocke. Fasziniert betrachtete er die Vertiefungen im Stein. „Ich glaube, das habe ich schon mal gesehen.“

„Ich denke, das sind Runen“, sagte ich. „Runen wurden früher für magische Beschwörungen genutzt.“ Ich wusste nicht, wo mein Gehirn diese Information ausgegraben hatte, aber plötzlich hatte ich eine Idee. „Nimm deinen Kopi.“

„Du weißt, wie mein Stab heißt?“, fragte Tamaku, stand aber auf und schnallte sich ohne weitere Fragen das Stück Holz vom Rücken, dass den ganzen Ritt hierher deutlich unbequemer für mich gemacht hatte.

„Ich sagte doch, dass mein Wechsel zwischen den Welten mich sehr interessiert hatte“, erklärte ich und erhob mich ebenfalls. Dann deute ich auf die Runen, welche große Teile dieses und vermutlich auch der anderen Felsen bedeckten. „Was ist, wenn diese Runen auch magische Fähigkeiten haben? Was ist, wenn sie die Harmonie mit den Waldriesen garantieren? Was ist, wenn wir sie nur aktivieren müssen?“

„Ziemlich viele, ‚Was ist, wenn‘s.“

„Hast du eine bessere Idee?“

Tamaku sah mich an. Ich wusste ja selbst nicht, wo mein Interesse für diese Welt plötzlich her kam, aber wenn wir die Möglichkeit hatten, zu helfen, dann sollten wir es versuchen. „Probier doch mal, sie mit dem Kopi nachzuziehen.“

Tamaku tat, was ich sagte und fuhr die Rune nach, an der ich eben noch gelegen hatte. Sein Kopi, dieser magische Stab, den er eigenhändig aus einem Samen des Lebensbaumes gezogen hatte, wie mir plötzlich in den Kopf kam – vermutlich ein Geheimnis der Tassen –, zeigte keine Regung.

„Hast du noch mehr Ideen?“, fragte Tamaku.

„Du kannst auch helfen“, erwiderte ich etwas gereizter als notwendig und starrte wieder auf die Runen unter uns. Es waren so viele. Es konnte nicht sein, dass man sie alle nachziehen musste. Aber was wäre, wenn sie im Gegensatz zu den alten Runenalphabeten unserer Welt eine spezifischere Bedeutung hätten.

„Erkennst du irgendeine?“, fragte ich Tamaku. „Irgendwas, was wie ein Schutzzauber oder Friedenszauber oder irgendwas aussieht?“

„Wir nutzen solche Runen nicht, wir –“ Tamaku stoppte. Ich sah das Wissen in seinen Augen funkeln und spürte seine Überraschung darüber. „Dieses hier“, sagte er und deutete auf eine Runengruppe rechts von mir. „Das könnte Ruhe heißen.“

Drei Zeichen, die kaum von den anderen zu trennen waren ... „Umkreise sie!“

„Was?“

„Vielleicht hat nachziehen nichts gebracht, weil du sie nicht nachziehen sollst“, erklärte ich, „vielleicht musst du sie umkreisen, um zu zeigen, welche Runen du für deinen Zauber brauchst.“

Die Schlacht hinter uns schien lauter. Näher. „So gut wie alles andere“, sagte Tamaku mehr zu sich selbst als zu mir und begann einen Kreis um die drei Runen zu zeichnen, die er erkannt hatte.

Nach der Hälfte begann er zu glühen, ohne die Dunkelheit zu erhellen. Es war eher ein Glühen, das man spürte und nicht sah. Als Tamaku den Kreis schloss, breitete es sich auf die Runen selbst aus.

Fast gleichzeitig wandten wir unsere Köpfe dem Kampf hinter uns zu. Das Brüllen wurde leiser und es wirkte fast so, als würden alle beteiligten nur noch ungerne angreifen. Ich spürte die Ruhe, die wir gebracht hatten, in jeder Faser meines Körpers. Und sie taten es auch.

Ein ungläubiges Lächeln zeichnete sich auf Tamakus Gesicht ab. „Es hat funktioniert“, sagte er, als könnte er es noch immer nicht fassen.

Obwohl ich seine Gefühle teilte, wusste ich, dass es damit aber noch nicht getan war. „Aber sie kämpfen immer noch“, dämpfte ich unsere Freude. „Kommt dir noch mehr bekannt vor?“

Tamaku sah sich um, dann ging er zum nächsten Fels und zum nächsten. Ich folgte ihm schweigend, während er noch hier und da eine Gruppe Runen umkreiste. Ich fragte ihn nicht, was sie bedeuteten und er erklärte es mir nicht. Ich wusste, er verstand nicht, was hier passierte. Ich tat es zwar auch nicht, aber ich war in einer Welt voller Magie, die ich mir vor zwei Tagen noch nicht einmal hätte ausmalen können – ich nahm Dinge, die ich nicht erklären konnte, gerade einfach ein bisschen eher hin.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis auch das letzte Geräusch vom Kampf verklang und die Waldriesen wieder in den Schatten verschwanden.

Tamaku sah mich an und schenkte mir ein kleines Lächeln.

Tamonga sah sich um und entdeckte uns in einem Feld glühender Runen. Sein Blick wurde eisig. Ohne ein Wort des Dankes wandte er sich um und verschwand mit seinen Truppen in Richtung des Dorfes.

~ 1085 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Mein Kapoiho war unruhig, obwohl wir Waorema schon vor zwanzig Minuten verlassen hatten und über die weite Leere von Taereta flogen. Aber eine Begegnung mit Waldriesen steckte man nicht so einfach weg. Umso unbegreiflicher war mir dieser Mensch. Sie war kaum keine vierundzwanzig Stunden hier und ging schon freiwillig mit auf ein solches Schlachtfeld? Sie sollte froh sein, dass weder sie noch mein verrückter Bruder direkt von einem der Biester angegriffen wurden.

Die Schattenläufer wussten, dass irgendwas passiert war, was die Riesen beruhigt hatte. Auch wenn sie nicht wussten, was es war, dankten sie uns dafür. Natürlich hatte ich den Dank angenommen. Immerhin waren wir trotz der gestrigen Jagd in aller Frühe zu ihnen gekommen. Und wir würden wieder kommen und helfen – ohne Tamakus Spinnereien.

Ich habe weder meinen Bruder noch das Mädchen in Otarangi gesehen. Im Zweifel waren sie am Ende doch noch mit einem Waldriesen aneinander geraten. Würde sich zeigen. Tamaku musste lernen, dass man nicht alles mit der alten Magie regeln konnte, die schon dreimal überholt war. Und dieser Mensch musste verschwinden, ehe sie alles nur noch schlimmer machte.

Seufzend betrachtete ich die Ebene unter mir. Die vereinzelten Tannen gaben ein äußerst trostloses Bild ab. Alles war gut gewesen, bis sich die Menschen in der Nähe der Panonga breit machten und Awais Leiden begannen. Ich erinnerte mich nur noch schemenhaft an die Pflanzenvielfalt von Taereta. Aber ich weiß noch, dass damals alles gut war. Mutter hatte weniger Sorgen und ich weniger zu tun. Alles war in Ordnung. Und selbst Jahre nachdem die Trennung von den Menschen war alles gut. Und trotzdem will mein Bruder allen weismachen, dass diese Trennung der Grund für das Leiden war.

Vor mir tauchten die Hütten unseres Dorfes auf. Wenn ich Glück hatte, wäre Tamaku mit dem Mädchen bereits verschwunden, ich könnte zumindest noch ein bisschen Schlaf nachholen und alles wäre wieder so konstant und normal wie vorher.

~ 315 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Miriam blökte, als wir über den dritten umgefallenen Baumstamm klettern mussten.

„Ja, ich weiß“, beruhigte ich das Schaf, „das macht keinen Spaß, aber Tamaku weiß, wo wir hinlaufen.“

Ich betrachtete seinen Rücken. Seit wir das Dorf verlassen hatten, lief er immer ein paar Meter vor uns. Tief in Gedanken. Er hatte kaum etwas gesagt, seit wir Waorema verlassen hatten. Ich wusste, dass er durch unseren Sieg über bzw. eher unseren Frieden mit den Waldriesen einiges zu verdauen hatte, aber es fühlte sich trotzdem nicht gut an, größtenteils ignoriert zu werden.

„Wir müssen zu meinem Großvater“, hatte er gesagt, als wir wieder auf das Kapohoi gestiegen waren.

Mir war es nur recht, so viel Abstand zu seiner gruseligen Mutter wie möglich zu bekommen, aber sein Schweigen machte mir Sorgen. Nur, dass ich jetzt nicht durch die Hand dieser steifen Frau sterben würde, bedeutete noch lange nicht, dass alles gut war.

Ich wusste nicht, ob Tamaku meine Gedanken aufgefangen hatte, aber er wandte sich zu Miriam und mir um und nickte in Richtung eines bewaldeten Berges: „Wir sind gleich da.“ Dann senkte sich die Stille wieder über uns.

Manchmal war es schwer, sich zu konzentrieren, wenn man darüber nachdachte, dass selbst in diesem türkisfarbenen Waldstück kaum mehr als unsere Schritte auf dem sandigen Boden zu hören waren. Mit dem Wasser schien auch das meiste Leben gegangen zu sein.

Der Anstieg war anstrengend nach der kurzen Nacht und dem ereignisreichen Morgen. Meine Hose scheuerte an meinen Schienbeinen und verursachte ein Brennen mit jedem Schritt. Aber ich ignorierte den Schmerz. Irgendwelche Vorteile musste es ja haben, auf einer Farm aufgewachsen zu sein, deren Schafe sich nicht dafür interessierten, an wie vielen Brombeerhecken man hängen blieb, um sie zu suchen.

Miriam sah mich mit großen Augen an.

Ja, ich rede von dir, antwortete ich in Gedanken.

Kurze Zeit später erreichten wir eine Hütte, um die sich orangefarbener Efeu rankte, als wollte er sie davor schützen, auseinander zu fallen.

„Komm“, sagte Tamaku nur und ging ohne zu klopfen durch die niedrige Eingangstür.

Im Inneren der Hütte roch es nach Staub und Blättern. Der große Raum war in verschiedene Abschnitte unterteilt; eine Küche, eine Wanne, mehrere Betten, in der Mitte eine Sitzecke. Aber nichts deutete darauf hin, dass hier jemand wohnte.

Verträumt strich Tamaku über einen alten Mantel, der über der Sofalehne hing.

Obwohl ich ahnte, die Antwort zu kennen, fragte ich: „Sollen wir hier warten oder los gehen und ihn suchen?“

„Er kommt nicht mehr wieder“, sagte Tamaku, während er immer noch mit den Fingern über den Mantel fuhr. „Sein Geist ist eins mit dem Wind.“

Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört, aber ich wusste, was er bedeutete. Und ich war mir sicher, dass es einen Geist nach dem Tod des Körpers schlechter treffen konnte.

So sehr es mir auch missfiel, musste ich trotzdem auch die nächste Frage stellen: „Und was machen wir jetzt?“

Eher widerstrebend löste Tamaku sich von dem Mantel. „Wir suchen“, sagte er dann mit einer Entschiedenheit, wie ich sie seit unserer Ankunft in seinem Dorf nicht mehr gehört hatte. „Großvater hat altes Wissen gesammelt, das die anderen für überholte Tricks gehalten haben. Mächtige Zauber wie der der Tassen. Irgendwo muss er etwas zu dem Ritual haben.“

Ich nickte und wandte mich dem Bücherregal neben der Tür zu, nur um dann festzustellen, dass ich keines davon würde lesen können. „Vielleicht suche ich lieber nach anderen Aufzeichnungen“, meinte ich dann und begann, verschiedene Schränke zu öffnen und Regale zu durchkämmen. Irgendwie fühlte es sich komisch an, in den Sachen eines verstorbenen Mannes zu wühlen, den ich nie kennengelernt hatte. Immer wieder huschte mein Blick zu dem Mantel, als würde er aufstehen und mich zur Ordnung weisen.

Aber nichts davon passierte. Ich bekam kaum mit, wie die Zeit verging, als sie mein Magen meldete, der seit der wässrigen Frucht von heute Morgen nichts Essbares bekommen hatte. Das war vor Sonnenaufgang gewesen und inzwischen war bestimmt nach Mittag.

Das Geräusch machte Tamaku auf mich aufmerksam. Er blickte von dem Buch, das er gerade überflog auf. „Oh, verdammt“, meinte er und Sorge legte sich um seine Züge, „du siehst fertig aus.“

„Es geht schon“, sagte ich, obwohl mein Körper sofort auf Tamakus Worte reagierte, als hätte man ihn wieder an die Anstrengung erinnern müssen. „Ich hab nur Hunger.“

„Klar, klar.“ Tamaku stand auf und deutete auf das Sofa. „Setz dich und ich besorg uns etwas zum Mittag.“

Ohne auf meine Antwort zu warten, verließ er die Hütte.

Miriam stand etwas unschlüssig in der Tür. Sie war irgendwann – klüger als wir – zum Grasen nach draußen gegangen.

„Schon okay“, sagte ich zu ihr, „begleite ihn ruhig; ich komm klar.“

Unter ihrem strengen Blick ließ ich mich auf den weichen Stoff fallen, ehe Miriam sich umwand und hinter Tamaku her trottete.

Zwar hatte ich meine Worte ernst gemeint, aber ganz wohl war mir dann doch nicht bei dem Gedanken, alleine in dieser Hütte zurückzubleiben. Wahrscheinlich war, dass die größten Gefahren draußen lauerten, aber dennoch bereitete mir irgendetwas ein seltsames Gefühl.

Ich betrachtete den Mantel, der neben mir lag. Es war nur ein Mantel. Ich atmete einmal tief durch, dann nahm ich ihn. Wenn ich mich selbst davon überzeugt hätte, dass nichts Seltsames an diesem Kleidungsstück war, würde dieses seltsame Gefühl hoffentlich auch verschwinden.

Es war ein einfacher Mantel, hellgrau, abgetragen. Der untere Saum war sowohl erdig, als auch angekokelt. Vermutlich hatte Tamakus Großvater diesen Mantel zu so ziemlich jeder Gelegenheit getragen. Nur nicht im Tod, schoss es mir durch den Kopf.

Vorsichtig fuhr ich den Stoff entlang, vom Kragen bis zum Saum – und stockte. Da war noch etwas in der Tasche! Ich zog das Stück Papier hinaus, als Tamakus Statur in der Tür auftauchte. In den erdigen Händen hielt er eine große Wurzel. Unsere Blicke trafen sich und ich wusste, er dachte, das gleiche wie ich.

„Ich glaube, ich habe es gefunden.“

„Ja“, erwidert er langsam, „ich denke, das hast du.“

~ 982 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Ich konnte nicht aufhören, auf das Stück Papier zu starren, das Mara gefunden hatte. Ich wusste, ich hätte die Pakaati-Wurzel zubereiten müssen, damit wir beide etwas in den Magen bekamen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich erkannte die Schrift meines Großvaters, aber keine der Buchstabenkombinationen ergab irgendeinen Sinn. Es waren sogar einige Zeichen darunter, die mehr Ähnlichkeit mit den Runen aus der Waorema-Ebene hatten, die wie heute morgen gefunden hatten, als mit normaler Schrift. Alles, was ich erkennen konnte, war mein Name, der in allen vier Ecken vermerkt war. Aber anstatt mich zu beruhigen, bereitete mir das nur noch mehr Sorgen.

„Großvater, was willst du mir damit sagen?“, flüsterte ich. Dann spürte ich Maras Hand auf meinem Arm.

„Was auch immer es ist, er wusste, dass du es entschlüsseln könntest“, sagte sie.

Seufzend ließ ich mich neben ihr auf das Sofa sinken. Ich wusste, für sie waren das auf dem Zettel alles nur Striche und Punkte – selbst mir erschloss sich kaum mehr Sinn –, aber auch sie wusste, dass es wichtig war. Ihre Zuversicht teilte ich allerdings nicht.

Sie betrachtete mich und runzelte die Stirn. „Du glaubst mir nicht.“

Ich seufzte wieder. „Glaub mir, ich bin dir dankbar, für alles, was du für mich getan hast und offensichtlich noch immer bereit bist, zu tun, aber ich habe das Gefühl, du stellst dir das zu einfach vor. Ich bin nicht der große Retter, den du meinst, in mir zu sehen.“

Mara atmete tief durch und ich hörte das „Doch, das bist du“, auch wenn sie es nicht aussprach. „Weißt du, was eine Ameise ist?“

Jetzt war es an mir die Stirn zu runzeln. „Das sind Tiere aus eurer Welt, oder?“ Worauf wollte sie hinaus?

„Ja, winzige Tiere, nicht mal so groß wie die Beeren, die du Miriam heute Morgen gegeben hast.“

Als sein Name fiel, blickte das Schaf kurz auf, dann aber legte es wieder den Kopf zwischen die Hufe. Die kleine Nahrungssuche hatte Miriam wohl schließlich auch ausgepowert.

„Und?“, fragte ich.

„Und trotzdem können sie riesige Blätter ganz alleine tragen. Die Natur hat ihnen trotz allem solche Fähigkeiten gegeben, weil es das ist, was sie brauchen.“ Eindringlich sah Mara mich an. „Tamaku, du bist wie eine Ameise. Du kannst so viel mehr als das, wonach du aussiehst, als das, was andere dir zutrauen. Du kannst mehr, als du dir selbst zutraust. Denk nur mal an heute Morgen.“

„Ich hab keine Ahnung, was heute Morgen passiert ist. Ich hätte das nicht wissen können. Es hätte nicht so einfach funktionieren dürfen.“

„Doch, natürlich konntest du das wissen“, entgegnete Mara mit Nachdruck, „aus dem gleichen Grund, dass ich weiß, dass es durch deine Magie passieren konnte.“

Es dauerte einen Moment, bis ihre Worte irgendeinen Sinn ergaben. „Der Tassenzauber.“

Ein Lächeln umspielte ihren Mund. „Ganz genau.“

„Aber ich erinnere mich an nichts davon.“

„Nicht erinnern“, sagte sie und sah mir in die Augen. „Wissen.“

Es ergab keinen Sinn. Aber was passiert war, war passiert. Und wir waren der einzige Zusammenhang. Mara und ich.

Ich wusste sie spürte es in dem Moment, als ich mich auf ihre Aussage einließ. Ich lächeln wurde weicher und sie wartete, was ich tun würde.

Tja, aber was würde ich tun? Wieder starrte ich auf das Blatt. Wissen. Wie sollte man etwas entschlüsseln, wenn man nicht wusste, ob man es weiß, weil man sich nicht daran erinnerte, wie ein Zauber, der gar nicht für einen selbst bestimmt war, gewirkt hatte?

Wieder spürte Mara den Wechsel meiner Stimmung. „Ich erinnere mich auch nicht daran, dass mir jemand beigebracht hat, wie man einen vernünftigen Satz formt, und doch rede ich mit dir.“

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Dann stand ich auf. „Ich mach uns Mittag“, sagte ich. Und fügte hinzu, bevor Mara protestieren konnte, ich solle nicht einfach aufgeben: „Wenn ich mich weiter darauf versteife, wird es nie etwas. Ich muss auf andere Gedanken kommen.“

Langsam nickte sie. „Okay“, meinte sie nur, „ich helfe dir.“

Die nächste halbe Stunde verbrachten wir abgesehen von meinen gelegentlichen Anweisungen zur Zubereitung von Pakaati-Wurzeln schweigend in der Küche. Ich konzentrierte mich auf das Säubern der Wurzel, auf die gleichmäßige Bewegung beim Schneiden und das knistern des Feuers, als wir sie schließlich brieten. Und dennoch wanderten meine Gedanken immer wieder zu meinem Großvater. Was verlangst du nur von mir?, schwirrte mir immer wieder durch den Kopf, obwohl ich mir sicher war, dass Mara es spürte.

~ 732 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Der Schrei war laut und hoch – wenn auch nicht hoch genug, um von einer Frau zu sein – und riss mich aus dem Schlaf.

Im ersten Moment dachte ich, dass mein Bruder doch wieder mit diesem Mädchen hier aufgetaucht war, aber warum hätte er schreien sollen? Warum hatte überhaupt irgendjemand einen Grund dafür, so zu schreien?

Ich spürte eine grundsätzliche Aufregung im Dorf und sprang aus dem Bett. Keine Ahnung, wie viel Schlaf ich nach der Rückkehr hatte nachholen können, aber mehr würde ich nicht bekommen, so viel war sicher. Was war bloß los mit diesem Tag?

Ich stöhnte, als ich meine Hütte verließ – mit all dem Chaos müsste doch selbst Tamaku einsehen, dass es eine bescheuerte Idee gewesen war, einen Menschen nach Whenao zu bringen – und blieb wie erstarrt stehen, als ich erkannte, was tatsächlich passierte.

Auf dem Platz vor dem Ronkau mit Mutters Hütte und dem Krankentrakt hatten sich einige Männer auf Pakamaho versammelt. Im Gegensatz zu den zierlichen Kapoiho machten diese aus Arbeitstieren gezüchteten Kriegspferde einen deutlich bedrohlicheren Eindruck. Ihre spitzen Zähne blitzten im Licht der Mittagssonne und wild schlugen sie mit den Köpfen, begierig, ein Opfer für ihre pechschwarzen Hörner zu finden.

Das Pakamaho des Anführers stieg, als Mutter vor ihm die Hütte verließ. Mir gefror das Blut in den Adern, als ich erkannte, wer auf diesem Monster von Pferd saß, aber Mutter verzog keine Miene.

„Das hätte man auch zivilisierter Regeln können“, sagte sie. Sie erhob kaum die Stimme, aber jeder konnte sie hören. Ich wünschte, mir wäre diese Eigenschaft auch gegeben.

„Ich hab dir gesagt, ich komme wieder!“ Die Stimme des Mannes, des Feindes war kaum mehr als ein Zischen. Und doch verstand ich jedes Wort.

„Steig ab, komm rein und wir regeln das wie Taingatao.“

„Wir sind keine Taingatao mehr. Nicht, seit du uns verbannt hast.“

Jetzt senkte Mutter ihre Stimme. „Ich habe euch nie verbannt.“

„Nein, du warst nur der Meinung, ich war nie so gut wie er. Und in der Zeit deines Vorgängers war das dasselbe wie eine Verbannung.“

Mutters Zorn flutete das gesamte Dorf. Wenn sie ihre Gefühle nicht abschirmte, war sie kurz vorm Explodieren und wir konnten von Glück reden, dass wir alle noch lebten. „Ich werde das nicht hier draußen besprechen. Komm mit rein. Oder verschwinde.“

Einen Moment erwägte der Feind zu widersprechen. Er sah sich um und sein Blick verweilte einen Moment zu lange auf mir. Dann sah er ein, dass seine Mannschaft trotz der Pakamaho unterlegen sein würden. Mit einem Kopfnicken befahl er seinen Männern, zu warten, stieg ab und verschwand hinter Mutter in der Hütte.

Ich aber war geladen, ohne etwas zu tun zu haben. Ich drehte mich um, um mein Hiriuna zu holen. Er sollte wissen, wer ich war.

~ 454 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Die Wurzel schmeckte erstaunlich gut. Dennoch konnte ich mich nicht wirklich auf das Essen konzentrieren, weil ich aus den Augenwinkeln immer wieder zu Tamaku schaute. Er hatte noch immer nicht herausgefunden, was auf diesem Zettel stand und ich spürte nur zu deutlich, dass er mit sich und der Aufgabe, die vor uns lag, haderte. Nicht, dass ich ihn nicht verstehen könnte. Hätte man mich gestern gefragt, ob ich vorhätte, eine magische Welt zu retten, hätte ich das vermutlich für den schlechtesten Witz aller Zeiten gehalten. Aber hier war ich nun. Und auch wenn es verrückt war und wenig vielversprechend und auch wenn bestimmte Leute mich lieber tot als in ihrer Welt wissen würden, so wusste ich doch, dass es richtig war, was wir taten. Und ich musste stark sein, solange Tamaku es noch nicht konnte.

„Schmeckt es dir?“, fragte Tamaku in die Stille.

„Ja, sehr.“

„Die Pakaati-Wurzel ist sehr nahrhaft. Und kraftspendend“, erklärte er.

Eigentlich war es mir egal, aber ich nickte trotzdem. Wenn er etwas erklären musste, was er kannte, um sich sicherer zu fühlen in all dem Unbekannten, was uns gerade passierte, nahm ich es hin. Auch das konnte ich nur zu gut verstehen. Manchmal glaubte ich, wenn ich Miriam nicht hier hätte, würde ich verrückt werden.

Als wir fertig waren, räumte Tamaku die Teller ab und fing an, sie abzuspülen. Da ich jedoch nichts zu tun hatte, streifte ich in den Schlafbereich des Hauses, in dem ich zuvor noch nicht gesucht hatte. Jetzt, da wir den Zettel gefunden hatten, kam ich mir weniger wie ein Eindringling vor. Als hätte Tamakus Großvater gewollt, dass wir kommen.

Ziellos sah ich mich um. Ich suchte nach nichts, aber trotzdem wollte ich etwas finden. Mit Ende des Bücherregals kam ein kleinerer, offener Schrank, in dem irgendwas gelagert war, Krimskrams, der nicht zusammenpasste. Ein altmodisches Feuerzeug, eine kleine Batterie, eine einzelne Spore, ein – mit einem Mal vergaß ich, zu atmen. Das war kein Krimskrams ohne Zusammenhang, der Zusammenhang hatte sich nur mir nicht erschlossen, weil diese Dinge für mich alltäglich waren. In dieser Welt jedoch hatte ich sie noch nie gesehen. Das war eine Sammlung aus Dingen aus meiner Welt.

„T-Tamaku?“, sagte ich und hasste mich dafür, dass meine Stimme versagte. Jetzt. Nicht während eines Riesenangriffs oder sowas, nein, als ich ganz alltäglichen Kram betrachte.

Da plötzlich blieb mein Blick an einem der Gegenstände kleben. Ich hörte Tamakus Schritte hinter mir. Er sagte irgendwas, aber seine Worte drangen nicht zu mir durch. Alles, was ich sah, war eine kleine Rassel. Pastellblau mit einem vollen Mond auf der Seite. Dieselbe Rassel, die ich als Kleinkind auf einer unserer Weiden verloren hatte, als ich das erste Mal mit Miriam tobte. Kein Wunder, dass sie niemand hatte finden können!

Etwas berührte meinen Arm und riss mich aus meiner Trance.

„Mara? Alles in Ordnung?“, fragte Tamaku und Sorge zeichnete sein Gesicht. Es war schon schlimm genug, dass er sich um alles andere sorgte, da musste ich nicht unbedingt dazugehören.

Ich überging seine Frage trotzdem. So musste ich nicht überlegen, was die Wahrheit war. „Hast du das schon mal gesehen?“

Tamaku runzelte die Stirn. Eigentlich war das Antwort genug.

„Er hatte mal gesagt, dass er etwas sammelt“, meinte Tamaku, während er sich näher zu den Dingen beugte. „Aber ich wusste nicht was.“

„Die sind nicht von hier.“ Ich war mir nicht sicher, ob Tamaku das erkannt hatte, auch wenn es vermutlich offensichtlich war. Deshalb sprach ich einfach weiter: „Die da“ – ich deutete auf die Rassel – „ist von mir.“

Zwei ewige Sekunden, sah Tamaku mich mit undurchdringbarer Mine an. Dann drehte er sich zum Wohnbereich und sagte: „Ich wusste es!“

Zwar hatte ich keine Ahnung, wovon er redete, aber ich hatte das Gefühl, wenn ich ihn jetzt fragte, würde er wieder anfangen nachzudenken und der ganze Durchbruch wäre dahin.

Er hatte den Zettel geholt und stand nach zwei langen Schritten wieder vor mir. „Ich konnte es nicht lesen, weil die Lösung zur anderen Welt gehört.“ Eindringlich sah er mich an. „Zu deiner Welt.“

Ich wusste nicht genau, was ich darauf erwidern sollte. Wollte er jetzt, dass ich versuchte, es zu lesen? Ich hatte bestimmt kein verstecktes Wissen zu mir unbekannten Sprachen, auf das ich zugreifen konnte.

„Das hier“, sprach Tamaku weiter und wackelte mit dem Zettel, „ist ein Teil seiner Sammlung.“

Plötzlich verstand ich, auch wenn ich nicht wusste, woher dieses Wissen kam. – Ich bezweifelte zwar, dass es von den Tassen kam, aber langsam hielt ich alles für möglich.

Ich wandte mich dem Bücherregal zu und sah das Buch sofort. Ein dicker Wälzer, aber viel neuer als alle anderen Bücher. Fast andächtig zog ich das Wörterbuch zwischen den anderen Büchern hervor.

„Noch ein Teil der Sammlung“, sagte ich, bevor ich den Staub vom Buchrücken blies.

Während wir den Zettel übersetzten wollte mein Herz nicht aufhören zu hämmern und mein Blick huschte unwillkürlich immer wieder zu meiner alten Rassel zurück. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass auch ich zu dieser Sammlung gehörte.

~ 825 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Mit hoch erhobenem Kopf betrat ich die Hütte. Mutter bemerkte mich, sah aber nicht auf. Sie sprach mit gesenkter Stimme, sodass ich näherkommen musste, um sie zu verstehen.

„Sag mir einfach nur, was du willst.“ Ihr Flüstern klang noch bedrohlicher als ihr Schreien. Schon früh hatten Tamaku und ich gelernt, dass wir verloren hatten, sobald sie flüsterte.

„Ich will, was mir zusteht, was du mir verweigert hast. Ich will den Platz auf diesem Kissen.“ Er verdiente meinen Respekt dafür, dass er Mutters Blick nicht auswich.

Obwohl ich nicht das Ziel ihrer Wut war, wusste ich, dass ich nur geduldet wurde und hielt mich im Hintergrund. Schweigend betrachtete ich den Mann, der in unser Leben eingedrungen war. Seine dunkelbraunen Haare waren ungepflegter als sein Vollbart. Er hatte ein eckiges Gesicht, scharfe Konturen, dunkelgraue Augen. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber ich wusste trotzdem, wer er war.

„Dieser Platz stand dir niemals zu“, erwiderte Mutter trocken. „Ich hab dich an meiner Seite geduldet.“

„Geduldet“, er spie das Wort regelrecht aus. „Du hast mich geliebt und das weiß du genau. Und dann hast du mich fallengelassen, weil dieser alte Spinner meinte, sein Sohn wäre besser für dich.“

Die Art und Weise, wie er von Großvater sprach, hätte auch von mir stammen können. Dennoch fühlte ich mich angegriffen. Niemals hätte ich ihn so über meine Familie sprechen lassen. Er war kein Teil davon. Aber noch war ich nicht in der Position. Noch war es an Mutter, die Verhandlung zu führen. Ihre Stimme wurde noch ein Stückchen leiser und eisiger. „Es war meine Entscheidung.“

„Und was hat es dir gebracht?“ Er wurde lauter. Ich kenne die Strategie. Sie funktioniert nicht. „Das Gerede über deinen vertrottelten Sohn reicht sogar bis zu mir.“

Ich wusste, dass er nicht von mir redete, aber ich trat dennoch hörbar einen Schritt auf ihn zu. Das war alles, was ich tun konnte, ohne zu schlimme Konsequenzen zu erwarten.

Er bemerkte mich trotzdem. „Und da ist dein zweites Schoßhündchen.“

„Du hattest recht“, sagte Mutter und ich verkrampfe mich bei ihren Worten, „es scheint unmöglich, mit dir wie mit einem normalen Taingatao zu reden.“

Obwohl ihre Worte mich hätten beruhigen sollen, blieb ich angespannt. Irgendetwas stimmte nicht. Auch wenn ich noch nicht genau sagen konnte, was es war.

Er stand auf und sah mir in die Augen. Ich fragte mich, was er in ihnen sah. Ob es etwas anderes war, als die Ähnlichkeit zu Mutter. Seine Gefühle waren so gut verschlossen, wie meine oder Mutters. Der Mann war mir ein Rätsel. Ich kannte nicht mal seinen Namen. Ich wusste nur, dass er der Feind war, seit er den Platz an Mutters Seite hatte aufgeben müssen. Seit er nicht mehr an der Stelle des zukünftigen Herrschers stand, einer Position, die ich nun innehatte.

Er ließ den Blick nicht von mir, als er sagte: „Ich würde auch gerne ein Blutvergießen vermeiden.“ Dann wandte er sich ruckartig zu Mutter um. „Ich gebe dir eine Stunde, um deinen Platz zu räumen.“

Ohne auf eine Reaktion zu warten, verschwand er unter Mutters und meinen hasserfüllten Blicken durch die Tür.

~512 Wörter

-- Perspektivwechsel --

So oft ich auch auf unsere Übersetzung starrte, selbst in einer Sprache, die ich kannte, ergab sie keinen Sinn. Wir hatten alle Wörter in dem Wörterbuch und den Tamaku und mir anderweitig bekannten Sprachen mehrfach gegengecheckt, aber mehr als ein paar grobe Richtungsangaben und Ortsbezeichnungen, die selbst für diese Welt zu verrückt klangen, um echt zu sein, war nicht herausgekommen.

„Irgendwas stimmt nicht“, murmelte Tamaku neben mir und ich blickte auf. Wir standen außerhalb Hütte vor einem hohen Unterstand, wo Tamaku versuchte, uns ein Reittier zu organisieren. Auch wenn mir der Gedanke nicht gefiel, Miriam schon wieder zurückzulassen, konnten wir unmöglich zu Fuß den seltsamen Anweisungen des Zettels folgen. Zuhause würde man sich eh schon Sorgen um mich machen, da musste ich nicht auch noch die nächsten Tage damit zubringen, durch diese Welt zu stapfen. Denn gehen, konnte ich nicht. Tamaku brauchte mich. Und wenn es nur die moralische Unterstützung war.

„Was dachtest du denn, was hätte passieren sollen?“, fragte ich, weil ich tatsächlich keine Ahnung hatte, wie er das Pferd rufen wollte.

„Aniwahere müsste unsere Anwesenheit spüren und kommen“, erklärte Tamaku.

„Ich muss gestehen, das klingt nicht sehr zuverlässig“, gab ich zu bedenken. „Dich kennt er – oder sie – ja vermutlich, aber vielleicht hat ... es ein Problem mit mir. Oder mit Miriam.“ Ich überging den Teil, der sich fragte ob das Spüren der Anwesenheit überhaupt so funktionierte, weil ich schon viel verrücktere Dinge hier erlebt hatte.

Tamaku schien kurz über meine Worte nachzudenken, dann nickte er. „Vielleicht ... Ich gehe mal ein Stückchen in Richtung Wald. Ihr wartet hier.“

Während Tamaku sich entfernt, bückte ich mich zu Miriam hinunter und schlang meine Arme um ihren weichen Hals. „Ach Miriam, wo haben uns deine Abenteuer nur hingeführt“, flüstere ich. Aber das Lächeln auf meinen Lippen konnte ich trotzdem nicht verhindern. Ich musste zugeben, ich genoss es, hier zu sein. Trotz all der gruseligen Zusammenhänge, die sich zeigten.

Miriam hatte meine Gefühle schon lange vor unserer Ankunft in Whenao spüren können und drückte mit dem Kopf gegen meine Brust.

Ich seufzte wehmütig. „Ist es in Ordnung, wenn du wieder ein bisschen auf uns warten musst?“

Sie reagierte nicht, aber ich kannte die Antwort. Miriam hasste es, nichts zu tun. Deshalb rannte sie immer wieder von ihrer Herde weg. Aber sie vertraute mir so sehr, wie ich ihr vertraute. Sie würde nicht brav in der Hütte sitzen, aber in der Nähe des Hügels auf uns warten.

Ich schloss die Augen und schmiegte mich an ihre warme Wolle. Sie war mein Stück Zuhause. Und ich ihres. Wir genossen diesen ruhigen Moment auf dieser ereignisreichen Reise gleichermaßen. Fast war es, als wäre ich wieder auf der Erde ...

Miriams überraschtes Blöken riss mich aus meiner Vorstellung. Ich öffnete die Augen und sah Tamaku auf uns zukommen. Ich sah aber auch, dass wir nicht auf ein Pferd gewartet hatten. Neben ihm ging ein Hirsch. Ein riesiger Hirsch Sein Fell schimmerte in allen Regenbogenfarben gleichzeitig und sein Geweih bestand aus goldenen Ästen, an denen sogar vereinzelte Blätter hingen. Ein paar Meter vor uns bliebe die beiden stehen.

„Das ist Aniwahere“, sagte Tamaku und legte eine Hand auf die Schulter des Hirsches, die sich ungefähr auf Höhe seines Kopfes befand. „Du hattest recht, er war sich nicht sicher, ob er sich dir zeigen könnte, aber ich habe ihm gesagt, dass du eine Freundin bist. Und dass Großvater dich sicher auch gemocht hätte.“

Ich lächelte den Hirsch an und vergas, meine Überraschung bei mir zu behalten.

Tamaku lachte. „Du bist verwirrt“, sagte er, aber es fühlte sich an wie eine Frage.

„Es verwirrt mich so einiges hier“, meinte ich und machte einen vorsichtigen Schritt auf die beiden zu.

„Aniwahere sorgt für das Gleichgewicht hier im Wald. Awai beschenkt in jeder Generation ein Tier mit besonderen magischen Gaben, damit es diese Aufgabe erfüllen kann. Großvater hat sich früh mit Aniwahere angefreundet und ich kenne ihn seit ich denken kann. Er wird uns helfen, Awai zu retten.“

Ich nickte, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob ich alles verstand. „Na dann sollten wir aufbrechen, nicht wahr?“

Tamaku schenkte mir ein Lächeln. Aniwahere legte sich auf den Boden, um uns aufsteigen zu lassen. So wie Kamele es taten.

Während Tamaku bereits auf den Rücken des Königs des Waldes kletterte, nährte ich mich seinem Kopf und sah ihm in die Augen. „Danke“, flüsterte ich. Aniwahere neigte hoheitsvoll den Kopf.

„Wir kommen wieder, so schnell es geht“, wandte ich mich an Miriam, die mich aus großen Augen ansah. Dieser Abschied hatte weniger Dringlichkeit als der heute Morgen, was ihn nur noch schwerer machte. Aber ich würde den nächsten Teil des Abenteuers auch ohne Miriam überstehen.

Kaum hatte ich mich hinter Tamaku niedergelassen, war Aniwahere schon aufgestanden und mit uns im Wald verschwunden.

~791 Wörter

Aniwahere brachte uns über den hinteren Teil der großen Ebene zu den Bergen, in denen mein Weg zurück nach Hause lag. Irgendwie war das eine komische Vorstellung. Zum einen der generelle Gedanke an Zuhause, dass es so nah und doch so unendlich weit entfernt ist, und zum anderen die seltsame Verbindung zwischen Taingatao und Menschen, die mich überhaupt erst in dieses Abenteuer hineingezogen hatte. Aber dort sollte irgendwo –

„Halt!“

Aniwahere hielt an, obwohl ich mir nicht mal sicher war, ob er überhaupt meine Sprache verstand.

„Was ist los?“, fragte Tamaku vor mir.

„Das da“, sagte ich und zeigte auf einige grüne Pflanzen, die am Rande der Felswände wuchsen, „das ist Reis.“

Tamaku sah sich das Gewächs an, dann nickte er. „Danke, Aniwahere, würdest du uns bitte absteigen lassen?“

Ganz der wahre Gentleman, den ich in dem Hirsch vermutete, kam er Tamakus Bitte sofort nach und ein paar Sekunden später, standen wir vor einem Reisfeld, das hier ziemlich sicher eigentlich nichts verloren hätte. Allein die Farbe erschien mir fast schon ungewöhnlich.

„Wirst du uns später wieder helfen?“, fragte Tamaku den Hirsch, der sich zum Gehen wendete.

Aniwahere drehte den Kopf zu uns und neigte ihn leicht, sodass die Blätter in seinem Geweih wackelten. Es war ein majestätischer Anblick. Dann verschwand er mit schnellen Schritten wieder zurück zum Wald.

Tamaku drehte sich zu mir um. „Du hattest Reis anders beschrieben“, meinte er.

„Ja“, sagte ich, widmete meine Aufmerksamkeit allerdings mehr der Pflanze vor mir als dem Mann neben mir. „Das was wir essen sind die Körner, das vor uns die ganze Pflanze. Aber ich hätte mir eine Tür aus Reis auch anders vorgestellt.“

Schweigend betrachten wir die Getreidestängel vor uns und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie sie hier wohl überlebten. Ohne Wasser und ohne Menschen, die sie kultivierten. Aber vielleicht hatte das ja auch etwas mit dem magischen Wasser dieser Welt zu tun. Deshalb waren wir ja hier, oder?

„Okay“, breche ich schließlich das Schweigen, „so kommen wir auch nicht weiter. Komm mit.“ Entschlossen, aber vorsichtig, um die Pflanzen nicht zu zertreten, ging ich auf die Wände zu und spürte, dass Tamaku mir folgte.

Knapp einen Meter vor der Wand blieb ich abrupt stehen. „Tamaku, siehst du das auch?“

Ich sah sein Nicken nur aus dem Augenwinkel, denn ich starrte weiterhin auf die Felsen, vor denen von einer Sekunde zur anderen sich eine Tür aus Reis gebildet hatte. Genau so, wie es auf der Notiz stand. Nur, dass diese Tür anders als erwartet nicht aus einzelnen Reiskörnern bestand, sondern aus hochgewachsenen grünen Reispflanzen.

Tamaku machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu und untersuchte sie, indem er mit den Händen an den Stängeln entlang fuhr. Nach einer Weile drehte er sich wieder zu mir um. „Dahinter ist nur Fels“, sagte er mit einer Mischung aus Sorge und Verwirrung in der Stimme. „Aber Großvater meinte doch, wir sollten hindurch gehen.“

Prüfend betrachtete ich die Wand. Wie sollte man durch eine Tür gehen, die gar keine wirkliche Tür war und hinter der sich nichts als blanker Fels verbarg? „Keine Ahnung“, sagte ich und dann, weil mir nichts Besseres einfiel und es so gut war, wie alles andere: „Sesam öffne dich.“

Nichts passierte. Also nichts, außer dass ich einen äußerst skeptischen Blick von Tamaku erntete.

„Was sollte das denn?“

„Keine Ahnung, das ist so ein Spruch. Aber vielleicht wäre ‚Reis öffne dich‘ ja sinnvoller gewesen.“

Auch auf diese Worte zeigten die Pflanzen vor uns keine Wirkung.

Tamaku schüttelte den Kopf. „Sesam öffne dich“, wiederholte er, „was soll das überhaupt bedeuten?“

Aber bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, zu antworten, geschah das Unglaubliche. Die Reispflanzen schoben sich auseinander wie Schnüre eines Perlenvorhangs und gaben den Blick auf einen dunklen Tunnel frei.

Vor lauter freudiger Überraschung griff ich nach Tamakus Unterarm. „Es hat doch funktioniert!“, sagte ich. Als ich merkte, dass ich wie ein aufgedrehtes Kleinkind klang, brachte ich meine Stimme wieder unter Kontrolle. Lächelnd sah ich Tamaku an. „Es musste nur in der richtigen Sprache gesagt werden.“

Tamaku sah so aus, als verstünde er die Welt nicht mehr – was inzwischen bei uns beiden eigentlich Dauerzustand hätte sein müssen –, schüttelte dann aber den Kopf und schien zu meiner Strategie zu wechseln. Einfach hinnehmen, hinterfragen kann man später noch.

Ich ließ seinen Arm los und machte eine übertriebene Geste in Richtung der Höhle. „Nach dir“, sagte ich höflich, und hoffte, dass ich die Angst, die in mir keimte gut genug kaschierte. Es war das eine in einer unbekannten Welt mit jemandem unterwegs zu sein, der sich dort auskannte. Es war etwas anderes selbst diese Welt zu verlassen und in einen dunklen Berg zu laufen, in dem sich keiner auskannte.

Tamaku schien jedoch zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nickte nur und ging festen Schrittes los.

Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch, sammelte allen Mut zusammen, den ich noch hatte. Dann folgte ich ihm in die Dunkelheit.

~817 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Als Mutter ihren Blick mir zuwendete, bekam ich zum ersten Mal an diesem Tag wirklich Angst. Und das nachdem ich mich schon Waldriesen und diesem Mann hatte stellen müssen. Aber das letzte Mal, dass Mutter mich so angesehen hatte, hatte Tamaku neben mir gestanden und war kaum mehr als ein heulendes Wrack gewesen. Damals hatte Mutter uns erzählt, dass unser Großvater gestorben war. Ein Mann, der meinen Bruder immer bevorzugt und ihm hirnrissige Ideen in den Kopf gesetzt hatte. Dennoch hatte es wehgetan. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum Mutter mich jetzt mit diesem Blick bedachte.

„Setz dich, Tamonga“, sagte sie.

Zögernd nahm ich den Platz ein, auf dem vor Kurzem noch der Feind gesessen hatte.

„Du bist mein Sohn“, begann sie, „du bist mein Nachfolger. Deshalb überlasse ich dir die Entscheidung.“ Manchmal war es schwer, sich vorzustellen, dass diese Frau vor mir durchaus eine liebevolle Mutter sein konnte. Diese Rolle hatte sie allerdings abgelegt, als Tamaku ein Jahr nach mir seine Bestimmung vom Feuer erhalten hatte. Oder in seinem Fall nicht erhalten hatte. Sie war nur zu Großvaters Tod kurzzeitig in diese Rolle zurückgekehrt. Nun, sprach eindeutig Mokahi, die Anführerin unseres Stammes, zu mir. Alles wirkte falsch und widersprüchlich und ich konnte mir in keinster Weise vorstellen, was für eine Entscheidung ich treffen sollte.

Sie fesselte mich mit ihrem Blick, als sie die nächsten Worte sprach: „Soll Ranua wissen, dass er dein Vater ist?“

Obwohl ich seinen Namen noch nie gehört hatte, wusste ich sofort, von wem sie sprach. Und meine Welt blieb stehen. Großvaters Ablehnung mir gegenüber, Tamakus und meine Unterschiede, alles ergab damit einen Sinn, aber ich konnte trotzdem nicht glauben, was meine Ohren zu hören glaubten. Ich war mir sicher, mich verhört zu haben. Aber das wäre ein Zeichen von Schwäche. Also saß ich nur in da, in eine Schockstarre verfallen, die nicht weniger meine Schwäche demonstrierte, sich allerdings nicht kontrollieren ließ.

Wieso hatte sie es mir nie gesagt? Wieso jetzt? Ich hätte voller Stolz unseren Stamm verteidigen können und nun saß ich hier wie der letzte Trottel.

„Nein“, sagte ich. Das Wort entwich meinem Mund, ehe ich es kontrollieren konnte, mehr ein Hauchen als ein stimmhafter Klang.

Ich wusste nicht, ob es die Antwort auf Mutters frage war, oder der Versuch, das Gehörte Lügen zu strafen, aber Mutter nickte nur. „Gut“, sagte sie und erhob sich. In diesem Moment hatte sie ihr Mutterdasein abgelegt und war nur noch eine Stammesführerin im Angesicht eines Kampfes.

Als Mutter sich der Tür zuwandte, ertönte ein lautes Wiehern von draußen.

„Oh, sehr schön“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, das immer dann erschien, wenn einer ihrer Pläne aufging, „meine Lieferung ist da.“

Lieferung? Ich hielt mich gerade noch davon ab, laut zu fragen. Ich hatte mir schon genug Blöße gegeben. Also zwang ich mich dazu, aufzustehen und Mutter auf den Dorfplatz zu folgen. Dort standen noch immer die Fremden mit ihren Pakamaho, aber aus Richtung der Ebene kamen noch mehr Pferde, pechschwarze, mit Federn übersäte Poho, die kleineren Verwandten der Kapoiho. Sie trugen die Schattenläufer aus Otarangi zu uns. Wir hatten ihnen gegen die Waldriesen geholfen, nun halfen sie uns gegen unseren Feind.

Es kam mir vor, als wäre der Einsatz diesen morgen in einem anderen Leben passiert. Und irgendwie war das auch der Fall. Es war ein Leben gewesen, das nicht von einem Schatten überfallen worden war, der gerade unser Dorf angriff.

Das Pakamaho von ... ihm stieß einen gefährlichen Kampfschrei aus. Der Reiter reckte sein Schwert in die Luft. „Wie ihr wollt!“, brüllte er.

Obwohl im selben Moment der Kampf um mich herum losbrach, konnte ich nicht mehr. Ich müsste dort bleiben und mit meinen Leuten kämpfen. Aber mein Körper weigerte sich, auf meinen Kopf zu hören. Zwei Herzschläge stand ich reglos da, dann drehte mein Körper sich wie von selbst um und verließ das Dorf.

~642 Wörter

Dass ich gerannt war, merkte ich erst, als ich vor einem umgestürzten Baum anhalten musste und schnaufend nach Luft schnappte. Ich war ein Feigling. Ich war ein Bastard. Ich war unwürdig. Ich hätte kämpfen müssen. Bei allen Bächen von Awai, ich war schlimmer als Tamaku!

Es brachte nichts, stehenzubleiben. Wenn ich stehen blieb, kamen die Gedanken. Gedanken daran, was meine Flucht ausgelöst haben musste. Irgendjemand musste mich gesehen haben.

Ich rannte weiter. Mein Gedanken kreisten weiter. Bis urplötzlich beides stoppte.

Die Augen! Ich erinnerte mich kaum an Vater, aber in jeder meiner Erinnerungen an ihn hatte er grüne Augen; so grün wie die von Tamaku. Ich hatte mein Aussehen von Mutter. Nur meine braunen Augen nicht.

Sie mussten es gewusst haben!

Ich zwang meine Beine dazu, weiterzugehen. Ich konnte eh nicht zurück und brauchte etwas zu tun. Auch wenn ich wusste, dass es nicht funktionierte.

Sie mussten meine Augen gesehen haben und es wissen. Niemand hatte je ein Wort gesagt. Mutters Macht war zu groß. Niemand würde je etwas gegen sie oder ihre Söhne sagen. Zumindest damals, als wir noch unter ihrem Schutz standen. Aber jetzt? Wie viel Spott hatte Tamaku sich schon anhören müssen. Nach Vaters Tod mussten sie meine ungewöhnliche Augenfarbe irgendwann vergessen haben. Aber mein Leben lang musste ich ein Gerücht gewesen sein, ohne es zu wissen. Und nun hatte ich es neu befeuert.

Zorn und Scham mischten sich in meinem Inneren zu einem unlösbaren Knoten. Wie hatte Mutter mir dieses riesige Geheimnis verschweigen können? Wenn es eigentlich so offensichtlich war ...

Der Hügel tauchte vor mir auf und meine Füße trugen mich weiter, obwohl ich wünschte, sie täten es nicht. Ich wünschte, ich könnte einfach umdrehen. Aber ich konnte nicht zurück, nicht jetzt nicht so.

Also schrie ich. Ich schrie so laut, dass ich fast sicher war, man hätte es im Dorf hören müssen, obwohl die Kampfgeräusche schon lange hinter mir verklungen waren. Ich schrie mir meinen ganzen Frust aus der Seele, bis mein Hals schmerzte.

Meine Füße trugen mich immer noch weiter zu dem Punkt, zu dem mich mein Unterbewusstsein oder sonst etwas geführt hatte. Großvaters Hütte. Obwohl ich nun wusste, er nicht mein Großvater war, spürte ich mich eigenartigerweise zum ersten Mal wirklich willkommen. Ich schüttelte den Kopf, aber das seltsame Gefühl blieb.

Dann schoss ein weißes Etwas auf mich zu und rammte mich zu Boden. Völlig perplex starrte ich in das Gesicht des Schafes, das mit dem Mädchen angekommen war und dachte bei mir, dass ich in meiner Verfassung, wenn mich schon ein Schaf aus der anderen Welt überwältigen konnte, die Schlacht im Dorf niemals überlebt hätte.

Das Schaf schnupperte an meinem Ohr und befand mich dann offenbar als ungefährlich, denn es ließ von mir ab.

„Tja „dann ist mein Bruder wohl nicht weit“, sagte ich zu dem Schaf. „Tamaku?“

Aber niemand reagierte auf meinen Ruf. Skeptisch ging ich in Richtung Hütte. Aber als ich hineinsah, war sie leer. Aber sie sah anders aus als zuvor. Belebter. Tamaku war auf jeden Fall hier gewesen. Würden sie das Schaf einfach so zurücklassen?

„Du könntest mir ruhig mal helfen“, blaffte ich das Tier an, das auch prompt antwortete. Sie waren also wirklich ohne das Schaf los. Dafür mit dem Herrscher des Waldes. Auf der Suche nach der Lösung für Awais Leiden. Hinter einer Tür aus Reis?

Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete ich das Schaf, aber das stupste nur mit der Nase gegen meine Hand und verschwand im Inneren der Hütte.

Unschlüssig sah ich mich um. Der Ort war so gut wie jeder andere, um meine Gedanken zu ordnen. Und hier hatte ich zumindest Gesellschaft. Selbst wenn es nur ein Schaf aus der anderen Welt war.

Seufzend trat ich in die Vergangenheit ein und die wohltuende Lüge empfing mich, verdrängte die drückende Kraft der Wahrheit zumindest ein bisschen.

„Nun Schaf, wie hattest du vor, dir die Zeit zu vertreiben?“, fragte ich, als ich mich auf das Sofa setzte. Und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass es mich mit einem schelmischen Grinsen ansah, bevor es blökte.

~672 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Die Dunkelheit schloss sich um uns, doch es war eine Dunkelheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich hatte Waorema schon oft besucht, aber dort konnte man etwas sehen. Hier nicht. Dennoch gingen wir immer weiter. Mit der linken Hand fuhr ich an der Wand entlang. Es gab mir eine Art von Sicherheit. Sie war kalt und feucht, aber sie zeigte mir, dass ich noch irgendwo war.

Plötzlich ging ein Kribbeln durch meinen Körper. Es fühlte sich an, als würde ich zwischen den Welten wechseln, nur das Schwindelgefühl blieb aus. Trotzdem überkam mich ein ungutes Gefühl. „Mara?“, fragte ich. Als sie zwischen den Welten gewechselt war, hatte sie kurzzeitig das Bewusstsein verloren. Was sollte ich tun, wenn das in dieser Schwärze wieder passierte.

„Ich bin noch da“, kam ihre Stimme von hinter mir. Auch sie klang, als wäre ihr diese Höhle nicht ganz geheuer.

Dann spürte ich etwas an meiner freien Hand. Mara. Ich umschloss ihre Finger mit meinen und hatte sofort ein etwas besseres Gefühl. So konnten wir uns wenigstens nicht mehr verlieren.

Als nach einer gefühlten Ewigkeit ein bläulicher Schimmer an den Wänden glitzerte, musste ich die Augen zusammenkneifen. Selbst dieses leichte Glühen schien sie zu überfordern.

„Hörst du das?“, fragte Mara hinter mir und brachte mich dazu, die Ohren zu spitzen.

„Wasser“, flüsterte ich.

„Ja. Es klingt wie Regen auf einem Fluss.“

„Das ergibt keinen Sinn“, werfe ich ein.

Aber Mara hat ein ziemlich gutes Gegenargument: „Hier ergibt ziemlich wenig einen Sinn.“

Hinter der nächsten Ecke sah ich, was all das zu bedeuten hatte. Das Schimmern an den Wänden schien vom Wasser zu kommen, das nun den Großteil der Höhle ausfüllte. Es wirkte tatsächlich, als würde es regnen, denn durchweg fielen leuchtende Tropfen von der Decke, die mit Stalaktiten bedeckt war. Das meiste Licht ging allerdings vom hellblauen Wasser aus, das den Boden vor uns bedeckte.

Das vor uns war nicht Awai. Und dennoch schien ein ähnlicher Zauber von ihm auszugehen.

„Sieh mal“, sagte Mara. Sie hatte meine Hand losgelassen und trat an den Rand des Wasserlaufes, dorthin, wo sie noch gerade so nicht im Regen stand. Oder was auch immer das von oben war.

„Seltsam“, erwiderte ich, als ich neben ihr ankam. Dort lag ein Boot. Ein winziges Ruderboot wie es früher einmal zum Fischfang verwendet wurde. Aber spätestens seit Awai sich zurückzog waren Boote nur noch Teil von Märchen und Legenden.

„Das ist also unser Weg.“ Mara machte Anstalten in das Boot zu steigen, doch ich hielt sie fest.

„Bist du verrückt geworden?“, fragte ich sie. Ihr Gesichtsausdruck mich fragte dasselbe, also erklärte ich: „Boote sind das gefährlichste Fortbewegungsmittel, das es gibt. Morua hat unzählige Männer und Frauen in solchen Booten verschluckt. Und Awai mochte es auch nie sehr gerne, wenn man auf ihm fuhr – auch wenn er es meistens akzeptiert hat. Ich möchte wirklich nicht ertrinken bei dem Versuch, das Wasser zu retten.“

Überraschung, Unglaube, aber zuletzt auch ein Verständnis huschten über ihr Gesicht. Ich spürte, dass sie etwas aus ihrer Welt sagen wollte, sich aber doch dagegen entschied. „Das ist doch gerade der Punkt“, meinte sie schließlich. „Wir sind hier, um das Wasser zu retten. Es wird uns nichts tun.“

Ehe ich auch nur darüber nachdenken konnte, etwas zu sagen, entwand sie sich meinem locker gewordenen Griff und war auch schon ins Boot gesprungen, von wo aus sie mir die Hand hinhielt. Bereits nach wenigen Sekunden hingen ihre rot-braunen Haare wie auch ihre Kleidung nass an ihrem Körper. Durch das Wasser ging ein sachtes Leuchten von ihr aus.

Ich seufzte. Blieb mir etwas anderes übrig?

Mara wusste, dass sie mich überzeugt hatte, noch bevor ich mich von ihr ins Boot und in den Regen ziehen ließ.

In diesem Boot zu sein war anders als jeder Regen, den ich zuvor erlebt hatte. Jeder Tropfen landete kalt wie eine Schneeflocke auf meiner Haut, nur um dann ein warmes Gefühl durch meinen Körper zu schicken. Und obwohl dieses Boot schon ewig hier stehen musste, war sein Inneres vollkommen trocken. So als sei es immun gegen das Wasser.

„Weißt du, wie man paddelt?“, fragte Mara in meine Gedanken hinein und hielt mir ein ebenso Paddel hin, das aus dem gleichen Holz wie das Boot zu sein schien.

Ich nickte stumm, auch wenn ich es noch nie selbst probiert hatte. So schwer konnte es ja nicht sein.

Auch Mara verfiel ins Schweigen, während wir dem leuchtenden Flusslauf folgten. Ich konnte nicht sagen, wie lange wir einfach nur paddelten und uns Stück für Stück weiterbewegten. Hier eine Linkskurve, da eine Rechtskurve. Einmal kamen wir an eine Verengung der Höhle, durch welche wir nur ganz knapp hindurch passten. Dennoch waren die ersten Worte, die einer von uns sagte, Maras geschrienes „Halt dich fest!“, kurz bevor die riesige Welle über uns zusammenbrach.

~792 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Ich hustete und spuckte etwas von dem seltsam leuchtenden Wasser aus. Ich dachte, die Welle wäre zwar über uns gebrochen, aber nun wären wir relativ heil auf der anderen Seite angekommen. Aber als ich mich umsah, merkte ich, dass ich mich irrte. Wir waren zwar auf aus der Welle raus und auch Tamaku saß noch neben mir, auch wenn er noch leichte Panik ausstrahlte, allerdings konnte man nicht von der anderen Seite sprechen. Wir waren eher im Auge des Sturms gelandet. Bedrohlich türmte sich dieses eigentlich friedliche, hellblaue Wasser um uns, zischte und rauschte und ich konnte beim besten Willen nicht ausmachen, von welcher Seite uns die nächste Welle treffen würde.

Zehn Sekunden blieben uns als Schonfrist, ehe uns die nächste Welle traf. Ich fühlte mich nicht viel vorbereiteter als beim ersten Mal, als das leuchtende Blau auf uns herabgestürzt war, aber dennoch war in dieser zweiten Welle irgendetwas anders. Das Rauschen hatte nicht aufgehört.

Es brauchte zwei weitere Male, die wir überspült wurden, bis ich erkannte, was das bedeutete.

„Tamaku!“, rief ich, als wir wieder in dieser seltsamen ruhigen Position zwischen den Wellen waren, und hoffte, dass ich ein wenig Zeit haben würde. „Das sind Toasts!“

„Was?“, rief Tamaku zurück. Völlig in Gedanken hatte ich seine Angst komplett vergessen. Krampfhaft klammerte er sich an die Seite des Bootes. Doch obwohl wir immer wieder überrollt wurden, hatte unser Boot immer nur etwas geschwankt. Wir sollten hier nicht sinken. Wir sollten nur zuhören.

„Trinksprüche!“, erklärte ich Tamaku, doch bevor ich das weiter ausführen konnte, kam auch schon die nächste Welle frontal auf uns zu. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber jetzt, da ich sie bemerkt hatte, vernebelte Tamakus Angst meine Sinne.

Kaum war das Wasser um uns verschwunden, wandte ich mich Tamaku zu und packte ihn an den Schultern. „Tamaku, Tamaku, hör mir zu!“ Eher widerwillig löste er seinen Blick von den tobenden Wassermassen. Aber zumindest für den Moment hatte ich seine Aufmerksamkeit. „Das Wasser hier arbeitet nicht gegen uns. Es will uns nur etwas sagen.“ Ich sah ihm in die Augen und wartete auf ein verstehen. Als es nicht kam, sprach ich weiter, hoffte, dass mir genug Zeit gelassen würde. „Die Wellen hier, sie sind voller Trinksprüche, Lobreden auf Personen oder Taten oder was weiß ich nicht. Keine Ahnung von wem oder was sie hier zu suchen haben, aber wir müssen ihnen zuhören. Das Wasser will nicht, dass wir ertrinken.“

Es war schwer, zu glauben, was ich sagte. Wenn die letzten zwei Tage nicht in ihrer puren Existenz schon unglaubwürdig gewesen wären, würde ich mir auch mehr Gedanken machen, aber es erschien mir als die einzige Möglichkeit, dieser Wellenfront zu entkommen.

Tamaku behielt seine krampfhafte Haltung bei, nickte allerdings. Und als zwei Sekunden später die nächste Welle über uns brach, wusste ich, dass sie mit uns und nicht gegen uns arbeiteten.

„Ein Hoch auf die Freundschaft!“

„Ein Hoch auf unsere Verbindung!“

„Auf unser Blut, das gemeinsam dieses Land nähre!“

„Auf dein Opfer!“

„Auf uns!“

Selbst als sich das Wasser zurückzog, vergas ich zu atmen. Der Fluss lag glatt vor uns, keine einzige Unebenheit kräuselte seine Oberfläche.

„Du hattest recht“, sagte Tamaku. Und der Klang seiner Stimme erinnerte mich daran, meine Lungen wieder mit Luft zu füllen.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich war wie erstarrt.

Tamaku merkte den Wandel in meiner Stimmung und Sorge legte sich in Falten auf seine Stirn. „Was ist los?“

„Auf das Opfer“, wiederholte ich einen der Trinksprüche und Verstehen glitzerte in seinen Augen. „Was ist, wenn deine Mutter doch recht hatte?“

~588 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Kaum dass wir den Höhlenraum mit den seltsamen Wellen verlassen hatten, endete der Fluss. Mara neben mir wirkte apathisch, als wäre sie nicht neben mir im Boot, sondern weit weg. Ich wusste, dass ich irgendetwas hätte sagen sollen, aber zum Einen hatte ich keine Ahnung und zum Anderen konnte ich nicht klar denken, während wir noch in dieser Todesfalls von Boot saßen. Es mochte zwar sein, dass die Wellen uns nicht hatten umbringen wollen, aber gekonnt hätten sie es allemal.

Ich stieg als erster aus, froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und streckte Mara die Hand entgegen. Ich spürte ihre Angst mir entgegenschlagen. Sie schien mich gar nicht zu bemerken.

„Mara“, sagte ich und sie sah mit leerem Blick. Zumindest hatte ich nun ihre Aufmerksamkeit. „Komm wenigstens aus dem Regen.“ Ich wusste, dass das nicht das war, was ich hätte sagen sollen. Verdammt, es war vermutlich nicht einmal ein guter Ratschlag, denn von irgendwoher wehte ein kalter Wind in die Höhle und ließ michfrösteln.

Aber Mara nickte, nahm meine Hand und ließ sich von mir an Land ziehen. Jetzt konnte ich zumindest anfangen, wieder vernünftig zu denken. Ich gebe mir zwei Sekunden.

„Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte“, beginne ich. Mit der einen Hand halte ich noch immer ihre, mit der anderen hebe ich ihr Kinn, zwinge sie, mich anzusehen. „Ich meinte es ernst, was ich gestern sagte. Ich werde Awai nicht auf deine Kosten retten. Ich bin mir sicher, es gibt einen anderen Weg. Und ich werde ihn finden. Vielleicht war unser Abenteuer dann umsonst, aber das ist mir egal. Dir passiert nichts, solange ich es verhindern kann.“

Eine gefühlte Ewigkeit passierte nichts. Ich spürte nicht, was sie dachte. Nur das Heben und Senken ihrer Brust sowie das gleichmäßige Rauschen des Regens hinter uns waren ein Zeichen dafür, dass Zeit verging. Ich wollte, dass sie mir glaubte. Denn alles, was ich gesagt hatte war die Wahrheit.

Den Blick weiterhin starr in meine Augen gerichtet, wackelte ihr Kopf und ich erkannte, dass meine Finger an ihrem Kinn sie am Nicken hinderten.

„Ich hab versucht, für uns beide stark zu sein“, flüsterte sie. „Darf ich trotzdem Angst haben?“

Es fühlte sich an, als hätte Mara mich geschlagen. Sie hatte sich auf dieses Abenteuer eingelassen, obwohl ihr an mehr als einer Stelle der Tod gedroht hatte. Trotz des Tassenzaubers kannte sie nur einen winzigen Teil dieser Welt und dennoch hatte sie mit mir nach ihrer Rettung gesucht. Und mich dabei regelmäßig aufgebaut. Die Erkenntnis lastete schwer wie Felsbrocken auf mir. Ich war so ein Idiot.

„Natürlich darfst du Angst haben“, erwiderte ich und zog Mara einem Impuls folgend in eine Umarmung. „Aber das musst du nicht.“

Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit wir aus dem Boot gestiegen waren. Ich wusste nur, dass es Mara war, die sich als erstes von mir löste. Sie sah zu mir und sagte: „Dann lass uns weitergehen. Wir sind noch nicht da.“

Ich musste lächeln, als ich die alte Entschlossenheit in ihren Augen funkeln sah. Und dennoch – als wir weitergingen konzentrierte ich mich genauer auf ihre Gefühle. Wir sollten ein Team sein und deshalb musste ich verhindern, dass so etwas noch einmal passierte.

„Hör auf dir Sorgen zu machen“, sagte Mara irgendwann. Wir waren einige hundert Meter in die Höhle gegangen, welche aber nie wieder so dunkel wurde, wie direkt hinter der Tür aus Reis. Außerdem ging es leicht bergan und die Luft wurde frischer. Irgendwo hier musste es einen Ausgang geben.

„Ich hab nicht realisiert, wie sehr dich das alles mitnimmt“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Ein Laut, der verdächtig nach einem kleinen Lachen klang, entwich ihrer Kehle. „Das war ja auch der Plan.“

„Aber –“

„Kein Aber. Ich bin die zufällige Variable in dieser Rechnung. All das hier ist deine Aufgabe. Und wenn ich dir dabei helfen kann, zu erkennen, dass du alles in dir hast, was es dazu braucht, dann mach ich das gerne.“ Mara blieb stehen und sah mich an. „Ich hab Angst, dass das alles umsonst war. Ich hab Angst, dass ich ... dass ich am Ende nicht den Mut habe, es durchzuziehen.“

Völlig entgeistert sah ich sie an. „Das sollst du ja auch nicht. Mara, ich bin dir dankbar für alles, was du für mich und meine Welt tust, aber versprich mir, dass du es am Ende nicht durchziehst.“

Ohne auf meine Worte einzugehen, drehte sie sich um und ging weiter. Aber so ein Taingatao wollte ich nicht sein. Ich griff nach ihrem Arm und zwang sie dazu, wieder stehenzubleiben. „Versprich es mir!“, wiederholte ich mit Nachdruck, als sie mich ansah. „Dass du überhaupt darüber nachdenkst. Das hier ist nicht deine Aufgabe. Ich hätte dich doch einfach zurückbringen sollen.“

„Hättest du nicht“, entgegnete sie und die Wärme in ihrer Stimme umfing mich. „Du brauchtest einen Menschen. Und ich kann dir helfen.“

Ich sah sie warnend an, aber sie fuhr fort: „Das mein erstes Abenteuer und es fühlt sich gut an, gebraucht zu werden. Dich zu unterstützen.“

„Mara!“

„Ich verspreche es“, seufzte sie. Die Erleichterung, die ich wahrnahm, straften ihren Tonfall Lügen, aber ich ließ es darauf beruhen.

Als ich ihren Arm wieder freigab, zeigte sie um die nächste Ecke. „Da vorne müssen wir wieder klettern.“

Sie hatte recht. Hinter der Biegung empfing uns eine steile Felswand, über der der blau-violette Himmel glänzte. „Nicht die leichteste Kletterwand“, sagte ich, obwohl es sich seltsam anfühlte nach dem ernsten Gespräch.

„Aber machbar“, antwortete Mara und begann, sich einen Weg nach oben zu suchen.

Und sie hatte erneut recht. Wie eigentlich immer, seit wir uns kannten. Es gab zwei-drei Punkte, an denen ich mir sicher war, ein Weiterkommen sei unmöglich, aber einer von uns fand immer einen Weg, wie wir auch das nächste Stück schafften. Man durfte nur nicht daran denken, was passieren würde, wenn man abstürzte.

Mara krabbelte zuerst aus der Öffnung im Felsen und reichte mir dann die Hand, um mich zu sich zu ziehen.

Als wir beide einigermaßen ebenen Boden unter den Füßen hatten, sahen wir uns um. Wir standen auf dem Gipfel eines der Berge des Panonga-Gebirges, aber die Umgebung zeigte weder meine noch Maras Welt. Wir waren irgendwo dazwischen.

„Sieh mal!“ Auch Mara hatte sich staunend einmal um sich selbst gedreht, dabei aber hinter uns eine Art Altar gefunden, einen glattgeschliffenen Steintisch, auf dem eine einzelne Muschel lag. Sie hatte die Farbe der untergehenden Sonne. Langsam und andächtig, vielleicht auch etwas zögerlich ging Mara auf die Muschel zu. „Das muss der Grund sein, warum wir hier sind.“

Ich folgte ihr ebenfalls langsam. „Bist du dir sicher?“, fragte ich und versuchte mich an die Worte auf Großvaters Notiz zu erinnern. „Hinter der Tür aus Reis reist durch die Vergangenheit, um das Bindeglied zu finden“, zitierte ich. „Du glaubst, diese Muschel ist das Bindeglied?“

„Sie ist das einzige, was hier ist“, erwiderte Mara.

„Trotzdem ...“

„Tamaku, der Rest hat gestimmt. Es ist die einzige Möglichkeit.“

Ich sah Mara an. Das Mädchen, das immer wieder bereit war, ihr Leben für uns aufs Spiel zu setzen, und das so viel mehr Vertrauen in ihr Wissen und meine Fähigkeiten hatte, als ich je für möglich gehalten hatte. Dies war meine Aufgabe, aber ohne sie wäre ich heillos verloren gewesen. Also nickte ich.

Sie streckte ihre Hände nach der Muschel aus, doch ich hielt sie zurück: „Nein, lass mich.“

Schweigend hielt Mara inne und überließ es mir, die Muschel aufzuheben. Vorsichtig griff ich danach. Die Muschel war so groß wie meine Hand und ihre gewundene Schale fühlte sich rau und uneben an, als ich sie berührte. Ich umfasste sie und drehte sie so, dass ich in die große Öffnung an der Unterseite sehen konnte. Das Perlmutt in ihrem Inneren war ungewöhnlich, aber entgegen meiner Erwartung, passierte nichts, als ich sie von ihrem Altar entfernte.

Mara kam etwas näher, um die Muschel ebenfalls genauer zu betrachten. „Sieh nur, sie ist kaputt.“ Sacht streifte Mara mit den Händen über die Spitze der Muschel, an der tatsächlich ein kleines Loch zu erkennen war, als uns ein gleißendes Licht umhüllte. Wieder fühlte es sich so an, als würden wir zwischen den Welten wechseln, aber nach allem, was in der Höhle passiert war, machte es mir mehr Angst als beim ersten Mal.

Mein Herz hämmerte in meiner Brust und als das Licht nachließ, brauchten meine Augen einen Moment, um sich von der Blendung zu erholen. „Mara?“, rief ich.

„Alles gut“, kam ihre Stimme von der Stelle, an der sie auch eben noch gestanden hatte und mein Herz beruhigte sich wieder ein bisschen. „Ich glaube, wir sind wieder im Reisfeld.“

Auch mein Blick wurde langsam wieder klarer und ich sah die grünen Stängel um uns herum. Unsere Kleidung war schon nach der Kletterpartie wieder trocken gewesen und so wirkte es fast, als sei all das nie passiert. Das einzige Zeugnis dafür, dass wir tatsächlich durch den Berg gegangen waren, war die Muschel in meiner Hand.

„Okay“, sagte Mara nun. „Irgendeine Idee, was die Vereinigung der Lebensenergie bedeuten soll?“

Ich schüttelte den Kopf. Nachdem wir die Tür aus Reis gefunden hatten, hatte ich erwartet, dass sich alle Teile von Großvaters Notiz irgendwie ergeben würden. Aber dieser letzte Satz warf immer noch Rätsel auf.

„Dann sollten wir zurück und die Antwort suchen“, sagte ich das, was sonst vermutlich Mara gesagt hätte. Ich wollte ihr zeigen, dass ich ihre Mühen wert war.

Sie lächelte mich an, während ich versuchte, Kontakt mit Aniwahere aufzunehmen. Wir waren noch nicht fertig, aber den letzten Teil des Weges würden wir auch noch finden.

~1585 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals in dieser Situation sein würde. Ich hatte geglaubt, dass alles aus der anderen Welt schlecht war. Und obwohl ich mir bei den Menschen immer noch nicht sicher war – wer sagte denn, dass sie nicht doch für Awais Leiden verantwortlich waren? – so war ich nun doch hier, in Großvaters alter Hütte, und raufte mich mit einem Schaf. Einem Schaf, dass mich ganz schön alt aussehen ließ. Und dennoch hatte ich Spaß daran. Irgendwas war in meinem Leben völlig aus dem Ruder gelaufen. Und obwohl ich wusste, was es war, wollte ich alles, nur nicht daran denken.

Das Schaf, Miriam, wie ich irgendwann aufgeschnappt hatte, warf sich gegen mich. Ich stolperte rückwärts. Meine Kniekehlen stießen gegen das Sofa. Ich ließ mich darauf fallen, aber Miriam war das nicht genug, sie sprang mit voller Wucht auf mich zu und brachte mich mitsamt des Sofas zu Fall. So langen das Sofa und ich schließlich auf dem Rücken und das Schaf stand triumphierend auf mir. Allerdings war es ganz schön schwer.

„Schon gut, du hast gewonnen“, sagte ich. „Aber könntest du bitte von mir runter gehen, bevor du mir die Rippen brichst?“

Miriam kostete ihren Sieg noch eine Sekunde länger aus, dann stieg sie von mir. Ich jedoch blieb noch einen Moment liegen und rieb mir die schmerzende Brust. „Vermutlich hätten wir das besser draußen machen sollen ...“

Dann wandte ich meinen Kopf nach links. Ich kann nicht mehr sagen, warum, wo doch Miriam zu meiner Rechten stand und links von mir nur noch ein schmales Regal vor einer Wand stand. Aber ich tat es. Und ich entdeckte etwas zwischen besagtem Regal und der Wand. Eine Art Lumpen, von dem eine seltsame Anziehungskraft ausging. Ich wusste nicht, was es war, aber ich wusste, ich musste es holen. Also stand ich auf und griff nach dem Fetzen.

Es war kein Lumpen. Also irgendwie schon, aber stand etwas darauf geschrieben. Als hätte sich jemand nicht die Mühe gemacht, Papier herzustellen, sondern einfach direkt das Stück Stoff genutzt.

Mir blieb das Herz stehen, als ich erkannte, was da stand. Mein Name. In Großvaters gradliniger Schrift. Als hätte der Tag nicht schon genug Überraschungen mit sich gebracht.

Ohne den Blick von den Linien, die meinen Namen bildeten, abwenden zu können, setzte ich mich auf die Rückenlehne des umgefallenen Sofas. Miriam schien den Wandel in meiner Stimmung zu bemerken und stellte sich ruhig neben mich.

Ich vergrub die linke Hand in ihrer Wolle, die rechte hielt krampfhaft den Stofffetzen fest, während ich las, was Großvater mir noch zu sagen hatte.

Tamonga.

Wenn du das hier liest, heißt das, ich bin tot. Und du kennst entweder die Wahrheit oder wurdest von deinem Bruder mit hierher geschleppt. Sollte letztgenanntes der Fall sein, so sprich bitte mit deiner Mutter; es ist nicht an mir, dieses Geheimnis zu enthüllen.

Solltest du aber Bescheid wissen, so möchte ich dir hiermit versichern, dass diese Wahrheit niemals der Grund dafür war, warum ich deinen Bruder mehr förderte als dich. Dies geschah einzig und allein aus dem Grund, dass er es nötig hatte. Ihr habt es damals noch nicht gesehen, ich aber schon. Dir war die Gunst der Stammesmitglieder immer gewiss. Du bist der geborene Anführer und mich hat es nie überrascht, dass das Feuer dir den Platz an der Spitze vorausgesehen hat.

Bei Tamaku war dies anders. Ich wusste immer, dass auch er zu Großem bestimmt ist, allerdings in einer Weise, die sonst niemand erkennen konnte. Nicht einmal er selbst. Er stand immer in deinem Schatten – selbst in der Zeit, als ihr noch alles teiltet. Aber er muss lernen, auf sich selbst zu hören.

Du hast es nie gesehen, als du alt genug warst, war die Kluft zwischen euch schon zu groß, aber Tamaku hat dich immer bewundert. Er hat zu dir aufgesehen, seinem großen Bruder und in seinem Herzen, da bin ich sicher, denkt er noch immer genauso. Es wird für ihn keinen Unterschied machen, wenn auch er die Wahrheit erfährt. Ich weiß, du würdest sie am liebsten vergessen, aber sie ist ein Teil von dir. Nimm ihn an. Wachse daran. All die Gefühle, die du gerade verarbeitest, machen dich nur zu einem besseren Anführer.

Es tut mir leid, mein geliebter Enkel, dass ich dir all dies erst jetzt sage. Aber erst jetzt bist du bereit, es auch zu hören. Die Unterschiede zwischen dir und deinem Bruder haben schon immer zu Konflikten geführt, und ich bin sicherlich nicht immer unschuldig daran gewesen, aber Whenao braucht euch beide. Und ihr braucht euch gegenseitig.

Ich habe die Hoffnung, dass auch Tamaku seine Bestimmung inzwischen gefunden hat. Und ich hoffe, dass du ihn darin unterstützt.

So wie ich dich kennengelernt habe, war deine Ablehnung Tamaku und mir gegenüber nur eine Abwehrreaktion. Als du dachtest, du hättest den Wettstreit um meine Liebe verloren, war es einfacher, uns zu meiden. Aber Tamaku hätte nie etwas getan, um dir zu schaden. Und ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich dir nicht dieselbe Liebe habe zukommen lassen. Ich hielt es damals für das Richtige; als ich meinen Fehler erkannte, war es bereits zu spät.

Ich habe dich immer geliebt. Du bist mein erstgeborener Enkelsohn und was auch immer du glaubst, über mich oder dich zu wissen, es war nie anders.

Ich liebe dich.

Dein Großvater

Ich starrte auf die Wörter vor mir, bis sie vor meinen Augen verschwammen. Ich wollte sauer auf ihn sein. Wut wirbelte in meinem Magen und mein Griff um den Lumpen verstärkte sich, zerknitterte die Ränder. Aber ein Teil von mir war erleichtert. Als hätte er nur auf diese Worte gewartet. Als wäre die Aussage, dass ich immer noch derselbe war, der ich gedacht hatte, zu sein, alles gewesen, was ich hatte wissen müssen.

Tränen stiegen mir in die Augen und ich stieß einen verzweifelten Schrei aus. Ich würde jetzt nicht auch noch anfangen zu heulen. Niemals hätte ich gedacht, einmal so tief zu sinken.

Miriam drückte ihre Schnauze in meine Schulter und erinnerte mich daran, dass ich nicht alleine war.

„Weißt du, Miriam“, sagte ich, damit diese schreckliche Stille endete, „ich hab da etwas erfahren, dass alles verändert hatte, was ich glaubte zu wissen. Und jetzt finde ich das da“ – verärgert wedelte ich mit dem Fetzen in meiner Hand – „und Großvater glaubt, dass er alles wieder gut macht. Dass damit alles wieder vergessen sei. Aber so einfach ist das nicht. Er kann nicht einfach ein paar hübsche Worte aufschreiben und glauben, dass all die Jahre der Nichtbeachtung damit wieder gutgemacht wären. Er kann nicht einfach glauben, dass ...“ Mir gingen die Worte aus. Ich wusste nicht, was er glaubte. Ich hatte ihn nie wirklich gekannt.

Wieder stupste Miriam gegen meine Schulter.

Tamaku hatte ich gekannt. Aber jetzt kannte ich ihn nicht mehr.

„Er hat uns hergebracht.“ Ich hörte Miriams Worte so deutlich, als hätte sie mit mir gesprochen. So etwas geschah selten. Sie musste die Wörter verstärkt haben. Zumindest war das die These, von der die Schamanen ausgingen.

Miriam schickte mir weitere Gedanken. Erinnerungen an Gespräche zwischen meinem Bruder und diesem Mädchen, hier auf dem Sofa, als es noch aufrecht stand. Sie glaubte an ihn. Konnte es wirklich sein, dass er derjenige war, der Awai retten sollte?

Es fühlte sich an, als sei mein Kopf völlig überfüllt. All die Gedanken, die ich verdrängen wollte, auch solche, die ich schon mein Leben lang verdrängt hatte, stürzten wieder auf mich ein. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Also lehnte ich mich zurück und schloss die Augen, ließ sie alle auf mich zukommen.

Ich hätte nie erwartet, wie sehr Gedanken schmerzen können. Ich spürte, wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löste, aber ich bewegte mich nicht. Ich spürte alle Gefühle in mir brodeln und dennoch fühlte ich mich seltsam taub. Das einzige, was mir Halt gab, war der Gedanke, dass ich nicht alleine war. Links von mir stand Miriam. Meine Hand war noch immer in ihrer Wolle vergraben. Die andere hielt den Brief von meinem Großvater umklammert.

~1326 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Ich war in Gedanken versunken, während Aniwahere uns zurück zu Großvaters Hütte brachte. Mara hinter mir ging es offenbar genauso. Mir wollte einfach kein Grund einfallen, warum Großvater uns auf diese Reise geschickt haben sollte, an deren Ende wir eine Muschel fanden, ohne zu wissen, was wir damit anfangen sollten. Vielleicht sollten wir sie ja zu Awai zurückbringen. Aber das erschien mir fast zu einfach. Wie sollte dann Mutter auf die Idee gekommen sein, dass man einen Menschen opfern müsste. Es ergab alles noch keinen Sinn.

„Da ist jemand.“ Die Worte hallten klar und deutlich in meinem Kopf wieder, als wir gerade den Fuß des Hügels erreichten, auf dem Großvaters Hütte stand. Aniwahere wurde langsamer.

„Aniwahere sagt, da ist jemand in der Hütte“, erklärte ich Mara, doch die nickte nur hinter mir.

„Hab’s gehört.“

Offensichtlich hatte Aniwahere inzwischen Vertrauen zu ihr gefasst – sie hatte auch irgendwas an sich, dass sie gut in diese Welt passen ließ.

„Vielleicht sollten wir absteigen und den Rest zu Fuß laufen“, schlug Mara vor.

„In Ordnung“, sagte ich und schwang mich vom Rücken des riesigen Hirsches hinunter.

Als auch Mara neben mir auf dem Boden stand, bedankte ich mich bei dem König des Waldes. Aniwahere schickte ein Bild des geretteten Wassers in unsere Köpfe, ehe er mit starken Sprüngen im Wald verschwand.

„Irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?“, fragte Mara und ich spürte ihre Sorge um Miriam, auch wenn sie sie nicht aussprach.

„Nicht die geringste“, antwortete ich. „Aber deshalb müssen wir ja nachgucken.“

-- Perspektivwechsel --

Ich spürte Aniwahere, in dem Moment, als er mich spürte. Was konnte der König des Waldes in der Nähe dieser verlassenen Hütte wollen? Doch, als ich aufstand, um nachzusehen, war er schon wieder verschwunden.

Dann hörte ich draußen ein Rascheln. Miriam stellte neugierig die Ohren auf, lauschte genau zwei Sekunden und war dann auch schon durch die Tür verschwunden.

Na die war ja eine große Hilfe gegen die feindlichen Eindringlinge ... Als ich jedoch meinen Bruder in der Tür auftauchen sah, ergab das Verhalten des Schafs einen Sinn. Es wollte zu dem Mädchen.

„Bruder“, sagte ich und hasste mich dafür, wie dünn meine Stimme klang. Die Ereignisse des Tages hatten mehr Spuren hinterlassen, als ich zugeben wollte.

„Was tust du denn hier?“ Tamaku klang abweisend. Nicht wütend, eher als interessiere ihn die Antwort eigentlich gar nicht.

„Lange Geschichte. Und du?“

„Ich arbeite, auch wenn du es wohl eher Narretei nennen würdest“, sagte er, als Miriam mit dem Mädchen hinter ihm auftauchte, das mich misstrauisch musterte.

Ich seufzte und dachte an den Brief, den ich noch immer in der rechten Faust hielt. Dieser Tag hatte sowieso alles verändert. Was wäre also, wenn Tamakus Suche nach einem Heilmittel für Awai nicht komplett abwegig war? „Und was hast du gefunden?“

Mein Bruder sah mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. Seltsamerweise schien das Mädchen mir gegenüber aufgeschlossener und musterte mich neugierig.

„Was hast du vor?“ Tamakus Beschuldigung traf mich mit einer Intensität, mit der ich nicht gerechnet hatte. Vor allem nicht nach allem, was mich heute schon getroffen hatte. Ich erinnerte mich nicht daran, dass sich mein Bruder jemals zuvor gegen mich gewendet hatte. Wir waren selten einer Meinung gewesen, aber meistens hatte er meine Beleidigungen einfach hingenommen. Als das Feuer ihm keinen Weg vorbestimmt hatte, war er wohl wie alle anderen davon ausgegangen, dass darin sein Schicksal bestünde, ausgestoßen, gemieden, gehänselt. Irgendetwas hatte dieser Tag daran geändert. Auf beiden Seiten.

„Vielleicht habe ich ja eingesehen, dass du gar nicht so verrückt bist, wie ich immer dachte.“

Wut wallte von Tamaku zu mir hinüber, als er einen Schritt auf mich zu machte. „Ob du es einsiehst, oder nicht, das was wir machen, ist wichtig!“

„Hey, beruhig dich!“ Beschwichtigend hob ich die Arme. „Ich bin nicht hier, um mich mit dir zu streiten.“

„Ach, das wäre ja etwas ganz Neues.“

Wieder seufzte ich. Wie schwer sollte das denn noch werden? „Ich hab erkannt, dass es viele Dinge gibt, von denen ich keine Ahnung habe. Und ich muss damit leben, verdammt nochmal. Lass mich doch wenigstens versuchen, irgendwas aufzubauen!“

Tamaku schüttelte den Kopf. Er glaubte mir immer noch nicht. Das Mädchen aber schlüpfte an ihm vorbei in den Raum und nahm einen rötlichen Ball aus einem von Großvaters Regalen. Als sie ihn in die Luft warf und wieder auffing, hatte sie unsere Aufmerksamkeit. Was auch immer Miriam an ihnen fand, Menschen waren eindeutig seltsam.

~730 Wörter

-- Perspektivwechsel --

„Ihr müsst euch eindeutig aussprechen.“ Nacheinander sah ich beide Brüder an. Tamaku, der endlich das Selbstbewusstsein gefunden hatte, das er für diese Mission brauchte, und Tamonga, den ich nicht einschätzen konnte. Er machte mir immer noch ein wenig Angst, aber ich verschloss sie in mir, so gut es ging.

Als keiner von ihnen etwas erwiderte, warf ich Tamonga den Ball zu. Er fing ihn locker mit der linken Hand, während er mit der rechten ein Stück Stoff festhielt. „Du fängst an“, sagte ich mit aller Bestimmtheit, die ich aufbringen konnte.

Er sah mich an, als sei ich verrückt. Ich vermutete, dass er mit diesem Blick erst einmal jeden in seinem Leben bedachte. Dann musterte er das runde Etwas in seinen Händen. Es war der einzige Ball gewesen, den ich in der Sammlung gefunden hatte. Er war aus Schaumstoff, nur knapp groß genug, als dass man ihn nicht mit einer Hand umschließen konnte, und sah so aus, als sollte er den Mars darstellen. Basierend darauf, dass auch meine Kinderrassel hier gelandet war, ging ich davon aus, dass irgendwo auch der Rest des Sonnensystems existierte.

„Sag einfach, was du willst. Warum du hier bist, was du möchtest, von mir aus auch, warum Tamaku und ich völlig bescheuert sind. Wir hören dir einfach zu. Aber wenn du fertig bist, wirfst du Tamaku den Ball zu und er darf frei reden.“ Ich hatte keine Ahnung von Familientherapie, aber ich hoffte sehr, dass es funktionierte. Als die Brüder immer noch nicht überzeugt aussahen, fügte ich hinzu: „Wir können auch sagen, dass der verkorkstere von euch den Mars gewinnt.“

Erst als Tamongas Blick wieder zu mir schnellte, wurde mir klar, dass Witze vielleicht nicht die beste Strategie waren. „Was?“

„Nicht so wichtig“, winkte ich ab und hoffte sehr, dass er nicht mehr darauf eingehen würde. „Aber du wolltest etwas aufbauen. Das ist deine Chance.“

Mein Herz schlug gefühlt doppelt so laut in der Stille, die daraufhin entstand. Dann nach ein paar Sekunden, die sich in die Ewigkeit dehnten, begann Tamonga endlich zu sprechen: „Erinnerst du dich an Mutters Ex?“ Obwohl Tamaku sich nicht bewegte, flackerte Erkenntnis in seinen Augen und Tamonga fuhr fort: „Er ist hier. Er greift uns an. Gerade jetzt. Und ich bin nicht dabei. Ich bin abgehauen wie ein jämmerlicher Feigling.“ Zweimal setzte Tamonga an, ohne dass Worte folgten. Der Schock in Tamakus Gesicht machte mir Sorgen. „Lass mich dir wenigstens helfen, damit ich heute irgendwas auf die Reihe bekomme.“ Beim letzten Wort warf Tamonga den Ball härter als nötig zu seinem Bruder. Aber ich spürte, dass er nur auf sich selbst sauer war.

„Du hast mich mein Leben lang beleidigt. Ich war der Kleine. Ich war derjenige, der kein Schwert führen konnte. Der seine Zeit mit Großvater verbracht hat. Der Narr, der Verrückte, der Unwürdige.“ Tamaku spuckte die Beleidigungen aus, als könnte er sich so von der Vergangenheit befreien. „Und jetzt, ausgerechnet jetzt, jetzt wo ich endlich einmal etwas schaffe, wo ich endlich den Weg gehe, den ich gehen sollte, jetzt kommst du an und willst deinen Teil der Lorbeeren? Hauf keinen Fall!“

Auch Tamakus Wurf war hart. Und dieses Mal wirklich aus Wut auf seinen Bruder.

Statt zu antworten, drehte Tamonga den Ball in seinen Händen hin und her. Dann schloss er die Augen. „Er ist mein Vater.“ Sein Flüstern war kaum zu hören.

„Wer?“, fragte Tamaku. Auch seine Stimme war leiser geworden.

Ich wagte kaum zu atmen, aus Angst, ihren Moment zu zerstören.

„Ranua.“

Mir sagte der Name nichts, aber Tamaku schien zu verstehen. Seine Muskeln zuckten, als wollte er zu seinem Bruder gehen, aber er blieb, wo er war.

„Mutter sagte es mir, bevor der Kampf begann. Ich konnte nicht bleiben.“ Seine Faust ballte um den Miniaturmars. „Ich bin der Unwürdige!“, schrie er. „Ich bin ein Bastard, ein Betrüger. Mein ganzes Leben war eine einzige Lüge! Großvater sagte, du hättest zu mir aufgeblickt. Aber du hattest nie einen Grund dazu.“

„Großvater?“

Auch wenn ich nicht viel über die Brüder wusste, so hatte ich doch mitbekommen, dass Tamaku seinen Großvater vergöttert hatte.

„Er hat mir diese Nachricht geschrieben.“ Tamonga hielt den Stofffetzen hoch. „Er hat es immer gewusst. Er sagt, es macht keinen Unterschied und dass wir beide zusammenarbeiten müssen, weil Whenao uns braucht. Aber ich weiß nicht mehr, ob ich noch irgendwas glauben soll.“

Es folgte fünf Sekunden eine drückende Stille. Tamonga schien keine Kraft mehr zu haben, noch etwas zu sagen, also warf er schließlich den Ball wieder Tamaku zu. Der allerdings überbrückte mit zwei großen Schritten die Distanz zwischen ihnen und drückte seine Bruder den Mars in die Hand.

„Du hast gewonnen“, flüsterte er so leise, dass ich es kaum verstehen konnte.

Tamonga sah ihn nicht an, blickte nur auf den Boden. Er war ein gebrochener Mann und es war schrecklich, ihn so zu sehen. So sehr, dass ich sogar unabhängig von Tamaku Mitleid mit ihm bekam.

„Wir haben die Muschel gefunden“, erklärte Tamaku und zeigte zu mir. Ich hielt die Muschel hoch, die er mir vor der Hütte in die Hand gedrückt hatte, obwohl Tamonga noch immer nicht den Blick hob. „Wir wissen nur noch nicht, wie man sie benutzt. Deshalb sind wir hier.“ Tamaku machte eine Pause. Nach allem, was wir in den letzten Stunden durchgemacht hatten, wusste ich, dass es ihm schwerfiel, die Rolle des Vernünftigen einzunehmen. Aber er hatte es bei mir in der Höhle geschafft. Und er würde es auch jetzt wieder schaffen.

Ich hörte ihn einen tiefen Atemzug nehmen, ehe er fortfuhr: „Meine Bestimmung mag dem Feuer entgangen sein, aber deine doch nicht. Du solltest wissen, dass es egal ist, wer deine Eltern sind. Wir brauchen dich hier nicht.“ Tamonga verkrampfte sich, auch wenn er es noch immer vermied, seinen Bruder anzusehen. „Du musst zurück. Du musst diesen bescheuerten Kampf beenden.“

Endlich sah Tamonga Tamaku in die Augen. „Wie um Awais Willen soll ich das tun?“

„Bist du nicht der lebende Beweis dafür, dass Partnerschaft besser ist als Krieg?“

Stolz rollte über mich hinweg und ich war mir nicht sicher, ob er von mir oder von einem der Brüder hervorging. Aber Tamaku hatte endlich die Rolle angenommen, für die er bestimmt war. Und ich war mir sicher, dass Tamonga das auch tun würde.

„Ich –“, setzte Tamonga an, wurde allerdings von Miriam unterbrochen, die sich blökend vor ihn stellte.

„Miriam, was ist los?“, fragte ich das Schaf, das als Antwort zwischen Tamonga und der Tür hin und her schaute.

„Ich glaube, Miriam will meinen Bruder begleiten“, meinte Tamaku.

„Was?“, fragte ich, bevor ich mich zurückhalten konnte.

„Ich denke, die Idee ist gar nicht so schlecht“, sagte Tamonga. „So könnt ihr schneller zu Awais Quelle gelangen, wenn ihr gefunden habt, was ihr sucht. Ich passe schon auf dein Schaf auf.“ Er beschrieb es rational, aber ich war mir sicher, mir die Erleichterung, als Miriam zu ihm kam, nicht nur eingebildet zu haben. Also nickte ich wiederwillig. Es gefiel mir nicht, Miriam in ein Kriegsgebiet zu schicken.

Ich ging zu Miriam, hockte mich hin und schlang meine Arme um ihren flauschigen Hals. „Pass auf dich auf, ja?“, flüsterte ich in ihr Ohr und erhielt als Antwort den Gedanken daran, dass sie auch auf Tamonga aufpassen würde. „Sei vorsichtig“, betonte ich noch einmal. Dann ließ ich mein Lieblingsschaf mit Tamakus Bruder ziehen.

~1208 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Der Weg zurück zum Dorf wirkte so viel kürzer als es der Weg zu Großvaters Hütte gewesen war. Und das obwohl ich dieses Mal nicht rannte. Es fühlte sich aber auch falsch an, langsam zu gehen, weshalb ich einen durchaus zügigen Schritt an den Tag legte, wobei ich darauf achtete, dass Miriam gut mit mir mithalten konnte.

Ich ignorierte die Schlachtgeräusche und den Drang, den sie in mir auslösten. Unter normalen Umständen hätte ich mich sofort in den Kampf gestürzt. Ich war der größte Krieger des Dorfes, der Anführer des Heeres. Aber heute war ich einfach verschwunden. Und ich wünschte mir, es könnte so bleiben, dass ich einfach nie wieder auftauchen müsste.

Zwei Meter trennten mich noch vom Waldrand, als ich stehen blieb. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Panik verspürt. Ich war immer stolz gewesen. Stolz, Mutters Sohn zu sein, und später auch stolz, ihr folgen zu dürfen. Ich hatte mein Hiriuna immer mit hoch erhobenem Kopf getragen, jetzt aber fühlte es sich an, als wöge es mehr als das Panonga-Gebirge. In allen Welten zusammen.

Ich wusste nicht, was ich von all den Ereignissen halten sollte. Von Mutters Enthüllung, Großvaters Brief, Tamakus Rede. Was auch immer sie getan hatte, das Mädchen schien meinem Bruder gut zu tun. Und ich verdammte den Wunsch in mir, dass sie niemals hier aufgetaucht wäre. Dann hätte ich weiterhin auf Tamaku hinabblicken können. Vielleicht hätte das dazu geführt, dass ich mich jetzt nicht so panisch fühlte.

Ich wusste, dass dieser Gedanke Blödsinn war, noch als ich ihn dachte. Ich wünschte mir trotzdem die alte Ordnung zurück. Damals war alles klar geregelt gewesen und ich wusste, wo ich stand. Wer ich war. Jetzt wusste ich es nicht mehr. Mein Bruder hatte mich überrascht mit seiner Verwandlung. Ich hätte mich wohl für ihn freuen sollen, aber es verstärkte meine Unsicherheit nur noch mehr. Und ich hasste meine Unsicherheit.

Miriam neben mir stupste gegen meine Hand.

Sie hatte ja recht. Ich konnte hier nicht einfach rumstehen und nichts tun. Wenn ich schon nicht kämpfte, musste ich den Kampf wenigstens beenden.

Ich überwand die letzten Meter des Waldes und trat aus den Bäumen hervor. Niemand bemerkte mich.

Ich versuchte, nicht zu sehr auf den Kampf vor mir zu achten, nicht zu sehen, ob er bereits Opfer gefordert hatte. Ich durfte meinem Gehirn nicht die Chance geben, mir noch mehr Schuldgefühle einzupflanzen.

Stattdessen öffnete ich den Mund. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war vor dem heutigen Tag noch nie passiert. Ich hatte immer die richtigen Worte gefunden. Oder die falschen, wenn man Großvaters Brief wirklich glauben konnte. Aber ich hatte nie meine Stimme verloren. Jetzt aber, kam kein Laut aus meinem Mund, der auch nur annähernd den Lärm der Schlacht übertönen konnte.

Ein lauter Schrei ließ mich zusammenzucken, aber auch alle anderen innehalten. Erst als sich alle Augen auf mich richteten, realisierte ich, dass es gar kein Schrei gewesen war. Es war ein Blöken. Miriam hatte sich an meiner statt die Aufmerksamkeit gesichert, denn ein Blöken war ein Geräusch, dass man in dieser Welt sonst nicht zu hören bekam.

Ich hatte immer noch Panik und keine Ahnung, was ich sagen sollte. Aber das wussten die Taignatao vor mir nicht. Sie sahen nur Tamonga, den Nachfolger ihrer Anführerin, wie er da stand am Rande der Schlacht mit dem glänzenden Hiriuna auf dem Kopf.

Ich straffte die Schultern und hielt mein Kinn erhoben, wie ich es immer schon getan hatte. Auch wenn es sich heute zum ersten Mal nicht richtig anfühlte.

Dann öffnete ich den Mund und hoffte, dass die Worte mich nicht ein zweites Mal im Stich lassen würden.

~605 Wörter

-- Perspektivwechsel --

„Es wird schon alles gut.“

Erst durch Tamakus Aussage fällt mir auf, dass ich immer noch die Tür anstarre, durch die Miriam mit Tamonga verschwunden war.

„Ich kenne dein Schaf jetzt zwar noch nicht sehr lange, aber allein unsere erste Begegnung hat mir gezeigt, dass sie durchaus auf sich selbst aufpassen kann.“

Bilder von dem Nukupardenangriff fluten meinen Kopf. Damals war das das Seltsamste und Gruseligste, was ich mir vorstellen konnte. Es kam mir unmöglich vor, dass seitdem gerade einmal ein Tag vergangen sein sollte.

„Dein Bruder scheint sich ganz gut mit ihr zu verstehen.“

„Ja“, erwidert Tamaku nachdenklich, „etwas so Merkwürdiges habe ich noch nie gesehen. Und das muss was heißen nach dem heutigen Tag.“

Ich schenkte ihm ein kleines Lachen, weil seine Gedanken so nah an meinen eigenen waren. „Also, wo meinst du, sollten wir noch suchen?“, wechselte ich dann das Thema, auch wenn ich nur zu gerne weiter über das gesprochen hätte, was eben passiert war. Ich war mir sicher, Tamongas Zusammenbruch war ungewöhnlich gewesen. Und Tamaku machte sich bestimmt seine Gedanken dazu. Aber er wirkte gefasster, als ich erwartet hatte, was bedeutete, dass wir uns wohl besser auf unsere Mission konzentrieren sollten.

„Eigentlich haben wir ja schon überall gesucht“, sprach Tamaku das Problem aus.

„Was ist mit den Runen?“, fragte ich plötzlich.

Verwirrt sah Tamaku mich an. „Die Runen in Waorema?“

„Nein. Also doch irgendwie schon. Also, ähm, eigentlich die Runen auf dem Zettel, die wir nicht identifizieren konnten“, versuchte ich meine Idee zu erklären, auch wenn es mir vermutlich nicht sehr gut gelang. „Vielleicht klappt es jetzt. So wie Waorema.“

Tamaku sah mich einen Moment lang an, dann seufzte er und fügte sich seinem Schicksal. Egal mit welcher Selbstsicherheit er seinem Bruder begegnet war, alte Muster legte man nur langsam ab und ich wusste, wie schwer es Tamaku fiel, auf irgendeine undefinierte Macht in sich zu vertrauen. Wäre der Himmel hier nicht lila, würde ich vermutlich auch mehr Schwierigkeiten damit haben.

Er nahm den Zettel und studierte die Zeichen, für die wir keine Entsprechungen gefunden hatten.

Ich hielt es drei Herzschläge lang aus, zu warten, dann fragte ich: „Und?“

„Das könnte sowas wie Glitzer oder Kristall heißen oder so“, sagte er mit einem Stirnrunzeln. „Vielleicht grün?“

„Grün?“, wiederholte ich, denn irgendwas klingelte in meinem Kopf. Eine Erinnerung an etwas, was ich bei unserer ersten Suche gesehen hatte. Es war ... ich drehte mich zum Bett, auf dessen Nachttisch eine Pflanze stand. Eine grüne Pflanze. Das war mir aufgefallen, weil ich in dieser Welt eher auf blaue oder schwarze getroffen war.

Tamaku folgte meinem Blick und ging dann zu der Pflanze in der Ecke. Ich folgte ihm, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob wir wirklich diese Pflanze suchten.

„Eine Karaimato“, flüsterte Tamaku ehrfürchtig.

„Das klingt total besonders, aber eine was?“

„Es hieß wirklich Kristall“, begann Tamaku, ohne meine Frage direkt zu beantworten. Dann fügte er hinzu: „Diese Pflanze ist unglaublich selten. Sie sucht sich ihren Besitzer selbst aus und hütet ein Geheimnis. Was für ein Geheimnis das ist, so heißt es, weiß nur ihr Besitzer.“

„Warum wusstest du nichts von dieser Pflanze?“

„Weil sie sich normalerweise nicht zeigt ...“

Ich betrachtete die grünen Blätter, es war ein schönes, volles Grün, wie man es mit dem Sommer in Verbindung brachte. Insgesamt sah die Pflanze aus wie eine riesige, geschlossene Blüte.

Während ich sie ansah, schienen sich die Blätter zu bewegen. Ein Schauer durchlief mich und ein Kribbeln breitete sich in meinem gesamten Körper aus. Mir wurde klar, dass die Blätter sich tatsächlich bewegten. Sie öffneten sich und gaben den Blick auf einen großen, glitzernden Kristall frei.

Was als nächstes geschah, ist kaum zu beschreiben. Alle meine Sinne blieben in der Hütte, aber das Kribbeln löste mich aus meinem Körper und zeigte mir ein anderes Bild. Menschen, die bei Awais Quelle standen. Blut, das durch die Muschel in den Fluss strömte und ihn tatsächlich durch und durch rot färbte. Jubelschreie aus allen Richtungen. Keine Toten. Zumindest glaubte ich das. Vielleicht war es auch nur Wunschdenken.

Schwer atmend wurde ich in meinen Körper zurückgeworfen. Das Kribbeln verschwand, aber ein Teil des seltsamen Gefühls blieb. Weil ich meinen Beinen nicht traute, setzte ich mich auf das verlassene Bett.

Tamaku neben mir starrte weiterhin auf den Kristall der Pflanze. Offenbar erhielt er mehr Informationen als ich.

Mein Atem hatte sich gerade wieder erholt, als die Blüte sich unvermittelt wieder schloss und auch Tamaku ins Hier und Jetzt zurückkehrte.

„Sie hat mit mir gesprochen“, sagte Tamaku tonlos. „Das ist unglaublich, sie hat mit mir gesprochen.“ Dann schien ihm einzufallen, dass ich auch noch da war und er drehte sich zu mir um. „Hast du sie auch gehört?“

„Ich hab Bilder gesehen“, antwortete ich zögerlich. „Dass das Blut durch die Muschel muss.“

„Ja genau“, bestätigte er und ich spürte eine Begeisterung von ihm ausgehen. „Unser beider Blut. Das ist die Verbindung, von der in der Höhle die Rede war.“

Dann sah er mich an und die Stimmung schlug um, als würden wir beide an dasselbe denken. „War das alles, was du erfahren hast?“, fragte er.

Ich nickte.

„Es gibt ein Opfer“, sagte er dann. „Aber du musst nicht sterben.“

„Bist du dir sicher.“

Jetzt nickte er.

„Und ...?“

„Niemand muss sterben“, versicherte er mir.

Ich kann nicht sagen, dass ich keine Angst hatte. Aber ich konnte auch nicht aufhören. Ich hatte immer gedacht, dass mein Leben klein und unbedeutend sei. Dass ich irgendwann die Farm übernehmen würde und nur für die Tiere wichtig wäre. Doch dann war ich in dieses Abenteuer gestolpert. Und ich konnte helfen. Ich konnte helfen, die ganze Welt zu retten!

„Dann lass uns gehen“, sagte ich schließlich und stand vom Bett auf.

„Du willst nicht wissen, was es ist?“, fragte Tamaku überrascht.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, lieber nicht. Lass uns einfach gehen.“

Langsam nickte Tamaku. Dann folgte er mir nach draußen.

~976 Wörter

Ein letztes Mal brachte Aniwahere uns an unser Ziel. Ich wusste nicht, warum, aber irgendwie spürte ich, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich auf dem Rücken des riesigen Hirsches sitzen würde.

Im Schatten des letzten der blauen Tannen, die ich nach meinem Eintritt in diese seltsame Welt gesehen hatte, verabschiedeten wir uns von ihm. „Vielen Dank“, flüsterte ich dem König des Waldes zu. Er bedachte mich mit einem freundlichen Nicken und war mit zwei großen Sätzen wieder zwischen den Bäumen verschwunden.

„Na dann“, sagte ich und wollte losgehen, doch Tamaku hielt mich zurück. Verwirrt sah ich mich zu ihm um. „Was ist los?“

„Sieh doch“, wisperte er und zeigte zu der Felswand, die wir gestern überklettert hatten. Es schien, als würde dort ein Wächter patrouillieren.

„Hat deine Mutter ernsthaft unseretwegen einen Kontrollposten aufgestellt?“

Doch Tamaku schüttelte den Kopf. „Das ist keiner von unseren Leuten.“

Irgendwie machte das die Sache nicht gerade leichter. Und das obwohl mich Tamakus Mutter lieber tot als lebendig in ihrer Welt sehen würde.

„Okay“, wandte ich mich also zu Tamaku, „ich wollte es ja eigentlich nicht ansprechen, aber jetzt muss ich es offenbar doch: Was ist da los? Wovon hat Tamonga gesprochen?“

Tamaku schwieg einen Augenblick, als wüsste er nicht, wie er es mir erzählen sollte. Oder ob er es überhaupt erzählen sollte. „Mutter hatte einen Geliebten, bevor sie unseren ... bevor sie unseren Vater heiratete. Sein Name war Ranua. Großvater hatte ihn nie gemocht. Er hätte eine verdorbene Seele, hat er gesagt, schon bevor Mutter ihn verließ. Es gab Gerüchte, dass er, also Ranua, dass er Rache geschworen hätte. Er war wohl der Meinung, dass die Führungsposition unseres Dorfes ihm zustand. Aber die Jahre vergingen und niemand hat mehr von ihm gehört. Oder von ihm gesprochen. Bis er offensichtlich gerade heute angriff.“

„Und wer Awai kontrolliert, kontrolliert Whenao“, folgerte ich. Wenn er nicht über Tamongas andere Enthüllung sprechen wollte, würde ich es auch nicht tun.

„Ganz genau.“

„Also wie kommen wir an ihnen vorbei?“

Unschlüssig sah Tamaku zu den Wächtern. Mein Blick fiel fast genau in der Sekunde auf seinen Kopi, in der er mit der Hand danach tastete. Wir hatten seine Magie zuletzt nicht gebraucht – weil die Magie der Welt uns geleitet hatte, vermutete ich –, aber jetzt sah es anders aus.

„Es gibt einen Zauber, der einen unsichtbar machen kann“, überlegte Tamaku. „Aber der ist ziemlich anstrengend. Ich weiß nicht, ob ich am Ende noch genug Kraft für das Ritual hätte.“

„Aber gut zu wissen ... Wir müssen ja eigentlich nur dann nicht gesehen werden, wenn die Leute zu uns gucken. Kannst du ihn schnell auslösen?“

Nachdenklich nickte er. „Vielleicht ...“

„Aber wenn sie uns nicht kommen sehen ...“ In meinem Kopf formte sich ein verrückter, wenn nicht gar unmöglicher Plan. Nach allem, was in den letzten Stunden passiert war, hielt mich das jedoch nicht davon ab, ihn zumindest auszusprechen. „Ist die Felswand magisch?“

Verwirrt schüttelte Tamaku den Kopf. „Nein. Nein, sie ist natürlich und unterstützt von den Taingatao. Warum?“

„Weil sie nicht mit uns rechnen würden, wenn wir mitten hindurch spazieren würden.“

„Unmöglich.“

„Sicher?“

„Ja, ich habe es schon einmal versucht; durch Stein komme ich nicht durch.“

„Schade“, seufzte ich, als sich mein schöner Plan in Luft auflöste.

„Aber hoch vielleicht ...“

„Was?“

„Komm mit.“ Tamaku griff nach meiner Hand und zog mich auf die Ebene zwischen den Bäumen und seinem Dorf, weg von der Quelle.

„Tamaku, wo wollen wir hin?“

Aber er antwortete nicht, sondern lief einfach weiter, bis wir den Berg mit Awais Quelle einmal zur Hälfte umrundet hatten.

„Niemand kommt von dieser Seite. Es ist zu uneben und steil. Hier wird uns niemand bemerken“, erklärte er.

Sein Plan hatte nur einen kleinen Haken: „Wenn niemand von hier kommt, weil man hier nicht hochkommt, wie sollen wir das dann machen?“

„Ich habe nicht gesagt, dass es nicht möglich ist, hier hochzukommen.“

Mit einem schelmischen Grinsen zog Tamaku seinen Stab von seinem Rücken und schwang einen Arm um meine Hüfte. Im nächsten Moment trugen uns die Felsen nach oben, reichten uns von einem Vorsprung zum nächsten.

Immer wenn ich dachte, es konnte nicht noch verrückter kommen, kam es so. Es dauerte keine Minute, dann waren wir am Gipfel angelangt.

Sicherheitshalber duckten wir uns hinter einen Felsen. Ohne ein Wort zu sagen, warteten wir. Es konnte doch nicht sein, dass hier oben keine Wachen platziert waren, oder?

„Es ist niemand hier“, flüsterte Tamaku, „aber der Mann da unten sieht immer wieder zu uns hinauf. Wenn er uns entdeckt, ist er in spätestens zwei Minuten hier.“

„Und was machen wir jetzt?“, flüsterte ich zurück.

„Warten und überlegen“, antwortete Tamaku. „Und hoffen, dass Tamonga sie dazu bewegt, abzuziehen.“

~777 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Es fühlte sich an, als würde ich aus einem Traum aufwachen, als spukte er mich in Taereta aus. Und wie an einen Traum erinnerte ich mich kaum noch an das, was eben passiert war. Das einzige, was mir zeigte, dass es passiert war, waren die Massen von Taingatao, die mir folgten. Noch vor wenigen Minuten hatten sie gegeneinander gekämpft, aber irgendetwas an dem Gedanken daran, dass Awai möglicherweise gerettet werden konnte, hatte sie dazu gebracht, ihre Waffen niederzulegen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es geschafft hatte, es so überzeugend darzustellen, obwohl ich selbst kaum daran glaubte, dass mein Bruder Erfolg hatte. Er hatte gesagt, es fehlte noch etwas. Also selbst wenn er auf der richtigen Spur war, wer hätte denn wissen sollen, ob er dieses letzte Teil auch noch fand.

Der brüchige Frieden hing einzig und allein von meinem Bruder ab. Das hatte ich so natürlich nicht gesagt, aber nur weil die Massen hinter mir es nicht wussten, war es nicht weniger wahr. Und obwohl ich begann, ihn wie auch mich mit anderen Augen zu sehen, war es doch eine gruselige Vorstellung. So viel konnte schief gehen. Und mich würde man dafür verantwortlich machen. Während ... er darin ziemlich direkt gewesen war, hatte Mutter sich zurückgehalten, es mich aber dennoch wissen lassen. Wenn hier irgendetwas nicht klappte, wie geplant, würde ich dafür büßen.

Ich spürte noch immer die verächtlichen und herablassenden Blicke auf mir. Das hatte allein dadurch begonnen, dass ich mit einem Schaf aufgetaucht war. So musste sie Tamaku andauernd fühlen. Vielleicht bekam ich ja gerade so etwas wie Mitleid mit meinem Bruder.

„Was ist das?“ Mutters eiskalte Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

Ich folgte ihrem Blick in Richtung Awai und sah bewaffnete Taingatao.

„Eine kleine Absicherung“, sagte Ranua mit einer wegwerfenden Handbewegung und in mir schäumte die Wut. Ich konnte doch nicht ernsthaft mit diesem Scheusal verwandt sein.

„Zieh sie ab“, zischte Mutter. Ihre Wut brodelte, aber sie ließ sie nur ihn spüren. Und mich, da ich nah genug bei den beiden stand.

„Und wenn nicht?“, fragte er süffisant.

„Dann ist diese Welt verloren“, fuhr ich ihn entgegen aller Etiketten an.

„Du hast mir schon mal gar nichts zu sagen!“

Und während er diese Worte an mich richtete, das erste Mal überhaupt mit mir sprach, schien die Zeit stehenzubleiben. Ich sah die Wut und den Hass in seinem Gesicht und wusste plötzlich, dass sie aus Schmerz geboren waren. Ich sah Mutters Blick, aufmerksam und abwartend, und verstand, dass ich durchaus ebenso enden konnte wie der Mann vor mir. Und ich spürte Miriam neben mir, ihre stille Unterstützung und war mir sicher, dass er mir egal war. Dieser Mann konnte mir nichts anhaben. Ich war ich und er hatte nichts damit zu tun.

Ich senkte die Stimme zu dem durchdringenden Flüstern, das ich bei Mutter so oft hatte hören können. „Schon seltsam, wenn die eigenen Kinder einem die Stirn bieten. Und auch noch recht haben. Zieh deine Leute ab.“

Einen Moment standen ihm alle Fragen deutlich ins Gesicht geschrieben. „Was?“, war die einzige, die er aussprach.

„Du hast mich verstanden.“ Wie ich es von Mutter gelernt hatte, wurde ich noch leiser. „Was auch immer euch mal geeint hat, kratzt es noch einmal zusammen und lasst uns diese verdammte Welt retten.“

Immer noch perplex starrte er mich an, doch ich drehte mich nur um und ging weiter in Richtung Awai. Miriam trottete neben mir her und ich hörte auch, dass die anderen sich wieder in Bewegung setzten.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich hatte mich noch ein Stückchen weiter aus dem Fenster gelehnt. Wehe das klappt nicht, Tamaku!

-- Perspektivwechsel --

Ich spürte die Taingatao kommen, noch ehe ich sie sah. Als sie allerdings in unser Sichtfeld traten, war der Anblick so einschüchternd, dass Mara sich neben mir versteifte. Ich wusste nicht, ob das dort unten alle waren, aber es waren sehr viele und sie kamen aus verschiedenen Regionen, auch wenn sie jetzt geschlossen auf uns zu marschierten.

„Was passiert da?“, fragte Mara ängstlich, aber ich konnte ihr keine Antwort geben. Ich beobachtete nur weiter die seltsame Ansammlung, die immer näher kam.

Dann erkannte ich meinen Bruder. „Tamonga“, sagte ich nur, aber ich spürte, dass Mara mich verstand.

Ich war mir nicht sicher, wie ich zu meinem Bruder stehen sollte. Nicht nach allem, was passiert war, und nach dem Zusammenbruch in Großvaters Hütte, in der es endete. Wir würden sicherlich noch viel aufzuarbeiten haben. Aber ich hoffte sehr, dass ich keinen Fehler darin gemacht hatte, ihm noch einmal zu vertrauen. Ich hoffte, sie kamen nicht, um uns aufzuhalten.

Wir blieben hinter dem Felsen hocken, bis die riesige Gruppe am Fuß der Felswand ankam und tatsächlich die Wachen abzog.

„Siehst du das?“, flüsterte Mara überrascht.

„Ja“, erwiderte ich und stand auf. „Das bedeutet, wir sollten anfangen.“

Tapfer nickte sie, obwohl ich spüren konnte, dass sie noch immer etwas Angst hatte. Wenn ich daran dachte, wie frustriert ich noch gestern an der gleichen Stelle gewesen war, dass ich ihre Gedanken nicht hatte spüren können ... so viel war passiert, dass es mir schwerfiel, alles zu erfassen.

Gemeinsam gingen wir zu Awais Quelle und stellten uns davor. Sie stand so dicht neben mir, dass sich unsere Schultern fast berührten. Die Muschel hielt sie direkt über das Wasser.

„Moment“, sagte Mara dann, „wir brauchen noch irgendwas, um uns zu schneiden. Einen spitzen Stein oder so. Es sei denn, du hast ein Messer.“

Ich schüttelte den Kopf und sah mich um. Diese Problematik hatte die Karaimato in ihrer Beschreibung übersprungen. Dann fiel mein Blick auf etwas Glänzendes, um das das Wasser sich schlängelte.

„Wie wäre es hiermit“, sagte ich und zog eine Glasscherbe aus der Quelle, an der tatsächlich Blutreste zu kleben schienen.

„Tamaku!“ Maras überraschter Aufschrei ließ mich zusammenzucken. Ich sah erst sie an, dann folgte ich ihrem Blick zu Awai. Sein Wasser zog sich nun immer schneller in die Quelle zurück. Fast so, als hätte ich eine Verstopfung gelöst.

Mein Blick wanderte wieder zu Mara: „Dann gibt es wohl kein Zurück mehr.“

Stumm nickte sie und ich war mir fast sicher, dass die Luft um uns von unserer Aufmerksamkeit flimmerte.

Sie hielt die Muschel wieder über den Fluss und ich setzte die Scherbe an, als mich eine wohlbekannte, kalte Stimme unterbrach: „Tamaku, was tust du da?“

Tamonga war mit Mutter, dem Anführer der Schattenläufer und dem Mann, der vermutlich Ranua war, an der Quelle angekommen. Und obwohl ich Mutter hätte antworten müssen, musterte ich einen Moment lang den Mann, der der leibliche Vater meines Bruders sein sollte. Hass blitzte in seinen Augen, aber er stand friedlich neben den anderen. Vielleicht nur dieses eine Mal. Nur, weil ich etwas vollbringen sollte, was seit Ewigkeiten keinem mehr gelungen war. Kurz huschte mein Blick zu Tamonga und ich wünschte mir, dass wir niemals so enden würden.

Dann blickte ich Mutter in die Augen und schnitt mir in die Hand. Dann reichte ich die Scherbe an Mara weiter und nahm ihr stattdessen die Muschel ab.

Mutter schüttelte tadelnd den Kopf. „Du hast mal wieder nicht richtig zugehört, Tamaku.“

„Nein, Mutter“, sagte ich, während Mara sich ebenfalls in die Hand schnitt. „Du weißt nur nicht alles.“

Diese Worte auszusprechen waren das Mutigste, das ich jemals getan hatte. Und Mara wusste es. Denn als sie mir die blutende Hand reichte und meinem Blick begegnete blitzte Verständnis und Stolz in ihren Augen.

Ich nahm ihre Hand, damit sich unser Blut vermischen und verbunden in die Muschel laufen konnte. Ich kam nicht umhin daran zu denken, wie sehr ich sie vermissen würde.

Selbst Mutter sagte kein weiteres Wort, als die Muschel ihre Magie tat. Unser Blut mehrte sich, kam in roten Strahlen aus dem kleinen Loch am oberen Ende der Schnecke, auch wenn nur wenige Tropfen hineinfielen. Es floss den Berg hinunter. Nur wenige Herzschläge dauerte es, bis sich der gesamte Fluss blutrot färbte und wieder seine normale Richtung annahm. Dann spürte ich, wie Maras Griff sich lockerte. Die Scherbe glitt aus ihren Fingern zurück in den heiligen Fluss, an die Stelle, von der wir sie genommen hatten. Die Muschel hingegen wurde weggeschwemmt, als ich sie ebenfalls ins Wasser fallen ließ, um Mara aufzufangen, die neben mir zusammenbrach.

~1358 Wörter

-- Perspektivwechsel --

Ich spürte den harten Fels unter mir, obwohl ich mich nicht daran erinnerte, dorthin gelangt zu sein. Generell wirkte es, als würde ein leichter Nebel über meinen Sinnen liegen, der mir gleichzeitig die Kraft raubte, mehr als einen Muskel gleichzeitig zu bewegen. Zumindest schien es mir so.

Tamaku hockte neben mir und sah mich eher wehmütig als besorgt an, was mir wenigstens ein bisschen Hoffnung machte.

„Jetzt wüsste ich gerne, was das Opfer ist“, sagte ich. Zumindest glaubte ich, dass ich das sagte, denn meine Stimme klang eher nach einem Krächzen.

Tamaku atmete tief durch. „Unsere Energie stammt aus unserer jeweiligen Welt, dort ist sie unendlich“, sagte er mit erhobener Stimme, als sollten es die anderen, die ich fast vergessen hatte, auch hören. Sein Blick lag jedoch nur auf mir. „Wenn wir in eine andere Welt reisen, haben wir nur eine kleinere Menge an Lebensenergie.“ Er stoppte, als fiele es ihm schwer, die nächsten Worte auszusprechen. Aber ich brauchte mehr Erklärung. Mein diesiger Kopf wollte noch keinen Sinn in dem Gesagten finden. „In dem Ritual hast du deine Energie in dieser Welt wieder an Awai gegeben. Deshalb fühlst du dich jetzt so schwach. Du kannst hier nicht mehr leben.“ Mein Herzschlag beschleunigte sich. Würde ich hier doch sterben? Doch Tamaku war noch nicht fertig: „Ich schicke dich gleich zurück in deine Welt. Dann ist alles wieder gut.“ Er schluckte und konnte mich nicht mehr ansehen, als er die letzten Worte sagte: „Du kannst nur nie mehr wiederkommen.“

Ich versuchte, zu nicken, aber mein Kopf bewegte sich kaum und trotzdem schien sich in mir alles zu drehen.

Ohne dass ich es bemerkt hatte, lag nun Miriam neben mir und ließ ihren Kopf auf meinen Bauch sinken.

„Ja, Miriam“, meinte Tamaku, „dich schicke ich auch nach Hause.“

Ich spürte den kurzen traurigen Blick von Tamonga mehr, als dass ich ihn sah. Ich hätte Miriam auch in dieser Welt bleiben lassen. Aber sie hatte sich selbst entschieden, mit mir zu kommen.

Dann trat Tamonga vor und wandte sich an die versammelten Taingatao: „Dieses Mädchen, ein Mensch“ – es klang tatsächlich etwas weniger abwertend als bei meiner Ankunft – „hat ihre Energie gegeben, um uns zu retten. Und das, obwohl sie vor zwei Tagen noch nicht einmal wusste, dass wir existieren. Sollte uns das nicht zu denken geben? Sollte uns das nicht zeigen, dass man mehr erreicht, wenn man zusammen, statt gegeneinander arbeitet.“ Kurz schweifte sein Blick Tamaku und mich, aber ich bekam es kaum noch mit. „Mein Bruder hat bewiesen, dass mehr in uns stecken kann, als man sieht.“ Ich glaube, er straffte die Schultern. „Wir sollten es zeigen.“

Ich spürte die Überraschung und das Glück, das von Tamaku ausging, und ich hätte nur zu gerne gewusst, wie die Taingatao reagierten, aber ich war so müde.

„Tamaku“, flüsterte ich.

„Auf Wiedersehen, Mara“, sagte er. Ich spürte seine Trauer, aber ich war zu schwach, sie zu erwidern. „Ich werde dich nie vergessen.“

Als das helle Licht sich ausbreitete, verlor ich das Bewusstsein.

~496 Wörter

Ich wachte auf, weil mir kalt war. Meine Decke war von meinem Bett gefallen. Schlaftrunken griff ich danach und zog sie wieder um mich. Draußen war es noch dunkel, es musste mitten in der Nacht sein.

Als ich mich umdrehte, flackerten seltsame Erinnerungen an die letzten Tage auf mich ein. Erinnerungen daran, wie ich die Schafe zusammentrieb und den Abend gemütlich auf der Veranda ausklingen ließ vermischten sich mit Erinnerungen an einen bergauf fließenden Fluss und bunte Bäume. Ein bisschen, wie ein Traum, aber irgendwie auch nicht. Es war fast, als wären zwei Dinge gleichzeitig passiert.

Ich schlug die Augen auf, als die ungewöhnlichen Erinnerungen stärker wurden. Erinnerungen an ein Abenteuer in einer anderen Welt, an Tamaku und Tamonga und an Miriam.

Ich stand auf und starrte aus dem Fenster. Der Mond stand tief am Himmel und warf sein blasses Licht auf die weite Fläche vor dem Haus, auf der tatsächlich ein paar Schafe standen.

Einer seltsamen Eingebung folgend, schlüpfte ich in meine Schuhe und verließ das Haus. Die kühle Nachtluft umfing mich und erinnerte mich an die Reise durch die Höhle. Mit jeder Erinnerung, die klar und deutlich in meinem Kopf erschien, war ich mir sicherer, dass das alles passiert war. Dass ich wirklich in eine andere Welt gereist war. Das ich wirklich Tamaku kennengelernt hatte. Dass ich sie gerettet hatte und deshalb nie wiederkehren konnte.

Einige Schafe hoben verwundert ihre Köpfe, als ich mitten in der Nacht zwischen ihnen auftauchte, andere schienen sich überhaupt nicht für mich zu interessieren. Aber ich suchte nur eines.

Miriam stand etwas abseits an einem kahlen Busch und blickte zum Horizont, an dem man schemenhaft die Gipfel der Berge ausmachen konnte. Als sie mich kommen hörte, drehte sie ihren Kopf zu mir um und in ihren Augen blitzte etwas auf, das ich nicht deuten konnte.

Ich hockte mich neben sie und vergrub eine Hand in ihrer Wolle. „Das war kein Traum“, flüsterte ich. Es war eine Aussage und doch wünschte ich mir eine Bestätigung.

Miriam tippte mit der Schnauze gegen meine freie Hand und weitere Erinnerungen kehrten zurück, als ich die blutverkrustete Linie darauf erkannte. Wie hypnotisiert starrte ich darauf und versuchte mir einen Reim auf das zu machen, was passiert war. Es war fast unmöglich, es zu glauben. Aber ich wusste, dass es wahr war.

„Miriam“, suchte ich ihre Aufmerksamkeit, nachdem sie den Blick wieder den Bergen zugewendet hatte. Sie drehte den Kopf zu mir und sah mich an. „Du musst mir versprechen, dass du mir Bescheid sagst, wenn du wieder rüber gehst. Ich will mich nicht dumm und dämlich suchen, während du in einer Welt bist, in die ich dir nicht folgen kann.“

Ich merkte die Tränen in meinen Augen erst, als der Kloß in meinem Hals mir die Luft abschnürte. Ich hätte nie gedacht, dass mir diese Welt in nur zwei Tagen so sehr ans Herz wachsen würde. Was wohl passiert war, nachdem ich weg war?

Miriam schnaubte und ich hoffte, dass ich das als Zustimmung interpretieren konnte. So sehr ich den Gedanken am Anfang doch gehasst hatte, so sehr vermisste ich unsere gedankliche Kommunikation mittels Gefühlen nun doch.

Doch dann trat Miriam einen Schritt zur Seite und gab mir den Blick auf das Geäst hinter ihr frei. Dort hing etwas. Etwas Pastellblaues. Ich war in den letzten Jahren tausendmal auf dieser Weide gewesen und vorher war es nicht da gewesen. Vorher war es in der Hütte von Tamakus Großvater gewesen.

Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus, während ich die kleine Rassel aus dem Busch befreite. Nur weil für mich die Reise unmöglich war, bedeutete das nicht, dass niemand sonst reisen konnte. Vor allen Dingen bedeutete es nicht, dass man nicht auch aus Whenao hierher gelangen konnte.

Voller Freude schlang ich die Arme um Miriams Hals. Sie blökte leise, ließ es aber geschehen. Noch immer konnte ich den Blick nicht von meiner Rassel lassen. Er hatte „Auf Wiedersehen“ gesagt, nicht „Leb wohl“. Dieses Abenteuer war vielleicht vorbei; aber das Leben ging weiter. Und vielleicht käme noch ein neues.

Miriam blökte noch einmal und wand sich aus meiner Umarmung.

Ich musste lachen. Mit Miriam kam das nächste Abenteuer garantiert.

~691 Wörter