Willkommen zum Vote der dritten Runde unseres saphirblauen Schreibturniers!
Die Aufgabenstellung lautete:
Bei diesem Wettbewerb dreht sich alles um nächtliche Aktivitäten.
In der Nacht kann viel geschehen. Während die einen selig schlafen, träumen die anderen die abenteuerlichsten Sachen. Doch auch im wachen Zustand kann man nachts etwas erleben. Ob man nun einen Spaziergang unter dem Sternenhimmel genießt oder spät von der Arbeit oder einer vergnüglichen Feier heimkehrt oder gar etwas Gruseliges passiert.
Eure Aufgabe ist es, eine Geschichte in Prosa zum Thema Erlebnisse in der Nacht zu schreiben. Eure Abgaben dürfen bis zu 2000 Wörter umfassen, aber auch kurze Texte wie Drabbles sind natürlich erlaubt.
Die wichtigsten Informationen zum Vote findet ihr hier kurz zusammengefasst:
- Voten könnt ihr bis zum 17.10.2021, um 23:59 Uhr.
- Vergebt für jede Abgabe Punkte zwischen 1 (gefällt mir nicht) und 10 (gefällt mir sehr gut).
- Es ist auch möglich, halbe Punkte (z.B. 2,5 Punkte) zu nutzen.
- Dieser Wettbewerb findet anonym statt. Vergebt deshalb bitte auch für eure eigene Abgabe Punkte. Punkte, die ihr an eure eigene Abgabe vergebt, werden nicht gezählt. Stattdessen erhaltet ihr einen Punkteausgleich.
- Begründungen sind nicht verpflichtend, aber gerne gesehen. Wenn ihr eine Begründung schreiben möchtet, findet ihr in unseren Tipps zum Voten ein paar Anregungen. Für einen begründeten Vote könnt ihr zudem eine Medaille vom Typ Fee beantragen.
- Nutzt für euren Vote bitte die folgende Voteschablone:
Abgabe 01: xx/10
Abgabe 02: xx/10
Abgabe 03: xx/10
Abgabe 04: xx/10
Abgabe 05: xx/10
Abgabe 06: xx/10
Abgabe 07: xx/10
Abgabe 08: xx/10
Abgabe 09: xx/10
Abgabe 10: xx/10
Abgabe 11: xx/10
Abgabe 12: xx/10
Abgabe 13: xx/10
Abgabe 14: xx/10
Abgabe 15: xx/10
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Es ist dunkel. So dunkel, dass ich den Weg vor mir nur erahnen kann. Der Wald steht dicht und der fahle Mondschein schafft es kaum, die Laubdecke zu durchdringen. Hin und wieder fährt ein sanfter, kühler Wind über meine Arme und lässt die Blätter um mich herum rascheln. Ansonsten ist es still. Geradezu unheimlich still, kein Tier ist zu hören. Dort in der Schwärze, könnte dort hinter dem Baum nicht jemand versteckt sein und nur auf eine Gelegenheit warten? Ich weiß, dass das Quatsch ist. Dort im Dunkeln lungert keine Gestalt hinter einem Baum. Es ist meine Einbildung, die es mir weismachen möchte. Und doch. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken herunter und ich drücke die warme Hand, die ich halte, ein klein wenig fester.
„Hey, alles in Ordnung?“
„Ja ja, alles in Ordnung.“
Er zieht mich ein klein wenig näher zu ihm und seine Nähe zu spüren, gibt mir ein vertrautes Gefühl der Sicherheit. Er kann offensichtlich deutlich besser bei Nacht sehen als ich, denn bisher hat er uns ohne Probleme den schmalen Pfad entlang navigiert. Eigentlich bin ich nicht gerne bei Nacht im Wald unterwegs. Es ist nicht so, dass ich die Nacht nicht mag, ganz im Gegenteil. Sie hat eine gewisse Ruhe, die ich überaus schätze. Ich sehe nur einfach gerne, wo ich entlanglaufe und auch wenn ich meinen Begleiter bedingungslos vertraue, bin ich ungern auf ihn angewiesen, wie in dieser Situation. Er wollte mir etwas Einzigartiges zeigen und dafür musste es eine Nacht wie diese sein, hatte er gemeint. Neugierig wie ich bin, konnte ich es ihm natürlich nicht abschlagen und so wandern wir nun zusammen durch den Wald.
Es ist ein seltsames Gefühl, die Augen aufzuhaben und trotzdem absolut gar nichts sehen zu können. Wie sehr man sich sonst auf visuelle Eindrücke verlässt und wie hilflos man sich plötzlich fühlt, wenn einem dieser Sinn nicht mehr weiterhilft. Wie viel mehr man sich plötzlich darauf konzentriert, was man hört und wie sich der Boden unter den Füßen anfühlt. Was ich zuvor als Stille wahrgenommen hatte, füllt sich immer mehr mit zarten Geräuschen. Ein entferntes Rascheln, allerdings nicht der Wind, sondern bedachte Schritte auf dem Boden. Das leise Schlagen von nahezu lautlosen Schwingen über unseren Köpfen. Das Geräusch von flinken, abrupten Bewegungen im Laub und dem Klang von kleinen Zähnen auf einer harten Oberfläche. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich mich anfangs gefürchtet hatte.
Erde und vereinzeltes Laub unter meinen Füßen fühlen sanft und kühl, aber nicht unangenehm an. Ursprünglich hatte ich nur auf meine Schuhe verzichtet, weil mein Freund meinte, ich würde sie nicht brauchen. Aber jetzt bin ich froh über die zusätzlichen Sinneseindrücke. Überhaupt, wann bin ich eigentlich zuletzt barfuß gelaufen? Als Kind war ich ständig mit bloßen Füßen unterwegs. Mit der Zeit wurde das dann immer weniger, auch wenn ich nicht genau sagen kann, woran es liegt. Eigentlich ist es ein sehr schönes Gefühl, so eine direkte Verbindung zum Boden zu spüren. Ich sollte mir vornehmen, dies wieder öfter zu machen.
„Wir sind gleich da, nur noch ein kleines Stück.“
Ich nicke. Erst im nächsten Moment fällt mir ein, dass er mein Nicken aktuell vielleicht gar nicht sehen kann. Aber er scheint darauf auch keine Antwort zu erwarten. Er ist mein bester Freund, mit ihm gibt es kein peinliches Schweigen oder dergleichen. Nur angenehme Stille, wenn wir beide gerade nichts sagen möchten. Ein wenig bin ich im dankbar dafür, dass wir den Weg ohne viele Worte entlang gehen. Zu Reden hätte vermutlich einen Teil der faszinierenden Atmosphäre, die diese Nacht langsam auf mich ausübt, zerstört.
Vor uns lichtet sich der Wald ein wenig und ich kann endlich mehr erkennen. Ich bleib verzaubert stehen, lasse die Hand meiner Begleitung los und kann nicht sagen, ob ich jemals etwas Schöneres gesehen habe. Vor uns erstreckt sich ein spiegelglatter See und es scheint, als würde sich ein Meer aus Sternen vor mir erstrecken. Der Wolkenlose Himmel glitzert im Wasser und strahlt mir entgegen. Ich könnte stundenlang hier stehen und staunen. Aber mein Freund lenkt meine Aufmerksamkeit mit einer Geste auf sich und grinst mich breit an.
„Ich wusste, dass es dir gefallen würde. Das Wasser dürfte warm sein, lass uns schwimmen gehen.“
Und Bewegung ins Wasser bringen und damit diesen wunderschönen Anblick zerstören? Im ersten Moment sträub ich mich gegen den Gedanken, aber letztendlich siegt der Wunsch, diesem verzauberten Funkeln noch näher sein zu können und ich nicke. Es ist eine laue Sommernacht und wir haben beide kurze Sachen an. Als wäre es das normalste der Welt, gehen wir langsam ins Wasser. Die kleinen Wellen, die von uns aus gehen, bringen die Lichter zum Tanzen, aber zu meiner Freude sind sie nach wie vor gut zu erkennen. Das Wasser ist kühler als erwartet. Sonst gehe ich nicht gerne schwimmen, wenn es nicht knalle heiß ist und mitten in der Nacht ist nur noch eine schwache Erinnerung an die Hitze des Tages verblieben. Doch in diesem Moment stört es mich nicht. Zu begeistert bin ich von dem Leuchten um mich herum und nachdem das Wasser endlich tief genug ist, dass ich schwimmen kann, fühlt es sich so an, als würde ich langsam ein Teil davon werden. Ein Teil von dieser Flut aus Sternen. Es fühlt sich friedlich an. Ruhig, geradezu himmlisch. Das muss das Paradies sein. Meine alltäglichen Sorgen fühlen sich im Anbetracht dieser Unendlichkeit unbedeutend an und mit einem leisen Seufzen lasse ich sie los. Ich fühle mich leicht und meine Muskeln fangen an sich zu entspannen, während ich mich vom Wasser tragen lasse.
Irgendwann schwimmen wir zurück und wringen unsere nassen Klamotten aus. Ich beginne zu frösteln und mein Freund reicht mir ein Handtuch. Er muss es wohl schon vorher hier drapiert haben, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
„Danke.“
Ich lächle ihn an und sehe an seinem Blick, dass er versteht. Es ist ein aufrichtiges Danke, mit dem ich ihm für diese wundervolle Erfahrung danken möchte. In ein Handtuch gewickelt ist es zwar ein wenig wärmer, aber durch die nassen Klamotten ist mir nach wie vor kalt. Er nimmt wieder meine Hand und führt mich hinein in den düsteren Wald, aus dem wir gekommen sind. Zurück auf dem Pfad, der sich meinen Augen entzieht.
Später liege ich in meinem kuschligen Bett und starre an die Decke. Der Schein einer Straßenlaterne leuchtet schwach in mein Zimmer. Früher hätte ich es als dunkel empfunden, aber nachdem ich nun in diesem Wald wahre Dunkelheit wahrgenommen hatte, kommt mein Zimmer mir nun geradezu erleuchtet vor. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder solch einen Anblick wie von diesem funkelnden See bewundern werde. Aber die Erinnerung an diese magische Nacht werde ich niemals vergessen können.
Fandom: League of Legends
Wieder hört Leona die schnellen, leisen Schritte des Mädchens. In hellen Nächten schleicht sich ihre Mitschülerin gerne in die große Bibliothek, aber warum sie es tut war ihr bislang ein Rätsel. Der Name des Mädchens ist Diana und sie ist eine der wissbegierigsten Schülerinnen in ihrem Alter. Ihre direkten, ungewöhnlichen Fragen weckte Leonas Neugier und aus diesem Grund beschließt sie ihr heute Nacht zu folgen. Angekommen in der dunklen, leeren Bibliothek hält sie Ausschau nach dem Mädchen. Sie schleicht umher zwischen den Regalen mit all dem Wissen, welches hier gesammelt wird. "Was machst du hier?" Leona dreht sich um und da steht das Mädchen in der Sicherheit der Dunkelheit. "Wieso kommst du nachts immer hier her?" stoßt es aus Leona heraus. Diana wirkt verwundert. Vielleicht weil fast alle sich von ihr distanziert hatten. "Ich suche Antworten.", flüstert Diana. "Aber warum Nachts?", hinterfragte Leona. Diana greift nach Leonas Handgelenk und zerrt sie zu den Leitern, die in die höheren Etagen führten. Sie folgt ihr ohne weitere Fragen zu stellen und klettert hinauf. Nach ein paar mehr Leitern und einem langen Gang erreichen sie einen Teil der Bibliothek an dem Leona selbst noch nie war. Diana öffnet eine Tür und winkt ihr zu, dass sie ihr weiter folgen soll. Nun steigen sie eine enge Wendeltreppe hinauf. Leona zweifelt daran, dass sie überhaupt hier sein sollte, doch sie geht weiter. Am Ende der Treppe angekommen erstreckt sich ein kleiner Raum mit Fenstern rundherum. Er ist so hell als würde das Licht der Sonne selbst den Raum erleuchten. Doch es ist das Mondlicht. Sie Blickt zu Diana und sieht das Glitzern in ihren Augen, während sie den Mond betrachtet. "Es scheint so als wäre da mehr als nur der Glauben der Solari. Ich will herausfinden was die Priester verheimlichen." Während Diana das sagt schlägt sie ein Buch auf, auf dessen Umschlag neben einer Sonne auch ein Mond zu sehen ist und zeigt Leona, dass dort Seiten fehlen. Leona wirkt erstaunt und kann nicht fassen, dass dieses Mädchen solch ein Interesse in ihr weckt. Merkwürdiger weise stört es sie auch nicht, dass ihre Mitschülerin den Glauben ihres Stammes hinterfragt. Sie setzen sich auf den Boden des Raumes und fangen an zusammen zu grübeln und zu diskutieren über die Möglichkeiten wieso die Seiten entfernt wurden. Nach einer Weile blickt Leona erneut zu Diana und merkt erst jetzt wie das Mädchen vor Glück strahlt. Und diese Wärme die Leona jetzt spürt ist nicht vergleichbar mit der Wärme der Sonne. Es ist das Gefühl des Bandes der Freundschaft und sie realisiert, dass sie nie mehr von Dianas Seite weichen will.
Auf den Straßen herrscht auch spät in der Nacht noch geschäftiges Treiben. Automassen schieben sich aus der Stadt heraus, ein Fluss aus Menschen sucht sich seinen Weg durch die Straßen. Ein Blick in die andere Richtung zeigt eine Gruppe, die sich durch die Menge bewegt, mit Flaschen in den Händen, freudig und im Siegesrausch. Fans, das Spiel ist zu Ende. Die Anhänger des Siegers steigen laut gröhlend in den nächsten Ubahn-Tunnel ab. In den gleichen sieht man Symapthisanten der gegnerischen Mannschaft einsteigen, ungewohnt ruhig und in sich gekehrt.
Die Straßenlaternen beleuchten den Weg vor einem, gleichzeitig werden sie aber auch durch weitere Lichter erhellt. Die Bürogebäude und Denkmäler der Stadt leuchten auf die Wege, wird das Licht überhaupt gebraucht? Arbeiten dort noch Menschen zu später Stunde? Durch die Glasbauten sieht man die leeren Schreibtische, die Ruhe im Gebäude.
Die Straße vor der eigenen Nase ist voll mit Menschen. Auf dem Weg durch das bunte Treiben schlängeln sich Busse und Trams über die Straßen. An den Haltestellen drängen sich Menschen hinein und hinaus. Über dem Kopf hört man eine Bahn über die Gleise rattern. Dreht man sich um, so erblickt man oberhalb eine U-Bahn über die Brücke fahren, hell erleuchtet und strahlend vorm dunklen Nachthimmel. In ihr sieht man Gruppen von Menschen zu ihren nächtlichen Zielen fahren.
Man selbst steigt hinab zur S-Bahn, ironischerweise unterirdisch im Vergleich zur U-Bahn. Ein paar Stationen weiter fliegen Häuser und Bäume an einem vorbei und das Bild der lebhaften Innenstadt verblasst.
Später im Bett liegend lauscht man dem Rauschen der Autos, den Stimmen von Menschen und gleitet tief in den Schlaf. Die Augen geschlossen, verbannt man die Geräusche der Außenwelt aus dem Kopf.
Endlich eingeschlafen, nur um kurz darauf aufzuwachen und dem Tag ins Gesicht zu sehen. Im Hintergrund hört man Autos und Menschen auf den Straßen.
Eine Stadt schläft nie.
Erschöpft sank Ben in sein Bett und streckte sich unter der kuscheligen Federdecke aus. Nach diesem anstrengenden Tag hatte er sich seinen Schlaf aber auch wirklich verdient. Welch ein Glück, dass er morgen ausschlafen konnte und es sich sparen konnte, den Wecker zu stellen.
Er drehte sich auf seine Lieblingsschlafseite und schloss die Augen. In Gedanken ließ er den Tag noch einmal Revue passieren und dämmerte so dem Schlaf entgegen, den er dann aber doch nicht erreichen konnte. War da gerade ein Geräusch gewesen? Ein Klacken oder vielleicht eher ein Tropfen? Ben versuchte in die ansonsten ruhige Nacht zu lauschen, aber es war im wahrsten Sinne des Wortes totenstill. Nicht ungewöhnlich für diese Uhrzeit, aber was war das dann für ein Geräusch gewesen? Er beschloss, dass das wohl doch nur Einbildung gewesen war und schloss wieder die Augen, aber verdammt, nun war die Müdigkeit trotzdem wie weggeblasen. Eine Weile blieb er noch auf der Seite liegen, drehte sich dann auf den Rücken, um schließlich noch die andere Seite auszuprobieren, aber natürlich brachte das alles nichts. Aber jetzt aufstehen wollte Ben auch nicht, er war nicht der Typ, der in schlaflosen Nächten den Kühlschrank plünderte oder sich vor den Fernseher setzte. Aber einen Schluck trinken könnte er jetzt. Ben fischte im dunklen nach der Wasserflasche, die immer neben seinem Bett stand, fischte, fischte und griff ins Leere. Klar, die Flasche hatte er auf dem Küchentisch vergessen und er war zu müde und faul gewesen, um die noch zu holen nachdem er das bemerkt hatte. Also blieb wohl nichts anderes übrig, als doch aufzustehen, schlafen konnte er ja doch nicht.
Er machte das Licht an, schlüpfte in seine Pantoffeln und ging zur Tür. Was zum... warum zum Henker war die abgeschlossen!? Ben konnte sich nicht erinnern, diese Tür jemals abgeschlossen zu haben. Zwar stecke der Schlüssel von innen, das war schon seit seinem Einzug so, aber er hatte ihn nie benutzt. Konnte er geistig schon so abwesend gewesen sein, dass er sich daran nicht einmal erinnern konnte? Aber wenn ja, dann machte man doch unterbewusste Handlungen eigentlich nur, wenn man das regelmäßig tat und eben das war nicht der Fall. Er griff nach dem Schlüssel und drehte ihn vorsichtig herum. Das ging ganz leicht, wie geschmiert könnte man sagen. Ein Klicken, das Betätigen der Klinke und die Tür blieb verschlossen. Konnte das sein, wer schließt eine Tür innerhalb der Wohnung zweimal zu? Hastig drehte Ben den Schlüssel wieder im Schloss herum, betätigte die Türklinke, aber am Ergebnis änderte das rein gar nichts. War das jetzt der Punkt, an dem man panisch werden sollte? Solche Gedanken waren Ben eigentlich immer fern gewesen, dafür war er viel zu rational, für alles gab es eine logische Erklärung. Immer! Also was nun?
Er drehte den Schlüssel noch einmal, zog die Tür dabei heran, drückte dagegen, versuchte sie an der Klinke nach oben zu drücken, nach unten zu ziehen. Nein, das brachte alles nichts. Also setzte er sich wieder auf sein Bett, um zu überlegen, was er nun tun sollte. Und da hörte er wieder dieses Geräusch, das ihn am Einschlafen gehindert hatte. Das war eindeutig ein tropfendes Geräusch. Nicht wissend, was er erwartete zu sehen, wanderte sein Blick an die Zimmerdecke. Was er sah, brauchte eine Weile, bis es widerwillig den Weg von seinen Augen über die endlos langen Nervenbahnen hinweg bis zu seinem Gehirn fand und dieses weigerte sich dann nochmals sekundenlang, diese Information zu verarbeiten.
An der Zimmerdecke hatte sich ein mindestens einen halben Meter durchmessender tiefdunkelroter Fleck gebildet, der aber nicht nur ein Fleck war, sondern dessen Mitte sich etwa kopfgroß ausgebeult hatte und wie in Zeitlupe nach unten strebte. Und war diese Beule denn nicht nur kopfgroß, sondern zeichneten sich da auch schemenhafte Gesichtszüge ab? Verzerrt, ja, aber Bens Gehirn versuchte das, so wie es beim Menschen üblich ist, in eine ihm bekannte Form einzuordnen und diese war ein annähernd menschenähnliches Gesicht. Von dem, was man am ehesten als die Nase bezeichnen würde, rann träge etwas zähflüssiges, das aussah wie Blut, aber nicht annähernd dessen Konsistenz hatte, herab und bildete einen trägen Tropfen, der widerwillig anwuchs und sich erst nach einer scheinbaren Ewigkeit löste, um hinter dem Bett mit einem platschen auf dem Boden aufzuschlagen.
Ben wusste nicht, ob das jetzt der passende Moment war laut zu schreien. Wenn er es gewesen wäre, was wohl den Tatsachen entsprach, hätte er trotzdem keinen Laut über die Lippen gebracht. Noch nicht. Denn eben gerade versuchte er noch dem, was er sah, irgendeinen Sinn zu geben. Irgendetwas, was in seiner rationalen Welt auch nur die geringste Existenzberechtigung hatte. Aber da gab es nichts. Nicht ansatzweise. Der nächste Gedanke war, er musste hier raus und zwar schnell. Völlig ausblendend, dass die Tür abgeschlossen war, versuchte er diese aufzureißen, verstand zuerst nicht, warum das nicht funktionierte, begriff, und begann wie wild an der Türklinke herumzureißen. Warf sich danach gegen die Tür, was bei einer nach innen aufgehenden Tür aber völlig sinnlos war und verlegte sich dann wieder darauf, den Schlüssel im Schloss herumzudrehen und an der Klinke zu rütteln. Alles mit ernüchterndem Erfolg.
Erst jetzt drehte sich Ben wieder um und schaute nach oben. Viel hatte sich nicht geändert, oder doch? War der Kopf nicht etwas tiefer herabgesunken? Und zeichnete sich da nicht so etwas wie ein halb geöffneter Mund ab, unter dem sich nun ebenfall in Zeitlupe ein zähflüssiger Tropfen bildete. Ben beschloss, das nicht sehen und wissen zu wollen. Seine Gedanken kreisten nun nur noch darum, wie er dieses Zimmer verlassen konnte. Durch das Fenster, aus dem neunzehnten Stockwerk? Ein wahrhaft lächerlicher Gedanke, zudem unten keine Wiese, ganz zu schweigen von einem den Sturz abbremsenden Busch wartete, sondern nur ein gepflasterter Gehweg. Außerdem hätte er dazu hinter seinem Bett vorbei unter dem aus der Decke ragenden Kopf-Ding hindurchgehen müssen. Sich das vorzustellen, war unmöglich.
Einem inneren Zwang folgend schaute er nun doch wieder dorthin, innerlich angewidert und trotzdem hoffend, sich alles nur eingebildet zu haben. Stattdessen hatte sich der Anblick nur noch weiter verschlimmert. Das, was er als scheinbaren Mund identifiziert hatte, war tatsächlich ein solcher, denn links und rechts begannen sich spitze gelbschwarze Zähne durch das zu bohren, was einmal die Tapete gewesen war. Und nun lief das auch nicht weiter wie in Zeitlupe ab, sonder schien sich besorgniserregend zu beschleunigen.
Jetzt nahm endgültig die absolute Panik Besitz über Bens Gedanken. Er hämmerte wieder gegen die Tür und nun schrie er auch, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geschrien hatte. Irgendjemand würde ihn hören oder die Tür würde sich plötzlich öffnen lassen. Doch stattdessen hörte er hinter sich ein lautes Klatschen. Viel lauter als es die einzelnen Tropfen verursacht hatten. Das war eindeutig etwas Großes und nach den jetzt zu hörenden schlurfend schmatzenden Geräuschen, bewegte es sich in Bens Richtung. Nein, er würde sich jetzt nicht mehr umdrehen. Selbst wenn Ben es gewollt hätte, versagte sein Körper, die Beine gaben unter ihm nach und er sackte in sich zusammen. Was auch immer nun folgen würde, er konnte es nicht mehr aufhalten. Irgendetwas kam näher, schien ihn zu berühren. Hilflos versuchte er hinter sich zu schlagen, bekam etwas sehr weiches, formloses zu fassen und ... erwachte, in der Hand den kleinen rosa Plüschbären haltend, der seit Kindheitstagen über dem Kopfkissen in seinem Bett sitzen durfte. In Gedanken noch halb im Traum gefangen, ließ Ben ihn einfach nur los und kam langsam wieder in der Realität an.
Es war einmal ein Glühwürmchen, ihr Name war Hero. Hero lebte alleine im Gras am Waldrand, denn wie alle weiblichen Glühwürmchen konnte sie nicht fliegen. Sie konnte überhaupt nicht viel, nur kriechen und krabbeln. Nachts fing ihr Körper an zu leuchten, aber mehr in der Art wie eine flackernde Flamme, die der Wind im nächsten Moment auslöscht. Das Licht war so schwach, dass man es kaum sah. Hero wurde immer trauriger und kam sich nutzlos vor. Sie sagte zu sich: „Ich werde wohl bis ans Ende meines Lebens einsam bleiben. Hier am Waldrand krieche ich durch das Gras, ohne ein Ziel. Niemand sieht mich, niemand weiß, dass es mich gibt.“
Doch in der nächsten Nacht hörte sie ein leises Surren. Plötzlich näherte sich ein leuchtendes Etwas und ein fliegender Käfer tauchte über ihr auf.
„Nanu, wer bist du denn?“, fragte Hero.
„Ich habe dein Leuchten von oben gesehen“, erklärte das zweite Glühwürmchen. „Mein Name ist Leander.“
„Du kannst fliegen“, staunte Hero. „Wie schön muss das sein, wie frei musst du dich fühlen! Aber warum kommst du ausgerechnet zu mir?“
„Schon die ganze Nacht halte ich Ausschau nach leuchtenden Punkten auf der Wiese. Wie magisch fühle ich mich zu ihnen hingezogen. Manche leuchten hell, aber dort sammeln sich schon andere Glühwürmchen, die schneller waren als ich. Allerdings sind meine Augen scharf, und dein Licht war zwar nicht sehr hell, aber doch die ganze Zeit über zu sehen. Deswegen kam ich her.“
„Es sind noch mehr Glühwürmchen auf dieser Wiese?“, wunderte sich Hero.
„Aber ja, sehr viele sogar“, bestätigte Leander. „Du glaubst gar nicht, wie wunderschön der Waldrand aussieht, wenn sich unzählige Glühwürmchen hier versammeln. Soll ich dir davon erzählen?“
Hero nickte – so gut ein kleiner Käfer eben nicken kann.
Und Leander fing an zu erzählen, was er gesehen hatte. All die Formationen und Mustern, die man von oben betrachten konnte, beschrieb er in den leuchtendsten Farben, wie sie hin und her, auf und nieder schwebten und ein unvergessliches Schauspiel boten, Nacht für Nacht. Hero fühlte sich, als könnte sie mit Leander über die Wiese fliegen. Sie sah alles vor ihrem inneren Auge, und je länger er erzählte, desto stärker begann ihr Licht zu glühen. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr einsam.
Und die beiden lebten glücklich bis ans Ende des Tages. Denn wenn Glühwürmchen sich verlieben, erlischt ihr Lebenslicht.
Es war ein mal vor langer langer Zeit, ein alter Mann, der zur Abendstunde bei Sonnenuntergang aus dem Bette seines Hauses stieg. Er striegelte seinen Bart, legte den langen Umhang um und schlüpfte in die abgetretenen Stiefel, die schon so viele Schritte gegangen waren. Der Mann griff sich den alten Koffer mit seinem Werkzeug darin, der neben der Tür stand und ging hinaus, denn der alte Mann musste zu dieser Stunde seine Arbeit verrichten und einen neuen Lehrling einarbeiten. Der Lehrling stand bereits vor der Tür und wartete geduldig auf seinen Meister. Als der alte Mann aus seiner Tür trat und den Jungen sah, schien ersterer äußerst verärgert: „Warum bist du schon hier? Du darfst nie zu früh sein, unter keinen Umständen.“ Der alte Mann tadelte den Jungen: „Für diese Arbeit ist zu früh zu sein genau so schlecht wie zu spät zu sein. Du musst immer exakt zur richtigen Zeit erscheinen.“ Schnell legte sich der Ärger des Älteren und sein Schüler lief ihm schweigend die Straße hinunter hinterher.
Da kamen die beiden an einem Feld voller wachsender, wohlschmeckender Früchte vorbei. Die Sonne des heißen Sommertages hatte den Pflanzen nicht gutgetan. Der Bauer, der den Hof bewirtschaftete, blickte den alten Mann Hilfe suchend an und sprach zu ihm: „Bitte Herr, meine Pflanzen drohen unter der sengenden Sonne zu vertrocknen. Helft mir bitte die Pflanzen zu retten, damit ich mich und meine Familie ernähren kann.“ Der alte Mann nickte nur, kramte in seinem Koffer, zog ein großes tiefschwarzes Lacken heraus und sprach zu seinem Lehrling: „Komm und hilf mir dieses Laken zu spannen und den Pflanzen Schatten zu spenden.“ Der Junge gehorchte den Worten seines Lehrers, packte mit an und im Nu war ein großes Laken in tiefer schwarzer Farbe hoch gespannt, sodass keine Pflanze mehr von der Hitze der Sonne bedroht wurde. Der Bauer bedankte sich und ging Heim. So gingen auch der Mann und sein Lehrling weiter.
Wenig später erreichte der Meister mit seinem Schützling einen verlassenen Weg, auf dem ein kleines Kind schluchzend umherirrte. Fürsorglich ging der Mann auf seine alten Knie hinunter und sprach zu dem Kind: „Was ist es, dass dich bedrückt? Es gibt nichts wovor du dich zu fürchten brauchst.“ Das Kind antwortete weinend: „Auf meinem Weg nach Hause ist es dunkel geworden und nun kann ich die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Wie soll ich nun wissen, wie ich wieder zurück zu meiner Familie kann?“ Da dachte der alte Mann nach, kramte erneut in seinem Koffer und gab seinem Lehrling ein paar Kerzen. „Zünde sie an, und häng sie auf.“, sprach der Mann und so tat der junge Knabe es auch. Als er fertig war und überall von oben weiße Lichter glimmten, sah der Junge, dass der alte Mann in der Zwischenzeit ein ganz besonders großes Licht aufgehangen hatte, dass dem Kind nun den Weg nach Hause leuchtete. Während es die letzten Tränen verdrückte, bedankte sich das Kind noch bei dem Meister, bevor alle ihrer Wege gingen.
Als die beiden dann schon ein ganzes Stück gegangen und wieder in der Stadt angekommen waren, trafen sie einen alten Gelehrten, der fürchterlich frustriert zu sein schien. Er wandte sich an des Lehrlings Meister und sagte: „Guter Herr, ich weiß nicht weiter. Trotz später Stunde, leuchten, ach, die Lichter noch so hell. Alle sind sie wach und ich kann meine Ruhe nicht finden, um einen Brief zu schreiben.“ Erneut kramte der Mann in seinem Koffer, schien dafür aber länger zu brauchen als normalerweise. Nach einer Weile sprach er: „Ich befürchte, auch ich kann dort nichts machen, aber hör doch nur. Nichts ist mehr zu vernehmen außer dem Heulen der Eule aus dem Wald. Denn sie sind alle müde geworden, genau wie du. Nicht wahr mein Freund?“ Der Gelehrte gähnte tief und antwortete: „Ja das stimmt, Meister. Ich werde noch mein Brieflein schreiben und mich dann zu Bett begeben. Habt Danke.“ Und mit diesen Worten verschwand der Gelehrte in seinem Heim und die beiden gingen weiter.
Nun war es nicht mehr lang, bis die zwei wieder das Haus des alten Mannes erreicht hatten und sich ihre Arbeit dem Ende zuneigte. Der Mann bat den Jungen noch mit ihm die Lichter abzuhängen und das Laken abzuspannen und natürlich tat der Junge so wie ihm gesagt. Zum Schluss fragte der Meister seinen Schüler: „Sag Junge. Hast du auch gut aufgepasst und dir gemerkt, was du zu tun hast?“ Der Junge nickt nur und der alte Mann schien zufrieden und gab dem Jungen seinen Koffer, den Stiefel und den Mantel: „Dann nimm dies und verrichte du dein Werk, wenn die Zeit gekommen ist, nicht zu spät und nicht zu früh.“ Der Junge wirkte traurig ob dieser Worte und fragte: „Aber warum könnt ihr mir nicht noch mehr zeigen?“ Der alte Mann lächelte nur und sagte: „Diese meine Nacht ist nun vorbei und ein neuer Tag bricht an. Nun bist du der Meister und wirst morgen einen neuen Lehrling unterrichten. So ist es gut und so soll es sein. Sei nicht traurig drum und sorge nur dafür, dass deine Nacht noch schöner ist als meine.“
Fandom: Pokémon
Der Himmel über Claw City war in dieser Nacht sternenklar. Die Großstadt war in dieser Nacht ungewöhnlich ruhig, schienen sich doch alle Einwohner von den Aufregungen der vergangenen Tage erholen zu wollen. Sogar die Lichter der Bars und Clubs, die die letzte Nacht auf Hochtouren gelaufen waren, waren erloschen und fügten sich nahtlos in die dunklen Straßen ein.
Langsam überkam Roy das Gefühl, dass er die einzige Person war, die nicht schlief. Der Arenaleiter stützte sich am Geländer des Krankenhausbalkones ab und starrte nachdenklich in die schwach beleuchteten Straßen seiner Heimatstadt. Durch die offene Tür hinter ihm drangen die leisen regelmäßigen Pieps des EKG, an welchem sein bester Freund angeschlossen war an seine Ohren.
Er wusste nicht, was Delion sich dabei gedacht hatte Eternatus alleine gegenüberzutreten. Der Champion wäre beinahe dabei ums Leben gekommen die Welt zu retten und war blöd genug gewesen die antike Bestie mit einem gewöhnlichen Pokeball fangen zu wollen. Roys Hände umklammerten das Geländer so kräftig, dass seine Knöchel weiß wurden. Wären Gloria und Hop (und natürlich die beiden legendären Helden) nicht gewesen, wäre die Welt vermutlich wirklich untergegangen.
Müde fuhr er sich mit seiner rechten Hand über sein Gesicht, bevor er sich rücklings am Geländer herabsinken ließ und die Augen schloss. Warum hatte er nicht bemerkt, was Ligapräsident Rose unter seinem Stadion veranstaltet hatte, dachte er bei sich und spürte die Wut in sich wieder aufsteigen. Es war sein Stadion, seine Stadt und alles, was er hatte tun können war bei der Evakuierung zu helfen. Als er endlich an der Turmspitze angekommen war, hatte Gloria Eternatus gerade gefangen und Leon lag bewusstlos und schwer verletzt am Rande des Turmes, Hop verzweifelt neben ihm knieend. Seit diesem Moment waren knapp zwei Tage vergangen und in der ersten Nacht hatten die meisten Einwohner Galars gefeiert, dass sie den nächsten Tag noch erleben konnten.
Leise Schritte ließen ihn seine Augen wieder öffnen. In der Tür stand Gloria und blickte ihn verschlafen an. Dann setzte sie sich ihm gegenüber und lehnte ihren Kopf an die Krankenhauswand. Gloria und Hop hatten sich, genau wie er selbst geweigert das Krankenhaus zu verlassen, bevor Delion nicht aufgewacht war.
„Ich vermisse die Sterne aus Furlongham“, sagte sie mit einem Unterton, den Roy nicht richtig deuten konnte. „Man sieht sie nirgendwo so hell, wie zu Hause.“
„In der Naturzone sieht man sie gut“, erwiderte Roy und erschrak sich darüber, wie heiser seine Stimme klang. „Delion, Sonja und ich haben oft unter dem Sternenhimmel übernachtet, als wir noch herumgereist sind.“
„Die Städte sind zu nah an der Naturzone“, murmelte die junge Trainerin und schloss ihre Augen. „Es ist nicht dunkel genug.“
„Warum schläfst du nicht?“, fragte Roy direkt.
„Das könnte ich dich auch fragen“, kam es von seinem Gegenüber zurück. „Ich habe wenigstens schon ein bisschen geschlafen im Gegensatz zu dir.“
„Wie geht es Hop?“, fragte Roy, um vom Thema abzulenken.
Nun blickte Gloria ihn direkt an und zog eine Augenbraue in die Höhe, fragte aber glücklicherweise nicht weiter nach. „Nicht wirklich gut. Aber was will man auch erwarten? Wenigstens ist er endlich eingeschlafen.“
Nur das Piepen des EKG war in dem darauffolgenden Schweigen zu hören.
„Ich hasse dieses Geräusch“, murrte Gloria genervt.
„Ich hätte ihm helfen müssen“, rutschte es Roy nun raus. „Oben auf dem Turm.“
„Du hättest nichts tun können“, erwiderte Gloria.
„Ich hätte ihn im Kampf unterstützen müssen“, beharrte Raihan. „Ich hätte ihm und Glurak helfen können.“
„Eternatus hat Liberlo und Hops Intellon mit Leichtigkeit umgehauen, wir leben nur noch weil die beiden Legenden aufgetaucht sind“, sagte Gloria nachdrücklich. „Du hättest rein gar nichts ausrichten können.“
Nach kurzem Schweigen fügte sie etwas kleinlaut hinzu: „Niemand hätte etwas dagegen ausrichten können, es sollte nicht so gemein klingen, wie es sich angehört hat.“
Ein ehrliches Lächeln schlich sich auf Roys Lippen. Erneut legte sich Schweigen über die beiden Trainer, welche noch einige Zeit in der Stille verbrachten, bevor Gloria wieder in das Zimmer ging.
Roy blickte in die Sterne und sprach ein stummes Gebet für Delion.
Eines Nachts ist Isch entschlafen.
Wir alle haben es bemerkt, augenblicklich. Gewaltvoll wurden wir aufgeweckt, unsere Augen wie durch fremde Hand aufgerissen, und wir sprangen mit einer gewaltigen Eile aus unseren Betten und starrten in eine plötzlich einsame Nacht. Wir fragten, «wo bist du?» und erkannten darauf eine kalte Antwort:
Ischs Präsenz war nirgendwo und nimmermehr.
Wir sind aus unseren Häusern gekommen, gekleidet in Schlafklamotten, Mäntel und Jacken, die wir uns rasch übergeworfen haben; wir begegneten einander im entblössenden Licht der Strassenlaternen und sahen uns an, erst in müder Verwirrung, dann, als wir unsere Handlungen verstanden hatten, in wachsender Nervosität: Alle kannten die Neuigkeit. Ein paar Hunde begannen zu bellen. Irgendwo weinte ein Kind.
Und während wir hier draussen wacher wurden, begann das Bewusstsein, seine zermahlenden Räder zu drehen; als wir wacher wurden, begannen wir, unsere Sorgen zu zählen.
Wer waren wir nun, ohne Isch? Bang und ungeschützt standen wir plötzlich da, einsam inmitten aller anderen. Diese Angst war eine Fremde in unserer Gemeinschaft; solange Isch hier war, fürchtete sich niemand. Niemand von uns konnte sich an eine Zeit vor Isch erinnern – wir würden uns nicht vorstellen wollen. Wo wir vielleicht ängstlich waren, war Isch vorsichtig. Wenn Isch mutig war, waren wir töricht. Ischs Vertrauen stand mächtig gegenüber unserer Naivität. Isch war das Mass und das Massgebende in all unseren Dingen, denn wir waren imperfekte Wesen, unsere Gesichter hatten krumme Nasen und Muttermale und ungleiche Ohren und ungesunde Zähne.
Isch hatte kein Gesicht. Hätte Isch eins, müsste es ja Fehler haben.
Isch hatte auch nie ein Alter, hatten wir gedacht, denn wäre dem so, müsste Isch eines Tages sterben; wie kindlich uns diese Vorstellung nun schien.
Niemand machte den Mund auf; als wäre das Schweigen das letzte, was Isch uns hinterlassen hatte, wagte es niemand, auch nur ein Wort zu formulieren. Wir standen hier, bis unsere einzig in Hausschuhen gekleideten Füssen schliesslich zu kalt wurden; irgendjemand drehte sich um und ging zum Nordhügel, und der Rest folgte, unheilvoll wissend, wohin. Wir waren diesen Weg schon so oft gelaufen, im Alltagstrott wie im Festmarsch. Wir gingen, früher wie auch in dieser Nacht, einzeln, in Familien, in kleinen Jugendcliquen, als junge und alte Ehepaare; Hand in Hand pilgerten wir zum Gotteshaus.
Wir hatten dieses Haus gebaut in der Hoffnung, dass jemand so wichtiges wie Isch darin Platz fände. Wir haben es darum gross genug gebaut, dass jemand wie Isch darin genug Raum hatte, doch klein genug, dass wir Isch nahe stehen konnten. Wir haben dieses Haus gebaut in der Hoffnung, es käme der Güte von Isch gleich und füllten es mit allem, wovon wir dachten, es käme dem ein bisschen näher: Unsere höchsten Kerzen, unsere schönsten Blumen, unsere teuersten Stoffe schmückten das Haus wie einen Tempel, als würde die reichste und mächtigste Person unserer Gemeinschaft hier wohnen (was, so gesehen, stimmte, wäre Isch denn eine Person gewesen).
Lange zögerten wir vor den hohen Türen, und jede Handbewegung, die nach einer Taschenlampe oder einem Feuerzeug griff, war eine quälend langsame. Eines der Kinder stiess schliesslich den linken Türflügel auf, und sein Vater eilte, den rechten zu öffnen. Einige mutige Seelen erhoben ihre Lichter in den Raum, ohne ihn zu betreten, und sie sahen: Unsere Lichter fanden nur leere, schwarze Wände in einem hohlen, dunklen Gotteshaus.
Niemand machte einen einzigen weiteren Schritt nach vorne. Wir drehten uns stattdessen um und gingen nach Hause und versteckten uns wieder unter unseren Bettdecken in Wut über unsere neugefundene Ohnmacht. Wir schliefen ein mit dunklen Gedanken und schrecklichen Ideen über eine Zukunft ohne Isch.
Die Nacht, in der Isch entschlief, fühlte sich endlos an. Die grauenvoll unbekannte Zukunft schien verlassen von allen guten Geistern. Die Angst war hier, um sich ein Daheim in unserem Dorf zu machen, und sie war eine furchtbare Nachbarin: Schlimmer als die Krachmacher, die keine Ruhe, keinen Schlaf zulassen wollen, denn sie tat es, ohne nur ein Geräusch zu machen. In der Stille, die uns einst die schreckliche Botschaft überbrachte, horchten wir nach Ischs Gesang, als gäbe es zuletzt doch noch einen Abschied. Ohrenbetäubendes Schweigen hielt uns wach.
Doch die Nacht, in der Isch entschlief, verging.
Sonnenlicht flutete wieder über die Berge in unsere Strassen, wie alle Tage zuvor. Die Sonne kam, erneut, die Hähne krähten. Es trauten sich manche Menschen bereits wieder, aufzuwachen, aufzustehen und eine schüchterne Imitation eines vergangenen Alltags zu leben. Der Bäcker öffnete seinen Laden. Alte Männer sassen ins Strassenkaffee und schwiegen sich eine Weile an. Kinder gingen zur Schule und fragten sich, ob jemand ihnen erklären würde, was geschehen war. Niemand konnte es ihnen erklären.
Am Tag wagte sich niemand ins Gotteshaus. Viele blieben in ihren Häusern, ihren Betten, die Müdigkeit schwer in den Augen wiegend. Nachts kamen nur noch wenige hinaus; sie badeten ihre Einsamkeit im Schein der Strassenlaternen, umarmten einander, sprachen manchen Trost, manche Aufmunterung, und manchmal sogar ein Gebet aus.
Auch am nächsten Tag betrat niemand das Gotteshaus. In uns wuchs die Angst, dass dies, ja dies der neue Alltag war.
Ein Haufen Menschen theoretisierten darüber, warum Isch verschwunden war. Die Sattlerin meinte, unser Gotteshaus sei zu klein gewesen, schon seit seiner Erbauung, wir müssten ein grösseres bauen. Mit welchem Geld?, riefen die Leute. Mit welchen Devotionalien? Alles, was wir hatten, war Isch; Isch bekam alles, was wir besassen. Wir hatten nichts mehr.
Wir alle hassten diese Ideen.
Wir redeten darüber, welche Rituale Isch besonders mochte, und wann wir sie durchführen konnten. Wir diskutierten, welche Gegenstände wir ins nun leere Gotteshaus stellen sollten, was überhaupt noch übrig war. Der Konditor erzählte von seinen seltsamen Vorschlag: Wir müssten das Gotteshaus niederreissen. Wir müssten uns vollständig von Isch lösen. Wir müssten alles niederbrennen im Glauben, dass daraus ein Phoenix entstünde. Vielleicht sogar Isch.
Wir konnten nicht einmal benennen, was wir ohne Isch waren, was wären wir denn dann noch ohne unser Gotteshaus? Hätten wir dann überhaupt einen Beweis dafür, dass Isch jemals hier war? Was, wenn dies schlicht der letzte Nagel im Sarg wäre?
Wir wussten, dass wir nichts wussten.
Erst am dritten Tag öffnete jemand die Türen des Gotteshauses.
Ich weiss nicht, warum jemand dies tun würde; vielleicht wollten sie tatsächlich das Haus niederreissen.
Ich weiss auch nicht genau, wie das Haus zu dieser Zeit, nach diesem Tod, wirklich aussah; wie alle anderen habe ich mich nie wirklich gewagt, einen genauen Blick hineinzuwerfen in jener Nacht. Aber ich hörte sie, die eiligen Stimmen, die sich plötzlich sammelten; erst eine, dann viele hallten an den Hauswänden, bald ein ganzer Chor von Menschen rief die Botschaft, denn jeder, der sie vernahm, musste sie einem nächsten erzählen. Es war kein Abschied. Es war kein Gebet. Es flossen Tränen, doch sie schienen nicht aus Trauer, nicht aus Wut zu kommen, vielleicht aus Verwirrung, vielleicht wegen einer wagen Idee von Hoffnung. Denn ihre Nachricht war so furchterregend wie hoffnungsvoll, und so mächtig uns Ischs Absenz getroffen hatte, umso kräftiger schlug uns diese Erkenntnis entgegen:
Das Gotteshaus war voller Spiegel.
Fandom: Pokémon
Sie stand reglos am Straßenrand, den Kopf gesenkt. Ihr pechschwarzes Haar verbarg ihr Gesicht und hüllte es in Dunkelheit. Eine vorbeieilende Passantin schenkte ihr keinerlei Beachtung, und obwohl sie direkt neben einer Laterne stand, schien sie vollkommen unberührt vom hellen Lichtschein, der sich auf dem feuchten Asphalt spiegelte. Von meinem Fenster aus war sie nur ein einziger dunkler, unbewegter Schatten. Ich hatte sie schon öfter dort stehen sehen, immer am selben Ort, und jedes Mal war sie nach einigen Minuten wieder verschwunden. Mittlerweile war ich ziemlich sicher, dass sie ein Geist war.
Ich erinnerte mich noch genau an den Schrecken, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Doch nach einiger Zeit, nachdem ich sie jeden Abend dort beobachten konnte, hatte sich auch Neugier entwickelt. Wie ich gelesen hatte, war es meist ein unerfüllter Wunsch oder der Drang, ein vergangenes Unheil zu berichtigen, das Geister an diese Welt band. Was genau dieses Mädchen hier suchte, wusste ich nicht. Aber ich wollte es herausfinden.
Entschlossen wandte ich mich vom Fenster ab, griff nach meinen Pokéball und begab mich auf den Weg nach unten. Es war eine angenehm warme Spätsommernacht, aber ein kühler Wind pfiff um die Häuser, pflückte die ersten bunten Blätter von den Bäumen und kündigte den Jahreszeitenwechsel an. Die kleine Nebenstraße in Illumina City, in der ich wohnte, war nun menschenleer, abgesehen von mir und dem fremden Mädchen. Sie hob den Kopf nicht, als ich mich ihr näherte. Nicht einmal der Wind bewegte ihr langes, schwarzes Kleid. Ein seltsamer Druck belegte auf einmal meine Ohren und ich schluckte nervös.
„Kann ich dir helfen?“, fragte ich vorsichtig, als ich nur noch wenige Meter von ihr entfernt war. Ihr Gesicht konnte ich noch immer nicht erkennen. Vielmehr schienen ihre Umrisse merkwürdig verschwommen, erst wenn ich mich auf einen Punkt direkt neben ihrem Kopf konzentrierte, wurde ihre Gestalt klarer. Einen Moment blieb es still, und ich war mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt wahrgenommen hatte. Doch dann hörte ich eine leise, undeutliche Stimme, begleitet von einem Rauschen in meinem Kopf.
„Du bist nicht die, die ich suche.“
Die Worte waren kaum zu verstehen, dennoch verursachten sie ein unangenehmes Kribbeln auf meinen Schultern. Kurz überlegte ich, zur Sicherheit mein Pokémon herauszuholen, bevor das Mädchen erneut sprach – diesmal etwas lauter.
„Mir ist kalt. Ich bin allein und mir ist kalt.“
Ich nahm meinen Mut zusammen und wiederholte meine Frage, bekam jedoch wieder keine Antwort. Meine Finger schlossen sich um den Pokéball in meiner Tasche. Plötzlich zuckte der Kopf des Mädchens ruckartig zur Seite, und sie fixierte einen Punkt etwa hundert Meter entfernt von uns. Ich folgte ihrem Blick zu einer Stelle, an welcher der Asphalt für Bauarbeiten aufgebrochen wurde. Auf einmal rührte sich das Mädchen und bewegte sich auf die Baustelle zu. Ihre Schritte waren unter dem Kleid nicht zu erkennen, und es schien so, als würde sie über die Straße schweben. Neben dem Loch im Boden blieb sie stehen und wartete. Ich lief ihr zögernd nach, im Gegensatz zu ihr erzeugten meine Schritte ein leises Platschen.
„Ich bin allein und mir ist kalt“, erklärte das Mädchen noch einmal, und wieder übertönte das Rauschen beinahe ihre zarte Stimme. Dann verblasste ihre Gestalt unvermittelt und ich blieb allein auf der verlassenen Straße zurück. Mir war klar, dass das Geistermädchen mir etwas sagen wollte, mich um etwas bat, und aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich ihr helfen musste.
Ich warf einen Blick in den Schacht und wappnete mich kurz, dann kletterte ich vorsichtig die Leiter nach unten in den Untergrund Illumina Citys. Zum Glück war vor ein paar Tagen Vollmond gewesen, und der nächtliche Himmelskörper besaß noch genug Leuchtkraft, um anfangs den Bereich um mich herum mit einem silbrigen Schimmer zu erfüllen. Doch als ich am Grund des Schachts ankam, umfing mich dennoch eine undurchdringliche Finsternis. Ohne weiteres Zögern zückte ich meinen Pokéball und rief meinen treuen Freund heraus.
„Lumos, hilf mir!“, wisperte ich leise, und mein Sheinux erschien neben mir. Auf mein Kommando ließ es seinen sternförmigen Schweif erstrahlen und spendete mir damit das nötige Licht, um mich in meiner Umgebung zu orientieren. Ich befand mich in einem schmalen Gang, dessen Boden und Wände feucht glitzerten, und der sich in beiden Richtungen im Dunkeln verlor. Auf der linken Seite versperrte jedoch ein großes Gitter den Weg. Das Geistermädchen war nirgends zu sehen, und auch der Druck in meinen Ohren hatte nachgelassen. Stattdessen war es kalt, eisig kalt.
Ich wandte mich nach rechts und folgte dem Gang. Lumos lief vor mir her, um den Weg zu erleuchten. Dabei passte das Sheinux auf, dass sein flauschiges Fell bloß nicht die schmutzigen Wände berührte. Schon nach kurzer Zeit öffnete sich der Gang in einen weiten Raum, durch den quer eine Bahnschiene verlief. Mitten auf dem Gleis stand ein altes Zugabteil. Ich blieb erstaunt stehen und sah mich um. Eigentlich hatte ich eher erwartet, in der Kanalisation zu landen und nicht in einem U-Bahn-System. Mir war nicht einmal bewusst gewesen, dass Illumina City so etwas überhaupt besaß, demnach musste es schon lange stillgelegt sein.
Dann bemerkte ich, dass der Druck auf mein Gehör zurückgekehrt war, und gleich darauf entdeckte ich auch das Geistermädchen. Sie stand neben dem Zugabteil, und ihre Gestalt war wieder deutlicher sichtbar. Ich dachte kurz nach. Zwar hatte ich nicht direkt darauf geachtet, aber nach meiner Vermutung befanden wir uns gerade ziemlich genau unter der Straßenlaterne, unter der ich das Mädchen zuerst gesehen hatte. Lumos schien sie auch bemerkt zu haben, denn er betrachtete sie interessiert, hielt aber ein wenig Abstand.
Als ich ein paar Schritte auf das Mädchen zuging, sah ich, dass das Zugabteil völlig heruntergekommen war. Zusätzlich zu den großflächigen Rostflecken wiesen die Wände schwarze Brandwunden auf. Die Fenster waren leer, und um mich herum war der Boden mit Glasscherben übersäht, als wären die Scheiben durch eine starke Explosion aus den Rahmen gerissen worden. Die Tür war geöffnet und hing schief in den Angeln. Beim Betrachten des Wagens spürte ich wieder ein Kribbeln auf dem Rücken. Hier war offensichtlich ein schrecklicher Unfall geschehen. Ich sah das Mädchen fragend an, und sie neigte den Kopf leicht.
„Ich muss sie finden.“
Diesmal begleitete kein Rauschen ihre Worte. Sie ertönten klar und deutlich in meinem Kopf, als hätte das Mädchen mir ins Ohr gesprochen. Offenbar hing ihre Suche mit diesem Zugabteil zusammen. Ich gab Lumos ein Zeichen zwängte mich durch die verzogene Tür ins Innere des Wagens. Auch dort waren die Brandspuren unübersehbar. Von den Sitzen und Polstern war kaum noch etwas übrig, und der Boden war mit Asche bedeckt. Mit Lumos‘ Hilfe durchsuchte ich das Abteil nach irgendwelchen Hinweisen, vielleicht einem vermissten Gegenstand oder… ja, was genau ich hier finden sollte, wusste ich selbst nicht.
Nach einigen Minuten hier unten in der Dunkelheit verlor ich das Zeitgefühl. Systematisch tastete ich die Wände ab, spähte unter die verkohlten Sitze und in die Gepäckablagen. Am vordersten Ende fiel mir schließlich ein kleines, zusammengefaltetes Stück Papier in die Hände. Das Blatt war von Asche und Staub verschmutzt und durch das Alter brüchig geworden. Vorsichtig faltete ich es auseinander und hielt es neben Lumos‘ leuchtenden Schweif. Es handelte sich um einen Brief, mit säuberlicher Handschrift versehen.
Liebes Schwesterherz,
ich bin mit Mutter und Vater in Kalos angekommen. Hier ist es viel kälter als in Hoenn, doch die Region ist wunderschön. Es gibt so viele unbekannte Pokémon zu sehen! Im Moment fahren wir mit der Untergrundbahn in die Hauptstadt Illumina. Dort werden wir in einem großen Hotel übernachten. Morgen reisen wir nach Tempera weiter. Dort soll es eine neue Kur geben, anders als die in Lavastadt. Wenn meine Krankheit damit verschwindet, werde ich schon bald wieder nach Hause kommen können. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde mir Mühe geben, schnell wieder gesund zu werden.
Das restliche Papier war leer. Ich las den Brief noch ein zweites Mal, und eine tiefe Trauer befiel mich. Wer auch immer ihn geschrieben hatte, war wohl nicht mehr dazu gekommen, ihn zu versenden.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass es noch ein Stück kälter geworden war, und ich blickte auf. Das Geistermädchen stand direkt neben mir und starrte auf das Papier in meinen Händen. Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich zuckte kurz zurück, obwohl ich gewusst hatte, dass sie noch da war.
„Hast du diesen Brief geschrieben?“, flüsterte ich. Das Mädchen gab keine Antwort, aber ich vernahm von weitem ein leises Schluchzen, das an den Wänden des Raumes widerhallte. Dann spürte ich ein sanftes Stupsen an meinem Bein. Lumos hatte ein kleines, rundes Objekt zwischen den Sitzen hervorgeholt und hielt es mir hin. Ich kniete mich auf den Boden und nahm meinem Begleiter den Pokéball ab. Er war alt und abgenutzt, und wie alles andere hier mit Schutz bedeckt, doch ansonsten noch intakt. Das Geistermädchen beugte sich nach vorn und strich mit einer blassen Hand liebevoll über den Ball. Ich spürte Tränen in meinen Augen aufsteigen und schluckte.
„Ist das dein Pokémon?“ Das Mädchen nickte kurz. Ich richtete mich wieder auf und fasste einen Entschluss. Den Brief und den Pokéball steckte ich in meine Tasche, dann wandte ich mich zum Gehen. Ich lief den Gang zurück, kletterte die Leiter nach oben und stand schließlich wieder auf der mondbeschienenen Straße. Das Geistermädchen war mir gefolgt und wartete nun neben mir. Gemeinsam betrachteten wir den sternenbedeckten Nachthimmel.
„Du suchst deine Schwester, nicht wahr? Ich werde sie für dich finden. Ich werde ihr den Brief überbringen, den du geschrieben hast…“ Ich wandte den Kopf zu ihr. „Und ich werde auch dein Pokémon in ihre Obhut geben.“
Ich war mir nicht sicher, wieso ich das versprach, obwohl ich dieses Mädchen überhaupt nicht kannte und keine Ahnung hatte, wo ich mit der Suche beginnen sollte. Aber ich wusste, dass das Geistermädchen und ihr Pokémon meine Hilfe brauchten.
„Ist es das, was du dir wünschst?“
Das Geistermädchen hob den Kopf, das Mondlicht erhellte ihr Gesicht.
Sie lächelte.
Zusammen trotzen wir dem unheimlichen Schatten, der sich über diese Stadt gelegt hat und lassen die heutige Nacht durch unser gemeinsames Glück hell aufleuchten. Die vielen Sterne am Firmament werden Zeugen unserer Freude, sie lassen die Zeit für uns beide still stehen und drehen sich nur langsam über unsere Zweisamkeit hinweg. Als meine Hand zärtlich deinen Hals streichelt, berührst du innig meine Lippen und die wunderbare Wärme, die meinen Körper durchflutet, lässt mich in dem ewigen Gefühl, ganz und gar vollkommen zu sein. Kein Hollywoodträumer und kein Freizeitromeo könnten diese perfekte Liebe jemals nachvollziehen. Zufrieden trinke ich die Bierflasche aus.
Es ist kurz vor Mitternacht, als Vanessa sich erschöpft von einem sehr langen Tag in ihr Bett legt und nur noch einschlafen möchte. Doch bevor es dazu kommen kann, klingelt ihr Handy, das sie noch nicht ausgeschaltet hatte. Sich die Augen reibend schaut sie auf das Display und erkennt, dass derjenige, der sie zu dieser späten Stunde noch anruft, ihr fester Freund Michael ist. "Oh nein. Soll ich drangehen oder einfach wegdrücken?", fragt sie sich, weil sie nach diesem anstrengenden Tag überhaupt kein Interesse daran hat, mit irgendjemandem zu sprechen, sondern einfach nur noch schlafen möchte. Da es aber ihr Feund ist und sie nicht unhöflich sein möchte, entschließt sie sich dann doch dazu, den Anruf anzunehmen. Am anderen Ende der Leitung hört sie die Stimme von Michael. "Ich sag' einfach 'hello again', du, ich möchte dich heut' noch seh'n, dort, wo alles begann", singt er vergnügt. Vanessa schüttelt den Kopf mit einem Lächeln im Gesicht, weil sie sehr genau den eigenartigen Tick ihres Freundes kennt und schon geahnt hat, dass das wieder einmal passieren würde. "Hey Michi. Was ist los? Ich bin müde.", erwidert sie leicht schroff seine besondere Begrüßung. "Ach, Nessi. Ich denke mir nur, dass du diese wunderschöne Nacht mit mir verbringen möchtest. Ich habe für dich eine kleine Überraschung, die du dir am Bahnhof abholen kannst. Bis gleich!", sagt Michael mit freudiger Stimme. Bevor Vanessa darauf reagieren kann, bemerkt sie auch schon, dass er aufgelegt hat. Sie wundert sich aber nicht weiter darüber, weil sie weiß, dass Michael schon immer ein sehr ungeduldiger Mensch war. Und so kommt es, dass Vanessa, getrieben von der Neugier auf die Überraschung, sich doch noch aus ihrem Bett und auf die Straße begibt.
Am Bahnhof angekommen sieht sie sich auch sogleich nach Michael um. Sie findet ihn am Fahrkartenautomaten, wo er sie mit einem breiten Grinsen wieder einmal singend empfängt: "Hey, ich hab' mich so auf dich gefreut, ein ganzes Leben lang hab' ich von sowas nur geträumt." Nachdem Vanessa sich peinlich berührt von dem Gesang ihres Freundes kurz nach Zuhörern umgesehen hat, umarmt sie ihn und gibt ihm einen Kuss. "Was meinst du mit 'sowas' und wo ist meine Überraschung?", fragt sie ihn sehr direkt, aber liebevoll. Michael senkt seine Stimme und flüstert seiner Freundin ins Ohr: "Das wirst du schon sehen, aber einen kleinen Moment musst du dich noch gedulden." Daraufhin nimmt er ihre Hand und betritt mit ihr den Zug, der gerade angekommen ist. Nachdem sie eine Weile gefahren, an einem kleinen Bahnhof ausgestiegen und von dort aus einige Minuten auf einem kleinen Feldweg gelaufen sind, erreichen sie schlussendlich den Ort, den Michael sich für diese Nacht herausgesucht hat: Eine kleine Lichtung.
Vanessa, die sich leicht außer Atem erst einmal auf das Gras setzt, sieht Michael fragend an. Als dieser mit dem Finger nach oben deutet, um ihr den Sternenhimmel zu zeigen, fängt er erneut an zu singen: "Einen Stern, der deinen Namen trägt, hoch am Himmelszelt, den schenk' ich dir heut' Nacht. Einen Stern, der deinen Namen trägt, alle Zeiten überlebt, und über unsere Liebe wacht." Vanessa steht auf, um Michael in die Augen zu sehen. "Sehr witzig. Wo sind wir hier überhaupt?", fragt sie ihn leicht genervt. Während Michael ein Papier aus seiner Hosentasche zieht und es Vanessa überreicht, antwortet er: "Ich meine das ernst. Es ist jetzt nach Mitternacht und wir befinden uns auf der Lichtung, auf der wir beide uns genau heute vor einem Jahr das erste Mal getroffen haben. Du weißt doch noch, wie ich am Telefon gesagt habe, dass ich dich dort, wo alles begann, sehen möchte? Damit habe ich diesen Ort gemeint. Oder als ich sagte, dass ich von sowas immer nur geträumt habe? Damit habe ich unsere Beziehung gemeint. Als Zeichen meiner Dankbarkeit für diese schöne Zeit möchte ich dir diese Urkunde schenken. Sie bescheinigt, dass es nun einen Stern mit dem Namen Vanessa gibt." Erst jetzt realisiert Vanessa, dass dieser Ort, den sie im Dunkeln kaum erkennen konnte, der Ort ihrer ersten Begegnung mit Michael ist. Von den Emotionen überwältigt fällt sie Michael weinend in die Arme. Nachdem sie sich gesammelt hat, beschließt sie, im Gegenzug auch ihm ein kleine Freude zu bereiten und da er so ein großer Musik-Fan ist, fängt auch sie an, mit verführerischer Stimme zu singen: "Diese Nacht ist jede Sünde wert und im Mondlicht sind wir zwei ungestört. Genauso ein Moment, den man nur aus dem Kino kennt." Michael drückt Vanessa ganz fest an sich und gibt ihr einen Kuss. "Deine Stimme ist so schön, wie du es bist", säuselt er, worauf Vanessa nur lächelt und sagt: "Wir sind ein perfektes Paar." "Wie Romeo und Juliet ans Ende jeder Zeit. Ich werde bei dir sein, bis dass der Tod für immer uns vereint.", singt Michael leise. Beide fangen an zu tanzen, während Vanessa vor lauter Glück über das ganze Gesicht strahlt und singt: "Nur mit dir möcht' ich die Welt von oben sehen, nur mit dir möcht' ich auf allen Gipfeln steh'n. Alles würde ich mit dir riskier'n, zusammen kann uns beiden nichts passier'n. Für alle Zeit bist du ein Teil von mir, Liebe ist unendlich, nur mit dir." Während Vanessa und Michael ihr gemeinsames Glück feiern und immer weitertanzen, bemerken sie gar nicht, wie die Zeit vergeht. Und so liegen sie sich auf der Lichtung auch dann noch in den Armen, als schon die ersten Sonnenstrahlen des Tages ihr Gesicht berühren.
Fandom: Pokémon
Pilzchen war ein weibliches Kapilz und lebte im Blütenburgwald. Hier lebt sie mit ihrer Familie ein angenehmes Leben. Meistens herrschte Frieden, nur ab und an kamen eifrige Trainerinnen und Trainer, die hier nach Pflanzen- oder Käfer-Pokémon Ausschau hielten und Pilzchen dazu veranlassten, ihre Kinder dazu anzuhalten, sich tief im hohen Gras oder auf einem Baum zu verstecken. Pilzchen war heute nervöser als sonst. Die Nacht war bereits hereingebrochen und die Menschen waren gegangen, um zu schlafen. Nur einer war noch hier. Es war ein Mann, der schon früh am Morgen erschienen war und immerzu „Knilz, Knilzi, Knilz, wo seid ihr?“, rief und dabei einen merkwürdigen Singsang in der Stimme hatte, den Pilzchen nicht zuordnen konnte und, wenn sie ehrlich war, auch albern fand. Sie jedenfalls hatte ihren Kindern umso mehr eingeschärft, sich keinesfalls blicken zu lassen. Ihrer Erfahrung nach gaben Menschen nach einer Weile auf, wenn sie das begehrte Pokémon nicht finden konnten oder gingen wenigstens nachts schlafen. Dieser Mensch schien anders zu sein, dabei hatte Pilzchen schon gehofft, ihn losgeworden zu sein, als er mittags mit jemanden gesprochen hatte. Alles hatte sie nicht hören können, weil sie sich in sicherer Entfernung aufhielt, jedoch schien es kein freundliches Gespräch gewesen zu sein, da der andere Mann, dessen Kleidung überwiegend aus den Farben des Meeres bestand, ihn aufgebracht zu einem Kampf herausgefordert hatte. Jedoch erhielt der mysteriöse Knilz-Sucher Hilfe von einem zufällig vorbeigekommenen Kind, für das es ein Leichtes gewesen war, den Rüpel in die Flucht zu schlagen. Pilzchen hatte den Kampf angespannt verfolgt und mit Erleichterung gesehen, dass die drei Personen den Wald kurz darauf verlassen hatten. Jedoch hatte es nicht lange gedauert, als Pilzchen wieder „Knilzi, Knilzi, Knilz, kommt heraus!“ vernahm. Pilzchen, deren Beine langsam einzuschlafen drohten, weil sie seit Längerem in der gleichen Position verharrte, unterdrückte ein Gähnen. Sie war nicht gerade das, was man nachtaktiv nennen konnte, aber sie würde erst beruhigt sein, wenn der Mann verschwunden war. Dieser leuchtete weiterhin mit einer Taschenlampe in die Bäume, ins hohe Gras und in die Büsche; nur um Haaresbreite hatte sein Lichtschein Pilzchen schon mehrmals verfehlt. Sie überlegte, ob der Mann auch an ihr interessiert war, weil sie sich aus einem Knilz entwickelt hatte. Plötzlich raschelte es direkt neben ihr und sie zuckte zusammen. Blitzschnell wandte sie sich um und erblickte eines ihrer Knilze, das durch die Präsenz des Menschen zu dieser nächtlichen Stunde aufgewacht sein musste und sie verschlafen ansah. „Versteck dich“, flüsterte sie besorgt.
„Knilz? Komm doch her, ich tu dir nichts“, ertönte mit einem Mal die Stimme des Suchenden, der auf leisen Sohlen angeschlichen war. Pilzchen zögerte nicht länger. Frieden hin oder her, auch wenn sie eigentlich keine Menschen angreifen wollte, sah sie sich nun dazu gezwungen, um ihre Familie zu schützen. Sie feuerte Samenbomben ab, die der Mann erschrocken mit den Händen abzuwehren versuchte. Pokémon schien er selbst keine zu besitzen. Der Kampf erschien ihr daher unfair, doch als er sich ihrem Knilz erneut zuwandte und einige der im Wald herumliegenden Steinchen auf es warf, tobte sie nicht nur innerlich. Ihr Knilz war noch viel zu jung, schwach und obendrein um den verdienten Schlaf gebracht worden. Dieser Gauner sollte sie kennenlernen! Sie setzte mit schnellem Tempo gezielte Hiebe ab, denen er durch Sprünge nach allen Seiten auszuweichen versuchte, während er auf sie einredete, allerdings hörte die aufgebrachte Knilz-Mutter schon lange nicht mehr hin. Dennoch achtete sie trotz allem darauf, ihn nicht allzu sehr zu verletzen, ließ aber erst von ihm ab, als sie ihn auf diese Weise durch den ganzen Wald gescheucht und zum Ausgang bugsiert hatte.
Mittlerweile waren weitere Wald-Pokémon durch den Lärm aufgewacht, die den Mann mit drohenden Gesten signalisierten, dass er unerwünscht war. Dieser schaute nochmals zu den Knilzen, die sich, durch den Aufruhr aufgeschreckt, hinter Pilzchen versammelt hatten und seufzte dann. „Also gut, fürs Erste lasse ich es sein. Ich möchte deine Familie nicht auseinanderreißen“, sagte er dann freundlich, wenn auch erschöpft. Fast tat er ihr leid. „Möglicherweise habe ich Glück und erhalte in der Pension ein Ei, aus dem ein Knilz schlüpft.“ Er kramte in einer Tasche herum und warf dann etwas in ihre Richtung. Pilzchen wollte es bereits abwehren, als sie begriff, dass es Sinelbeeren waren. „Eine schöne Nacht noch“, murmelte er und ging dann langsam rückwärts aus dem Wald, um die Pokémon nicht weiter zu verärgern.
Ein allgemeines Aufatmen war zu hören, dann gingen alle Pokémon wieder zu ihren gewohnten Schlafplätzen, um die restliche Nacht zum Erholen zu nutzen. Auch Pilzchen kehrte mit ihren Knilzen, die sie sorgsam noch mal zählte, zu ihrem Stammplatz zurück. Vielleicht würde der Knilz-Sucher eines Tages ein Knilz finden, das ihm ebenbürtig in einem Kampf begegnen konnte, oder ein Ei erhalten. Pilzchen hoffte es für ihn und für ihre Familie. Nun herrschte Stille, nur hier und da von Schnarchlauten unterbrochen. Pilzchen, die noch kein Auge zugemacht hatte, freute sich darüber, dass der Frieden wieder eingekehrt war und legte sich dann neben ihren schon eingeschlafenen Kindern ins Gras, geschützt und umringt von hohen Büschen.
Ich sah aus dem Fenster, die Arme auf den Sims gestützt, und atmete die angenehm kühle Nachtluft ein. Der Tag war sehr warm gewesen und es war schön, die sanfte Nachtbrise in meinem Gesicht und meinen Haaren zu spüren.
Eigentlich wartete ich nur darauf, dass es zehn Uhr wurde und ich Noah wiedersehen konnte. Ich schloss die Augen und bereitete mich innerlich schon einmal auf die Nacht vor. Ich treffe mich mit Noah, sagte ich mir in Gedanken immer wieder. Ich gehe in die Traumwelt und treffe mich mit Noah. Währenddessen lauschte ich auf das Schlagen der Kirchturmuhr, das jede Minute erklingen musste.
Schließlich war es so weit und ich hörte die langsamen Glockenschläge. Zufrieden schloss ich das Fenster, damit mich keine Geräusche von außen stören würden und legte mich auf mein Bett, auf dem ich bis jetzt gekniet hatte.
Ich lag eine Zeit da, wiederholte in Gedanken mein Mantra und fixierte einen Punkt an der Decke. Es war immer noch ein seltsames Gefühl, einzuschlafen, während ich eigentlich wachblieb. Doch schließlich schloss ich meine Augen und schlug sie im selben Moment wieder auf. Nur, dass ich jetzt nicht mehr in meinem Bett war, sondern auf dem flachen Dach des großen weißen Betonklotzes, in dem meine Wohnung lag.
Ich stand auf und sah mich um. Noah war noch nicht da, und so nahm ich mir einen kurzen Augenblick Zeit, um die Stadt um mich herum anzusehen. Wäre dies die reale Welt, so wären die Straßen wohl leer und die Fenster dunkel. Doch es war die Traumwelt, und so waren in den Straßen überall grün leuchtende Menschen mit ihren jeweiligen und ebenfalls grün erscheinenden Traumkonstrukten um sich herum, Menschen, die weder die Traumwelt an sich noch die anderen träumenden Leute oder deren Konstrukte sehen konnten.
Selbst unter dem magischen Teil der Bevölkerung konnten nicht alle so bewusst in die Traumwelt eindringen wie Noah oder ich. Natürlich gab es Menschen, die ihre Träume steuern konnten. Aber nur wir und wenige andere waren in der Lage, die Traumwelt wirklich so zu erleben. Was aber wie ein schönes Talent klang, ging auch mit einer gewissen Verantwortung einher.
Ich bemerkte, dass ich plötzlich einen Schatten warf, und drehte mich um, wo sich in hellgelbem Licht Noah materialisierte. Er war etwas größer als ich, hatte kurzes blondes Haar und schöne, leichtend grüne Augen.
Ich lächelte und umarmte ihn, kaum, dass er vollständig da war.
„Hi Lucas“, hauchte er mir ins Ohr und strich mir durch mein langes Haar.
Mein Herz klopfte, wie immer, wenn ich ihn sah.
„Du siehst gut aus“, meinte er.
Ich küsste ihn sanft. „Danke“, sagte ich. Es bedeutete mir nicht nur etwas, weil ich ihn liebte, dass er das sagte. Denn während ich mein langes Haar mochte und es hier auch behalten wollte, galt das nicht für alle Teile meines Körpers. Wenn ich in der Traumwelt war, hatte ich keine Brüste – wie ich es eigentlich auch in der realen Welt gerne hätte. Auch hatte ich hier einen anderen Namen.
Wir setzten uns auf den Rand des Wohnhauses, die Hände ineinander verschränkt, und sahen hinaus auf die Stadt. Ich genoss diese ruhigen Momente mit ihm.
„Wie läuft es in der Firma?“, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. „Gut, hab gekündigt.“
Ich musste lachen, und er auch.
„Ich meine“, sagte er danach, „im Grunde sind unsere Alltagsjobs doch eh nur Tarnung. Wir machen schließlich das hier“, er gestikulierte zur Stadt hin, „und werden dafür ja auch bezahlt. Das hier ist wirklich ein Traumjob.“
Ich musste wieder kichern. Dieser Witz war unfassbar schlecht, aber das hinderte Noah nicht daran, ihn fast jede Nacht zu machen.
Ich lehnte mich an ihn, und er legte seinen Arm um mich.
„Wie …“ Er zögerte. „Hat sich bei dir etwas Neues ergeben?“
Ich versteifte mich ein wenig. „Nein“, sagte ich. „Ich … Ich warte noch auf den passenden Zeitpunkt, um es meinen Eltern zu sagen.“
„Okay.“
„Ich meine“, sagte ich, „sie werden es wahrscheinlich verstehen. Es ist nur immer noch …“ Ich brach ab, denn ich wusste nicht wirklich, was ich sagen sollte. Es fühlte sich immer so blöd an, zu sagen, dass ich Angst hatte, obwohl zumindest bei meinen Eltern kein Grund zur Sorge bestehen sollte. Jedenfalls hoffte ich das. Vielleicht war das das Problem: Ich hoffte es, aber wusste es nicht genau.
Noah beugte sich ein wenig herunter und küsste mich wieder. „Ich bin immer hier, um dir zu helfen, ja?“, flüsterte er. „Ich kann dich auch gerne besuchen kommen, wenn dir das hilft.“
„Bisschen weit entfernt, oder?“, meinte ich zynisch.
Er schüttelte den Kopf. „Das ist egal. Ich liebe dich und ich will dir helfen.“
„Vielleicht …“, fing ich an, stoppte kurz und fuhr dann fort: „Also, wenn es dir wirklich nichts ausmacht …“
„Überhaupt nicht.“
Ich lächelte. „Du bist echt der Beste.“
Wir küssten uns wieder, länger diesmal, doch mit einem Mal stellten sich meine Nackenhaare auf und ich merkte, dass auch Noah zusammenzuckte. Wir lösten uns voneinander, sprangen auf und sahen uns hektisch um, ließen den Blick schweifen über die Straßen, die Häuser die Fenster.
Und dann sahen wir es. Ein mindestens fünf Meter langes schwarzes Etwas, das sich aus einem Gullydeckel auf der Straße unter uns herausschlängelte. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Wurm oder eine Schlange, doch bei näherem Hinsehen war zu erkennen, dass überall vom Körper kleine schwarze Arme oder Füße abgingen, wie von einem Tausendfüßer.
Die Kreatur wand sich vollends aus dem Gully und kroch langsam auf ein Mädchen hinzu, das in seinem Traum gerade offenbar gegen einen feuerspeienden Drachen kämpfte – ohne zu ahnen, dass sich ihm etwas weitaus Gefährlicheres näherte: Ein Traumdämon.
Traumdämonen haben eigentlich nicht per se etwas mit Träumen zu tun. Eigentlich sind sie schlicht normale Dämonen, die in eine andere Welt verbannt wurden. Das Problem ist nur, dass die Traumwelt eine Art Durchgang zwischen unserer und ihrer Welt bildet. Manche Dämonen, die sich wie wir in der Traumwelt so fortbewegen können, nutzen die Traumwelt also für ihre Rückreiseversuche – und es ist unsere Aufgabe, das zu verhindern.
Daher überlegten wir nicht länger, sondern sprangen vom Dach hinunter. Von hohen Gebäuden springen ist in der Traumwelt kein Problem, da wir unseren Fall hier abbremsen können. Allerdings können wir nicht „alles“ tun – das geht nur innerhalb eines eigenen Traumkonstruktes, und selbst dann ist das mehr eine Illusion als Realität. Heißt: Wenn das kleine Mädchen da unten ihren Drachen auf den Dämon hetzen würde, würde ihr das wenig nutzen. Aber Noah und ich haben zum Glück noch unsere normalen Fähigkeiten aus der Realität – wenn bei Magie von „normal“ gesprochen werden kann.
Kaum auf dem Boden angekommen, rannten wir los. Noah war schneller als ich. „Ich lenke den Dämon ab!“, rief er. „Hol du das Mädchen da raus!“
Mittlerweile war der schwarze Tausendfüßer beim Mädchen und ihrem Drachen angekommen. Jetzt sah ich auch sein Gesicht, wenn es denn als solches bezeichnet werden konnte: Zwei komplett weiße Augen, die sich scharf gegen die schwarze Masse des Körpers abhoben, und ein Mund, der eher einem Riss glich und von spitzen, ebenfalls strahlend weißen Zähnen gesäumt war.
Der Dämon stürzte sich mit einem gierig klingenden Zischen auf den Drachen des Mädchens, und es war, als würde er ihn einfach einsaugen. Dämonen können Träume fressen und werden dadurch stärker. Bald war der Drache komplett verschwunden, und eines der vielen Fußglieder des Dämons wuchs in die Länge zu einem Tentakel, streckte sich nach dem Mädchen aus und wickelte sich um dessen Fuß. Die Schreie des Mädchens hallten durch die Straße, als es hochgehoben wurde und sich der furchterregenden Fratze des Dämons näherte. Er würde sie fressen – und wenn er das getan hatte, dann würde er ihren Körper in der realen Welt übernehmen. Das durften wir nicht zulassen!
„He!“, rief Noah und kam vor dem Dämon zum Stehen. „Lass sie sofort los, du widerliches Monster!“
Der Dämon hielt kurz inne und sah auf Noah herab. Das verschaffte mir Zeit, zu ihnen aufzuschließen, in die Luft zu springen und das Mädchen im Sprung aus dem Tentakel zu reißen. Wir kamen sanft auf dem Bürgersteig vor eine Häuserwand auf. Das Mädchen zitterte und schluchzte in meinen Armen.
Der Dämon brüllte vor Wut und schnellte mit seinem Maul voller spitzer Zähne auf uns zu, doch Noah sprang in den Weg. Der Dämon prallte mit voller Wucht in Noah hinein, der sich aber keinen Millimeter bewegte.
Ich grinste. Noah war ein Kinetiker – er konnte die Energie von einem Aufprall wie diesem einfach absorbieren. Aber noch cooler war, dass er sie auch anschließend in Kraft umwandeln konnte.
Noah holte aus und verpasste dem Dämon einen Faustschlag, der das Ungeheuer zurückschleuderte. Kurz darauf sackte es in sich zusammen. Es schien kurz benommen zu sein.
Ich drehte mich wieder zu dem Mädchen und legte ihm beruhigend die Arme auf die Schultern.
Das Mädchen war vielleicht neun Jahre alt und hatte schulterlanges, kastanienbraunes Haar. In seinem Gedicht stand noch immer das blanke Entsetzen. Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Bist du in Ordnung?“, fragte ich.
Das Mädchen reagierte nicht. Sein Blick ging an mir vorbei, offenbar auf den Dämon, der sich am Boden allmählich wieder regte.
„Hey!“, rief ich und schüttelte das Mädchen ein wenig. „Sieh mich an!“
Das Mädchen schreckte kurz zusammen und sah mir dann in die Augen.
„Es ist alles gut“, sagte ich ruhig. „Du bist nicht mehr in Gefahr.“
„Was … Was ist das?“, fragte das Mädchen mit zittriger Stimme und zeigte auf den Dämon. „Ist das hier … ein Albtraum?“
„Nun … Ja“, sagte ich, der Einfachheit halber. „Es ist nur ein Albtraum. Und weißt du, was bei du Albträumen hilft?“ Ich lächelte das Mädchen an. „Aufwachen. Du wachst einfach auf und alles ist wieder gut, okay?“
Das Mädchen schluckte, dann nickte es.
„Gut“, sagte ich. „Dann“, ich bemühte mich, Eindringlichkeit in meine Worte zu legen, „Wach. Auf.“
Das Mädchen flackerte, dann verschwand es. Ich atmete auf.
Im nächsten Moment krachte etwas in die Häuserwand neben mir, und kleine Steine flogen mir ins Gesicht. Nachdem sich der Staub etwas gelegt hatte, kletterte Noah aus einem Loch in der Wand.
„Was ist passiert?“, fragte ich.
„Er hat mich gepackt und geworfen“, sagte Noah verärgert, während er sich den Schutt von der Kleidung abklopfte. „Ich hasse es, wenn die das tun.“
Ich grinste wieder. Selbst ein Maschinengewehr könnte Noah nichts anhaben, aber ein hinreichend starker Gegner kann ihn umherwerfen wie eine Stoffpuppe – selbst wenn ihm das nicht wehtut.
Wir drehten uns beide wieder dem Dämon zu, der sich hoch über uns aufbäumte und wütend fauchte.
„Schätze, du bist jetzt dran“, sagte Noah.
Ich schlug meine Hände zusammen, rieb sie gegeneinander und fühlte, wie die Spannung sich aufbaute. Als der Dämon auf uns herabschoss, streckte ich die Hände aus und schoss mehrere Blitze auf den Dämon ab. Das Ungetüm brüllte vor Schmerz und wurde wieder zurückgeworfen. Ich schritt auf ihn zu und deckte ihn weiter mit Blitzen ein.
„Verschwinde!“, rief ich. „Geh zurück, wo du hergekommen bist!“
Der Dämon brüllte und zischte, doch unter meinem Speerfeuer war er gezwungen, zurückzuweichen. Schließlich fauchte er noch einmal besonders wütend und verschwand dann in dem Gully, aus dem er gekommen war.
Ich ließ erleichtert meine Hände sinken. Erst jetzt, wo die Gefahr vorüber war, bemerkte ich, dass ich sehr schwer atmete und auch ein wenig schwitzte.
„Erschöpft?“, fragte Noah und nahm meine Hand.
„Ein wenig“, stieß ich zwischen zwei Atemzügen hervor. „Hab’s vielleicht ein wenig übertrieben.“
Wir setzten uns auf den Bordstein des Bürgersteigs.
„Glaubst du, sie ist in Ordnung?“, fragte Noah.
Ich nickte. „Sie hatte natürlich Angst, aber wir waren wenigstens noch bei ihr, bevor sie gefressen wurde. Sie wird vielleicht einige Zeit nicht gut schlafen, aber sie wird in Ordnung sein.“
„Das ist gut“, sagte Noah.
Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter. „Meinst du, wir haben jetzt für den Rest der Nacht Ruhe?“, fragte ich.
„Das hoffe ich“, flüsterte er, drehte sich zu mir und küsste mich.
Um uns herum, in den Häusern und auf den Straßen, träumten die Menschen in Frieden weiter.
Wir liegen im Dunkeln, umhüllt von wohlig violetter Farbe. Du atmest leise ein, inhalierst den Duft des Lavendels, der uns umgibt. Mein Blick wandert umher. Hunderte, tausende Pflanzen ordnen sich Reih in Reih. Der Sternenhimmel wirkt dagegen fast chaotisch. In der Ferne ist dumpf die einsame Kontur eines Olivenbaumes zu erkennen. Ich verfange mich in seinem schattigen Geäst.
Du lehnst dich an mich, ich spüre deine Wärme.
Mit sanfter Stimme flüsterst du: „Das Violett. Es sieht im Mondschein fast noch schöner aus als am Tag, findest du nicht?“
Ich nicke verlegen. „Das stimmt, Lila. Nachts blüht es so heimlich.“
Fandom: Pokémon
Immer wieder waberte Dunkelheit über das Feld. Graue Wolken wurden vom Wind am Mond vorüber geschoben, doch noch ließen sie keine Tropfen auf die Erde fallen. In der fahlen Dunkelheit am Rand des Feldes stand eine junge Frau und genoss den Augenblick.
Lucy hatte die Nacht schon immer geliebt. Schon bevor sie mit zwölf Jahren das legendäre Pokémon Lunala erblickt hatte, war sie Nacht für Nacht raus gegangen und hatte in der kühlen Luft gebadet. Sie beschrieb unter dem Sternenzelt zu stehen und einfach nur tief durchzuatmen als eine einzige Erfrischung. Als hätte diese Zeit die Macht, ihr all ihre Ängste und Sorgen zu nehmen und nur die Gedanken zurückzulassen, die klar wie die Nachtluft selbst waren.
Lucy schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Die Klänge der Feier erschienen ihr weit entfernt, obwohl sie nur das Feld überqueren musste, um zu ihnen zu kommen. Heute war für sie alle ein Tag zum Feiern. Aber dennoch blieb Lucy noch einen Augenblick länger alleine mit der Nacht und dachte an ihre Zukunft.
Als Lucy die dekorierte Fläche erreichte, fiel ihr als erstes auf, dass, wer auch immer für die Planung zuständig war, nicht versuchte, die Nacht zu vertreiben. Stattdessen wurde sie eingebunden. Die bunten Lampions, die an hübschen Girlanden zwischen hölzernen Pfählen hingen, kamen erst in der Dunkelheit wirklich zur Geltung. Fast kam es einem so vor, als seien sie ihr natürliches Leuchten.
Auf der Tanzfläche zwischen den Pfählen und Girlanden tummelten sich schon viele junge Leute, die ausgelassen feierten. Kein Wunder, hatten sie doch gerade ihren Schulabschluss in der Tasche. Endlich nicht mehr büffeln und pauken. Heute wollten alle nur Spaß haben.
Lucy hielt zunächst auf das etwas abseits aufgebaute, aber ebenso stimmungsvoll erleuchtete und vor allem sehr gut bestückte Büffet zu. Fast schon überfordert ließ sie den Blick über die Massen an leckeren Kleinigkeiten schweifen. Von herzhaften Käsespießen bis zu Sinelbeerenkuchen war alles dabei.
„Da bist du ja endlich!“, erklang eine Stimme hinter ihr. Als Lucy sich umdrehte, entdeckte sie ihre Freundin Leah, die sich von einer Gruppe löste und auf sie zukam. „Ich dachte schon, du hättest dich schon aus dem Staub gemacht!“
„Warum sollte ich?“, fragte Lucy, während sie Leah zur Begrüßung umarmte.
„Du kannst mir nichts vormachen.“ Leah senkte die Stimme, ehe sie weitersprach: „Ich weiß, dass du gehen willst. Ich weiß, dass du es hier nicht mehr aushältst und eigentlich am liebsten so schnell wie möglich verschwinden würdest. Also danke, dass du noch gekommen bist, um dich zu verabschieden.“
Das traurige Lächeln, das nun auf Leahs Gesicht erschien, brach Lucy fast das Herz. Sie hätte wissen müssen, dass ihre beste Freundin ihre Pläne erraten konnte. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Lucy bei keiner ihrer Pflegefamilien je glücklich gewesen war – und Leah wusste sogar, welche schlimmen Erinnerungen sie noch mit dieser Stadt verband. Es war für Lucy nie eine bewusste Entscheidung gewesen, auf Reisen zu gehen, sobald sie alt genug war. Sie wusste es einfach; die Gewissheit war so klar, wie sie die Nachtluft einatmete.
„Lass uns einfach ein bisschen Spaß haben, okay?“, fragte Lucy.
„Okay. Die Reisbällchen sind große Klasse“, wechselte Leah dann das Thema, wofür Lucy ihr sehr dankbar war. „Die musst du unbedingt probieren! Wer hätte gedacht, dass Theo so gut kochen kann?“
„Dann werde ich sie auf jeden Fall probieren.“
Leah musterte sie kurz und wurde wieder ernst. „Versprich mir, dass du nicht gehst, ohne dich zu verabschieden.“
„Ich verspreche es“, antworte Lucy und meinte es auch so.
„Gut“, sagte Leah und sah irgendwie erleichtert aus. „Dann lasse ich dich jetzt deine Abschiedsfeier genießen – und dich auf deine Weise von den anderen verabschieden.“
Lucy war sich nicht ganz sicher, wie Leah das gemeint hatte. Lucy hatte nicht vor, sich von jemandem außer Leah wirklich zu verabschieden. Hatte Leah das erraten und es deshalb so komisch ausgedrückt? Aber ehe Lucy noch etwas sagen konnte, war Leahs brauner Schopf schon zwischen den Feiernden verschwunden.
Zumindest mit einem hatte Leah Recht. Als Lucy sich wenig später mit einem gefüllten Teller zu einer Gruppe von Mitschülerinnen gesellt hatte, die darüber stritten, ob tatsächlich eine Zwielichtform von Wolwerock existierte oder nicht, verschlang sie gleich drei der köstlichen Bällchen, was ihr durchaus den ein oder anderen Kommentar einbrachte. Aber Lucy wusste, dass die anderen es nicht böse meinten. Im Gegensatz zu ihren Problemen zuhause hatte es in der Schule kaum jemanden gegeben, mit dem sie nicht klarkam. Allerdings konnte sie nur Leah als wirkliche Freundin bezeichnen und blieb sonst eher für sich. Dennoch war die Schule immer ein Lichtblick in ihren Tagen gewesen und sie hätte nicht gehen können, ohne noch einmal mit ihnen allen zu feiern. Eine eigene Art von Abschied. Sie lächelte, als sie erkannte, dass Leah auch damit richtig lag.
Nachdem sie ihren inzwischen leeren Teller zurück zum Büffet gebracht und in die dafür vorgesehene Kiste gestellt hatte, wanderte Lucy noch ein bisschen zwischen den herumstehenden Gruppen umher, hörte mal hier und mal da zu, war aber nie wirklich Teil des Gesprächs.
Schließlich suchte sie die Menge nach Leah ab und fand ihre Freundin mitten auf der Tanzfläche. Ihre Bewegungen erinnerten nicht gerade an tänzerisches Geschick und Lucy konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Da es aber die wenigsten um sie herum besser konnten, scherte sich niemand um Leahs Gehampel.
Lucy entschied, dass es nun an der Zeit war, ihre eigenen Bedenken bezüglich des Tanzen über Bord zu werfen und sich zu Leah auf die Tanzfläche zu gesellen. Erst noch mit kleinen, zaghaften Bewegungen schob sie sich durch die äußeren Reihen, ehe sie immer mehr vom Rhythmus erfasst wurde. Es kam ihr vor, als atme sie die Musik zusammen mit der Luft ein und die Energie gehe direkt in ihre Glieder. Und dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie ließ einfach los.
Die klare Nachtluft war gefüllt mit verschiedenen Gerüchen nach Essen und Parfum und trotzdem schien es, als würde sie Lucy Kraft geben. Vielleicht war dies der letzte Tag, an dem sie all diese Leute sah. Warum dann nicht tanzen? Warum nicht feiern, was sie alles überstanden hatte, feiern, dass sie noch immer da war?
Die Welt um sie herum schien zu verschwimmen, bestand nur noch aus verwischten Farben, Sternen und Musik. Lucy bemerkte kaum, wie sie Leah erreichte. Aber das Gefühl, mit ihr zusammen zu tanzen, würde sie niemals vergessen.
Irgendwann war Lucy so außer Atem, dass sie aus ihrem tranceartigen Tanzzustand erwachte und alles für etwas Trinkbares getan hätte. Sie bedeutete Leah, dass sie zum Büffet gehen würde, und quetschte sich durch die Feiernden zurück zum freien Feld.
Am Büffet angekommen, schenkte sie sich ein Glas alkoholfreie Bowle ein. Noch immer raste ihr Herz und ihr Atem ging schwer und langsam. Während sie den Früchtepunsch trank, schweifte ihr Blick über die Ansammlung von Menschen, mit denen sie in den letzten Jahren fast jeden Tag verbracht hatte. Zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich dazugehörig. Doch ihr Herz wusste, dass dies nicht nur für sie selbst eine Abschiedsfeier darstellte. Sie alle würden ab morgen neue Wege gehen. Manche von ihnen würde Lucy niemals wiedersehen.
So melancholisch dieser Gedanke auch war und wie widersprüchlich es auch zu dem Gefühl der Zusammengehörigkeit schien, so sicher wusste Lucy auch, dass dies der perfekte Moment war, um die Feier zu verlassen und in die Nacht zu verschwinden. Denn so wie er war, konnte sie diesen Moment für immer in ihrem Herzen tragen.
Sie entdeckte Leah am Rande der Tanzfläche – offenbar wollte sie ebenfalls ein wenig verschnaufen – und fing ihren Blick ein. Ihre beste Freundin verstand sofort. Es war Lucy immer wie eine Art geheime Superkraft vorgekommen, aber Leah verstand sie immer, auch wenn es sonst keiner tat. Sie zurückzulassen würde am schwierigsten werden. Aber den Weg, der vor ihr lag, musste Lucy alleine gehen. Zumindest vorerst. Vielleicht war dies kein Abschied für immer.
Quälend langsam kam Leah auf sie zu. Lucy wusste, dass sie es tat, um nicht zu viel Aufmerksamkeit wegen ihres Aufbruchs zu erregen. Trotzdem wünschte sie sich, es wäre schneller vorbei.
Sobald sie sie erreicht hatte, zog Leah Lucy in eine feste Umarmung.
„Du wirst mir fehlen“, flüsterte sie in Lucys Ohr.
„Du mir auch.“
Leah ließ von ihrer Freundin ab und sah ihr fest in die Augen. „Vergiss nicht, wie viele Möglichkeiten es gibt, in Kontakt zu bleiben!“
„Werd ich nicht“, erwiderte Lucy lächelnd. „Versprochen.“
Leah nickte langsam. „Dann werde ich mich jetzt umdrehen und wieder tanzen gehen, damit du dich so still und heimlich davonstehlen kannst, wie du es wolltest.“
Lucys Lächeln wurde noch breiter. „Ich hab dich lieb“, sagte sie. Die Worte fühlten sich seltsam an, wie sie das erste Mal ihren Mund verließen. Aber auch dafür war dies der perfekte Moment.
„Ich hab dich auch lieb“, antwortete Leah, drehte sich um und verschwand wieder in der Menge.
Lucy schloss die Augen, sog die Luft ein und lauschte. Nur ein Hügel und ein bisschen Feld trennten sie von der Feier und doch war kaum noch etwas von dem ausgelassenen Treiben zu hören. Niemand hatte sie gehen sehen. Sie war einfach in den Schatten der Nacht verschwunden.
Noch einmal atmete sie tief durch, ehe sie die Augen öffnete. Sie war alleine. Aber sie war frei. Frei von dem System, das sie von Familie zu Familie, von Haushalt zu Haushalt gereicht hatte. Frei, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Frei, zu gehen, wohin sie ihre Füße trugen.
Ein einzelner Tropfen verirrte sich auf ihr Gesicht und ließ ihren Blick nach oben gleiten. Irgendwo würde es bald regnen, hier aber trieb der Wind die letzten Wolken fort und machte den Blick auf das unendliche Universum frei.
Kurz verlor sich Lucy in dem Anblick. Aber irgendetwas war seltsam. Sie blinzelte. Hatten sich die Sterne dort bewegt? Nicht schnell und glühend, wie bei einer Sternschnuppe, sondern langsam und fließend.
Lucy kniff die Augen zusammen und versuchte, mehr zu erkennen. Dort oben war etwas. Mit sanften Flügelschlägen kam es näher und sie erkannte Lunala, den Bringer der Nacht. Seine nachthimmelfarbenen Schwingen schlugen gemächlich und das Gold an seinem Kopf schimmerte im Sternenlicht fast wie ein Heiligenschein. Lucy erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung mit diesem legendären Wesen, aber so majestätisch war es ihr damals nicht vorgekommen. Und heute kam es direkt auf sie zu.
„Lunala“, flüsterte Lucy ehrfürchtig, als das Mondscheibe-Pokémon vor ihr landete.
Lunala stieß einen Schrei aus, der in Lucys Ohren sowohl wie ein Windrauschen als auch wie eine Begrüßung klang.
Reglos betrachtete sie das mächtige Pokémon, das ihren Blick erwiderte. Lucy wusste nicht, wie lange sie einfach nur dastand und seine Schönheit bewunderte, ehe sie bemerkte, dass sich in Lunalas Gesicht etwas verändert hatte. Es sah aus, als ob es lächelte.
Unwillkürlich erschien auch auf Lucys Lippen ein Lächeln, was das Pokémon offensichtlich als Anlass nahm, sich umzuwenden und mit dem Kopf zur Seite zu nicken.
Lucys Lächeln wandelte sich in ein ungläubiges Staunen. Sollte das wirklich heißen, was sie glaubte, dass es hieß?
Als hätte es ihre Gedanken erraten, stieß Lunala erneut einen Schrei wie einen Windhauch aus, doch dieses Mal klang er auch wie eine Bestätigung.
Immer noch voller Ehrfurcht ging Lucy auf das riesige Wesen zu. Es zu berühren fühlte sich an wie die Nachtluft – kühl und erfrischend. Einen Moment zögerte sie, doch dann kletterte sie schließlich auf seinen Rücken.
Lunalas nächster Schrei fragte Lucy, ob sie bereit sei.
Langsam nickte sie, ehe sie das eine Wort formte, das sie noch vom Beginn ihrer Reise trennte: „Ja!“