Nachdem nun ein paar Tage vergangen sind und damit vielleicht die Emotionalität der Debatte ein wenig nachgelassen hat, wäre es vielleicht noch einmal sinnvoll, auf besagte Debatte zu schauen, die in den letzten Tagen, um es vorsichtig auszudrücken, sehr polarisiert hat. Zunächst aber:
Deswegen sagte ich ja "mutwillige Zerstörung in Kauf nehmen", weil aus den Berichten, die ich gelesen habe, nicht hervor geht, ob den Protestierenden bewusst war, dass die Bilder entsprechend geschützt sind oder ob es ihnen egal war (sie damit eben in Kauf genommen haben), Werke von unschätzbarem Wert zu zerstören.
Der Punkt hierbei ist: Wenn du nicht weiß, ob das den Protestierenden bewusst ist, kannst du auch nicht unterstellen, dass sie eine Zerstörung der Kunstwerke in Kauf nehmen. Du kannst lediglich sagen, dass du nicht weißt, ob sie das tun oder nicht, und das wiederum sagt ja gar nichts aus. Ich persönlich kenne nun nicht die Einzelheiten jedes einzelnen Vorfalls und kann daher nicht allgemeingültig sagen, dass die Protestierenden da jedes Mal drauf achten, wenngleich es mir logisch erscheinen würde, dass sie das tun, schon allein, weil ein sehr teures Kunstwerk tatsächlich zu zerstören eine ungleich höhere Strafe nach sich ziehen würde, ohne dass der Aufmerksamkeitseffekt signifikant gesteigert würde. Aber das ist natürlich kein allgemeingültige Argument. In Hinblick auf konkrete Einzelfälle lässt sich aber bei Nachschauen konstatieren, dass die jeweiligen Leute durchaus darauf achten:
The canvas of the painting is protected with a glass screen, a factor Just Stop Oil said they had taken into account.
Ob das immer so ist, kann ich wie gesagt nicht mit absoluter Gewissheit behaupten und in Einzelfällen, in denen es nicht so ist, ließe sich sicher dahingehend auch Kritik üben. Mir geht es aber auch hier eigentlich hauptsächlich nciht darum, jede Aktion von Klimaaktivist*innen als moralisch einwandfrei darzustellen oder jede Anschuldigung, die vorgebracht wird, zu debunken. Vielmehr würde ich darauf hinweisen, dass es nicht wirklich redlich ist, ohne tatsächliche Informationen vom Schlechtesten auszugehen und anzunehmen, dass die Aktivist*innen tatsächlich die Zerstörung von Kunstwerken billigend in Kauf nehmen (daran ließe sich vor dem Hintergrund des eben gesagten vermutlich sogar eher zweifeln). Es wäre ebenso, sollte es sich im Einzelfall doch einmal zeigen, dass das der Fall war, nicht korrekt, das in diesem Fall Erwiesene auf andere, auch anders gelagerte Fälle, zu projizieren.
Ich verstehe halt nicht, warum man als Aktivist nicht zumindest so weit ist, die Sperren den Leitstellen von Feuerwehr und Rettung mitzuteilen. Lässt man halt die Polizei aus. Dann kann das bei der Routenplanung entsprechend berücksichtigt werden. Problem auf Bundes- und Ortsstraßen potentiell gebannt… Es gibt fast immer einen alternativen Weg.
Auch hier kann ich nicht für alle Aktionen sprechen. Aber in Hinblick auf den Fall mit der Blockade auf der A100 wird hier im Interview (leider hinter Paywall) gesagt, dass die Organisation "Letzte Generation" durchaus bei ihren Blockaden mit der Polizei zusammenarbeitet, und die Aktivistin Aimée van Baalen präzisiert das auf Nachfrage der ZEIT folgendermaßen:
ZitatWir sagen der Polizei vor den Aktionen oft, dass es sinnvoll wäre, das Tempo auf der A100 auf 30 Stundenkilometer zu reduzieren. Oder aber die Autobahn für diesen einen Tag oder ein paar Stunden zu sperren, damit gar nicht erst eine Situation entstehen kann, bei der es einen Unfall gibt oder ein Krankenwagen nicht durchfahren kann. Auch sagt uns die Polizei im Zweifel, wenn sie von einem Notfall weiß, woraufhin wir die Straße freigeben können.
Erneut: Ich kann nicht einfach behaupten, dass die Aktivist*innen schon alles Mögliche tun, weil ich es eben nicht weiß. Vielleicht wird mit der örtlichen Feuerwehr kein Kontakt aufgenommen und dann wäre es empfehlenswert, es direkt zu tun. Aber vor dem Hintergrund, dass bei den Blockaden durchaus eine Zusammenarbeit mit den Behörden vorhanden zu sein scheint, würde ich davon nicht einmal unbedingt ausgehen, und bevor ich kritisieren würde, was die Organisation noch alles tun müsste, würde ich vorher bei den Leuten nachfragen (oder anderweitig recherchieren), ob das nicht schon gemacht wird, und dabei gegebenenfalls dann, wenn ich es kritisiere, zwischen den jeweiligen Gruppen differenzieren, da die Praxis von Organisation X ja nicht die von Gruppe Y sein muss. Aber auch hier wäre es unterm Strich meines Erachtens gerade eingedenk der Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit den Behörden, die darauf abstellt, Verzögerungen im Einsatz von Rettungskräften zu minimieren, nicht fair, erst einmal vom Schlechtesten auszugehen.
Insgesamt bemerke ich in der Diskussion allgemein eine unzureichende Informationsbasis, die dann teilweise auch mit eigenen Vorstellungen darüber gefüllt wird, wie es vermutlich aussieht, und diese sind dann in der Regel wenig wohlwollend bis teilweise schlicht unfair. Zugleich werden oft andere Sachen ausgeblendet: Es könnte bei einigen Meinungsäußerungen der letzten Tage, die beklagen, die Protestaktionen würden nie die Politik oder die Wirtschaft treffen, obwohl das doch die eigentlichen Ziele sein müssten, der Eindruck aufkommen, Derartiges würde nie gemacht. Aber das wird es nun einmal auch, darüber wird nur - ironischerweise - kaum geredet. Wenn so etwas schlicht in der Debatte ignoriert wird, dann sagt das weniger über die moralische Legitimität der Protestaktionen aus als über die Leute, die sie auf Basis unvollständiger oder bewusst verkürzter Informationen beklagen.
That being said: Die Süddeutsche berichtet in Hinblick auf den hier diskutierten Vorfall, dass der Stau und das verspätete Eintreffen des Rüstfahrzeugs, das zum Anheben des Betonmischers, der die Radfahrerin erfasst hatte, hätte genutzt werden können, nach Einschätzung der Notärztin, die an der Unfallstelle bereits eingetroffen war (es sei explizit drauf hingewiesen, dass nicht sämtliche Rettungskräfte durch den Stau aufgehalten worden waren, sondern eben spezifisch das Rüstfahrzeug), keinen Einfluss auf die Versorgung des Unfallopfers hatten, da sich die Notärztin des Rüstfahrzeugs nicht bedient hätte, wenn es dagewesen wäre.
Wenn ich das hier sage, dann mag vielleicht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ich die Protestaktionen der Tendenz nach eher verteidigt habe, der Gedanke aufkommen, ich würde jetzt sogleich einen Sekt aufmachen. Das wäre indes aus drei Gründen eine Fehleinschätzung, und ich werde diese Gründe nun allesamt erläutern, weil sich auf ihrer Basis meines Erachtens nach mehrere Dinge, die mir an der Diskussion der letzten Tage sehr sauer aufstoßen, erklären lassen.
Erstens ist es so, dass hier nach wie vor ein Mensch gestorben ist, und es würde doch allgemein sehr pietätlos anmuten, dann darüber zu jubeln, dass wenigstens Klimaaktivist*innen nicht schuld waren. Das sollte auch nicht getan werden. Nun ist es hier aber natürlich so: Ebenso pietätlos war es, dass sich alle so darauf gestürzt haben, als es noch eher so aussah (es gibt hier generell noch Unklarheiten, siehe unten Erläuterung des zweiten Grundes), das könnte der Fall sein. Das Unfallopfer, von dem weder Name noch Gesicht bekannt sind, wurde in die Öffentlichkeit gezogen und politisch instrumentalisiert - politisch insturmentalisiert deshalb, weil es bei der Diskussion um den Tod des Unfallopfers ja nicht daraum ging zu diskutieren, wie derartige Tode wirklich verhindert werden könnten (also ähnlich, wie wenn beispielsweise in den USA nach einer Schießerei über schärfere Waffengesetze diskutiert wird, was wohl kaum eine politische Instrumentalisierung der Opfer sein dürfte). Vielmehr ging es um die Ausschaltung eines politischen Gegners, um nicht zu sagen, eines als solchen empfundenen Feindes. Es mag sein, dass nicht alle, die die Proteste verurteilten, eine derartige Intention hatten; es könnten sich auch Einige von der Empörungswelle schlicht haben mitreißen lassen. Das ändert aber nichts daran, dass das Ganze im Ursprung ziemlich eindeutig nicht auf sachliche Diskussion, sondern auf besagte Ausschaltung des politischen Gegners abzielt. Diese Instrumentalisierung des Opfers (und eventuelle Enttäuschung darüber, dass sie vielleicht jetzt nicht mehr so einfach möglich ist) ist mindestens ebenso abzulehnen wie eventuelle Freude darüber, dass jetzt Aktivist*innen nicht die Schuld trugen.
Zweitens ist es so, dass der Fall noch nicht ausreichend klar ist. Die Ermittlungen, die eine mögliche Verantwortlichkeit zweier Aktivist*innen bzw. das Ausmaß einer solchen Verantwortung, so sie denn ermittelt werden kann, überprüfen werden, sind meines Wissens noch nciht abgeschlossen. Während das Ergebnis solcher Ermittlungen nicht unbedingt einfach unkritisch hingenommen werden muss, wäre es falsch, dieses nicht abzuwarten und/oder schlicht zu ignorieren.
Gerade diese abwartende Haltung ist es aber, aus der die Diskussion der letzten Tage, wie sie sich in den (sozialen) Medien (das Forum ist hier keine Ausnahme) abspielte, kritisiert werden muss: Verantwortlichkeit wurde sehr schnell zugeschrieben, gefolgt von Forderungen nach teilweise sehr harten Strafen. Diese Forderungen sind schlicht voreilig und teilweise populistisch; die Presse ist hierbei nicht aus der Verantwortung herauszunehmen, wie der Jurist Thomas Fischer schreibt, denn diese habe die unangenehme Angewohnheit, Politiker*innen, die mit der Judikative nichts zu tun haben, einen Einfluss auf deren Straffestsetzungen zuzuschreiben, was schlicht nicht der Fall ist und auch verfassungswidrig wäre. Aber auch abseits der Presse waren Vorverurteilungen eben nicht weit: Während die Bezeichnung als "Kriminelle" wahrscheinlich nur insofern zu kritisieren wäre, als dass eben der Status als "kriminell" noch zu erweisen wäre und am Ende lediglich eine Verurteilung wegen Nötigung (nicht aber unbedingt Behinderung von Rettungskräften) bedeuten könnte, war ebenso die Rede von "Mördern", von "Terroristen", die das Land in "Geiselhaft" nähmen. Der Vergleich mit der RAF war ebenfalls nicht weit. Einen allgemeinen Überblick über das bietet ein allgemein sehr sachlicher und differenzierter Artikel von Stefan Niggemeier von Übermedien.
Niggemeier verweist dabei auch noch auf einen wesentlichen Punkt in Hinblick auf die Verantwortungsfrage: Selbst wenn auch am Ende aller Ermittlungen und Diskussionen stehen sollte, dass in diesem konkreten Fall das Unfallopfer nicht durch die Aktionen der Klimaktivist*innen zusätzlich geschädigt wurde, bleibt grundsätzlich der Aspekt, dass es aber so hätte sein können. Nun ist dieser Umstand einerseits durchaus zu berücksichtigen, aber es bleibt auch hier das größere Ganze zu betrachten: Wenn wir argumentieren, dass dies ausreichend ist, diesen Protest zu verurteilen, dann müssen wir die gleiche Schlussfolgerung auch für eine Reihe anderer Proteste machen (und möglicherweise sogar für alle). Niggemeiner verweist in diesem Kontext auf das 2019 von einer Treckerdemo gegen Agrarpolitik in Oldenburg ausgelöste Verkehrschaos, wobei besagte Demo nebenbei bemerkt, von vielen Vertreter*innen der CDU oder FDP - Parteien deren Leute jetzt an vorderster Front dabei waren, Stimmung gegen die Klimaaktivist*innen zu machen - als legitim empfunden wurde. Wir können das als simple Widersprüchlichkeit und/oder Heuchelei abtun und hätten damit wohl auch Recht; zugleich können wir es aber auch zum Anlass nehmen zu realisieren, dass die Frage, welche Protestformen wir aus welchen Gründen als legitim oder als nicht legitim ansehen, durchaus weitreichende Konsequenzen hat, auch für die Frage, wie demokratische Beteiligung in unserer Gesellschaft aussieht bzw. auszusehen hat. Diese Punkt wird auch in Hinblick auf die rechtliche Dimension von Thomas Fischer im oben verlinkten Artikel hervorgehoben: Bestimmte Rechtsargumentationen, die ein Verbrechen seitens der Aktivist*innen nachweisen könnten, würden ebenso für viele andere Dinge in Betracht kommen, die allgemein als sozialadäquat gelten. Zwar sei der Klimaprotest von der Lebensrealität weiter entfernt als diese; aber das wäre rechtlich streng genommen kein schlagendes Argument. Letzten Endes ist es so: Es muss vermieden werden, mit zweierlei Maß zu messen. Wenn der Weg, das zu tun, aber in einer Rundum-Ablehnung von vielen verschiedenen Protestformen und -aktionen besteht, muss sich mit der Frage beschäftigt werden, was dadurch alles an bisher legitimer demokratischer Partizipation ebenfalls diskreditiert wird, und ob das nicht sogar das größere Übel darstellt.
Auf noch einen Punkt lässt sich hier hinweisen: Eine Schädigung des Unfallopfers durch Klimaaktivist*innen wäre schlussendlich eine indirekte. Dies würde dann einerseits bedeuten, dass Klimaaktivst*innen sich der Verantwortung mit Verweis auf die Indirektheit der Schädigung nicht entziehen könnten, weil das moralische Paradigma rund um den Klimawandel derartige Schädigungen als moralisch relevant anerkennt. Zugleich aber, und damit geht es auch wieder in die andere Richtung, wären diverse konservative Kommentator*innen dazu gezwungen, dann auch in Zukunft nicht mehr solche Schädigungen, die im Zuge des Klimawandels entstehen, als indirekt und daher als moralisch nicht relevant abzutun, wenn sie in der gleichen Art in Hinblick auf Protestaktionen argumentieren. Es ist aber, und auch das ist hier relevant, damit zu rechnen, dass bezüglich der Ehrlichkeit in Hinblick auf diesen Punkt ein erhebliches Ungleichgewicht herrschen wird, da diejenigen, die Klimaschutzmaßnahmen der Tendenz nach ablehnen, in der Regel weniger Probleme mit derartigen argumentativen Inkonsistenzen haben (kein kausaler Zusammenhang impliziert). Auch das sollte durchaus berücksichtigt werden: Die moralischen Ansprüche an Klimaaktivist*innen (auch die, die sich selbst stellen) sind in der Regel höher, als das bei der anderen Seite der Fall ist. Dass die Ansprüche an Klimaaktivist*innen so sind, wie sie sind, mag als in Ordnung empfunden werden, als dass solche Verantwortlichkeit als Mindeststandard empfunden werden kann. Allerdings wären dann diejenigen, die ihr im Zweifelsfall (noch) weniger gerecht werden, ebenfalls nicht so leicht und eigentlich sogar schwerer vom Haken zu lassen. Ich habe dahingehend den EIndruck, dass dann oft mehr die Achseln gezuckt werden, weil von diesen Leuten "ja ohnehin nichts anderes zu erwarten" sei, aber eine derartige Abstumpfung gegenüber dem "alltäglichen Bösen" sollte allgemein kritisch reflektiert werden.
Drittens sehe ich keinen Grund zur Freude aufgrund dessen, was sich nun im bisherigen Teil des Beitrags schon angedeutet hat: Die ganze Debatte und die Art, wie sie geführt wird, hat mich ehrlich gesagt ziemlich schockiert. Es mag ein Zeichen meiner Naivität sein, aber ich habe es bisher noch nie erlebt, dass eine so große Zahl an Menschen bereit war, wichtige Aspekte einer Debatte teilweise schlicht zu ignorieren, um sich an dem zu beteiligen, was wie gesagt letztlich der Versuch der radikalen Diskreditierung eines politischen Gegners war. Es ist auf einer gewissen Ebene ziemlich soulcrushing zu sehen, dass Menschen, die an anderer Stelle die Empörungsmechanismen sozialer Medien schon einmal heftig kritisiert hatten, nun selbst keinerlei Probleme hatten, sich an ebendiesen zu beteiligen; und das alles in einer Situation mit mehr als unzureichender Informationsbasis. Es wurde eine moralische Eindeutigkeit gefordert, wo faktisch keine möglich war, und es ließ sich dabei offensichtlich nur allzu leicht Wut und Hass entfesseln und gegen eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen richten, wohlgemerkt aus rein politischen Motiven. Die Art, wie teilweise der Vorfall zum Anlass genommen wurde, um allgemein den eigenen Abneigungen gegenüber Klimaaktivist*innen Ausdruck zu verleihen und in regelrechte Rants zu verfallen, ohne dabei auch nur irgendwie zu differenzieren, ist erschreckend, und es kam auch schon zu Gewaltaufrufen gegen Aktivist*innen, wobei zu bedenken ist, dass Aktivist*innen schon in der Vergangenheit mehrmals Opfer tatsächlicher Gewalttaten wurden.
Das alles ist eigentlich gerade vor dem Hintergrund, dass Klimaaktivist*innen möglicherweise nun doch keine Verantwortung für den Tod der Radfahrerin hatten (erneut, das ist noch nicht über jeden vernünftigen Zweifel erhaben), so bedenklich für mich: Das alles, was sich in den vergangenen Tagen im öffentlichen Debattenraum abspielte, war quasi "nur" die Generalprobe, und mir graust es ehrlich gesagt vor der tatsächlichen Premiere.