Galerie der Gastbeiträge

Als ich früh morgens das Haus verließ und zur Garage ging, stolperte ich beinahe über die Leiche meines Nachbarn. In seiner Brust klaffte ein Einschussloch, das sein Blut über die Einfahrt und die Garagentür verteilt hatte – und jetzt klebte es auch an meinen Schuhen.

Ich fluchte. Nachdem er gestern seine Identität als verdeckter Ermittler offengelegt und ein Mitglied der Mafia an den Galgen gebracht hatte, war es absehbar gewesen, dass er die Nacht nicht überleben würde. Aber hätten sich diese Mafiosi nicht einen besseren Tatort aussuchen können als meine Garageneinfahrt?

Wie auch immer, solange die Spielleitung den Tod noch nicht öffentlich bekanntgegeben hatte, musste ich mich nicht näher damit beschäftigen und konnte mich wie geplant auf den Weg zur Wahl machen. Die Mühe, die Leiche zu melden sparte ich mir auch, schließlich wusste die Spielleitung mit Sicherheit schon Bescheid.

Für sie waren wir ohnehin ein offenes Buch. Sie kannte unsere Berufe, unsere Hobbys, unsere Aktivitäten, unsere dunkelsten Geheimnisse. Manchmal fühlte ich mich wie in einer Diktatur. Oft durfte man des Nachts nicht einmal mit anderen Menschen sprechen, geschweige denn das Haus verlassen – es sei denn, man hatte einen triftigen Grund und teilte der Spielleitung vorher ganz genau mit, wen man besuchen wollte und warum. Angeblich diente diese Ausgangssperre dem Schutz dieses Bereichs, aber ich hielt dies für einen Vorwand, um uns zu unterdrücken. So gefährlich konnte es hier wohl kaum sein, schließlich war ich noch am Leben, dachte ich und verfluchte diese Bereichsverräter im Geiste, während ich die Leiche aus dem Weg räumte, um Platz für mein Auto zu schaffen.

Vielleicht sollte ich doch in einen anderen Bereich umziehen. Die Bundesrepublik Bisaland hatte sicherlich noch mehr zu bieten als Überwachung und Freiheitseinschränkungen.

In der Garage zog ich meine Schuhe aus, um den Innenraum nicht mit Blut zu beschmutzen, dann stieg ich ins Auto und fuhr los in Richtung des Wettbewerbs-Bereichs im Norden, wo ich bald bei der Wahl zum Moderator des Jahres abstimmen würde.

Unterwegs gab es nicht viel zu sehen. Nur dieselben alten Bäume, manche mit Beeren bestückt, und derselbe alte Himmel. Wortwörtlich derselbe Himmel wie jeden Tag. Das Wolkenmuster, das sich vor dem blauen Himmel erstreckte und sich in dessen Verlauf mehrmals wiederholte als wäre es aus identischen Kacheln zusammengesetzt, kannte ich inzwischen schon besser als mein eigenes Gesicht. Selbst die beiden Tauboga, die zu meiner Linken und zu meiner Rechten vor den Bäumen vorbeiflogen, glichen sich wie Klone und bewegten sich völlig synchron.

Manchmal beschlich mich der Verdacht, dass meine Schwägerin mit ihrer Theorie Recht hatte, dass die Wolken über Bisaland nicht natürlich entstanden, sondern ihr Muster vor einiger Zeit von der Administration präzise so festgelegt worden war.

Nur meine eigenen Gedanken, die Musik aus dem Audio- und Video-Bereich und das ersehnte Schild am Rande der Autobahn, das mich im Bereich „Wettbewerbe und Aktionen“ willkommen hieß, lieferten mir Ablenkung auf meiner langweiligen Reise.

Schließlich erreichte ich endlich meine Zielstadt und dort ein kleines Gebäude, an dem ein Banner mit der Aufschrift „MdJ 2020 – Finale“ im Wind wehte.

Ich betrat das Wahllokal, grüßte die Wahlhelferin und reichte ihr stolz meinen Profilausweis, den ich vorgestern erst hatte neu drucken lassen. Sie bewunderte kurz mein neues Passbild, das ich bei einem Wettbewerb gewonnen hatte und das mein Lieblingspokémon zeigte, schmunzelte über das Wortspiel, das ich als Wohnort eingetragen hatte, dann gab sie mir den Ausweis zurück und teilte mir mit, dass ich wahlberechtigt war.

Ich setzte mich der Wahlhelferin gegenüber auf einen Stuhl und nahm mir einen Wahlzettel, einen Stift und eine Reißzwecke, womit ich meinen ausgefüllten Zettel schließlich zu den anderen an die Wand hängen würde. Während ich überlegte, wem der beiden Kandidaten ich meine Stimme geben sollte, schweiften meine Gedanken ab.

Warum musste ich meine Entscheidung eigentlich öffentlich machen? Wieso gab es keine geheime Wahl? War das nicht ein wichtiger Teil einer demokratischen Abstimmung? Und wieso stimmten wir Bürger nur dafür ab, welches der Regierungsmitglieder in der Moderation seine Arbeit am besten gemacht hatte, aber nicht dafür, wer in die Moderation kam?

Wer wählte unsere Regierung überhaupt? Das Volk war es jedenfalls nicht, wie man in einer Demokratie erwarten würde. Vermutlich wurde es in dem geheimen Moderations-Bereich entschieden, den wir gewöhnlichen Bürger nicht einmal auf einer Karte verzeichnet sahen, geschweige denn betreten durften. Keinerlei Informationen darüber, was dort besprochen wurde, gerieten nach draußen. Keine Spur von Transparenz. Angeblich wollten sie nur sogenanntes Leaking verhindern, aber ich befürchtete, dass sie in Wahrheit vermeiden wollten, dass ihre Korruption ans Licht kam und mit ihr die Verschwörungen, die sie im Geheimen planten – bestimmt wurde dort auch beschlossen, wie der Himmel auszusehen hatte.

Wie sollte ich eigentlich entscheiden, welchen der beiden Moderatoren ich besser fand, wenn ich nicht einmal wissen durfte, was sie hinter verschlossenen Türen alles ausheckten?

Vor Frust und Wut brach ich den Clip des Kugelschreibers ab.

Als ich aufstand, um den Stift zum Mülleimer zu bringen und mich bei der Wahlhelferin zu entschuldigen, erhaschte ich einen Blick auf ihren Profilausweis, der neben ihr auf dem Tisch lag.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die ganze Wahrheit hinter all den seltsamen Aspekten meines Heimatlandes, hinter unserer angeblichen Demokratie.

Unter ihrem Profilbild war ein Timerball-Symbol und daneben stand ihr Rang geschrieben:

„Bisaboard-Mitarbeiter“

Die bittere Wahrheit war, dass die „Bereichsrepublik Bisaland“ kein souveräner Staat war, kein demokratischer Zusammenschluss von Bundesbereichen.

Bisaland war eine Firma.

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