Hallo und herzlich willkommen zum Vote des Nostalgie-Wettbewerbs: Sei ein Bösewicht!
Beim Voting könnt ihr den einzelnen Abgaben zwischen 1 (nicht gut) und 10 (sehr gut) Punkte vergeben. Dabei sind auch halbe Punkte (wie 2.5) möglich. Wichtig ist dabei, dass ihr alle Abgaben bewertet. Da der Wettbewerb anonym ist, vergeben Teilnehmer:innen beim Voten Punkte an alle Abgaben - auch an die eigene. Diese werden bei der Auswertung nicht beachtet. Stattdessen erhalten Teilnehmende einen Punkteausgleich für ihre Unterstützung. Begründungen sind nicht verpflichtend, es sei denn, ihr wollt für euren Vote eine Medaille beantragen.
Sollten euch bei eurer Abgabe noch Fehler in der Formatierung auffallen, die aus dem Kopieren eurer Abgabe resultieren, dann benachrichtigt mich bitte. Ich bessere das nachträglich noch aus. Sollte eine Abgabe fehlen, so ist dies mir bitte ebenfalls zu melden.
Der Vote läuft bis zum Sonntag, den 6. Juni, um 23:59 Uhr.
Verwendet bitte folgende Schablone für den Vote:
Abgabe 01: xx/10
Abgabe 02: xx/10
Abgabe 03: xx/10
Abgabe 04: xx/10
Abgabe 05: xx/10
Abgabe 06: xx/10
Abgabe 07: xx/10
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Zitat von AufgabenstellungSei ein Bösewicht!
Wer kennt sie nicht, die Grausamen, die Verschlagenen, die Hinterlistigen. Die Bösewichte, welche Würze in die Geschichten bringen und dem Protagonisten das Leben schwer machen.
Eure Aufgabe ist es, eine kurze Erzählung aus der Sicht eines Bösewichts zu schreiben. Seien es die wohlbekannten Verbrecherteams wie Team Rocket oder zwielichtige Gestalten wie Obererkunder Zwirrfinst, Hauptsache, ein Bösewicht spielt die Hauptrolle.
Das Virus hatte viele Opfer gefordert, die nun aus der Stadt fortgetragen wurden.
Raphia und die anderen der Frostelfen, die es überlebt hatten, standen am Rand der Straße und sahen stumm und mit zusammen gepressten Lippen den Reitern dabei zu, wie sie Karren und Wagen hinter sich zogen. Jeder von ihnen war mit einem schwarzen Tuch bedeckt, das fast bis zum Rad herabhing.
„Zu viele … einfach zu viele …“, dachte sich Raphia im Stillen und mit ausdrucklosem Gesicht. Ihr Haar, dass so hell die Tagessonne gewesen war, hing nach den Tagen der Infektion nun schlaff und angegraut herab und ihre sonst schneeweiße Haut war immer noch von den Malen bedeckt, die die Krankheit ihr zugefügt hatten. Sie blickte von der Wagenkolonne weg und sah sich um. Stille Trauer, Wut und Unverständnis lag in den Gesichtern der anderen Frostelfen, die nicht weniger, einige sogar mehr, gezeichnet waren. Einige hatten tiefe Narben dort, wo ihr Körper von unschönen Flecken dicht bewachsen war und man sie entfernen musste. Und Raphia war sich sicher, dass diese Narben ein Leben lang verbleiben würden.
Frostelfen lebten über viele Jahrhunderte auf natürliche Weise und sie alterten nur langsam. Jahrhunderte lang hatte der Glaube bestanden, dass einen Frostelfen oder einer Frostelfe in seinem fast ewigen Leben nichts töten könnte, außer ein Schwert, das in die Brust gestoßen wurde. Nun wurden sie gegen ihren Willen eines Besseren belehrt. Dieses eine Virus hatte ausgereicht, um die Hälfte eines ganzen Volkes, dessen Stämme sich über einen ganzen Kontinent verteilten, auszulöschen. Die andere Hälfte würde auf ewig gezeichnet werden. Und die größte Ungerechtigkeit bestand darin, dass Frostelfen als das einzige Volk so schwerwiegend auf das Virus reagierten. Die anderen Völker, wie die der Menschen, bekamen, wie sie es nannten, nur eine kleine Grippe.
Bei den Gedanken verzog Raphia angewidert das Gesicht. Sie konnte das Gesicht des einen menschlichen Arztes, der ihre Stadt besucht hatte, nicht vergessen, als er festgestellt hatte, was das Virus beiden Völkern antat. Er hatte sein Lachen nicht gut verbergen können, als er den Frostelfen erklärt hatte, dass dieses Virus eher harmlos und leicht zu behandeln gewesen wäre. Doch sein Lächeln war so blitzartig verschwunden wie es gekommen war, als er dann gemerkt hatte, dass die menschliche Medizin keine Wirkung bei den Elfen gezeigt hatte. Am selben Tag noch hatte er seine Sachen gepackt und war sprichwörtlich aus der Stadt getürmt. Die Menschen hatten sich dann geweigert, weitere Hilfe den Frostelfen zukommen zu lassen, da sie doch noch selber eine größere Ansteckung befürchtet hatten. Gerade dann, als die Not der Elfen angesichts des Virus am größten gewesen war. Und wer von den Frostelfen dann darauf aus gewesen war, den Städten zu entfliehen, waren ohne Scheu mit Pfeilen und Lanzen durchstoßen wurden.
Die Menschen waren Feiglinge, allesamt Raphia Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Grimasse. Sie hatten stets von Nächstenliebe und Mitgefühl gepredigt, doch sobald es todernst geworden war, hatten sie sich aus Angst hinter Mauern, Schilden und Pfeilen verborgen. Sie hatten es trotz der falschen Wachsamkeit gemütlich, während in den Städten der Frostelfen die Hölle ausgebrochen war. Jeder Elf hatte den anderen attackiert, als dieser mehr an Nahrung für sich mitgenommen als er es benötigt hatte. Straßenkämpfe um Lebensmittel, Plünderungen und Raub waren zum Alltag geworden. Die Älteren hatten sich vergeblich darum bemüht, für Ordnung und Ruhe zu waren. Und einen anderen Weg als den der hohlen Worte hatten sie nicht gekannt.
Raphia hingegen hatte die Lösung gekannt. Während sie um ihr Überleben geröchelt hatte, war ihr dieser Gedanke immer wieder gekommen. Wozu waren Frostelfen Meister der Magie des Eises, wenn sie diese nicht nutzten? Auch wenn die Versuche, mittels dieser Magie ein Heilmittel zu finden, fehlgeschlagen waren, so hatte man doch viel zu schnell damit aufgegeben. Und die Magie hätten sie auf der anderen Seite dazu benutzen können, die Menschen aktiver um Hilfe zu bitten. Die Blockaden und Sperren hätte man leicht zur Seite räumen können. Die Menschen hätten erkannt, dass dieses Virus für sie doch nicht gefährlich war, was sie anfangs auch selbst gesagt hatten. Man hätte ihnen beibringen können, auf jede Art, keine Angst zu haben.
Doch Angst schien ihr Vater gehabt zu haben. Raphia Blick zuckte jäh zu dem Stadttor, wo ihr Vater auf einem Podest stand und auf die Vielzahl von Wagen hinabblickte. Dessen Anblick war seit dem Virus nicht mehr so graziös wie Raphia es von ihm gewohnt war. Seine einstmals scharfen Züge waren wie verschwommen und selbst aus der Entfernung konnte sie sehen, dass seine Augen dauerhaft tränenreich und dunkel umschattet waren. Als Raphia ihren Vater, der als Stadtmeister einen erbärmlichen Anblick darstellte, längere Zeit beobachtete, bebte sein Körper unregelmäßig. Waren es die Nachwirkungen des Virus‘ oder war er tatsächlich bestürzt gewesen, wie weit es nun gekommen war?
Raphia spürte, dass sie nicht die einzige war, die verstohlene und finstere Blicke zu ihrem Vater warfen, der nur auf die vorbeifahrenden Leichenwagen achtete. Und Raphia verstand deren Wut, sie fühlte sie wie ihre eigene. Für ihren Vater, der generell unbeliebt gewesen war, waren es nur namenlose Körper, die nach draußen zum Verbrennen gefahren wurden. Doch für Raphia sowie für viele andere ihrer Mitelfen verbargen sich die deformierten und toten Gestalten von Freunden, Gefährten, Partner und Unschuldiger unter den schwarzen Tüchern.
Ein klägliches Heulen hob ab und die Gesichter aller wandten sich nach rechts. Eine verhärmte Frau, deren Haar fast zur Gänze ausgefallen war, brach aus der Menge hervor und warf sich auf einen der letzten Wagen der Kolonne. Sie zerrte an festgebundenen Tüchern, schrie und kratzte gegen die Wachen, die zwar ihre Trauer teilten, dennoch Befehle folgen mussten,
„Nun lasst sie doch …“, dachte sich Raphia im Stillen und biss wütend die Zähne aufeinander, die daraufhin stark knirschten. Sie kannte die Frau, wobei es schwierig gewesen war, sie wieder zu erkennen. Einst hatte Carabelle langes seidenes weißes Haar, von dem nichts mehr zu sehen war. Sie war eine herzensgute Frostelfe und sehr schön gewesen. Ihr warmes Lächeln war jetzt für immer verschwunden und eine vor Trauer und Wut verzerrte Maske umspannte ihr nun knochiges Gesicht. Sie hatte ihre Tochter an das Virus verloren, mit der Raphia sehr gut befreundet war.
„Amora …“, dachte sie an ihre alte Freundin zurück und sie unterdrückte die Tränen.
„Wieso?! Wieso?! Nein!“, schrie Carabelle immer wieder und Raphia wusste, dass sie sich an jeden im Umfeld wandte. An ihre Mitelfen, an die Götter im Himmel, die sie verlassen hatten, und an Raphia Vater, diesen schwachen törichten Narren.
Abermals warf Raphia einen Blick auf ihren Vater, und je länger sie dem Wehklagen von Carabelle lauschte, stieg der Zorn in ihr hoch. Ihr Vater war schwach gewesen und hatte sich den Menschen ergeben. Statt auf sein Volk zu hören, das nach Hilfe förmlich geschrien hatte, und obwohl seine eigene Tochter dem Tod nur knapp entronnen war, hatte dieser schwache Narr den Menschen gegenüber klein beigegeben und die Isolation von außen zugelassen. „Dies ist der friedlichste Weg …“, hatte er naiv gesagt.
„Das Leben ist ungerecht, so wie es ist …“, hatte Raphia immer wieder gedacht, während das Virus in ihr gebrannt hatte. Und kein Elf oder keine Elfe hatte den Mut aufbringen können, dagegen was zu tun. Doch das würde nun ein Ende finden. Schicksale wie das von Carabelle, Amora und so vieler anderer sollten nie wieder passieren. Und als Raphia abermals einen Blick auf ihren Vater warf, stieg neben Hass auch Entschlossenheit in ihr auf.
„Der Alte muss fort …“, dachte sie sich.
„Wenn er zu schwach ist, muss er fort … er kann uns nicht länger führen …“. Als die Menge erneut aufheulte und klagte, blickte Raphia sich um. Auch sie sah nun die schwarze Rauchsäule aufsteigen. Und obwohl sie sich wünschte, dies nicht sehen zu müssen, zwang sie sich dazu, ihre Augen nicht abzuwenden. Je länger sie die Rauchsäule des Feuers außerhalb der Stadtmauern sehen würde, umso eher würde ihre Entschlossenheit entfacht werden.
Das Klagen der Menge echote in ihren Ohren auf das Hundertfache verstärkt wider. Und mit jedem Widerhallen gruben sich ihre Fingernägel tiefer in die Haut ihrer geballten Fäuste. Sie wandte sich um und durchschritt mit zügigen Schritten die Menge. Auf einmal war ihr Kopf seltsam klar und noch nie zuvor hatte sie ihren Weg so deutlich gesehen wie in dem Moment. Mit dem Feuer draußen und dem in ihr wurde jeder Schritt klar beleuchtet.
„Wir werden den Menschen denselben Terror lehren, den sie uns beigebracht haben. Wir werden uns nicht mehr kleinkriegen lassen!“
Sie blieb stehen und wandte sich um. Auch nachdem sie mehrere Schritte gegangen war, konnte sie die schwarze Rauchsäule deutlich sehen. Sie wusste augenblicklich, dass dieser Anblick sie ihr Leben lang in Erinnerung bleiben würde. Und vielleicht war das auch gut so … denn für ihr Vorhaben brauchte sie den Antrieb. Und diesen brauchte sie, um die Kraft aufzubringen, jeden aus dem Weg zu räumen, der sich den Frostelfen in den Weg stellt.
Mit dem Verbrennen der Leichen draußen vor der Stadt war der Funke für ihre Kriegserklärung entfacht.
Claude Frollo war wütend. Obwohl stets ein unleugbarer Choleriker in ihm schlummerte, spürte er nun die Wut unaufhaltsam in ihm aufkochen. Sie kochte so heiß wie einst das Feuer, welches er aus der Hölle heraufbeschworen hatte, als er die Gefühle nicht verstand, die er für das Zigeunermädchen Esmeralda zu hegen schien. Noch immer verstand er diese Gefühle nicht vollständig, wollte jedoch auch nicht mehr Gedanken daran verschwenden als nötig. Das einzige, was er wusste, war, dass er das Mädchen besitzen musste. Und wenn er es nicht konnte, dann sollte es niemand tun.
Aus diesem Grund war es völlig legitim, auf ihr aufmüpfiges Verhalten derart zu reagieren, sie von ihren irdischen Fesseln befreien zu wollen. Frollo war sich sicher, dass der Teufel sich nur einen menschlichen Körper gesucht hatte, um ihn, Frollo, zu betören. Daher konnte er das Angesicht dieser Hexe nicht länger ertragen und beschloss, sie zu töten. So sollte es besser sein für sie. Und für ihn. Und für die ketzerische Welt, in der er lebte.
Er hatte ihr noch eine letzte Chance geben wollen. Auch er war nur ein Mann; die Lust nach ihr erstarkte beinahe so heftig wie die allgegenwärtige Wut in ihm. Aber erneut hatte sie ihn abgelehnt, obwohl sie bereits gefesselt auf dem Scheiterhaufen um ihr Leben flehen sollte. Doch der letzte Funke Mut sollte ihr nichts nützen. Auch wenn der dumme Junge sie hatte befreien können, bevor das Feuer sie vollends verschlungen hatte, sollte sie an dem vielen Rauch erstickt sein. Frollo hatte Erleichterung verspürt. Eine Sünde weniger auf der Welt.
Er begab sich nach dem Spektakel auf die Suche nach dem Jungen. Er musste ihm noch eine Lektion erteilen. Man hatte seinem Ziehvater zu gehorchen. Einer Hexe zu helfen war gemeinhin eine Sünde, für die es zu bezahlen galt. Frollo zückte seinen Dolch und verschwand ins Innerste der großen französischen Kathedrale.
Als er die knarrende Tür zu einem kleinen Raum öffnete, empfing ihn ein Schwall verbrannten Geruchs. Er sah, wie die Hexe Esmeralda auf einer Pritsche niedergelegt worden war, leblos. Vor ihr kniete der Junge. Er schien zu weinen. Lächerlich. Mit dem Dolch hinter seinem Rücken schritt Frollo auf das Monstrum zu, welches er hatte aufziehen müssen. Nun war endlich seine Zeit gekommen und er konnte das tun, was er schon damals, als er die Mutter des Jungen tötete, hatte tun wollen. Er konnte diese entstellte Kreatur ebenfalls in die Hölle befördern.
Sacht legte er seine Hand auf den Buckel von Quasimodo. Sogleich ertönte die Stimme des Jungen, vorwurfsvoll, so, wie Frollo sie noch nie vernommen hatte. „Ihr habt sie getötet.“ „Es war meine Pflicht, so schrecklich es auch war.“, antwortete Frollo. „Ich hoffe, du kannst mir vergeben.“ Doch Frollo brauchte nicht die Vergebung eines missgestalteten Monsters. Er hatte sich bereits selbst vergeben. Und er war sich sicher, Gott vergab auch einem Mann, der die Welt von Sünden befreite. Wie er es auch nun tun würde.
„Mein armer Quasimodo, dein Schmerz ist groß. Doch die Zeit ist gekommen dein Leiden für immer zu beenden.“ Er erhob den Dolch und wollte ihn Quasimodo in den verformten Rücken rammen. Dieser schien jedoch den Schatten Frollos bemerkt zu haben, drehte sich um und versuchte mit Entsetzen, seinen Ziehvater abzuhalten. Er stöhnte verzweifelt, doch Frollo war nicht stark genug. Er kam nicht gegen die Muskeln an, die seit Jahren die mächtigen Glocken Notre Dames läuteten. Quasimodo stieß den Mann von sich, so dass dieser gegen eine Wand prallte und zu Boden sackte. Quasimodo wirkte seinerseits wütender, als Frollo es je vermutet hätte. Wer hätte gedacht, dass ein Monstrum so starke Emotionen fühlen konnte? Doch Quasimodo überraschte ihn – er griff den Dolch, baute sich vor Frollo auf und hob den Dolch in die Luft. Zum ersten Mal verspürte Frollo so etwas wie Angst – er konnte noch nicht sterben. Nicht, bevor er nicht die Welt von all den Sünden befreit hatte. Nicht durch die Hand des missratenen Glöckners. Frollo stammelte Worte, Entschuldigungen, die er nicht so meinte, Flehen, die ihm auf der Zunge brannten wie Säure. Quasimodo besaß einen schwachen Geist, er musste ihn nur brechen.
„Quasimodo, hör mir zu -“
„Nein, Du hörst mir zu! Mein ganzes Leben hast du mir nur erzählt, die Welt sei finster und grausam, aber nun weiß ich, dass finster und grausam nur Menschen wie Du sind!“ Frollo wich zurück. Auch wenn er die Worte hörte, die sein Ziehsohn ihm an den Kopf warf, war er doch nicht imstande, sie nachzuvollziehen. Besonders, als sich das Weib auf der Pritsche zu regen schien und Quasimodo den Dolch fallen ließ. Wie konnte sie noch am Leben sein? Wie konnte ihre verdorbene Seele noch immer in einem Raum mit der seinen verweilen? Und da war sie wieder – die unbändige Wut. Diese Wut ließ ihn sein Schwert zücken, während Quasimodo mit der Hexe auf dem Arm nach draußen lief. Weit konnten sie so nicht kommen. Frollo folgte ihnen. Der Wind wehte. Es roch noch immer nach Feuer.
Er blickte sich um, doch fand nur die steinernen Statuen der Kirche. Jedoch kannte er seinen Ziehsohn mittlerweile, ihn und seine Tricks. Er sah hinab an die Mauer der Kirche, wo Quasimodo mit Esmeralda auf den Schultern an einem Vorsprung hing. Frollo lachte, ein Gefühl der Macht stieg in ihm empor, als er mit dem Schwert nach den beiden schlug. Doch sie wichen aus, sprangen zum nächsten Vorsprung. Auch der nächste Schwerthieb traf nur auf Stein. Frollo verlor die Geduld.
„Ich hätte wissen müssen, dass du dein Leben für diese Zigeunerin opferst. Genau wie deine Mutter, die für dich gestorben ist.“ Sollte er seine letzten irdischen Minuten ruhig noch erfahren, weshalb Frollo sich seiner hatte annehmen müssen. Frollo ergötzte sich an dem Schock, der in Quasimodos Gesicht geschrieben stand.
„Nun kann ich das tun, worauf ich schon seit zwanzig Jahren warte!“ Frollo riss Quasimodo mit seinem Umhang von dem Sockel, auf den er sich gestellt hatte, so dass Quasimodo fiel. Nur noch am Umhang Frollos hängend, breitete sich unter ihm der Schlund der Hölle aus. Doch erneut vergaß Frollo, wie stark Quasimodo war. Seine Wucht riss den Priester ebenfalls in die Tiefe, so dass er nur durch Quasimodo davor bewahrt wurde, selbst in das Feuer zu stürzen, das sich unterhalb der Kathedrale ausgebreitet hatte. Frollo bemerkte trotz seiner Furcht, dass Esmeralda dem Jungen zur Hilfe eilte, ihn festhielt. Das war seine Chance, sowohl die Hexe als auch den lästigen Jungen ein für alle Mal loszuwerden. Er schwang sich hoch, hielt sich an den Steinen der Mauer fest, verstärkte den Griff um sein Schwert. Er kam auf einem kleinen Felsvorsprung zum Stehen, so dass er der verdorbenen Esmeralda, die verzweifelt den Jungen festzuhalten versuchte, in die vor Angst weit aufgerissenen Augen blicken konnte, als er boshaft lachend die letzte Predigt verkündete: „Und er befahl alle Sünder auszumerzen und sie in den feurigen Abgrund zu versenken!“ Die Worte waren ausgesprochen, Frollo musste sie nur noch vollstrecken. Doch in dem Moment knarrte der Stein unter seinen Füßen, er verlor das Gleichgewicht, sein Schwert schnellte bereits hinab in die Tiefe. Er konnte sich gerade noch so an den Steinen festhalten, doch sie brachen mit schrecklicher Gewissheit ab, bis auch Frollo sich bewusst wurde, dass sie ihn nicht halten würden. Ehe er hinabfiel, meinte er, in der steinernen Fratze etwas Lebendiges erblickt zu haben.
Er stürzte in die Tiefe, sich verzweifelt an die Steine klammernd, die ihn nicht mehr retten konnten. Niemand konnte ihn mehr retten. Weder Gott, noch er selbst. Er versuchte noch ein letztes Gebet zu sprechen, ehe er vom Feuer verschlungen wurde. Unwissend, dass seine letzten Worte zu Esmeralda das Gebet werden sollten, dass zu dem seinen wurde.
Giovanni saß in seinem riesigen Sessel und besah sich mit leichter Verwirrung die vor ihm sitzende Person. „Warte, wie nennt man dich?“
Das Mädchen war maximal sechzehn Jahre alt, trug ein Tanktop und hatte ihre Bob-Frisur knallgrün eingefärbt. Sie zeigte auf ihren Kopf: „Man nennt mich Kiwi. Wegen der Frisur, verstehst du?“
Giovanni nickte langsam. Seit er vor einigen Jahren gemeinsam mit dem Wissenschaftler Cyrus eine Möglichkeit gefunden hatte, in verschiedenste Parallelwelten zu reisen, war sein kriminelles Imperium nicht mehr nur auf seine Welt beschränkt. Täglich loteten seine Handlanger die Pokémon und Verbrecher-Genies verschiedenster Parallelerden aus und rekrutierten ambitionierte und amoralische Personen. Nachdem Giovannis Sohn, selbst ein stattlicher Trainer, Interesse am interdimensionalen Geschäftsmodell seines Vaters gezeigt hatte, war ihm die Aufgabe zugewiesen worden, Erde 248 zu untersuchen. Laut Giovannis Informationen war Erde 248 harmlos, was die dortigen Pokémon und Verbrecher-Organisationen betraf. Als sein Sohn von dort zurückgekommen war, hatte er tatsächlich jemanden rekrutiert, nämlich Kiwi, die hier vor ihm saß und angeblich das Gefährlichste war, was Erde 248 zu bieten hatte.
Giovanni hatte scheinbar zu lange geschwiegen, denn Kiwi hob wie in der Schule die Hand.
„Ja?“
Kiwi atmete tief ein: „Ich bin die Oberverbrecherin von Erde 248, wie ihr sie nennt. Ich bin gerissener als G-Cis und verrückter als Marc und Adrian zusammen. Ich hoffe also, dass ich eine wesentlich höhere Position als diese Trottel bekleiden werde.“
Giovanni hob beschwichtigend eine Hand: „Bevor wir eine Geschäftsbeziehung eingehen, muss ich erst einmal abschätzen, was du für Team Rainbow Rocket zu leisten bereit bist und wo deine Ambitionen liegen.“
Er setzte seinen besten Mafioso-Blick auf und sagte: „Ich kann nicht riskieren, dass du mir in den Rücken fällst.“
Kiwi grinste breit: „Ach, aber G-Cis, der seinen eigenen Sohn bei der ersten Gelegenheit verstößt, ist super-vertrauenswürdig oder was?“
„Nun, G-Cis ist ein... kalkuliertes Risiko.“
Giovanni nickte, wie um sich selbst zu überzeugen: „Bei G-Cis weiß man zu jedem Zeitpunkt, dass er die Machtübernahme plant, aber genau das macht ihn berechenbar.“
Kiwi nickte: „Okay, aber ich werde ihm trotzdem nie vergeben, wie er Natural behandelt hat.“
Bei der Erwähnung von Ns vollem Namen wurde Giovanni hellhörig. Dieser war, soweit er wusste, quasi unbekannt. Vielleicht war es auf Erde 248 anders? Giovanni setzte wieder an: „Du hast scheinbar ein gutes Informationsnetzwerk.“
Kiwi zuckte mit den Achseln: „Ich habe so meine Quellen.“
Sie zwinkerte Giovanni zu: „Aber die werde ich natürlich nicht so einfach preisgeben.“
Der Mann nickte. „Und welche Ambitionen hast du bisher auf Erde 248 verfolgt, Kiwi?“
Egal wie oft er den Namen aussprach, er wurde nicht weniger lächerlich.
Kiwi lehnte sich zurück und machte es sich auf ihrem eigenen Sessel bequem: „Sagen wir so, anders als Adrian und Marc habe ich keinen hirnrissigen Plan, der den Planeten unbewohnbar macht.“
Giovanni meinte: „Ja, die beiden sind sehr passioniert.“
Kiwi lachte überrascht auf: „Passioniert? Die zwei sind verrückte Spinner! Und die können sich doch überhaupt nicht leiden. Wie hast du die zusammen in einen Raum bekommen?“
Giovanni setzte einen überheblichen Gesichtsausdruck auf: „Ich habe sie von den Plänen Rainbow Rockets überzeugt. Sogar diese beiden mussten einsehen, dass es besser ist, sich mir anzuschließen, als gegen mich zu agieren.“
Kiwi machte ein beeindrucktes „Wow“.
Was Giovanni ihr verschwieg, war, dass Adrian und Marc von zwei verschiedenen Welten kamen und bisher nicht wussten, dass der jeweils andere ebenfalls Teil von Rainbow Rocket war. Giovanni überlegte seit Wochen, ob es nicht einfacher wäre, einfach irgendwie zu verhindern, dass sie überhaupt voneinander erfuhren, als sie zum Kooperieren zu bringen. Aber er erkannte auch, was für ein Spiel diese Kiwi spielte. Sie hatte bisher nichts über ihre eigenen Ambitionen verraten, sondern versuchte konstant, Giovanni abzulenken oder aus dem Konzept zu bringen. Doch in diesem Spiel war er selbst ein Meister. Er zog einen Hyperball aus seiner Jackentasche und legte ihn zwischen sich und Kiwi auf den Tisch. Er fragte „Du weißt, was ein Mewtu ist?“ Kiwi nickte aufgeregt: „Ja, der Genmutant. Erschaffen aus der DNA des prähistorischen Pokémon Mew. Eine chaotische Biowaffe.“
Giovanni antwortete: „Richtig. In diesem Hyperball ist ein Mewtu, welches meinen Befehlen gehorcht. Ich könnte ihm jederzeit befehlen, dich anzugreifen. Was würdest du tun?“
Kiwi starrte kurz erschreckt auf den Ball, aber begann dann zu grinsen. Statt, wie Giovanni gehofft, hatte, ihre eigenen Pokémon zu offenbaren, sagte sie: „In diesem Ball ist kein Mewtu. Und für was weniger Gefährliches habe ich keine Zeit.“
Jetzt wurde Giovanni doch langsam unsicher: „Woher weißt du das? Woher weißt du, dass in dem Hyperball kein Mewtu ist?“
Was für Fähigkeiten hatte diese Kiwi auf Erde 248 bloß erlangt?
Das Mädchen gähnte demonstrativ und sagte: „Ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass du Mewtu in einem Meisterball gefangen hast. Das hier ist kein Meisterball.“
Giovanni spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Diese Göre verfügte über geheimste Informationen. Tatsächlich hatte Giovanni den damals einzigen Protoypen des Meisterballs verwenden müssen, um sich das marodierende Mewtu Untertan zu machen. Giovanni ließ den Hyperball liegen und entschied sich für eine andere Vorgehensweise. Er lehnte sich jetzt auch demonstrativ bequem in seinen Sessel: „Ich verneige mich vor deinem Wissen, Kiwi. So etwas habe ich noch bei keinem anderen Menschen erlebt. Aber, stille doch bitte meine Neugier und verrate mir, welches Pokémon-Team du einsetzt.“
Kiwi wurde beim versöhnlichen Tonfall sichtbar etwas lockerer und ihre gespielte Entspanntheit wich einer echten: „Also, wenn du mich so liebenswürdig fragst, Giovanni.“
Sie zählte an ihren Fingern ab: „Ich habe eigentlich so ziemlich alle, die es in meiner Welt gibt. Die für dich spannendsten sind wohl Rayquaza, Celebi, Giratina, Schabelle,...“
Beim letzten Pokémon lehnte Giovanni sich vor: „Du besitzt eine Ultrabestie?“
Ultrabestien waren in einer Welt beheimatet, deren Ökosystem so rabiat war, dass es dort keine menschliche Zivilisation mehr gab. Die regulären Pokémon dort waren teilweise ähnlich stark wie Giovannis Mewtu. Das machte es aber auch absurd schwer, sie auf ihrer Heimatwelt zu fangen, ohne selbst überwältigt zu werden. Alle bisherigen Expeditionen von Rainbow Rocket dorthin waren gescheitert. Deswegen hatte Giovanni sich einen anderen Plan erdacht. Aber wenn dieses Mädchen hier wirklich eine Ultrabestie besaß...! Giovanni beschloss, reinen Tisch zu machen: „Zeig mir dein Schabelle und ich gebe dir sofort den Posten als meine rechte Hand. Wenn du möchtest, schmeiße ich sogar G-Cis raus.“
Kiwi lächelte erst, aber senkte dann nervös den Blick: „Das kann ich leider nicht.“
„Wieso? Sind die Pokémon noch auf Erde 248?“
„So ungefähr...“
Giovanni seufzte innerlich. Natürlich war es zu schön gewesen. „Wenn wir dich zu Erde 248 zurückbrächten, könntest du mir die Ultrabestie dann zeigen?“
Kiwi stotterte: „In meiner Welt gibt es keine echten Pokémon.“
Giovannis Stimme war nun eiskalt: „Was?“
Kiwi druckste herum: „In meiner Welt ist Pokémon ein Videospiel. Nichts echtes.“
Giovannis Gesichtszüge entgleisten. Er wusste, dass es nicht so viele Pokémon auf Erde 248 gab wie sonst wo, aber zumindest waren sie nicht unbekannt. Und dieses Mädchen hier hatte also überhaupt keine Pokémon? Keine Macht?“
Giovanni fragte: „Wieso glaubst du, dass du Team Rainbow Rocket von irgendeinem Nutzen sein könntest, Mädchen ohne Pokémon?“
Kiwi zitterte jetzt: „Ich... Ich will in einer Welt mit Pokémon leben! Du verstehst das nicht, wie es ist, sie nur in den Spielen zu sehen! Ich bin dort die totale Außenseiterin! Als ich deinen Sohn Silber auf der Straße gesehen habe, musste ich die Chance einfach ergreifen!“
„Das ist mir völlig egal. Ich werde dich zurückschicken in deine jämmerliche Welt. Dort kannst du dein Dasein fristen im Wissen, dass es Pokémon wirklich gibt, und, dass diese für dich unerreichbar sind!“
Kiwi wurde panisch: „Nein! Warte! Habt ihr schon den Angriff auf die Aether Foundation begonnen?“
Giovanni ließ seine sehr überzeugend gespielte Wut etwas abkühlen: „Noch nicht.“
Kiwi überschlug sich fast: „Weil dieser Angriff von einem Trainer, der dort erst vor kurzem Champ geworden ist, vereitelt werden wird. Sogar dein Mewtu wird dabei besiegt! Und ihr wollt doch mit der dortigen Technologie an die desorientierten Ultrabestien kommen, die in Alola gelandet sind.“
Innerlich grinste Giovanni. Dieses Mädchen mit seinem Wissen könnte ein unschätzbar nützliches Mitglied von Rainbow Rocket werden. Sie hatte die Motivation, alles für ihn zu tun, wenn er ihr dafür eine Welt mit echten Pokémon gab. Und sie kannte sogar künftige Ereignisse.
Kiwi merkte Giovannis positive Reaktion und fuhr fort: „Und von Endynalos und der Dynamax-Entwicklung weißt du auch noch nichts, oder? Ich könnte euch alles verraten!“
Jetzt grinste Giovanni zum ersten Mal aufrichtig. Er stupste den leeren Hyperball auf dem Tisch an und ließ ihn Kiwi in die Hände rollen. Diese fing ihn mit großen Augen auf. „Kiwi, du bist eingestellt. Willkommen bei Team Rainbow Rocket.“
„Wirklich?“
Giovanni nickte gönnerhaft: „Natürlich. Du hast die Informationsmacht. Dein erster Arbeitstag beginnt jetzt sofort. Und als ersten Schritt besorgen wir dir ein paar echte Pokémon zum Trainieren.“
Kiwi sah kurz aus, als ob sie Giovanni umarmen wollte, aber verkniff es sich dann. Ihre Augen glitzerten. Giovanni setzte sein ehrlichstes falsches Lächeln auf. In seinem Kopf wurden seine Pläne für Team Rainbow Rocket gerade noch einige Dimensionen ambitionierter.
An einem Tag entschied Lucas sich dazu, böse zu werden. Es war eine Entscheidung, die sich vielleicht schon seit einiger Zeit abgezeichnet hatte, doch er hatte sie immer wieder hinausgezögert, und nun war aber der Punkt erreicht, wo er dachte, dass es nur die angemessene Reaktion war auf eine Welt, die ihn betrogen hatte. Es mochte ein wenig klischeehaft klingen, doch Lucas fühlte sich seit Langem einsam – nicht unbedingt in romantischer Hinsicht, sondern allgemein – und hatte den Eindruck, nicht wirklich in seinem Leben weiterzukommen. Sein Literaturstudium machte ihm keinen rechten Spaß mehr, wie ihm auch seine Arbeit in einem Supermarkt nie wirklich Freude bereitet hatte.
Sein letzter Versuch zum Zwecke einer Verbesserung seines geistigen Wohlbefindens war die Suche nach einem Therapieplatz gewesen, doch nachdem er über mehrere Monate immer wieder verschiedene Fachleute angerufen hatte, bei dem ihm eine Hälfte sagte, es stünden gar keine Kapazitäten frei, ein Viertel ihn auf ein halbes Jahr vertröstet hatte und ein Viertel ihn zwar zu einem Erstgespräch einlud, an dessen Ende aber irgendwie stets immer stand, dass es nicht richtig zwischen ihnen passte, platzte ihm der Kragen.
Lucas war zu dem Schluss gekommen, dass irgendetwas mit dieser Welt fundamental falsch war und dass eigentlich etwas dagegen zu tun wäre – er vermutete aufgrund seiner eigenen Auseinandersetzung mit diversen Theorien, dass die Abschaffung des Kapitalismus und der Niedergang des Patriarchats schon Einiges beitragen könnten. Das Dumme war nur, dass er keine Ahnung hatte, wie diese hoch gesteckten Ziele umzusetzen wären, und so kam er zu dem Schluss, dass einfaches Chaos, als Signal des Umstandes, dass sich dringend etwas ändern müsse, schon das Richtige sein würde.
Das Böse, so sagte Lucas sich, war im Grunde ja definiert durch den Wunsch zur Destruktion; zugleich galt als „böse“ in der Regel das nicht in der Gesellschaft Akzeptierte, mithin also das, was dem ungerechtem Status Quo – mithin jener patriarchal-kapitalistischen Herrschaftsmoral, unter der er litt – zuwiderlaufen würde.
Dabei wollte Lucas aber Wert darauf legen, sich von gewissen anderen Personen seiner Demographie abzugrenzen: Sein Ziel war nicht unbedingt, Menschen zu schaden – er hasste eigentlich Gewalt – und erst recht hätte es keinen Sinn, auf Leuten herumzutrampeln, denen es genauso schlecht oder noch schlechter ging als ihm. Wenn er sich schon nicht in der Lage fühlte, etwas Konstruktives zu tun, so wollte er mit seiner Destruktion wenigstens diejenigen treffen, die es wirklich verdient hatten.
Als er also an einem Morgen in den Supermarkt ging, der nach dem heutigen Tag seine Arbeitsstelle nicht länger sein würde, nahm er sich eines der billigen kleinen Küchenmesser mit Plastikgriff, die verpackt in einem Regal hingen und ging zur Zentrale seines Chefs, einem überaus unfreundlichen Mann namens Braun, der ihn regelmäßig zur Schnecke machte und ihn gelegentlich mit anscheinend beleidigend gemeinten (es war schwer festzustellen, denn sie ergaben meist wenig Sinn) Spitznamen bedachte.
„Was wollen Sie, Knappmann?“, fragte Braun schlecht gelaunt, als Lucas in sein Büro trat, das Messer sorgsam hinter dem Rücken versteckt. „Sie sind übrigens wieder einmal fünf Minuten zu spät.“
„Weiß ich“, sagte Lucas, holte das Messer hervor und versuchte es aus der Verpackung zu entnehmen. Doch sie wollte nicht aufgehen. Es war eine dieser nervig stabilen Verpackungen aus relativ hartem Plastik. Lucas stieß einen innerlichen Fluch aus.
„Was soll denn das werden, wenn es fertig ist?“, fragte Braun mit leichter Verwirrung, aber auch verärgert.
Lucas riss die Verpackung mit den Zähnen auf und bekam endlich das Messer heraus. „Ich übernehme den Supermarkt“, sagte er, die Stimme kalt und nüchtern.
„Wohl kaum“, sagte Braun mit einem vor Ärger ein wenig geröteten Gesicht. „Gehen Sie gefälligst an die Arbeit, Sie Schmalspurspalierspast!“
Lucas hatte damit gerechnet, dass sein Chef einfach beim Anblick des Messers das Weite suchen würde, doch offenbar war dem nicht so. Er seufzte innerlich, trat auf seinen Chef zu, packte ihn vorne am Schlafittchen und hielt ihm die scharfe Klinge seiner kleinen Waffe an die Kehle, während er sich bemühte, ihn so bedrohlich wie möglich anzusehen.
„Ich sagte, ich übernehme jetzt den Supermarkt“, zischte er. „Alle sollen den Laden verlassen. Kunden, Angestellte, und ganz besonders Sie. Muss ich Sie erst abstechen, damit Sie es kapieren?“
Zu Lucas’ Befriedigung war das Gesicht seines Chefs nun bleich geworden, und er hatte offenbar Schwierigkeiten, Worte zu formulieren. „A-aber …“, stammelte er. „Was soll das denn überhaupt? Ich meine, wir können doch über alles …“
Lucas drückte die Klinge nur ein wenig in die Haut seines Chefs, der sofort verstummte.
„Ich will nur, dass alle aus diesem Laden verschwinden“, sagte Lucas ruhig. „Dann sehen wir weiter.“
Herr Braun zitterte sichtlich am ganzen Körper, ob nur vor Angst oder immer noch ein wenig vor Wut, war nicht genau auszumachen. Lucas ließ es zu, dass er die Druchsageanalage des Ladens bediente und die Durchsage machte, es gäbe einen Notfall und alle hätten den Laden zu verlassen.
Wenige Minuten später war Lucas in dem Laden alleine. Er hatte die Hintereingangstüren zum Lager mit Kisten blockiert, doch in der Zwischenzeit hatte es sich wohl rumgesprochen, dass ein Wahnsinniger im Laden zugange war, denn auch wenn sich niemand zu ihm hineinwagte, so versammelten sich doch bereits mehrere Menschen draußen vor dem Supermarkt und blickten ihn durch die automatischen Schiebeglastüren mit einer Mischung aus Verwirrung, Neugierde, Angst an, wenn sie denn einmal einen Blick auf ihn erhaschen konnten, denn er war bereits dabei, die nächsten Schritte vorzubereiten.
Es fühlte sich für Lucas ein wenig seltsam an, wie ihm in dieser Situation die Ideen kamen. Er war sich noch nicht sicher, wo all das hier hinführen würde – am Schluss sicherlich ins Gefängnis, aber davor gab es noch die Gelegenheit, den Tag unterhaltsam zu gestalten.
Nach einiger Zeit – es mochten wohl zehn Minuten gewesen sein, seit er den Laden hatte evakuieren lassen – betraten zwei Polizisten den Laden und Lucas versteckte sich rasch zwischen den Regalen. Sie hatten ihre Waffen gezückt, was durchaus eine Bedrohung darstellte.
Als sie jedoch in einen der Regalgänge bogen, rutschten sie auf der Schmierseife aus, die Lucas wohlweislich auf dem Boden verteilt hatte. Im nächsten Moment war Lucas – der sich zum besseren Halt Schmirgelpapier mit Tesafilm unter die Schuhe geklebt hatte – bei ihnen und verrieb eine Handvoll extrascharfen Chilipulvers im Gesicht eines der überraschten Beamten, der sich sogleich schreiend ins Gesicht fasste und die Augen rieb, während sein Kollege einen Strahl Deodorants in selbige bekam und darauffolgend eine ähnliche Reaktion zeigte. Ein paar Schläge mit einer großen Dose Kidneybohnen knockten die Beamten endgültig aus, und nun sah Lucas sich mit der etwas anstrengenden Aufgabe konfrontiert, sie zum Eingang zu schleifen, wo sie von den Schaulustigen geborgen werden konnte. Er kreidete es sich selbst als Versagen an, dass es nicht ganz ohne Gewalt gegangen war.
Diese Sache hatte Lucas ein wenig angestrengt, und er genehmigte sich ein paar Schlücke Cola, um sich zu erfrischen, bevor er ein wenig Schokolade aß. Anschließend war ihm ein wenig schlecht.
Es dauerte nicht lange, bis die nächste Welle kam, diesmal offenbar in deutlich größerer Zahl und zudem wesentlich besser ausgerüstet. Lucas machte sich keine Illusionen, dass er – ein einfacher Literaturstudent – es mit einem tatsächlichen Einsatzkommando aufnehmen konnte. Er koppelte sein Handy mit der Musikanalage des Ladens und ließ Mozarts Requiem in Dauerschleife spielen, sodass er zumindest ein bisschen musikalische Untermalung hatte, als er schließlich von behelmten Leuten zu Boden gerungen und seine Arme ihm schmerzhaft auf den Rücken gedreht wurde. Als er abgeführt wurde, bemühte er sich für die Kameras um ein breites Lächeln, auch wenn es dank der groben Behandlung durch die Einsatzkräfte wohl eher bei einer schmerzverzerrten Grimasse blieb.
Er wurde ein paar Mal von verschiedenen Leuten – Polizisten, einer Gutachterin, seinem Anwalt und der Richterin – gefragt, warum er das getan hatte, aber er war stumm geblieben und hatte im Zweifelsfall einfach gelacht. Nicht, weil er es nicht hätte erklären können, sondern vielmehr, weil er ein wenig fürchtete, dass er, wenn er seine Gründe angab, man ihm die offensichtliche Folgefrage stellen würde, warum er, statt einen Supermarkt zu verwüsten, nicht einfach versucht hatte, aktiv etwas an den Umständen zu ändern, die ihn so belastet hatten. Die Antwort darauf kannte er, doch er schämte sich ein wenig, sie einzugestehen.
„Warum also?“, wurde er schließlich erneut gefragt, diesmal von einer Frau aus der psychiatrischen Anstalt, bei der er regelmäßig eine Sitzung hatte.
Lucas seufzte, sah aus dem Fenster in das goldene Licht einer untergehenden Sonne und auf die grünen Baumwipfel, die darin glänzten. „Weil es der leichtere Weg war.“
„Es gibt ein Problem, Boss! Die Energie hat die Wände des Reaktors durchbrochen! Die Fusion gerät außer Kontrolle!“
Durch die Lautsprecher des Smart-Rotoms hörte man ein dumpfes Knacken. Chairman Rose hastete durch das riesige Eingangstor des Claw-Stadions und betrat den Aufzug, das Gerät fest an sein rechtes Ohr gepresst. Im Hintergund hörte er aufgebrachte Stimmen durcheinanderreden und ein nervenaufreibendes schrilles Alarmsignal ertönte im Sekundentakt.
„Verstärkt die Wände des Hangars! Die Energie darf auf keinen Fall nach außen gelangen!“, befahl er. Die Aufzugtür öffnete sich und Rose eilte durch einen weiten Flur bis zum Eingang des Laborraumes. Eine bedrohliche Hitze schlug ihm entgegen und der scharfe Geruch von verbranntem Kunststoff stach ihm in die Nase.
Der Reaktor inmitten der großen Halle gab ein rötliches Glühen von sich. Offensichtlich waren die Sicherungen überlastet worden. Rose versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Schon gestern hatten seine Angestellten mehrfach davon berichtet, dass der durch die Fusion erzeugte Energielevel stark schwankte und hatten ihre Bedenken geäußert, dass die Reaktorwände diesen enormen Druckunterschieden nicht standhalten würden. Doch da war es bereits zu spät gewesen, das Experiment noch abzubrechen.
Während Rose den Mitarbeitern Anweisungen gab, die Kühlungssysteme auf Hochbetrieb zu stellen und den Hangar abzusichern, behielt er die Anzeigebildschirme der Messgeräte stets im Blick, aber die Energiewerte stiegen immer noch rasant an. Mit einem weiteren Knacken bildete sich ein neuer Riss in der Reaktorschale. Es blieb ihnen kaum noch Zeit. In wenigen Minuten würde der Kolben explodieren und die Dynamax-Energie freigeben – beziehungsweise das, was daraus enstanden war…
„Sofortige Evakuierung des Stadions!“, brüllte Rose über den Lärm der Rettungsmaßnahmen hinweg. Er selbst wartete, bis der letzte Angestellte den Raum verlassen hatte. Bevor er ihnen folgte, warf er noch einen schnellen Blick zurück auf den Reaktor, der jetzt hell erstrahlte wie eine künstliche Sonne und ebenso starke Hitze aussonderte. Er hatte es geahnt.
Keine Sekunde zu früh erreichte Rose den Ausgang des Claw-Stadions. Der Aufzug hatte sich wegen der extremen Energieüberladung nicht mehr bedienen lassen und das gesamte Forschungsteam hatte sich über die Feuertreppe in Sicherheit bringen müssen. Eine gewaltige Explosion erschütterte die Mauern des Schlosses und ließ sogar das Straßenpflaster erbeben. Blendende violette Lichtsäulen schossen aus dem zerstörten Dach des Stadions in den Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Kreischen. Ein riesiges, drachenartiges Monster materialisierte sich aus einem der Energiestrahlen und schwebte wie eine unheilbringende Gewitterwolke am grauenden Morgenhimmel.
Endynalos war entkommen.
Wie ein Ertrinkender nach Luft schnappend schreckte Rose aus seinem Albtraum. Sofort saß er kerzengerade im Bett und starrte panisch in die Dunkelheit seines Schlafzimmers. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass er sich nicht in Claw City befand. Rose lehnte sich zurück und legte eine Hand auf sein wild pochendes Herz.
Nach einer Weile beruhigte sich sein Puls und die furchterregenden Traumbilder verblassten langsam vor seinen Augen, doch die unangenehme, lauernde Angst, die ihn seit Wochen quälte, ließ sich nicht so leicht vertreiben. Rose warf einen Blick auf die fluoreszierende Anzeige seines Weckers. Die Zeiger deuteten auf Viertel vor fünf. Eigentlich zu früh zum Aufstehen, aber es lohnte sich wohl auch nicht mehr, noch einmal Schlaf zu suchen. Er konnte genauso gut vor seiner Arbeit im Büro beim Energiewerk vorbeischauen und sich selbst davon überzeugen, dass alles nach Plan lief und seine Befürchtungen unbegründet waren.
Schon seit seiner Kindheit war Rose immer von Energie fasziniert gewesen. Energie war die Grundlage für das Leben, die Voraussetzung für Fortschritt und Wachstum. Und im Gegenzug würde ohne Energie alles zugrunde gehen. Als Präsident von Macro Cosmos war es seine Aufgabe, die Energieversorgung der gesamten Galar-Region langfristig sicherzustellen, und aus genau diesem Grund plagten ihn seit Wochen Albträume.
Vor vielen Jahren war Rose noch ein unbedeutender, aber ehrgeiziger Arbeiter in den Minen von Galar gewesen, wo die Kohle abgebaut wurde, die als Rohstoff für die Energiegewinnung unerlässlich war. Im Laufe der Zeit hatte er sich immer weiter hochgearbeitet, war aus den unterirdischen Höhlen in das Büro eines Hochhauses umgezogen und hatte schließlich sogar die ganze Firma übernommen. Seine Zielstrebigkeit und sein Pragmatismus hatten die Vorstände überzeugen können. Mittlerweile war Macro Cosmos ein riesiger Unternehmenskomplex geworden, der sich in vielen Gebieten zum Monopol entwickelt hatte. Somit koordinierte Rose eine große Zahl von Tochterfirmen, trug jedoch gleichzeitig auch eine enorme Verantwortung. Solange der Konzern fluorierte, war die Vernetzung der verschiedenen Lebensbereiche ein unbestreitbarer Vorteil. Doch wenn Macro Cosmos eines Tages insolvent gehen würde… Nicht auszudenken, welche Folgen dies für die gesamte Galar-Region hätte.
Da die Energiegewinnung nach wie vor das Steckenponita des Unternehmens darstellte, und weil Rose trotz einschneidender Wendungen seiner Karriere immer noch eine Leidenschaft dafür hegte, beschäftigten ihn die derzeitigen Probleme dieses Sektor der Firma besonders. Neuesten Untersuchungen zufolge sollten die Kohlevorräte in den Galar-Minen viel eher erschöpft sein, als es frühere Forschungen behauptet hatten. So viel eher, dass sein geliebtes Unternehmen schon bald in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnte. Eine wirksame Alternative zu Kohle gab es nicht, jegliche Projekte zur Entwicklung neuer Energiegewinnungsmethoden waren noch zu jung und würden aller Voraussicht nach nicht rechtzeitig einsetzbar sein.
Rose wusste, es war seine Pflicht, Macro Cosmos nach bestem Gewissen zu leiten, sowie die Bewohner von Galar zu schützen und zu versorgen. Also hatte er einen Weg finden müssen, den drohenden Konkurs seiner Firma unter allen Umständen abzuwenden. Und seine Nachforschungen hatten ihn schließlich zu diesem Experiment geführt.
Laut uralter Überlieferungen gab es einst ein Wesen in dieser Region, welches eine nahezu unerschöpfliche Menge an Energie erzeugen konnte. Man bezeichnete es damals als „Finstre Nacht“, da es beinahe ganz Galar mit dieser Energie ausgelöscht hätte. Aber unter den richtigen Bedingungen könnte die Kreatur als langfristige und zuverlässige Energiequelle alle Probleme von Macro Cosmos lösen. Mehr noch, wenn Rose es tatsächlich vollbrachte, ein solches legendäres Pokémon zu finden und zu kontrollieren, würde er als Held gefeiert werden, so wie die beiden Brüder aus den Sagen, die damals die „Finstre Nacht“ bezwungen haben sollen. Beflügelt von diesen Vorstellungen hatte Rose seine Untergebenen mit der Vorbereitung des Experiments zu beginnen, mit dem er Endynalos erwecken wollte.
Dennoch ließen ihn die Zweifel nie wirklich los. Das Projekt barg trotz sorgfältiger Planung ein enormes Risiko. Mit der Entscheidung, die gesammelten Wunschsterne zu fusionieren, würde er Galar in unfassbare Gefahr bringen. Falls es ihm nicht gelang, das Pokémon unter seiner Kontrolle zu halten, könnte es das Ende der Region bedeuten. Aus diesem Grund hatte er jeden einzelnen Schritt des Experiments mehrfach untersucht, um auf alle möglichen Ereignisse genauestens vorbereitet zu sein. Der Plan war perfekt, eigentlich konnte gar nichts schiefgehen. Und doch stellte sein Gewissen den Entschluss immer noch in Frage. Auch während seiner morgendlichenTaxi-Fahrt zum Energiewerk grübelte er erneut, ob er tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Aber letztendlich hatte Rose gar keine Wahl. Wenn er nicht handelte, würde die Region wirtschaftlich zugrunde gehen, und er selbst wäre dafür verantwortlich. Er musste das Risiko eingehen, die Chancen waren einfach zu vielversprechend. Wie man es auch drehte, am Schluss würde er wohl der Bösewicht sein, aber so hatte er wenigstens die Möglichkeit, seine Versäumnisse aus der Vergangenheit wieder gut zu machen.
Vor zwei Tagen hatte das Experiment begonnen, und anfangs war alles exakt nach Plan verlaufen. Gestern hatten ihn einige seiner Angestellten darüber informiert, dass die Energiewerte der bereits einsetzenden Fusion stark schwankten, doch das war kein Grund zur Besorgnis. Alle Messungen befanden sich noch im normalen Bereich. Rose hatte die Arbeiter beruhigt und ihnen versichert, dass der Reaktor äußerst widerstandsfähig konzipiert worden war. Seine eigenen Zweifel überspielte er dabei gekonnt – das hatte er sich in seiner Zeit als Präsident angeeignet. Es brachte ohnehin nichts, sich zu viele Sorgen zu machen.
Rose stieg aus dem Taxi, das ihn bis vor das Tor des Claw-Stadions gefahren hatte, als sein Smart-Rotom klingelte. Verwundert zog er es hervor. Normalerweise hatte er seinen Angestellten eingeschärft, dass er nicht vor sechs Uhr zu erreichen war, und jetzt war es gerade mal halb. Mit einem unwohlen Gefühl im Magen nahm er den Anruf entgegen, während er auf den Eingang des Energiewerkes zueilte. Die Stimme eines Arbeiters ertönte, und die Panik in seiner Stimme jagte Rose einen eisigen Schauer über den Rücken.
„Es gibt ein Problem, Boss! Die Energie hat die Wände des Reaktors durchbrochen! Die Fusion gerät außer Kontrolle!“
Carla stand versteckt hinter einem Baum bei der Trainerschule und wartete darauf, dass die Pause begann und sie den Kindern eine wertvolle Lektion fürs Leben erteilen konnte.
Wann immer sie hinter dem Baum hervorlugte, um das Geschehen bei der Schule zu beobachten, stieg Wut in ihr auf.
Gerade standen sich auf dem Schulhof ein rothaariges Mädchen und ein Junge mit einer Brille gegenüber, zwischen ihnen ein Evoli und ein Pichu. Das Evoli des Mädchens war ein trauriger Anblick. Sein Fell war angesengt von zahlreichen Stromschlägen, seine Bewegungen waren zittrig und schleppend. Im Hintergrund gestikulierte eine Lehrerin, sicherlich erklärte sie den Kindern gerade die Paralyse. Doch anstatt dass man dem armen Pokémon eine Pause oder eine Amrena-Beere gönnte, wurde es gezwungen, mit letzter Kraft weiter auf das Pichu des Jungen einzuschlagen. Carla fühlte den Schmerz des Evoli, als es in ständigem Kampf gegen seine eigene Muskulatur zu Pichu humpelte, nur damit dieses sofort auswich und es mit einem erneuten Donnerschock traktierte.
Das konnte sie nicht länger ertragen. Sie wandte sich entsetzt ab. Wie konnte man ein so schönes und gutmütiges Wesen wie Evoli nur derart quälen? In Gefangenschaft zu leben und in den wenigen Momenten an der frischen Luft zu brutalen Kämpfen gezwungen zu werden und über alle Warnsignale des Körpers hinweg Befehle befolgen zu müssen bis zur Bewusstlosigkeit, für einen Menschen wie Carla war dies ein schreckliches Albtraumszenario, doch genau das war der Alltag so vieler Pokémon und diese ekelhafte Gesellschaft indoktrinierte schon die Jüngsten und Unschuldigsten, diese widerliche Ausbeutung für Normalität zu halten.
Carla ballte die Fäuste so fest, dass ihre Fingernägel sich in die Handflächen bohrten. Zu gern würde sie auf den Schulhof rennen, die Lehrerin zusammenschlagen, die Kinder anschreien und das arme Evoli gesund pflegen. Doch sie wusste, dass sie dann auch nicht besser wäre als diese sogenannten Trainer. Sie musste einschreiten, aber ohne rohe Gewalt.
Der Kampfplatz auf dem Schulhof war nun leer. Ein paar Kinder verließen die Schule und gingen in Richtung Innenstadt, vermutlich, um sich Mittagessen zu kaufen.
Die Zeit war gekommen für eine richtige Lektion.
Carla setzte die hellblaue Kapuze ab und kramte einen langen, weiten Mantel aus dem Rucksack, der den Großteil ihrer Uniform verdeckte. Wenn sie jemand in der Schule bemerkte, sollte sie schließlich nicht auf dem ersten Blick als Rüpelin erkennbar sein.
Dies war Carlas erster Besuch in einer Trainerschule, hatte sie sich doch damals als Kind vehement geweigert, eine Trainern zu werden. Von innen sah das Gebäude fast so aus wie eine gewöhnliche Schule. Der Gang war mit Postern und Topfpflanzen dekoriert und führte an zahlreichen nummerierten Türen vorbei. Nur die Motive mancher Poster, beispielsweise Arenaleiter, ließen auf das Grauen schließen, das hier unterrichtet wurde.
In der Ferne, am Ende des Ganges, stand eine kleine Gruppe von Kindern. Carla wollte ihnen ungern noch näher kommen, sonst würden sie noch erkennen, dass sie nicht hierher gehörte, also betrat sie geschwind das Klassenzimmer mit der Nummer 014, das sie zu ihrer Erleichterung wie geplant menschenleer vorfand.
Das Tafelbild war überschrieben mit “Paralyse”. Darunter befanden sich stichpunktartig vor allem Tipps, wie sich dieser Zustand strategisch im erzwungenen Kampf einsetzen ließ, zum Beispiel “wenn das gegnerische Pokémon zu schnell ist, lohnt es sich, es zu paralysieren” oder “Ruckzuckhieb ist immer noch schnell”.
Angewidert lief Carla zum Waschbecken, griff sich den Schwamm und schrubbte aggressiv die scheußlichen Unterrichtsinhalte weg. Dann nahm sie ein Stück Kreide und schrieb stattdessen wahrere Botschaften wie “Kämpfe sind Pokémon-Quälerei”, “Freiheit für Pokémon” und “Pokémon sind keine Kampfmaschinen, sie sind fühlende Lebewesen”, wobei ihr vor Wut die Kreide zerbrach. Mit einem neuen Stück ergänzte sie das verbesserte Tafelbild noch mit dem Logo von Team Plasma.
Anschließend nahm sie sich die Tische und Sitzplätze vor. Manche Kinder hatten ihre Taschen in der Pause hier gelassen, sodass Carla Quälwerkzeuge wie Pokébälle daraus entfernen konnte. Sie durchwühlte die Schulranzen nach allem, das mit Pokémon-Kämpfen zusammenhing, und stopfte die Gegenstände in ihren eigenen Rucksack.
Dabei blieb ihr Blick an einer Zeichnung auf einem der Tische hängen. Es war offensichtlich das Werk eines Kindes, doch erkennbar war, dass dort ein rothaariges Mädchen neben einem Evoli abgebildet war, beide lächelnd. “Mein bester Freund Voli” war in unsauberen Großbuchstaben darüber geschrieben. Hatte das das Mädchen vom Schulhof gezeichnet? Offensichtlich hatte sie ihr Herz am rechten Fleck, doch die Gesellschaft hatte ihr ein völlig falsches Bild von Freundschaft vermittelt. Wie gut, dass Carla nun hier war.
In der Tasche des Mädchens fand sie einen bereits gebrauchten Pokéball. War darin etwa das arme Evoli, das auf dem Hof von Pichu malträtiert worden war? Ein Lächeln huschte über Carlas Gesicht. Wenigstens würde das Leid des Pokémon nun ein Ende haben.
Das war eine gute Gelegenheit, die Befreiungsmission zu beenden. Carla durfte auf keinen Fall riskieren, dass sie noch erwischt wurde und Evoli wieder in sein altes, tragisches Leben zurückgeführt wurde. Außerdem war ihr Rucksack nun fast zum Bersten gefüllt mit allerlei Pokébällen und anderen Gegenständen.
Carla eilte aus der Schule heraus, gerade noch rechtzeitig, bevor ein Schwall von Kindern aus der Pause zurückkehrte, und rannte in ein benachbartes Waldstück.
Die Ausbeute war gut. Die Tränke und Beleber konnten bei der Rettung verletzter Pokémon eingesetzt werden, die Flinkklaue und der King-Stein an wilde Pokémon verschenkt, die unbenutzten Pokébälle und X-Items würde sie später mit anderen Mitgliedern des Teams umweltfreundlich entsorgen. Einige von den Kindern gefangen gehaltene Pokémon hatte sie bereits aufgepäppelt und in die Freiheit entlassen.
Nun war endlich das arme gequälte Evoli an der Reihe. Als Carla den Pokéball öffnete, erschien es vor ihr auf dem Boden kauernd und blickte sie verwirrt an. Die Paralyse und die Kampfverletzungen waren so weit fortgeschritten, dass es nicht einmal mehr aufstehen konnte.
“Armes Ding. Aber bald hast du es überstanden”, sagte Carla. Der Anblick erfüllte sie mit Schmerz, doch es war keine Zeit für Mitleid, stattdessen musste sie dem Pokémon helfen. Sie nahm einen der erbeuteten Para-Heiler und sprühte Evoli damit ein. Sofort blühte das verletzte Pokémon förmlich auf, es sprang auf, sah sich hektisch um, beschnupperte seine Umgebung. So erleichtert wie Evoli war auch Carla selbst. Gab es ein besseres Gefühl, als einem Pokémon in Not zu helfen?
Evolis Ruf klang fragend. Vielleicht wollte es gerade denselben Gedanken äußern. Wie auch immer, die Zeit seiner Freiheit war gekommen.
In der linken Hand hielt Carla einen Trank, womit sie die restlichen Verletzungen heilen wollte, mit der rechten Hand tätschelte sie liebevoll den Kopf des Pokémon. “Gleich hast du es geschafft. Gleich bist du frei.”
Plötzlich wandte Evoli sich von ihr ab, entriss sich ihrem Griff und lief los, weg von ihr.
“Warte! Du bist noch nicht geheilt!”, rief Carla dem Pokémon hinterher, doch es half nichts. Evoli rannte schnurstracks weiter geradeaus. Carla verfolgte es mit aller Kraft, kämpfte gegen den Schweiß und die immer schwerer werdende Atmung, doch Evoli war schneller, vergrößerte den Abstand zwischen ihnen, eilte hinaus aus dem Waldstück, in die Richtung der Trainerschule.
Dort sprang Evoli überglücklich einem weinenden rothaarigen Mädchen direkt in die Arme.
Hallo. Ich bin anders. Schon seit klein auf. Während meine Spielkamerad*innen im Kindergarten alle gerne die Welt gerettet hätten, nutzte ich das Chaos um mir selbst was gutes zu tun. Alle wollten später einmal zur Polizei oder bei der Feuerwehr arbeiten, manche Sandkastenfreund*innen gar träumten sogar von einem Leben als Superheld*in, doch ich wusste schon immer, dass die “bösen Buben” viel wichtiger für unsere Gesellschaft waren. Ist ja eigentlich logisch. Die Polizei wäre ohne uns finsteren Gestalten ja praktisch arbeitslos. Man wurde nur als Held bezeichnet, wenn man einen Bösewicht hinter Gitter bringen konnte und deshalb braucht es Ganoven wie mich. Ohne uns Abschaum seid ihr “Retter der Welten” nichts. Gar nichts. Nun aber zu meiner Kindheit:
Mein Leben entstand durch das typische Klischee. Zwei junge Menschen lernten sich auf einer Silvesterparty kennen und 9 Monate später kam dann der wahre Knüller. Mein Vater wollte nichts von mir wissen. Nicht schlimm. Ich war ohnehin ab meinem 5. Lebensjahr alleine, da ausgerechnet an meinem Geburtstag ein Trunkenbold dachte, er könnte mit seinem Sportschlitten 130 km/h innerorts fahren. Er rammte einen Wagen. Unseren Wagen. Meine Mutter starb nach dem Aufprall doch “wie durch ein Wunder”, und ja so schrieben es die Zeitungen, "überlebte der kleine 5 jährige Junge". Das war ich. “Ein Engel wachte über mich” schrieb einer der Boulevard-Zeitschriften. Doch ich glaubte eher, es war der Teufel, der mich noch ein bisschen auf Erden leiden sehen wollte. Ich kam ins Heim, wurde zum klassischen aggressiven Schläger während meiner Jugend und später galt ich als einer der vielen Kleinverbrecher der Stadt.
Für meine Vergehen wurde ich nie groß bestraft, man stellte mir lediglich hin und wieder einen Betreuer zur Seite. Soll ich euch was verraten? Mein Leben war klasse. Ich brauchte kein Geld, alles, was ich benötigte, nahm ich mir einfach, da es ohnehin für mich keine ernstzunehmenden Konsequenzen gab. Wenn ich wenn nicht mochte, musste ich meinen Frust nicht runterspielen sondern konnte die Person einfach verprügeln.
An einem gewöhnlichen Tag im Supermarkt, passierte es dann: Eine Mutter vor mir an der Kasse hat ihren Geldbeutel im Auto vergessen und wollte den “nur schnell holen”, doch ich war damit nicht einverstanden, warf ihren Einkauf auf den Boden. Ich war dran. Der Kassierer kannte mich und wusste, er hatte zu gehorchen. Alle Menschen gehorchen mir, weil Schurken sowas wie Könige sind und einem König widerspricht man nicht. Die Mutter blieb wie angewurzelt stehen weshalb ich sie gerade zur Seite stoßen wollte als sich ihr Sohn mir in den Weg stellte und meinte, dass “wahre Helden die Armen und Schwachen schützen müssen”. Das erste Mal seit langem war ich beeindruckt von einer Person, packte den Jungen aber dennoch am Nacken und warf in draußen auf den Parkplätzen zu Boden. Wie zu erwarten war, folgten mir viele der Kund*innen und auch die Mutter nach draußen. Nicht um einzugreifen, nein, das wusste ich. Nein, sie wollten mit eigenen Augen sehen, wie ich den kleinen Jungen fertig machen würde. Ich wandte mich an die Mutter und meinte, entweder sie oder ihr Sohn würde heute im Krankenhaus landen, sie solle sich melden, wenn ich den Kleinen verschonen sollte. Sie schwieg. Ich fragte in die Runde, um sicher zu gehen, ob nicht wenigstens einer der Schaulustigen etwas Mumm in den Knochen hatte, um die Bürde des Jungen auf sich zu nehmen. Alle schwiegen. Als letztes fragte ich den Jungen, wenn ich fertig machen sollte: Ihn, seine Mutter die sich nicht für ihn einsetzen wollte oder einen der hier anwesenden Leuten. Der Junge fragte daraufhin, ob ich wirklich nur eine einzige Person verhauen würde. “Ja, heute landet nur eine Person im Krankenhaus”, antwortete ich ihm. “Dann nimm mich und lass bitte meine Mutter in Ruhe!” Schrie der kleine mit Tränen in den Augen.
Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich sowas wie Bewunderung, nein sogar Begeisterung und Freude, jedoch zugleich auch Kummer und Mitleid. Grässliche Emotionen. Warum war der Junge als einziger Mensch in dieser Stadt fähig, sich mir in den Weg zu stellen. Doch das änderte nichts an seinem Schicksal, er wurde übel zugerichtet und ich landete dafür ein paar Monate hinter Gittern, danach war die Sache für die Polizei abgeschlossen. Ich aber sitze mit einem Lächeln im Gefängnis, da ich endlich den einzig wahren Held gefunden habe.
Die Zeit verging, damals war ich noch 25 und der Junge etwa 8 Jahre alt, nun sind aber 20 Jahre vergangen, ich nach wie vor Abschaum, der nun auch mit Waffen und anderen illegalen Dinge Geld verdiente während der Junge sich einen Namen als Polizist und “Held der Stadt” gemacht hatte. In letzter Zeit lass man nur von ihm in der Zeitung. Erfolgreich als Polizist, verheiratet mit einer im Lande bekannten Schauspielerin, ein 4 Jahre altes Kind. Wirkt vielversprechend, oder? Nun ja, er wirkte auf mich in den Interviews ziemlich überheblich und arrogant, auch wenn er auf der richtigen Seite zu stehen scheint, wirkte er nicht weniger oberflächlich als ich, einfach gepflegter und beliebter, was aber kein Wunder bei einem Abschaum wie mir war. Auch wenn er seine Ziele erreichte und wirklich Potenzial hatte, so wirkte er nicht mehr wie der Junge, der in extremen Situationen wahren Mut aufbringen konnte.
Eines Abend kam es dann wieder zu einer Begegnung zwischen uns, in einer dunklen Gasse, mit uns eine betrunkene Frau anfangs 20. Ich war etwas angetrunken und wurde übermütig und dachte mir, ich hätte eine Chance bei ihr. Hatte ich natürlich nicht, wurde wütend, zog sie an den Haaren aus der Bar. Es war keine Touristenbar, deshalb gab es auch keine Türsteher, der Barkeeper alarmierte die Polizei. Da ich aber die Gassen kannte, wurde ich nicht so schnell erwischt, doch dann fand mich genau ebendieser Polizist, der vor Jahren einmal so mutig war. Er zielte mit der Waffe auf mich, ich tat so, als würde ich mich ergeben, doch im letzten Moment verpasste ich ihm einen Kinnhaken und konnte ihn entwaffnen. Die Frau hätte die Waffe nehmen und mich erschießen können, doch sie war starr vor Angst. Ich nahm den halb bewusstlosen Polizisten und warf ihn neben der Frau zu Boden. Das ganze erinnerte mich an die Szene im Supermarkt. Ich entfernte alle Kugeln bis auf eine aus meiner eigenen Waffe.
“Wir kennen uns ja bereits, schon ein paar mal wurde ich wegen dir festgenommen doch erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung im Supermarkt als deine Mutter kein Geld hatte? Damals hättest du dich für die Frau und für alle Kund*innen geopfert, wie sieht es nun damit aus? Du hast die Wahl: In meiner Waffe ist genau eine Kugel, entweder schieße ich der Frau in den Kopf oder dir zwischen die Beine. Sie wird ganz sicher sterben, du jedoch hast gute Chancen, es zu überleben, lediglich mit Impotenz musst du ganz sicher rechnen und eventuell wirst du danach an einen Rollstuhl gefesselt sein. Da du aber Frau und Kind sowie genug Geld hast, wird dies ja sicherlich kein Problem für dich darstellen.” Die Frau schluchzte. “Bitte helfen Sie mir.” Der Polizist schwieg eine Weile und brüllte mich dann laut an, was für ein Monster ich doch sei und dass ich zur Vernunft kommen soll. “Ja, ich bin ein Monster und du kannst derjenige sein, der als Held in die Geschichte eingeht, als derjenige, der die eigene Verstümmelung in Kauf nahm, um eine Frau zu retten.” Der Polizist begann langsam zu zittern. “Woher weiß ich, dass du dein Wort halten wirst?” “Habe ich den damals auf dem Parkplatz mein Wort gebrochen? Die Uhr tickt, wenn du dich nicht bald entscheidest, werde ich zuerst dich erschießen und danach die Frau, falls sie mir nicht entkommen kann.”
10. Der Polizist sah mich noch immer ungläubig an.
9. Die Frau schluchzte ein weiteres Mal
8. Nun begann sie zu weinen.
7. “Ich, ich, …” stotterte der Polizist.
6. “Was du? soll ich auf dich schießen?”, fragte ich.
5. Stille.
4. Der Polizist holte tief Luft.
3. “Schieß, schieß auf mmm…”
2. “Erschieß …”
1. “Erschieß sie aber mach mich bitte nicht zum Krüppel!”
0. Ein Schuss ertönte. Kurz darauf ein weiterer Schuss.
Die Zeitungen schrieben davon, wie ihr lokaler Held leider eine Sekunde zu spät die Waffe zog und die Erschießung der jungen Frau nicht mehr verhindern konnte.
Ich aber frage euch nun, wer ist nun der eigentliche Bösewicht? (Das lyrische) Ich? Der Polizist, der nun, 20 Jahre später nicht mehr der mutige Junge von damals war? Hat nicht praktisch jede Figur, egal ob einkaufende Person, Polizist oder Vater, der seine Sorgepflicht vernachlässigt hat, falsch gehandelt, ob man den Polizist schon als Schurke oder Verbrecher bezeichnen möchte, liegt an euch, aber wahre Helden gibt es (in dieser Geschichte) nicht ...
Mit eiligen Schritten entfernte er sich vom Tatort. Dort würde bestimmt in Kürze ein ahnungsloser Mensch vorbeikommen und die Leiche entdecken. Zwar war die Gegend hier nicht gerade das, was man als lebhaft bezeichnen könnte. Dennoch war auch diese abgelegene Landstraße nicht aus der Welt. Ab und an rauschte ein Auto vorbei, meistens mit mehr Geschwindigkeit als erlaubt. An sich heruntersehend, während er kurz nach neuem Atem schöpfte, registrierte er innerlich fluchend die verräterischen Flecken des Blutes auf seiner Jeanshose. Trotz aller Vorsicht hatte er das offensichtlich nicht vermeiden können. Er horchte. War da ein Geräusch in der Ferne? Näherte sich da ein Wagen? Die Augen zu Schlitzen verengt, um das Bild vor sich schärfer zu machen, erkannte er, dass er sich getäuscht haben musste. Wahrscheinlich gingen die Nerven mit ihm durch, schließlich lag der Ort hier noch im Tiefschlaf. Ein Blick in den Himmel bestätigte, dass der Morgen noch nicht in Sicht war. Dennoch musste er hier weg.
Er setzte sich wieder in Bewegung, wobei er sich an den Büschen hielt, die hier glücklicherweise in Scharen wuchsen und ihm die Möglichkeit boten, sich zu verstecken. Dann vernahm er einen spitzen, angsterfüllten Schrei, der in der allgemeinen Stille auch ihn erreichte, obgleich er sich nicht mehr in unmittelbarer Nähe befand. Jemand hatte den Toten bemerkt. Was nun? Er hatte nicht beabsichtigt, die Person zu töten. Es sollte nur ein Gespräch werden, eine Vereinbarung mit einem flüchtigen Kollegen, wobei diese Bezeichnung vielleicht nicht ganz richtig war. Sie hatten nicht miteinander gearbeitet, sondern lediglich in der gleichen Branche. Ihr Beruf war einer dieser, die keine Akzeptanz in der Gesellschaft erfuhren.
Auftragsmörder waren nun mal nicht gerade beliebte Mitmenschen.
Aber das Gespräch war eskaliert. Er hatte sich geweigert, dem sogenannten Kollegen bei dessen Aufgabe behilflich zu sein. Niemals würde er Hand an ein Kind legen, selbst er hatte Grenzen. Stattdessen gab es nun ein anderes Kind, welches er zum Halbwaise gemacht hatte.
Den sonst unerschütterlichen Mann plagte das Gewissen, von dem er eigentlich angenommen hatte, es bereits vor Jahren in die hinterste Ecke seines Gehirns verschoben zu haben. Aber jetzt war es wieder da. Drängender als je zuvor. Aber was kümmerte ihn das Schicksal des Kindes? Normalerweise wusste er nichts über die privaten Angelegenheiten oder Familien seiner Opfer. Sicher hatte er schon so manch jungem Menschen eine oder mehrere geliebte Personen genommen. Wieso also nahm ihn das nun so mit? War er möglicherweise doch nicht der richtige Mann für den Job?
Endlich hatte er sich weit genug vom Ort des Geschehens entfernt. Er erreichte seinen Wagen, den er absichtlich hier zurückgelassen hatte. Nicht zu nah, aber auch nicht zu weit weg. Er griff in die Tasche seiner Jacke und beförderte einen Schlüssel hervor, womit er sein Auto öffnete. Er setzte sich hinein und atmete einmal tief durch, dann setzte er das Gefährt in Gang. Weg hier, nur fort. Für mehrere Minuten gelang es ihm, die vergangenen Stunden auszublenden, dann hörte er die ersten Sirenen und sah Polizeiwagen an ihm vorbeirasen. Dieses Szenario war nichts Neues für ihn, und doch jedes Mal eine Herausforderung, die erlaubte Geschwindigkeit zu fahren und sich nicht dadurch verdächtig zu machen. Nicht daran zu denken, dass das Kennzeichen falsch war oder sie ihn aufgrund der frühen Morgenstunde aus irgendwelchen Gründen anhalten könnten.
Aber es passierte nichts. Er kam unbeachtet davon und war nicht viel später in seiner Stadt bei seinem Hochhaus angekommen. Hier war er nur einer von vielen Bewohnenden. Er pflegte keinen Kontakt zur Nachbarschaft und verschwand stets sofort in seiner kleinen Wohnung. Er zog des Öfteren um, um keinen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und sich nicht zu sehr an etwas zu binden - in seinem Beruf war das die von ihm bevorzugte Vorgehensweise. Er entledigte sich seiner Klamotten und versteckte diese erst mal unter dem Bett, sodass sie nicht sofort ins Auge fielen, sollte ihm tatsächlich jemand auf die Schliche kommen und deshalb aufsuchen. Später würde er die Sachen irgendwo verbrennen.
In seinem Pyjama warf er sich auf das Bett. Die Nacht war kräftezehrender gewesen als gedacht und er war erschöpft. Die Augen halbgeschlossen, mit dem Bewusstsein beinahe in der Traumwelt, vernahm er das harsche Klopfen an seiner Wohnungstür, die sich neben dem Schlafzimmer befand. Klingeln war nicht möglich - er hatte den Defekt seit Monaten nicht gemeldet und bekam für gewöhnlich sowieso keinen Besuch. Kurz fragte er sich, ob eine Flucht gelingen würde, denn er glaubte zu wissen, wer der unangekündigte Besuch sein könnte. Dann zuckte er die Achseln und ging zur Tür. Vielleicht war es doch nur der Paketbote, der ihm mal wieder die Päckchen der ihm unbekannten Nachbar:innen in die Hand drücken wollte, wenngleich der Mann ihm nie öffnete. Er stutzte. Nein, das konnte nicht sein, dafür war es viel zu früh. Er warf sich den Morgenmantel über und schlurfte zur Tür, bemüht, verschlafen dreinzublicken. Die Tür war kaum offen, als er erstarrte. Er sah den Lauf der Pistole und fühlte kurz danach den Schmerz, den die Kugel, lautlos durch einen Schalldämpfer, nahe seines Herzens auslöste. Der Fremde schloss die Tür, entfernte sich und ließ den Mann in der Wohnung zurück. Dieser wusste, dass er jeden Augenblick sterben würde. Jetzt hatte es ihn also doch erwischt, wenn auch anders als vermutet.
Keine glücklichen Erinnerungen zogen an ihm vorbei, keine Gedanken an geliebte Menschen erfüllten ihn. In ihm war nur der Schmerz und die Leere. So leer, wie sein Körper, als man den toten Mann eines Tages entdeckte.
Nervös klammerten sich seine Hände um einen eindrucksvollen Stab, welcher an der Spitze einen geheimnisvoll lila leuchtendend Kristall hatte und überall mit geheimnisvollen Runen geschmückt war. Der Stab der Mächtigen, so wurde er seit Generationen flüsternd genannt. Niemand wagte es, seinen Namen laut auszusprechen. Benjamin war der Name seines Besitzers, welcher sich erwartungsvoll in einen großen Torbogen aufgestellt hatte. In seinem Rücken ein uralter Hain mit allerlei verwunschenen Ecken. An einer Stelle blühten die herrlichsten und schönsten Blumen, die man sich nur erträumen konnte. An einer anderen sangen exotisch anmutende Vögel eine Symphonie, wie man sie lieblicher nie gehört hatte. Der Wald war verzaubert und konnte dadurch jeden Ort, den man sich herbeiwünschte, beinhalten. Benjamin war der mächtigste Zauberer und somit der Wächter zu diesem verwunschenen Reich. Vor sich blickte er auf weite Auen, deren Anblick in der Ferne von einem einzelnen, galoppierenden Pferd gestört wurden. Bald würde es mitsamt seinem Reiter hier sein, doch trotz der Nervosität hatte Benjamin keine Angst. Er besaß den Stab der Mächtigen, ihm würde nichts geschehen können.
Eine Ewigkeit verging, in der Benjamin gebannt nach vorne starrte, bis er endlich aus seiner Warterei erlöst wurde. Auf einem weißen Ross thronte ein wackerer Recke in glänzender Rüstung. Benjamin stellte sich extra gerade hin und hoffte auf eine kleine Brise, die seine lange Robe etwas wehen lassen könnte, damit sie noch eindrucksvoller aussähe. Bedauerlicherweise blieb ihm dieser Wunsch jedoch verwehrt. Von dem Schimmel stieg nun der Ritter etwas unbeholfen herab, zückte sein poliertes Schwert und richtete es auf Benjamin.
„Halte ein Schurke! Lass mich passieren und Prinzessin Mia aus deinem böswilligen Bann befreien, dann will ich, Sir Lancelot, dich auch mit dem Leben davonkommen lassen!“
Was für ein einfallsloser Name. Von ihm musste sich Benjamin nun wirklich nichts gefallen lassen. Er reckte sein Kinn und erwiderte:
„Die Prinzessin ist freiwillig in meinen Hain gekommen und es ist allgemein bekannt, dass niemand ihn je verlassen darf. Verschwinde, bevor ich ungemütlich werde!“
Es breitete sich ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Ritters aus. Mit einer solchen Antwort hatte er offensichtlich gerechnet.
„Dann wird dich nun deine gerechte Strafe ereilen!“, rief er und rannte mir erhobenem Schwert auf Benjamin zu. Viel zu offensichtlich. Der Magier zielte mit seinem Stab nach vorne, sprach ein paar mystische Worte und aus dem Edelstein löste sich ein dunkler Strahl, der mit Wucht auf die silberne Rüstung traf und ihren Besitzer nach hinten stolpern ließ. Mit einer sichtlich unzufriedenen Miene berappelte sich dieser wieder, stieß eine Art Kampfschrei aus und sprintete erneut nach vorne. Hatte er nichts aus seinem ersten Versuch gelernt? Ein wenig irritiert zielte Benjamin erneut und ließ wieder einen Energiestoß in Richtung des Recken zischen. Doch dieses Mal war sein Kontrahent vorbereitet und hechtete im letzten Moment zur Seite. Inzwischen war er nur noch wenige Meter von Benjamin entfernt und der Magier verspürte einen Hauch von Panik. Aber er war immer noch der Besitzer vom Stab der Mächtigen. Seine arkane Energie konzentrierend hob er den Stab senkrecht in die Luft und ließ ihn mit einem Rumms auf den Erdboden krachen. Sofort manifestierte sich eine Wand aus lila Flammen in einem Umkreis von einem Meter um ihn herum. Gerade weit genug, um den Ritter den Weg ins Innere des Waldes.
„Deine dunkle Magie wird dir auch nicht weiterhelfen“, rief der Ritter, der inzwischen vor der flammenden Wand zum Stillstand gekommen war.
„Und was willst du dagegen tun?“, erwiderte Benjamin. Solange er den Stab in seiner Hand hielt, konnte ihm nichts was anhaben. Ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Heute würde er als Sieger nach Hause gehen.
„Du wirst schon sehen!“ Der Recke war sichtlich verärgert über Benjamins Lächeln und rammte trotzig sein Schwert in den Boden. Als würde er endlich aufgeben, sank er vor seinem Schwert auf die Knie, umfasste mit beiden Händen den Schwertknauf und senkte den Kopf. „Oh ihr wahren Göttern, steht mir bei. Helft mir, diesen Unhold zu vernichten und die Prinzessin, eure Auserwählte, sicher in ihr Schloss zurückzubringen. Ich flehe euch an, erhört mich!“
Auf einmal löste sich aus dem Himmel ein leuchtender Strahl, der Benjamin in güldenes Licht tauchte. Seine schützenden Flammen versiegten und bevor er sich versah, war der Ritter bereits wieder aufgesprungen und rammte ihm das Schwert mit einem überzogenen „Hah!“ in die Brust.
„Das ist unfair!“, empörte sich Benjamin, „Du darfst meine Magie nicht einfach außer Kraft setzen.“
„Die Götter haben mich halt erhört, das ist überhaupt nicht unfair“, erwiderte sein Kontrahent.
„Aber damit gewinnst du dann ja immer, also ist das sehr wohl unfair“
„Ich bin doch auch der Held in der Geschichte und die Guten gewinnen immer. Also stell dich nicht so an“
Das war leider kein schlechtes Argument. Egal in welcher Geschichte, am Ende gewann immer der Held in strahlender Rüstung.
„Dann will ich aber das nächste Mal der Held sein“, gab Benjamin mürrisch als Antwort.
„Ist ja schon gut, wenn’s denn sein muss“
Benjamin hob noch das hölzerne Steckenpferd auf und machte sich mit einem bemalten Stock in der anderen Hand und seinem Bruder Max, welcher in einer Rüstung aus Kartons steckte und sein Papp-Schwert bei sich trug, auf den Weg nach Hause. Inzwischen hatte es bereits begonnen zu dämmern und ihre Mutter wartete sicherlich schon mit dem Abendessen auf die zwei. Dieses Mal war er zwar nicht siegreich gewesen, aber bei ihrem nächsten Abenteuer würde er der Held sein und dann beim Essen von seinem glorreichen Sieg erzählen können. Er musste sich nur noch ein klein wenig gedulden.
“Armseelige Sterbliche! Ihr hättet gut daran getan, auf die Warnungen der uralten Prophezeiungen zu hören und umzukehren, als ihr noch die Chance dazu hattet. Nun steht ihr Tholec Tarostrod Sohn des Bimucsa Durdido und Erbe der ewigen Höllenflamme gegenüber und seid eurem Untergang geweiht. Genau wie die hunderten Abenteurer, nein… dutzenden… auch nicht… ETLICHEN Abenteurer vor euch sollt ihr nun hier euren… euren… ACH BEI DEN GÖTTERN NOCHMAL!“, Günther, der unter den Sterblichen nur als „Tholec Tarostrod Sohn des Bimucsa Durdido und Erbe der ewigen Höllenflamme“ bekannt war, warf den inzwischen zerknüllten Zettel mit seinen in dämonisch handverfassten Notizen in den Papierkorb neben seinem Spiegel. Die Ansammlung der sich dort inzwischen zusammengetragenen Überreste von Entwürfen epischer Monologe frustrierte den Dämon aus dem siebten Höllenkreis nur noch mehr als seine kläglichen zuvor getanen Vortragsversuche vor dem Spiegel und geschlagen sank Tholec in seinen Arbeitssessel.
Er wusste, dass dies kein Gefühl war, wofür er sich schämen brauchte, und doch nagte sein klägliches Scheitern in den beruflichen Neueinstieg schwer an ihm. Vor etwa 800 Jahren war er noch jemand, den die Jugend von heute als „heißen Scheiß“ bezeichnen würde. Damals war der Dämon noch so etwas wie eine Vorbildfunktion junger, aufsteigender, aber auch alteingesessener Veteranen im Schurken Metier. In Fachpergamenten würde man stets seine Vorbildlichkeit bei der Vorbereitung von Dungeons in den löblichsten Tönen hervorheben und besonders seine wohl ausgeklügelten und mit Witz und Dramatik konzipierten Reden, die er zum Besten geben würde, wenn die Helden seine finale Kammer erreicht hatten, waren in der gesamten Unterwelt bekannt. Wieder und wieder erzählte man sich damals von Rittern und Zauberern, die nach den manchmal bis zu 15-minutenlangen Reden Tholecs bereits schreiend die Flucht ergriffen oder so gerührt waren, dass sie selbst sich Tholec anschlossen. Ja, das waren gute Zeiten für den Dämon und er musste lächeln, als er an diese besseren Tage zurückdachte und dabei ein Gemälde von ihm vor einem großen Haufen aufgestapelter besiegter Abenteurer betrachtete.
Schon wenige Augenblicke später verfinsterte sich seine Mine jedoch und die so frohe Erinnerung wandelten sich in deprimierende Gedanken. „Hättest du doch nur die Finger von dieser Spruchrolle der Zeitmanipulation gelassen, Günther.“, stöhnte der gewaltige rote Teufel und dachte nur unter Schmerzen zurück an jenen schicksalshaften Tag, während er sich mit über den Kopf geschlagenen Klauen auf seinem Stuhl drehte. In der Theorie sollte die Einsetzung eben jener Magie vor 800 Jahren sein absolutes Meisterstück geworden sein. Er plante, nachdem die Helden in seinen Bossraum – so nannte man es im Fachjargon – gekommen waren, die gesamte Gruppe mit der Spruchrolle in die Zukunft zu schicken, wo sie dort schmerzhaft erkennen müssten, dass ihr eigenes Versagen noch Jahrhunderte lange Auswirkungen gehabt haben wird. Und ausgerechnet dann, im Moment der Günthers größter Triumph werden sollte, verwendete der Zaubermeister seiner Gegenspieler einen Zauber Namens „Counterspell“. Tholec Tarostrod Sohn des Bimucsa Durdido und Erbe der ewigen Höllenflamme warf sich ein Kissen über seine Augen beim Gedanken an diesen Anfängerfehler, wobei selbiges sofort anfing in Feuer aufzugehen.
Frustriert stand er aus dem großen mit Basiliskenleder bezogenen Stuhl auf und sah aus dem Fenster hinauf auf seine kleine Höllendomäne. Was hatte sich die Welt doch in dieser langen Zeit, die er zurücklegte, verändert. Das musste er spürbar am eigenen Leib erfahren, als er von der Behörde für Superschurken zu einem Wiedereingliederungstraining des Amtes geschickt wurde. „Böse Abschlussmonologe – Wie auch Sie zum super Superschurken werden“ so hieß der Kurs und mit einer fast schon angewiderten Arroganz war der Dämon damals dort aufgetaucht zusammen mit seinen Mitschülern aus diversen Kreisen der Branche. Er war sich sicher, dass er hier nur einmal vorsprechen brauchte und man würde ihn mit seiner Arbeitszulassung wieder nach Hause schicken. Doch dem kam nicht so. „Das hatte bei The Witcher aber mehr Dramatik.“, „Versuchst du gerade Matt Mercer von Critical Roll nachzuahmen? Lass das lieber, Bro.“ oder „Den letzten Spruch hab ich schonmal in ner Creepy Pasta gelesen.“ Waren Dinge, die sich Günther daraufhin anhören musste. Er fiel glatt aus allen metaphorischen Wolken, als er den Kurs auch beim wiederholten Male nicht bestand.
Tholecs Blick wanderte vom Fenster weg zurück in seinen Büroraum. Die Jungspunde von heute, waren anscheinend nun viel aufgeklärter als sie das damals noch zu seiner Zeit waren: Videospiele mit teilweise 30 Minuten langen Cutscenes, in denen nur der Bösewicht redete, während epischste Bombastmusik spielte, Rollenspiel-Podcasts, wo jeder Hans und Franz Bösewichte erdenken konnte, die weit jedem Industriestandard abwichen, und dann noch diese Livestreams, bei denen sogenannte „Influencer“ mit der ganzen Welt teilten, wie sie die Dungeons der berühmtesten Schurken ausräumten. Wie sollte bei so etwas selbst so ein Urgestein wie Günther noch mithalten. „Herr Höllenflamme“, sagte seine Kursleitung Fräulein Sonnenblume, nachdem er jüngst zum 23. Mal seine Prüfung für böse Monologe nicht bestanden hatte: „Sie müssen einfach mal lockerer werden. Heutzutage geht es beim Superschurkendasein nicht mehr um ewiges Leid und Verderben. Es geht um den Moment, darum mit anderen Leuten zusammenzukommen und ein tolles Erlebnis gemeinsam aufzubauen, über das man noch Jahre später gemütlich am Lagerfeuer bei ein paar Marshmallows sitzt und lacht.“ Der Dämon ging nach diesem Satz geschlagen aus dem Klassenraum jedoch nicht ohne, dass seine Lehrerin ihm noch ein Buch mitgeben konnte, dass sie persönlich für ihn gekauft hatte.
Das war nun 2 Wochen her und der Dämon war seitdem nicht mehr zum Kurs gekommen. Er griff sich seinen Rucksack, setzte sich auf die Couch und war drauf und dann sich online eine neue Profession zu suchen. Hauptsache er konnte altertümliche Reden schwingen und Böses tun. „Vielleicht könnte ich ja Anwalt werden, oder Mathelehrer. Das kann wohl wahrlich nicht so schwer sein.“, dachte er sich und griff in die Tasche, um seinen Laptop herauszuholen, der ihm vom Amt gestellt wurde. Da ergriffen seine schuppigen Klauen jedoch beim blinden Hereingreifen etwas Anderes. Es war das Buch, das ihm seine Lehrerin voller Zuversicht in die Tasche gesteckt hatte und er bis heute nicht angesehen hatte. Zögerlich zog Günther es heraus und besah das Cover des Buches und dann den Laptop in seiner Tasche. So guckte er ein paar Minuten hin und her, wohlwissend dass die folgende Entscheidung sein Weiterleben in dieser Welt prägen würde. Da warf er die Tasche zur Seite, sprang mit all seiner Energie auf die Couch und schrie aus voller Seele: „Ich bin kein Anwalt! Ich bin kein Mathelehrer! Ich bin Tholec Tarostrod Sohn des Bimucsa Durdido und Erbe der ewigen Höllenflamme! Und ich werde diese Welt mit meiner Bösartigkeit zu einem besseren Ort machen!“ Stolz saß er sich hin und fing eifrig an das Lehrbuch zu lesen. Auf dem Cover war nur eine handgeschriebene Notiz seiner Lehrerin: „Sei ein Bösewicht!“
„Herr Minister! Herr Minister!“ Scharrend wurde die Tür zur Schaltzentrale aufgestoßen. Ich blickte auf und sah eine große Gestalt im grauen Anzug hereinstürmen: Staatssekretär Jäger. Normalerweise betrat man den Raum von oben durch den Aufzug, der Treppenaufgang war nur für Notfälle gedacht.
„Was gibt es, Jäger?“
„Der Geheimdienst meldet: Soeben findet eine Demonstration vor dem Ministerium statt, auf der eine Puppe mit Ihrem Namen verbrannt wird.“
„Sie meinen, eine Ausschreitung?“
„Ja, selbstverständlich, Herr Minister. Eine gewaltsame Ausschreitung.“ Der Mann wischte sich den Schweiß aus der Stirn und brachte dabei seine blonde Gelfrisur durcheinander.
„Aber Jäger, wo liegt das Problem?“, schmunzelte ich.
Mein Gegenüber nickte, schaute aber verwirrt drein.
„Damit helfen sie uns, diese Hetzer. Hatte ich Sie nicht als Sekretär zur letzten Bilderberg-Konferenz mitgenommen, Jäger? Genau so läuft es in Russland, in China, in der Türkei und wo Sie sonst noch hinschauen auf der Welt.“ Ich erhob mich von meinem Sessel. „Wir überwachen das Volk. Ein Teil schlägt sich auf unsere Seite, der andere lehnt sich gegen uns auf. Indem sie Hass und Gewalt schüren, entlarven sie sich selbst und werden nicht mehr ernst genommen. Die Presse diffamiert sie als linke Radikalisten und ihre Anhänger wenden sich von ihnen ab.“
„Herr Minister!“, brach es aus Jäger heraus, „Aber die Zeitungen haben doch Recht! Diesen Marxisten muss Einhalt geboten werden. Es ist die Pflicht des Staates!“
Innerlich seufzte ich ob dieser treuen Seele.
„Wohl gesprochen, Jäger. Wenn doch nur jeder so denken würde wie Sie. Die Liste an Menschen in unserem Land, über die nachrichtendienstliche Ermittlungen angestellt werden müssen, wird nicht kleiner.“ Bedauern vorgebend schüttelte ich den Kopf. „Nun gut, betrauen Sie Kuhnert mit der Lage. Hier sind wir ohnehin sicher. Als wäre jemand von uns im Ministerium und könnte sie überhaupt sehen, diese Aufrührer!“
„Selbstverständlich, Herr Minister!“
Wie ein großer, grauer Koloss stapfte Jäger zum Aufzug.
„Ach, und schicken Sie mir Frau Hasenclever von der Abteilung V.“
„Sofort?“
„Sofort.“
Ich ließ mich wieder in meinen Sessel hinter dem großen Pult fallen und beobachtete, wie die Fahrstuhl nach oben entschwand. Meine Blicke wanderten durch den Raum, von der neonblauen Beleuchtung über die große Leinwand zu den vertraulichen Aktenschränken. V wie Vertrauensabteilung. Aber auch V wie Verrat. Verrat derer, denen sie vorgeben, zu vertrauen. In dem kleinen Smaragd an meinem Ringfinger spiegelte sich plötzlich das Licht. Als ich damals meinen Aufstieg im Ministerium begann, fand ich in der Abteilung V meine ersten Freunde. Ich gehörte nie zu ihnen, doch sie gehörten immer zu mir und ebneten mir den Weg mit Verbindungen, Versprechungen und Verleumdungen. Wer sie auf seiner Seite hatte, für den war der Rest ein Kinderspiel.
Das vertraute, leise Summen ertönte wieder und Frau Hasenclever entstieg der Kabine. Ihr Kostüm saß wie immer tadellos, doch die roten Lippen und die haselnussbraunen Locken verliehen ihr etwas Keckes. Ein Jammer, dass sie immer noch mit diesem grobschlächtigen Hasenclever aus der Finanzabteilung zusammen war. Wäre er nicht ein solch gerissener Fuchs bei der Beschaffung neuer Geldmittel, hätte ich ihn längst gefeuert, und sei es nur, um ihn von seiner Frau fernzuhalten.
„Worum geht es, Minister?“
„Nun seien Sie doch nicht so förmlich, Hasi. Setzen Sie sich!“ Ich deutete auf den Stuhl neben mir am Pult. Hasi blinzelte kurz, nahm aber meine Einladung an, setzte sich und sah mir in die Augen.
„Es gibt da ein paar ungeplante Zwischenfälle, falls Sie noch nicht davon mitbekommen haben.“
„Doch, habe ich“, entgegnete sie unerschrocken. „Inwiefern sind sie ungeplant?“
„Ich sehe, Sie sind im Bilde. Ach, Hasi, was täte ich nur ohne Sie?“
„Ein Leben als einfacher Ministerialbeamter fristen“, lautete die prompte Antwort.
Sie nahm es mir immer noch übel, dass ich und nicht ihr Göttergatte die besseren Chancen auf den Ministerposten gehabt hatte, so dass sie mich unterstützen musste.
Ich deutete auf den Smaragd an meiner rechten Hand. „Sehen Sie diesen Ring?“
„Ja, und ich kenne auch die Geschichte mit Ihrer Frau. Verschonen Sie mich mit Ihren Avancen, wir hatten bereits das Vergnügen.“ Sie blickte mir immer noch direkt ins Gesicht, doch vor ihren Pupillen hing ein Schleier, als sollte ich nicht dahinter blicken können. Ihre Lippen leuchteten rot wie eine reife Kirsche, die nur darauf wartete, gepflückt zu werden.
Ich riss mich zusammen und lachte. „Schon gut, Hasi! Nicht umsonst munkelt man, Sie wüssten alle Geheimnisse, noch bevor sie geschehen sind.“
„Das ist korrekt. Weil Sie mir freie Hand dafür geben.“
Meine Hand fand wie von selbst den Weg auf ihren Arm und ich blickte in ihre Augen: „Danke, Hasi.“
Sie nickte, stand auf und streifte dabei ganz natürlich meinen Griff ab.
„Wenn nichts weiter ist, überlasse ich Sie wieder Ihren Geschäften, Minister.“
Ich hinderte sie nicht, aber blickte mit Bedauern ihrem wohlgeformten Hinterteil nach.
Kurz vor dem Fahrstuhl hielt sie an und sagte: „Auf der Puppe stand: Tod und Verderben den Volksverrätern! Alle Macht der Revolution! Das sollte genügen für einen ausreichenden Presserummel und ein paar hübsche Gerichtsprozesse. Lesen Sie auch öfter mal das Nationale Tagblatt!“
„Wie gut, dass ich das nicht muss, solange ich an der Quelle sitze“, gab ich mit einem Grinsen zurück.
Die Frau im Kostüm drehte sich nicht noch einmal um, sondern verschwand im Aufzug und entschwebte nach oben.
Ich lehnte mich zurück. Neben mir blinkte der Maileingang, doch ich ließ meine Blicke zu der hohen Decke des Raumes gleiten.
Die Welt würde mich nicht vergessen.
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