Fanwork-Wichteln 2020: Geschenke-Topic

Die Legende der Giganten, Teil 1: Aufbruch

Laurie war sich nicht ganz sicher, was heute los war. Erst hatte sie sich ihren Zeh auf dem Weg ins Badezimmer angestoßen, danach war ihr der Toast angebrannt, weil ihr Toaster sich einfach nicht mehr rechtzeitig abschalten wollte, und als sie gerade das große Anwesen hatte verlassen wollen, um sich auf den Weg in die Universität zu machen, hatte sie jemand von hinten gepackt und ihr ein Messer an die Kehle gehalten, noch bevor sie sich verteidigen oder nach Glaceys Pokéball hatte greifen können.

Nun, dachte Laurie, als der Mann – seiner Stimme nach, die sie klar dazu aufforderte, mit ihm wieder ins Haus zu gehen, war es offenbar ein Mann – sie vor sich herschob, wenigstens konnte der Tag nicht mehr schlimmer werden.

Der Kerl ließ sie die Wohnungstür aufschließen und stieß sie dann hinein, bevor er sie die große Treppe in der Eingangshalle hinaufbugsierte.

„Ins Arbeitszimmer!“, zischte der Mann mit seiner rauen Stimme. Er klang wütend. Laurie verstand nicht, warum Leute immer wütend klingen mussten, wenn sie andere überfielen. War ein wenig Höflichkeit wirklich zu viel verlangt? Vielleicht hatte der Typ aber auch Angst. Ja, vermutlich lag es daran.

Das Arbeitszimmer lag in einem Gang zur linken Seite der Treppe – es war hinter der dritten Tür auf der rechten Seite.

„Dürfte ich vielleicht aber mal fragen, was das soll?“, erkundigte sich Laurie genervt.

„Schnauze!“, sagte der Mann, und Laurie seufzte.

Sie betraten das Arbeitszimmer. Es war ein Raum mit schöner Holzvertäfelung an den Wänden, die wegen der vielen Bücherregale allerdings kaum zu sehen war. Hinter einem antiken Schreibtisch gegenüber der Tür erhob sich eine von Vorhängen verborgene Fensterfront, und in der Ecke links daneben stand ein Globus mit verblichener Oberfläche auf einer hölzernen Kommode. Der Parkettboden in der Mitte des Raumes war von einem Teppich bedeckt.

„Wo sind die Tagebücher?“, zischte der Mann in Lauries Ohr. „Wo ist das Geheimfach?“

„Was für Tagebücher und was für ein Geheimfach?“, fragte Laurie. Dieser Mann ging ihr allmählich auf die Nerven. Er stellte Fragen, auf die sie keine Antwort hatte, und sie hasste es, die Antwort auf etwas nicht zu wissen.

„Stell dich nicht dumm! Die Tagebücher deiner Mutter! Ich weiß, dass sie hier irgendwo sein müssen …“

„Meine Mutter ist tot, seit ich acht war“, sagte Laurie ungerührt. „Ich habe keine Ahnung von irgendwelchen Tagebüchern oder einem Geheimfach, und in Anbetracht Ihres mehr als rüpelhaften Verhaltens würde ich Ihnen nichts sagen, wenn ich irgendwas wüsste.“

„Hör zu, Kleine“, flüsterte der Mann ihr drohend zu, „wenn du nicht auf der Stelle …“

Laurie hatte genug. Sie packte die Messerhand ihres Angreifers, bevor er den Satz beenden konnte, und drückte sie fest an sich, sodass er sie nicht bewegen konnte. Zugleich trat sie ihm mit ihrer Hacke zwischen die Beine und drehte sich aus seiner Umklammerung. Das Messer immer noch an die Brust gedrückt brachte sie den Arm des Mannes, der die Klinge hielt, in einen Hebel und übte kurz Druck aus. Mit einem Schmerzensschrei ließ der Mann das Messer los, sodass es mit einem Klirren zu Boden fiel, und ging in die Knie. Laurie rammte ihr Knie in sein Gesicht und veränderte ihren Hebel ein wenig, um den stöhnenden Kerl auf den Teppich zu drücken. Sie verdrehte ihm einen Arm auf dem Rücken, griff dann nach dem anderen und verdrehte ihn in gleicher Weise.

„Also“, sagte Laurie ruhig, „ich wüsste jetzt doch gerne, was für Tagebücher und was für ein Geheimfach.“

„Leck mich, Schlam…“ Lara verdrehte seine Arme ein wenig mehr, und er brach mit einem Schmerzensschrei ab.

„Noch einmal“, sagte Laurie betont geduldig. „Was für Tagebücher und was für ein Geheimfach?“

„Von mir erfährst du nichts, du …“, Lara übte wieder Druck über den Hebel aus, und der Mann schrie erneut. „Okay! Ich sage ja schon alles!“

„Warum nicht gleich so?“, sagte Laurie kopfschüttelnd. „Immer müssen erst alle den starken Mann markieren. Ich versteh’s nicht. Na ja, egal. Also?“

„Ich … ich sollte irgendwelche Tagebücher beschaffen. Für meinen Auftraggeber.“

„Aha.“

„Und er hat mir gesagt, die sind hier im Arbeitszimmer. In irgendeinem Geheimfach. Ich war also ein paar Mal hier, und …“

„Moment“, sagte Laurie. „Sie sind hier eingebrochen?“

„Ähm, ja.“

„Ich wusste, dass die Papiere auf dem Schreibtisch vor zwei Tagen anders lagen als am Morgen“, sagte Laurie triumphierend. „Ich wusste es.“ Sie freute sich schon darauf, das Glacey unter die eiskalte Nase reiben zu können. Sie hatte es ihr nicht geglaubt, das hatte Laurie deutlich gespürt.

„Jedenfalls habe ich aber nichts gefunden. Ich wusste, dass es irgendwo im Arbeitszimmer ein Geheimfach geben sollte, aber nicht, wo es war. Mein Auftraggeber hat nicht mehr gesagt. Ich glaube, weil er es auch nicht wusste.“

„Hm“, machte Laurie. „Also irgendwo hier sind Tagebücher. Gut zu wissen.“

„Darf ich jetzt gehen?“, fragte der Mann.

„Absolut nicht“, erwiderte Laurie, und ließ erst Glacey als Verstärkung aus ihrem Pokéball, bevor sie über ihr Smart-Rotom die Polizei rief.

„Alles klar?“, fragte Laurie Glacey, die den Kopf schief legte und sie aus großen Augen ansah. „Irgendwo sind hier Tagebücher von Mom und ich muss sie finden, weil offenbar jemand hinter ihnen her ist.“

Das Glaziola fiepte leise und schnüffelte in der Luft herum.

„Ich glaube nicht, dass du sie riechen kannst“, sagte Laurie. „Mal schauen …“

Laurie rollte den Teppich in der Mitte des Zimmers zusammen und schob ihn dann an den Rand des Zimmers. Anschließend suchte sie zusammen mit Glaceys Hilfe den Boden nach Ritzen ab, die da nicht hingehörten, und tat das Gleiche dann an den Wänden. Als sie nichts fand, untersuchte sie den Schreibtisch, die Kommoden und die Bretter der Bücherregale. Ohne Ergebnis.

„Okay“, sagte Laurie, und strich sich durch die kurzen mittlerweile schweißfeuchten Haare. „Das war wohl nichts.“

Glacie schnaubte, als wolle sie lachen.

„Hey“, sagte Laurie, „wenigstens haben wir dadurch Sachen ausgeschlossen.“

Glacie schnaubte erneut.

Laurie sah sich um und dachte nach. Sie konnte noch die Bücher aus allen Regalen nehmen und dann versuchen, die Regale von der Wand zu rücken oder in den Regalwänden etwas zu finden, aber sie verwarf den Gedanken fürs Erste. Das war ein wenig zu anstrengend. Sie verfluchte sich ein bisschen dafür, die Polizei gerufen zu haben. Der Einbrecher hätte ihr zumindest noch sagen können, wo er schon überall gesucht hatte. Nun, es war nicht mehr zu ändern.

„Warte mal“, sagte Laurie plötzlich, ging aus dem Arbeitszimmer hinaus und zur Tür des links angrenzenden Zimmers. Glacey trottete neugierig hinter ihr her.

Laurie ging in das links angrenzenden Zimmer – eine Art kleine Bibliothek mit bequemen Lesesesseln – und wieder hinaus. In ihrem Geist stellte sie sich das Innere der beiden Räume vor und wie sehr sie sich einander annäherten.

„Hm“, machte Laurie, „auf der Seite scheinen beide Räume direkt aneinander anzugrenzen.“ Sie sah Glacey an. „Also nichts auf dieser Seite. Aber …“

Sie sprintete zum Raum, der rechts neben dem Arbeitszimmer lag, und stellte dabei direkt schon fest, dass die Tür hier weiter vom Arbeitszimmer entfernt war. Dieser Rau war ein kleines Gästezimmer mit Bett, Nachttisch und einem Kleiderschrank. Als Laurie wieder auf dem Gang war und sich erneut vorstellte, quasi durch die Wand des Gangs hindurch das Innere der Räume zu sehen, war es eindeutig, dass zwischen den beiden Räumen die Wand viel dicker war, als sie sein müsste.

„Ha!“, rief sie triumphierend.

Glacey sah sie fragend an.

„Es ist in der Wand viel Platz zwischen den beiden Räumen“, erklärte Laurie. „Wenn es also ein Geheimfach gibt, dann ist es im Arbeitszimmer auf der rechten Seite, wahrscheinlich in der Wand.“

Sie ging wieder ins Arbeitszimmer und suchte erneut den Teil der Wand ab, der nicht von einem Regal verdeckt war, doch wieder fand sie nichts. Blieben also nur die Regale.

„Weißt du“, sagte Laurie zu Glacey, „in diesen ganzen Filmen ist es immer so, dass man ein Buch herausziehen muss und dann schwingt eine Regaltür auf. Aber welches Buch wäre es? Ich will die nicht alle rausziehen müssen.“

Glacey starrte sie aus großen Augen an und hob ratlos eine Pfote.

„Irgendein Buch, das man nicht rauszieht“, murmelte Laurie, „komme, was wolle. Irgendwas, was hier nicht reinpasst, irgendwas …“

Sie las alle Bücherrücken, und ging schließlich in die Hocke, als die Bücher der unteren Reihen dran waren. Ihr Blick blieb auf 150 Arten, ein Karpador zuzubereiten hängen. Sie verdrehte die Augen.

„Mom war Vegetarierin“, sagte sie zu Glacey und zog das Buch raus.

Nichts passierte. „Verdammt.“ Laurie knallte das Buch frustriert auf den Boden und trat gegen den zusammengerollten Teppich, der neben ihr lag. Hatte sie nach dem Angriff gedacht, der Tag könne nicht mehr schlimmer werden? Jetzt hatte sie bereits stundenlang dieses bescheuerte Zimmer nach einem Geheimfach abgesucht, und war immer noch keinen Schritt weitergekommen. Noch einmal trat sie gegen den Teppich.

Das Fiepen von Glacey riss sie aus ihren Gedanken. Glacey hatte sich vor die Lücke gesetzt, die das Buch im Regal hinterlassen hatte, und versuchte offenbar mit ihrer Pfote darin herumzutasten.

„Was machst du denn da?“, fragte Laurie und kniete sich neben Glacey. „Ist da irgend… Oh.“

Hinten in der Regalwand war etwas, was wie ein Astlochdübel aussah, den man in das Holz eingesetzt hatte. Laurie streckte ihre Hand danach aus und drückte mit dem Zeigefinger darauf. Es klickte, und das Regal sprang ein paar Zentimeter nach vorne.

Laurie stand auf und griff nach dem Regalrand. Es ließ sich einfach weiter aufziehen, wie eine Tür.

Glacey war offenbar höchst zufrieden mit sich.

„Ja, hast du gut gemacht“, sagte Laurie und hielt kurz inne, um Glacey hinter den Ohren zu kraulen. Das Glaziola schnurrte zufrieden.

Laurie hatte bei einem „Geheimfach“ eher etwas Kleineres erwartet. Der Raum hinter dem Regal war definitiv größer als ein Fach, wenngleich es auch kein richtiges Zimmer war. Es wirkte mehr wie eine große Nische, die in die Wand eingelassen war, eine Vertiefung mit einem Regalbrett oben, auf dem mehrere zerfledderte Notizbücher standen.

Unter dem Brett hingen an Haken Gegenstände, die insgesamt wohl Ausrüstung für Exeditionen darstellten: Ein dicker Anorak, ein stabil aussehendes Seil, ein Rucksack, ein Helm, Karabinerhaken und eine kleine Schaufel. Am Boden der Nische standen verschiedene, stabil aussehende Wanderschuhe.

Laurie nahm das Notizbuch, welches ganz links auf dem Regalbrett stand, und blätterte es durch. Es war vollgekritzelt mit der schnörkeligen Handschrift ihrer Mutter, gelegentlich nur unterbrochen durch ausgeblichene Fotos, Zeichnungen oder eingeklebte Pflanzenblätter.

Als Laurie ein paar der Aufzeichnungen überflog weiteten sich ihre Augen.

„Mom hat ein Doppelleben geführt“, sagte sie zu Glacey. „Hast du das gewusst?“

Glacey legte den Kopf schief, was meistens ein Nein bedeutete – oder aber, dass sie nicht verstand, was los war.

„Natürlich nicht“, murmelte Laurie. „Aber diese Aufzeichnungen – sie war eine Entdeckerin, eine Abenteurerin. Ruinen, Tempel, alte Legenden … Ich wusste das gar nicht! Zum Beispiel das hier …“

3. Oktober

Heute festgestellt, dass ich verfolgt werde. Werde die Berge nutzen, um mich zu verstecken und meine Verfolger in eine Falle zu locken. Vielleicht sind es die Paladine, es wäre nicht das erste Mal. Ich dachte aber eigentlich, sie abgeschüttelt zu haben … Tally ist unruhig, die Gegend ist ihr nicht geheuer.

Nachtrag: Mein Verfolger war kein Paladin, sondern ein Eremit, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Legenden der Gegend zu schützen. Konnte ihn davon überzeugen, dass ich kein Feind bin und das gleiche Ziel habe. Er hat versprochen, mich zu den Ruinen zu führen, die ich vielleicht dann für immer versiegeln kann. Weiß nicht, ob ich ihm trauen soll. Tally mag ihn nicht. Werde ihn auf jeden Fall im Auge behalten.

Tally war das Vulnona, das die Partnerin von Lauries Mutter gewesen war. Tally war ein etwas eingebildetes, aber auch sehr liebes Pokémon gewesen, mit schönem weiß-bläulichem Fell und einer eleganten Art, sich zu bewegen. Es war zusammen mit Lauries Mutter verschwunden.

„Wer diese Paladine wohl sind?“, fragte Laurie, doch Glacey legte wieder nur den Kopf schief.

„Ich schätze, ich werde heute lieber zu Hause bleiben und ein wenig lesen“, murmelte Laurie und machte sich daran, die Notizbücher alle zum Schreibtisch zu tragen, bevor sie zu lesen begann.

Den ganzen Tag lang hatte Laurie in den Notizbüchern gelesen und so nach und nach von all den Abenteuern erfahren, die ihre Mutter unternommen hatte. Sie war auf der Suche nach legendären und mystischen Pokémon gewesen und hatte seltsame Artefakte von großer Macht in den Händen gehalten, die sie anschließend für immer in einer Ruine versiegelt, zerstört oder aber an Laute weitergegeben hatte, denen sie rechtmäßig gehörten und ihre Macht nicht für Missetaten missbrauchten. Gelegentlich fanden sich in den Notizbüchern Skizzen und Zeichnungen von Pokémon, die Laurie noch nicht einmal in Büchern gesehen hatte. Meistens waren sie nur grob und undeutlich, fast mehr wie Zeichnungen von Schatten und Schemen, doch hin und wieder waren die Zeichnungen auch detailliert genug. Da war etwa ein kleines, feenartiges grünes Pokémon, das Lauries Mutter bei einer Waldexpedition gefunden hatte und ein großes blaues Pokémon mit großen Seiten und Schwanzflossen, dem ihre Mutter bei einem Tauchgang begegnet war.

Laurie war fasziniert von all diesen Geschichten, auch wenn es ihr einen Stich versetzte, dass ihre Mutter ihr nie etwas von all dem erzählt hatte.

Eine Konstante begegnete ihr dabei immer wieder: Die Paladine. Nach allem, was Laurie sich aus den Aufzeichnungen ihrer Mutter zusammenreimen konnte, handelte es sich bei ihnen wohl um eine Art Geheimgesellschaft, ein Verbund mächtiger und reicher Personen, deren Ziel es war, noch mehr Macht und Reichtum zu erlangen, warum auch immer. Laurie vermutete, dass das Endziel wohl die Weltherrschaft war, aber genau konnte sie das nicht sagen. Was aber feststand, war, dass die Geheimgesellschaft offenbar stets den wahren Kern in alten Mythen und Legenden suchte, um ihrem Ziel näher zu kommen. Und Lauries Mutter kam ihnen dabei regelmäßig in die Quere.

Es war spät in der Nacht, als Laurie das letzte Tagebuch aus der Hand legte. Eines hatte sie bei der Lektüre festgestellt: Ihre Mutter hatte bei jedem Abenteuer sozusagen „reinen Tisch“ gemacht, mit anderen Worten, sie hatte die Pläne der Paladine für immer vereitelt. Einzig und allein das letzte Tagebuch ließ die Geschichte am Ende offen – es war bis zur letzten Seite vollgeschrieben und enthielt zum Schluss Informationen zu der Legende mehrerer Giganten, die angeblich irgendwo in den Kronen-Schneelanden schlummerten.

Vermutlich hatte ihre Mutter danach noch ein Tagebuch geführt, das sie bei sich gehabt hatte, als sie verschwand. Wenn die Paladine dahintersteckten, dann hatten sie offenbar dieses Tagebuch. Aber anscheinend brauchten sie auch das davor – das, in dem alle Informationen zu der Legende und den Giganten standen. Also hatten sie jemanden geschickt, um es zu stehlen.

Etwas war seltsam dabei – sie hatten nicht nur von den Tagebüchern gewusst, sondern auch von dem Geheimfach, auch wenn sie nicht gewusst hatten, wo es war. Das mit dem Tagebuch konnte daran liegen, dass sie einfach Lauries Mutter mit ihrem aktuellen Buch erwischt hatten. Aber das Geheimfach?

Laurie lief es kalt den Rücken runter bei dem Gedanken, dass man ihre Mutter vielleicht gefoltert hatte, um ihr diese Information abzupressen. Oder … Es steckte jemand dahinter, der ihre Mutter gut kannte.

Laurie schluckte. Wenn das so war, durfte sie niemandem trauen und musste Vorkehrungen treffen. Außerdem hatte sie schon eine Idee, was sie als nächstes tun könnte.

Sie starrte noch einige Sekunden auf die letzte Seite des letzten Tagebuchs, auf die Handschrift ihrer Mutter. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr traurig. Ihre Augen wurden feucht.

Glacey fiepte mitfühlend und schmiegte sich an ihre Beine. Laurie kraulte sie hinter den Ohren.

„Wir müssen jetzt vorsichtig sein, Glacey“, murmelte sie. „Böse Leute sind hinter uns her.“

Zu Lauries Trauer gesellte sich plötzlich auch eine unbeschreibliche Müdigkeit. Sie war erschöpft. Aber es gab noch etwas zu tun, und sie sollte das am besten erledigen, bevor sie schlafen ging.

Tatsächlich lag Laurie trotz ihrer Müdigkeit noch lange wach. Ihre Gedanken kreisten ständig um das, was sie erfahren hatte und wollten einfach nicht zur Ruhe kommen. Irgendwann schlief sie wahrscheinlich einfach aus Erschöpfung ein, doch im Schlaf wurde sie in ein seltsames und unruhiges Wirrwarr an Träumen geworfen.

Laurie konnte kaum ein paar Stunden geschlafen haben, als sie etwas Kaltes im Gesicht spürte. Als sie die Augen öffnete, starrte sie in zwei große dunkle Augen.

Sie keuchte vor Schreck, nur um festzustellen, dass es Glacey war. „Verdammt, Glacey!“, zischte Laurie. „Was soll das?“

Glacey biss in einen Ärmel von Lauries Schlafanzug und zerrte daran.

„Was denn?“, murrte Laurie. „Was …“

Ein Scharren aus dem Stockwerk unter ihr erklang. Laurie erstarrte. Jemand war im Haus!

Laurie stand so leise wie möglich auf und schnappte sich eine Gardinenstange, die in einer Ecke ihres Zimmers stand. Sie hatte vor Kurzem die Gardinen an ihrem Fenster durch Plissees ersetzt, und bisher die Stange noch nicht weggeräumt. Glacey folgte ihr lautlos, als sie mit der Stange das Zimmer verließ und den Flur zur Treppe entlangschlich, die in die unteren Stockwerke führte. Ihr Zimmer lang im zweiten Stock, und nur der Dachboden lag darüber. Unten im ersten Stock hingegen lag das Arbeitszimmer.

Als Laurie den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht, sah sie, dass die Tür zum Arbeitszimmer offenstand. Sie war sich sicher, sie geschlossen zu haben, bevor sie ins Bett gegangen war.

Sie hob die Gardinenstange und hielt sie wie einen Speer vor sich. Dann nickte sie Glacey zu. Sie schlichen sich beide an die Tür des Arbeitszimmers heran. Das Rascheln von Papier drang daraus hervor.

Laurie machte einen Satz nach vorne, und Glacey tat es ihr gleich.

Das Licht im Arbeitszimmer war nicht eingeschaltet, doch das Mondlicht, das durch die Fensterfront fiel, erhellte den Raum genug. Das Regal war nicht ganz an die Wand gedrückt, sondern sozusagen nur angelehnt.

Vor dem Schreibtisch stand, Laurie den Rücken zugedreht, eine große schwarzgekleidete Gestalt. Sie hatte offenbar einen ziemlichen Buckel.

Die Gestalt drehte sich um. Sie trug eine Strumpfmaske mit Löchern für die Augen. Laurie konnte nicht sagen, ob es vielleicht ein Mann oder eine Frau war. Aber das war auch egal.

Sie sprang vor und stach mit der Gardinenstange zu. Die Gestalt sprang zur Seite und wurde im nächsten Moment nur um Haaresbreite von einem eiskalten Strahl verfehlt, den Glacey aus ihrem Mund abgefeuert hatte.

Laurie schlug mit der Stange erneut zu, doch die Gestalt duckte sich unter ihrem Schlag weg, packte sie und schubste sie rückwärts. Laurie stolperte über irgendetwas hinter ihr. Im Fallen merkte sie an einem Fiepen, dass sie über Glacey gefallen war. Die Gardinenstange entglitt ihren Händen. Es tat einen Schlag und ein Krachen und Laurie sah, wie Glacey gegen ein Regal geschleudert wurde. Die Gestalt hatte Glacey einfach weggetreten, und jetzt rannte sie an Laurie, die gerade erst dabei war, wieder aufzustehen, vorbei und runter auf den Gang. Laurie sprang auf, versicherte sich kurz, dass Glacey nicht schwer verletzt war, und rannte dann der Gestalt hinterher, den Gang entlang und die Treppe runter in die Eingangshalle.

Doch als sie gerade die letzte Stufe der Treppe hinter sich gelassen hatte und noch sah, wie die Gestalt durch die Haustür verschwand, war Laurie, als würde irgendwas über ihr Gesicht streichen, wie ein Windhauch. Mit einem Mal überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Sie fühlte sich müde, und es war, als würde ihr das Atmen schwer fallen. Sie taumelte und lag plötzlich auf dem Boden.

„Was …“, murmelte sie, dann wurde es schwarz vor ihren Augen.

Laurie schlug die Augen auf. Sie lag offenbar in einem Bett, und die Zimmerdecke kam ihr bekannt vor. Sie lag in ihrem Bett. Die Erinnerungen an die Nacht kamen zurück. Sie war in der Eingangshalle bewusstlos geworden. Warum lag sie dann in ihrem Bett?

Sie richtete sich auf.

„Guten Morgen“, sagte eine gut gelaunte Stimme. „Letzte Nacht wohl ein bisschen viel gefeiert, was?“

Laurie drehte sich zur Seite und sah eine athletisch gebaute junge Frau mit langen schwarzen Haaren und hübschen Gesichtszügen auf einem Stuhl sitzen, ein Buch in der Hand. Sie hätte ein Model für ein Fitnessmagazin sein können.

„Myra?“, fragte Laurie. „Was machst du denn hier?“

„Mal sehen – die letzten paar Stunden habe ich darauf gewartet, dass du aufwachst. Und jetzt erzähle ich dir, dass ich die letzten Stunden darauf gewartet habe, dass du aufwachst. Und jetzt erzähle ich dir, dass ich dir gerade erzähle, dass ich die letzten Stunden …“

„Schon verstanden!“, warf Laurie ein. Myra studierte Philosophie mit Schwerpunkt Logik und Sprachanalyse, und manchmal machte es ihr Spaß, alles ganz wörtlich zu nehmen. „Ich meine, warum bist du hier?“

„Glacey hat mich gegen vier Uhr aus dem Bett geholt. Hat von außen mein Schlafzimmerfenster eingefroren. Bin von der Kälte aufgewacht.“

In dem Moment sprang Glacey auf Lauries Bett und kuschelte sich an sie.

„Hi, kleine“, sagte Laurie und tastete vorsichtig Glaceys Seite ab, um zu schauen, ob sie nicht doch verletzt war. Es schien aber nicht der Fall zu sein.

„Vielleicht erklärst du mir mal, was passiert ist“, sagte Myra und setzte sich zu Laurie und Glacey aufs Bett.

„Ach, ich … Ich habe nur einen Einbrecher überrascht.“

„Einen Einbrecher?“, fragte Myra und zog eine Augenbraue hoch.

„Ja, der war vermutlich … weiß nicht, hinter dem Tafelsilber her. Ich meine, ich hab keins, aber … Typ geht am Anwesen vorbei, sieht aus, als gäbe es was zu holen, also steigt er ein. Vermute ich zumindest.“

Sie erwähnte nichts von den Tagebüchern. Zwar war Myra eine ihrer besten Freundinnen, aber nach allem, was sie gestern gelesen hatte, war sie nicht sicher, was sie wem erzählen sollte. Myra war sicher keine von den Paladinen, aber es war auch nicht nötig, sie in Gefahr zu bringen. Die Erklärung des Gelegenheitseinbrechers schien Myra aber zu reichen.

„Ich habe übrigens Kleffi die Tür knacken lassen müssen, um hier reinzukommen“, sagte Myra, und ein kleines Clavion schwebte wie aufs Stichwort in Lauries Blickfeld. „Ich passe leider nicht durch Glaces kleine Klappe.“

„Schon okay“, sagte Laurie. „Du wolltest ja nur helfen.“

„Gibt es eigentlich auch mal Tage, an denen du nicht irgendwie in Schwierigkeiten gerätst?“, fragte Myra.

„Hey, ich gerate nicht so oft in Schwierigkeiten“, protestierte Laurie. „Vielleicht ein- oder zweimal in der Woche, das ist alles.“

„Das ist oft genug“, erwiderte Myra. Dann runzelte sie die Stirn. „Warte mal“, sagte sie. „Wenn du den Einbrecher überrascht hast, warum hast du dann in der Eingangshalle geschlafen?“

„Ähm …“, machte Laurie.

„Niedergeschlagen hat er dich jedenfalls nicht. Ich war unsicher, ob du die Treppe runtergefallen warst, und habe geschaut, ob du irgendwo ernsthaft verletzt warst.“

„Also …“ Laurie überlegte. Über dieses Detail konnte sie Myra eigentlich die Wahrheit sagen. „Ich weiß auch nicht. Irgendwie war ich plötzlich müde und bin eingeschlafen.“

„Hm“, murmelte Myra. „Vielleicht eine einschläfernde Attacke von einem Pokémon.“

Laurie schüttelte den Kopf. „Das kann sein, aber … Ich habe kein Pokémon gesehen. Nur diese Gestalt.“

„Weißt du, wie der Einbrecher aussah?“

„Komplett schwarz gekleidet. Groß, sehr kräftig. Und er hatte einen Buckel.“

„Einen Buckel?“, fragte Myra ungläubig.

Laurie nickte. „Und er war schnell, ich meine, schneller als ich.“

„Verletzter Stolz?“, fragte Myra amüsiert. „Vergiss nicht, ich bin auch schneller als du.“

„Du trainierst ja auch schon viel länger als ich“, murrte Laurie.

„Nun, du bist eigentlich ziemlich gut“, überlegte Myra. „Müsste schon ein ziemlicher Profi sein, der dich schafft.“

Laurie nickte. Jemand wie Myra, sagte eine böse Stimme in ihrem Kopf, doch Laurie wischte den Gedanken ärgerlich weg. Es konnte nicht Myra sein. Klar, Myra hätte Laurie im Zweikampf locker geschafft, und sie konnte Schlösser knacken und ihre große Statur würde bis auf den Buckel ungefähr passen, aber … Es konnte einfach nicht sein. Laurie kannte Myra seit zwei Jahren. Beim Verschwinden von Lauries Mutter müsste Myra auch nur ein Kind gewesen sein. Es konnte unmöglich sein, dass sie irgendwas mit den Paladinen zu tun hatte.

„Vielleicht sollten wir schauen, ob irgendwas fehlt“, riss Myra Laurie aus ihren Gedanken.

„Äh, ja, sicher“, antwortete Laurie. „Ich schaue heute noch nach.“

„Mach das“, sagte Myra und sah auf ihre Armbanduhr. „Ich müsste auch los, habe gleich eine Vorlesung. Ich würde dir ja helfen, aber ich weiß ja eh nicht, wo hier was hingehört und würde wissen, wenn irgendwo was fehlt.“

Myra stand auf, packte ihr Buch in ihren Rucksack, der neben dem Stuhl stand, auf dem sie gesessen hatte, und lehnte es ab, sich von Laurie noch zur Haustür bringen zu lassen, da sie den Weg ja kenne. Sie zwinkerte Laurie zum Abschied zu, als sie das Zimmer verließ und Laurie spürte, wie ihr Magen einen Hüpfer machte.

„Ach, Glacey“, sagte sie und kraulte das Glaziola hinter den Ohren. „Was passiert hier nur?“

Als Laurie überprüfte, welche Tagebücher noch da waren und welche fehlten, stellte sie fest, dass das allerletzte Tagebuch, das, in dem die Aufzeichnungen ihrer Mutter zu der Legende der Giganten standen, verschwunden war. Das war ein Verlust, aber zu verschmerzen. Laurie hatte in der vorherigen Nacht noch alle Tagebücher eingescannt und gleich auch mehrere Kopien ausgedruckt, die sie an verschiedenen Orten im Haus versteckt hatte. Eine davon holte sie hervor – sie lag unter dem Polster eines Sessels im Lesezimmer links neben dem Arbeitszimmer – und studierte genauer die Aufzeichnungen ihrer Mutter.

Die Giganten, von denen in der Aufzeichnung die Rede waren, waren Pokémon von großer Kraft, die irgendwann in antiken Ruinen versiegelt worden waren, da die Menschen Angst vor ihnen hatten. Es schien oft so zu sein, dass Menschen etwas aus Angst wegsperrten. Gleichwohl schien von diesen Pokémon eine reale Gefahr in Form eines Zerstörungspotenzials auszugehen. Wenn es jemandem gelänge, sie zu fangen, hätte diese Person zweifellos ein paar furchterregende wandelnde Waffen an ihrer Seite.

Den Aufzeichnungen zufolge lagen die Ruinen, in denen die Pokémon versiegelt waren, in den Schneelanden der Krone, die sich im Süden Galars befanden. Laurie war ein- oder zweimal als Kind dort gewesen, um Ski zu fahren (wozu der Süden von Score City eigentlich besser geeignet war, zumal Lauries Anwesen am westlichen Rand von Score City lag) und hatte dort von einigen Legenden gehört, aber noch nie von diesen Giganten. Die Aufzeichnungen ihrer Mutter gaben jedoch sogar ungefähre Positionen der Ruinen an, in denen die Giganten versiegelt worden waren. Auf eingeklebtem Kartenmaterial waren Kreise gezeichnet worden, die ungefähre Gebiete eingrenzten.

Auf einigen Seiten des Buches waren zudem seltsame Symbole angegeben, die Laurie nicht erkannte. Neben diesen Symbolen stand jeweils eine Zahl. Insgesamt gab es 100 Symbole, und die Zahlen gingen entsprechend von 1 bis 100. Laurie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Ein wenig fühlte sie sich erinnert an die Geheimschriftspiele, die sie früher mit ihrer Mutter gespielt hatte. Sie hatten sogar eine Chiffre ausgearbeitet, die jedem Buchstaben nach seiner prozentualen Häufigkeit in der Sprache einen gleichen Prozentsatz der Zahlen von 1 bis 100 zuordnete. Auf die Art konnte man die Chiffre unknackbar für Analysen von Buchstabenhäufigkeiten machen. Es hatte Monate gedauert, bis Laurie diese Verschlüsselung fließend beherrscht hatte, aber danach ging sie ihr in beide Richtungen sehr leicht von der Hand.

Allerdings wusste Laurie nicht, was diese Auflistung von Symbolen und Zahlen zu bedeuten hatte. Wenn die Symbole das Alphabet wären, hätte es von ihnen nur 26 Zeichen geben müssen. War das eine Sprache mit hundert Buchstaben? Aber dann wiederum, waren Zahlen als Übersetzung angegeben? Standen die Symbole vielleicht einfach für die daneben stehenden Zahlen? Das wäre eigentlich das Logischste … Vielleicht hatte Laurie mit den Chiffren zu kompliziert gedacht.

Eines stand jedenfalls fest: Wenn sie das Rätsel um die Giganten lösen wollte, würde sie in die Kronen-Schneelande gehen müssen. Nachdem ihr dieser Gedanke gekommen war, spürte sie plötzlich ein seltsames Kribbeln. Sollte sie wirklich losziehen, in einen Kampf, den ihre Mutter nicht hatte beenden können? Sie war natürlich schon immer abenteuerlustig gewesen, aber das hier bedeutete, sich mit einem gefährlichen Gegner anzulegen, bei dem sie nicht wusste, ob sie ihn würde besiegen können.

Andererseits …

„Was meinst du, Glacey?“, fragte Laurie. „Sollen wir uns um Moms Vermächtnis kümmern?“

Glacey ließ ein zustimmendes Brummen hören.

Bevor Laurie die Kronenschneelande ansteuerte, wollte sie noch ein paar Dinge klären, über die sie in den Tagebüchern gelesen hatte, genauer gesagt: Sie wollte mit zwei ganz bestimmten Leuten sprechen. Ihre erste Anlaufstation war die Universität. Obwohl sie selbst öfter hier war, war es nun irgendwie komisch, hierhinzukommen, denn sie wollte jemanden sprechen, der nicht ihr Dozent und auch kein Mitglied der Verwaltung war, und sie kam außerdem in dem Bewusstsein, dass sie die Universität danach in der nächsten Zeit wohl schwänzen würde.

Laurie betrat die die Fakultät für Archäologie und Geschichtswissenschaft und klopfte an die Tür von Professor Silverstone, der offenbar ein Experte für die Geschichte Galars war. Laurie hatte im Onlineportal der Universität nachgesehen, wann seine Sprechstunde war. Zwar war sie nicht angemeldet, aber es wartete ohnehin niemand vor der Tür.

Sie klopfte an, wartete auf ein heiseres „Herein!“ und trat ein. Das Büro wirkte wie ein typisches Dozentenbüro – ein Schreibtisch mit Computer, auf dem Bücher und Papiere verstreut lagen, zwei gut gefüllte Bücherregale an jeder Wand und zwei Stühle für Besucher.

„Guten Tag“, sagte Laurie. „Ich würde Sie gerne sprechen, Professor Silverstone.“

„Bitte“, sagte der Professor, der hinter dem Schreibtisch saß, und verwies sie auf einen der freien Stühle vor dem Schreibtisch.

Der Professor war ein grauhaariger älterer Mann, der eine Brille mit eckigen Gläsern auf der Nase trug. Sein Tweedanzug ließ ihn wie einen Klischee-Professor wirken.

„Was kann ich denn für Sie tun?“, fragte der Professor. „Ich glaube nicht, dass Sie eine meiner Studierenden sind.“

„Nun, nein“, sagte Laurie. „Ich komme wegen meiner Mutter.“

„Ihrer Mutter?“, hakte der Professor nach.

„Ja. Ihr Name war Melody Belford.“

Der Professor war für einen Moment wie steifgefroren. Dann fragte er leise: „Sie … Sie sind Laurinda Belford?“

„Ja“, sagte Laurie, „bin ich.“

„Nun“, sagte der Professor, nahm seine Brille ab und putzte sie, „Sie haben dann wohl herausgefunden, was Ihre Mutter … in ihrer Freizeit getan hat.“

Laurie nickte. „Sie haben ihr sozusagen die Missionen gegeben, oder?“

„Wenn Sie es so nennen möchten“, sagte der Professor. „Eigentlich hat ihre Mutter sich aber selbst ihre Aufgaben ausgesucht. Ich war mehr eine Art … Berater.“

Lauries nickte. Sie bemerkte am Gürtel des Professors zwei Pokébälle und fragte sich, was er wohl trainierte.

„Was wissen Sie über die Paladine?“, fragte Laurie.

Der Professor rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. „Eigentlich … wenig. Ihre Mutter ist Ihnen begegnet. Eine Geheimgesellschaft offenbar, die … nun, die Kontrolle über die Welt anstrebt. Ich bin aber nie einem Mitglied dieser Gesellschaft begegnet. Ich weiß nur, dass sie offenbar sehr gefährlich sind. Es sieht so aus … dass sie hinter dem Verschwinden Ihrer Mutter stecken.“ Er sah sie traurig an. „Es tut mir sehr leid.“

Laurie musterte ihn. Es sah nicht aus, als würde er lügen. „Wissen Sie zufällig, woran meine Mutter zuletzt gearbeitet hat, bevor sie verschwand?“

„Es ging um eine Legende über Giganten in den Schneelanden der Krone“, sagte der Professor. „Allerdings weiß ich nicht viel darüber. Diese Gegenden sind historisch noch sehr unerforscht. Das kalte Klima macht vielen zu schaffen, die dort hinfahren und erschwert Expeditionen. Vielleicht …“ Er schien kurz nachzudenken, bevor er fortfuhr: „Ihre Mutter hat glaube ich sehr ausführliche Aufzeichnungen über ihre Reisen gemacht. Wenn Sie die finden könnten …“

„Das habe ich bereits“, sagte Laurie. „Aber leider sind mir ein paar Aufzeichnungen letzte Nacht gestohlen worden, bevor ich sie lesen konnte. Ich glaube, es waren ausgerechnet die zu den Giganten, aber natürlich weiß ich es nicht genau.“

„Gestohlen?“, fragte der Professor bestürzt. „Dann … Miss Belford, es könnte sehr gut sein, dass sie in Gefahr sind. Vielleicht sollten Sie sich in Sicherheit bringen.“

„Vielleicht“, sagte Laurie. „Nun, es ist ja nicht so, als könnte ich ohne die Aufzeichnungen meiner Mutter irgendetwas anderes tun, oder?“ Sie gab sich Mühe, bedauernd zu klingen. „Möglicherweise haben Sie recht. Wenn diese Leute wirklich so gefährlich sind, will ich mich mit Ihnen nicht anlegen. Und ich kann ja schlecht alleine die ganzen Kronen-Schneelande absuchen.“ Sie stand auf. „Danke für Ihre Zeit und Ihren Rat, Herr Professor.“

Professor Silverstone stand ebenfalls auf. „Wenn Sie mit irgendetwas Hilfe benötigen, sagen Sie bitte Bescheid“, sagte er und streckte Laurie die Hand entgegen. „Ich werde Ihnen gerne helfen, wenn ich kann.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte Laurie und lächelte unschuldig.

Sie verließ das Büro und atmete auf dem Gang einmal tief durch. Eine Sache war seltsam: Als sie den Professor nach dem letzten Abenteuer ihrer Mutter gefragt hatte, hatte er sofort geantwortet, dass es um die Kronen-Schneelande ging. Er hatte nicht eine Sekunde überlegt, obwohl das alles Jahre her war. Entweder hatte der Mann ein sehr gutes Gedächtnis, oder er hatte erst kürzlich einen Anlass gehabt, sich daran zu erinnern – etwa, weil er in der ganzen Sache mit drinsteckte.

„Ich sage nur, dass ich vielleicht ein paar Tage weg bin“, versicherte Laurie und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.

„Das kommt so plötzlich“, sagte Myra.

Sie saßen beide in einem kleinen Café nahe der Universität. Myra hatte Laurie am Nachmittag angerufen und sie gefragt, ob sie sich vielleicht zu Mittagessen treffen wollten. Laurie hatte zugesagt, da sie Myra ohnehin sagen musste, dass sie verreisen wollte, damit sie sich keine Sorgen machte.

„Ich will nur ein paar Tage weg. Vielleicht nach Keelton ans Meer.“

„Du suchst also keinen neuen Ärger?“, fragte Myra schmunzelnd.

„Ich doch nicht“, erwiderte Laurie mit gespielter Empörung.

„Und mit dir ist sicher alles in Ordnung?“, fragte Myra.

„Absolut“, log Laurie, und lächelte so freundlich, wie sie konnte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Myra ihr nicht glaubte. Aber schließlich zuckte Myra die Achseln und sagte: „Bring mir eine schöne Muschel mit oder so.“

„Mach ich“, erwiderte Laurie.

Bevor sie beide das Café verließen, musste Laurie noch einmal zur Toilette. Als sie wiederkam, stutzte sie kurz. Sie war sich sicher gewesen, ihre Tasche links neben ihren Stuhl gestellt zu haben, doch nun stand sie rechts.

„Ist irgendwas?“, fragte Myra.

„Nein“, sagte Laurie, griff nach ihrer Tasche, und sie gingen.

In Lauries Gehirn arbeitete es hektisch. Hatte sie die Tasche nicht doch anders hingestellt, als sie es in Erinnerung hatte? Nach ein paar Augenblicken verwarf sie diese Möglichkeit. Sie erinnerte sich zu gut daran, wie sie die Tasche abgestellt hatte. Hatte Myra also hineingesehen? Wenn ja, dann müsste sie die Ausdrucke des Tagebuchs von Lauries Mutter gesehen haben, denn Laurie hatte diese mitgenommen. Sie verfluchte sich dafür. Sie hätte sie einfach wieder zu Hause verstecken sollen. Jetzt hatte sie nur noch mehr Angst, dass ihre beste Freundin in Wirklichkeit eine Feindin war.

Am Nachmittag war Laurie erst zu Hause und druckte sich ein Ticket zu den Kronen-Schneelanden aus. Dann ging sie zum Bahnhof und kaufte dort ein Ticket nach Keelton für den nächsten Tag. Vielleicht war es paranoid, aber wenn ihr jemand folgte, sollte diese Person ruhig annehmen, dass sie nach Keelton fahren wollte.

Besonders wichtig war das, weil Lauries nächste Station einen eventuellen Verfolger wohl eher das Gegenteil vermuten lassen würde.

Laurie betrat den kleinen Laden für Outdoorkleidung und sah sich nach dem Inhaber um. Ihre Mutter hatte in ihren Notizen sowohl diesen Laden als auch den Mann, dem er gehörte, erwähnt.

Der laden sah von innen ein bisschen größer aus als von außen. Kleiderstangen mit dicken Anoraks und anderer funktionaler Bekleidung bildeten kleine Gassen, und die Wände waren von Regalen mit diversem festen Schuhwerk oder zusätzlicher Ausrüstung, etwa zum Campen, gesäumt. Momentan waren keine Kunden da, was Laurie nur recht war.

Gegenüber der Eingangstür stand ein Tresen und dahinter ein wohl um die vierzig Jahre alter Mann mit kräftiger Gesichtsfarbe, die darauf hindeutete, dass er viel Zeit im Freien verbrachte. Er war groß und zwar nicht unbedingt muskelbepackt, aber offensichtlich doch sportlich. Sein kurzgeschnittenes schwarzes Haar und seine aufrechte Haltung ließen ihn ein bisschen militärisch wirken. Insgesamt machte er den Eindruck eines Mannes, der entgegen seines fortschreitenden Alters immer noch aktiv war und sich fit hielt. Vielleicht hätte Lauries Mutter heute eine ähnliche Ausstrahlung gehabt, wenn sie noch am Leben gewesen wäre.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Mann, als Laurie an den Tresen herantrat.

„Ja“, sagte Laurie. „Ihnen gehört dieser Laden?“

„Korrekt“, sagte der Mann. „Stanley Drayden, zu Ihren Diensten.“

„Ich komme wegen Melody Belford.“

Drayden zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Nie gehört“, sagte er nur.

„Oh doch“, erwiderte Laurie scharf. „Sie haben sie ausgestattet.“

„Ich habe vielen Leuten hier Klamotten und Ausrüstung verkauft. Natürlich erinnere ich mich nicht an alle.“

„Würde es für Ihr Gedächtnis einen Unterschied machen, wenn ich Ihnen sage, dass ich Melody Belfords Tochter bin?“

Der Mann zögerte. „Könnte sein, dass da was klingelt.“

„Dann würde ich gerne mit Ihnen über das reden, was da klingelt.“

„Nun gut“, sagte der Mann, stand auf und ging zur Tür, um das „Geöffnet“-Schild umzudrehen. „Was genau kann ich Ihnen denn sagen?“ Mit einem Mal war seine Miene ein bisschen freundlicher.

„Sie haben meine Mutter ausgestattet?“

„Hin und wieder, ja.“

„Sie haben Sie auch ausgebildet?“

„Ich habe ihr ein paar Sachen beigebracht, ja. Als sie sich für dieses Leben entschied, hatte sie wenig Ahnung vom Überleben. Ohne mich wäre sie vermutlich nicht weit gekommen.“ Er lächelte. „Sie war eine gute Schülerin.“

„Was wissen Sie über die Paladine?“

„Nie gehört“, sagte der Mann und zuckte die Achseln. „Wer soll das sein?“

„Nicht so wichtig. Meine Mutter hat nie von ihnen erzählt?“

Drayden schüttelte den Kopf. „Sie hat mit mir nicht viel über das geredet, was sie getan hat. Ich habe sie ein paar Mal danach gefragt, aber sie hat nicht viel dazu gesagt. Ich wünschte, ich könnte Ihnen weiterhelfen, aber …“ Er brach ab.

„Verstehe. Sie wissen also auch nicht zufällig, woran meine Mutter zuletzt gearbeitet hat?“

„Nein. Alles, was ich weiß, ist, dass sie irgendwann nicht mehr hierherkam. Ich habe mir meinen Teil dazu gedacht.“ Er seufzte. „Dieses Leben kann sehr gefährlich sein.“ Plötzlich merkte er auf. „Sie … Wollen Sie etwa in die Fußstapfen Ihrer Mutter treten?“

„Oh nein“, sagte Laurie hastig. „Nein, natürlich nicht.“

„Sie könnten es sicher, wenn sie wollten“, sagte Drayden. „Mit ein bisschen Training …“

„Nun, ja, vielleicht“, sagte Laurie. „Ich glaube aber nicht, dass ich das tun will. Und ich wüsste ja auch gar nicht, wo ich anfangen sollte.“

„Ihre Mutter hat Ihnen also keine Aufzeichnungen hinterlassen?“, fragte Drayden erstaunt. „Sie trug doch immer so Notizbücher mit sich rum.“

„Ja, aber … ich interessiere mich nicht wirklich dafür und …“

„Dürfte ich sie vielleicht lesen?“, fragte Drayden. „Ich bin natürlich kein Experte für all so etwas, aber ich fände es sehr interessant, über die Abenteuer Ihrer Mutter aus erster Hand lesen zu können.“

„Es tut mir leid“, sagte Laurie, „aber die Tagebücher sind gewissermaßen privat. Sie verstehen?“

„Oh, ähm, ja, natürlich“, sagte Drayden. „Entschuldigen Sie. Es ist nur … Ihre Mutter war eine wirklich bemerkenswerte Frau.“

„Danke“, sagte Laurie. „Nun, ich sollte dann auch nicht länger Ihre Zeit in Anspruch nehmen, Mr. Drayden.“

„Wenn Sie noch über irgendwas sprechen wollen, meine Tür steht Ihnen immer offen“, sagte Drayden freundlich. „Ich helfe Ihnen gerne, wenn ich kann.“

„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagte Laurie und lächelte.

Als sie den Laden verließ, dachte Laurie über Drayden nach. Irgendetwas an ihm hatte sie gestört, auch wenn sie sich nicht sicher war, was genau es war. Eigentlich hatte er sehr freundlich gewirkt. Vielleicht war er einfach ein wenig zu freundlich gewesen.

Lauri ging zurück zum Belford-Anwesen und fing an, bei geschlossenen Plissees ihre Sachen zu packen. Sie packte warme Klamotten und feste Schuhe in einen großen Koffer und legte Strandkleidung darüber. Sie hatte vor, am Bahnhof kurz noch einmal den Koffer zu öffnen und so zu tun, als würde sie nachschauen, dass sie nichts vergessen hatte. Dabei würde ein eventueller Verfolger sehen, dass sie eher an den Strand als in ein Schneegebiet fuhr.

Als sie fertig war, ließ sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen. Glacey hüpfte zu ihr aufs Bett und kuschelte sich an sie.

„Wir machen eine Reise, Glacey“, flüsterte Laurie. „Wird dir gefallen. Es gibt dort sehr viel Schnee.“

Laurie wusste nie so recht, ob Glacey verstehen konnte, was sie sagte, aber wie zur Antwort fiepte das Glaziola fröhlich und kuschelte sich noch enger an sie.