Nach langer Zeit poste ich mal wieder etwas in diesem Bereich. Zielsetzung des Projekts war eine längere Geschichte zu verfassen, im optimalen Falle eine Light Novel.
Die Geschichte umfasst mehrere Kapitel, die ich nach und nach hier posten werde. Heute einmal die ersten beiden. Auch wenn der Text nachfolgend zu lesen ist empfehle ich die PDF-Version. Da der Text in Japan spielt gibt es diverse Eigenheiten, die ich in den Fußnoten erläutere. Sicherheitshalber poste ich noch eine Liste in der diese auch aufgeführt sind, allerdings empfinde ich persönlich es lästig deswegen immer nach oben scrollen zu müssen. Kommentare jeglicher Art sind stets willkommen.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.
Beschreibung:
„Sicher habt ihr schon öfters die Titelblätter von Mangas gesehen, auf denen Mädchen in Schuluniform posieren und diese mit ihrer Oberweite beinahe sprengen. Nun, so eines bin ich nicht. Ich bin von eher kleinem Wuchs, habe krauses dunkles Haar, schlechte Augen und finde mich auch ansonsten wenig ansehnlich. Mein Babyspeck tut sein Übriges. Ich bin nichts Besonderes – jedenfalls nicht im positiven Sinn.“
So beschreibt sich Ai Nakamura. Ihr geringes Selbstvertrauen macht sie zu einem leichten Ziel für abfällige Bemerkungen, besonders von einer Mitschülerin. Doch auch sie hat Freunde, die zu ihr stehen und ihr helfen ihr Leben zu meistern. Wer weiß, vielleicht ist doch nicht alles so aussichtslos, wie es scheint …
Eine Light Novel im Slice of Life-Stil über eine sich unterschätzende Oberschülerin auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben.
Kapitel 1 - Ich bin eine Prinzessin, aber ...
Kapitel 2 - Ich habe ihn nicht verdient
Kapitel 3 - Unser Klub macht einen Ausflug
Kapitel 4 - Kennt Amuro-san mein Geheimnis?
Kapitel 5 - Wir fahren an den Strand
Kapitel 6 - Die neue Mitschülerin
Kapitel 7 - Nach dem Kulturfest
Kapitel 8 - Familienangelegenheiten
Kapitel 11 (Finale) - Davor und danach
KAPITEL 1 - Ich bin eine Prinzessin, aber ...
Wir schreiben heute den 14. Februar. Es ist Valentinstag, jenes Datum, für das wir Mädchen in Japan uns die Mühe geben Schokolade herzustellen. Natürlich ernten wir dafür keine Kakaobohnen und rösten sie so lange, bis sie zu Schokolade werden. Daher ist die Bezeichnung „herstellen“ etwas irreführend. Aber wir kaufen diese, und geben ihr eine neue Form für den Menschen, den wir lieben. Auch ich bin keine Ausnahme. Mein Name ist Ai Nakamura, ich bin siebzehn Jahre alt und ich besuche die elfte Klasse der Oberschule.
Eines vorweg: sicher habt ihr schon öfters die Titelblätter von Mangas gesehen, auf denen Mädchen in Schuluniform posieren und diese mit ihrer Oberweite beinahe sprengen. Nun, so eines bin ich nicht. Ich bin von eher kleinem Wuchs, habe krauses dunkles Haar, schlechte Augen und finde mich auch ansonsten wenig ansehnlich. Mein Babyspeck tut sein Übriges.
Warum ich dennoch Schokolade hergestellt habe, wenn ich mich nicht liebenswert finde? Gute Frage. Es war eine Mischung aus Übermut und Tollkühnheit, die mich dazu anstachelte. Es ist tatsächlich so, dass mir nur sehr wenig Fähigkeiten mitgegeben wurden. Aber auch ich sehne mich nach einer zärtlichen Berührung, Zweisamkeit und den Worten „Ich liebe dich!“.
Darüber hinaus koche ich sehr gerne und es hat mich schon immer gereizt einmal Schokolade für meinen Liebsten herzustellen. Die Anfertigung war die eine Aufgabe. Die andere und wesentlich schwierigere ist es das Naschwerk zu überreichen und damit Farbe zu bekennen. Wie gesagt, ich bin optisch nichts Besonderes, wenigstens nicht im positiven Sinne.
Der Junge, der es mir angetan hat, könnte einem Shojo-Manga[1] entstiegen sein. Er ist der Traum der meisten Mädchen an unserer Schule und ein geistiger Überflieger. Man sagt, er sei eine der großen Hoffnungen Japans und würde in der Zukunft sicher einmal eine DER Führungspersönlichkeiten werden. Ihr seht, wie groß die Kluft ist, die ich zu überwinden habe.
Nichtsdestotrotz habe ich kleine Pralinen in Herzform für ihn hergestellt und diese in einer hübschen Box zurechtgemacht. Ich bin mir sicher, von all den Geschenken, die er heute erhalten wird ist meines das unauffälligste und so schäbig wie ich selbst. Mein ganzer Körper zittert bereits wie Espenlaub, wenn ich nur daran denke sie ihm zu überreichen.
Bis der Unterricht nach der Pause fortgeführt wurde dauerte es noch etwas. Mit einer Schachtel in Händen betrat ich den fremden Klassenraum und steuerte zielstrebig einen bestimmten Tisch an, an dem ein Junge saß, der mir mit die Welt bedeutete.
„Masao, ich habe hier Schokolade zum Valentinstag für dich.“
„Freundschaftsschoko?“
„Freundschaftsschoko!“
„Eine andere würde ich von dir auch nicht annehmen.“
„Was soll das denn bedeuten?“
„Ich weiß doch, dass in deinem Herzen nur Platz für Ito-san ist. Würdest du mir also andere Schokolade schenken wäre ich lediglich ein Lückenfüller.“
Dagegen ließ sich nichts sagen. Der Name meines Prinzen war Hideaki Ito und meine Zuneigung zu ihm, soweit sich dies mit meiner Lebenserfahrung sagen ließ, unsterblich. Allerdings hieß Ito-san verfallen zu sein, einen Stern zu lieben. Man sah ihn zwar aus der Ferne und war nahe genug um seine Anmut erfassen zu können, allerdings erreichte ihn meine Zuneigung nicht, egal, wie sehr ich auch meine Hände nach ihm ausstreckte.
„Willst du ihm deine Liebe nicht langsam einmal gestehen? Egal, was dabei auch herauskommt, du wüsstest endlich woran du bist.“
„Nakamura-san, was ist mit uns?“
„Sind wir dir keine Schokolade wert?“
Die Zwillinge Kazuki und Kazuko unterbrachen Masaos Gedankengänge.
„Für euch gibt es Pocky[2].“
„Waaah! Vielen Dank. Nakamura-san, du bist wahrlich eine Heilige.“
„Seht nur! Die Otaku-Prinzessin verteilt Schokolade an ihr Gefolge! Welcher von den Dreien ist denn dein Auserwählter?“
Gut, das war der unschöne Teil daran, wenn ich meine Freunde in ihrem Klassenzimmer besuchte. Masao, Kazuki und Kazuko waren nämlich Gründungsmitglieder des „Klubs zur Erforschung von Medien alternativer Realitäten“, dem Manga- und Animeklub unserer Schule. Darüber hinaus waren sie auch die Einzigen, die dieser Organisation angehörten. Neben mir.
Dass sich ein Mädchen mit diesen Außenseitern einließ hatte einst durchaus Wellen geschlagen und mich zu einer Art lebendem Kuriosum an unserer Schule werden lassen. Es gab den Yeti, das Monster von Loch Ness – und mich, die Otaku-Prinzessin. Und wie bei meinen Artgenossen wollte sich ein jeder meiner Schulkameraden von meiner Existenz überzeugen. Dies führte dazu, dass unser Klubraum zeitweise sehr stark frequentiert wurde – ohne, dass wir auch nur ein neues Mitglied rekrutieren konnten. Zeitweilig hatten wir überlegt, ob wir nicht Poster und Autogramme von mir anbieten sollten.
Aber so schnell wie ich zu einer Legende geworden war ebbten meine 15 Minuten Ruhm auch wieder ab. Ein Mädchen, das sich mit Otakus[3] umgab war etwas Besonderes. Nur ich an sich war es nicht. Ich war klein, hatte strubbeliges schwarzes Haar und Babyspeck. Auch im Gesicht. Dazu kam eine nicht nennenswerte Oberweite. Eine Schönheit, die über Kreaturen herrschte, die ihrer nicht würdig waren, das hätte einen Fetisch bedient. Aber so waren wir vier Außenseiter, deren Hobbys nicht mit der restlichen Schulwelt vereinbar waren.
Dabei war ich nicht einmal ein sonderlicher Animefan. Ich war mehr so etwas wie ein Phantommitglied. Es gab eben eine Mindestanzahl an Schülern, die den Fortbestand ihres jeweiligen Klubs sichern mussten.
„Du wolltest dich doch schon immer einmal für meine Nachhilfestunden revanchieren. Jetzt ist die Gelegenheit.“
„Als ich das zu dir gesagt habe, dachte ich eigentlich an etwas anderes. Ich wollte dir ein Bento[4] machen oder dir ein Stück Kuchen ausgeben.“
„Wir würden dir auch entgegenkommen. Du könntest den Klubraum mit uns nach Gutdünken benutzen. Außerdem würden wir das Aufräumen übernehmen. Und es gäbe Süßigkeiten.“
Letzteres war das ausschlaggebende Argument mich unter Vertrag nehmen zu lassen.
Es war nicht so, dass ich unbedingt auf Masaos Nachhilfestunden angewiesen war. Als schlechte Schülerin konnte man mich nicht gerade bezeichnen. Aber Masao hatte das Talent Stolperfallen im Lehrstoff aufspüren und auf den Punkt bringen zu können. Das war gerade für Tests sehr nützlich. Außerdem stellte seine Mutter die tollsten Süßspeisen aus ihrer europäischen Heimat her. So etwas war mein Schwachpunkt. Bessere Noten und Naschkram für lau – ich war schließlich auch nur ein Mensch.
Masao war in allen Fächern auf hohem Niveau – aber dennoch kein Vergleich mit Ito-san. Ich dagegen konnte zumindest grundsätzlich ganz gute Noten garantieren, außer in Englisch. Es gab aber ein Fach, dem meine ganze Leidenschaft galt: Biologie. Es gibt praktisch kein Wissen im Lehrstoff, welches ich nicht aufgesogen habe. Stellte unser Lehrer dazu eine Frage antwortete ich meist wie aus der Pistole geschossen.
„Was sind Cephalopoda?“
„Kopffüßler“.
„Wofür ist die Pankreas zuständig?“
„Zur Bildung der Verdauungssäfte.“
(Vielleicht macht ihr euch Notizen. Es könnte sich im Unterricht noch als nützlich erweisen. Oder wenigstens in einer Quizsendung.)
„Welches Tier weist eine warzige, drüsenreiche Haut und eher kurze Hinterbeine auf?“
Noch bevor ich damals die richtige Antwort „eine Kröte“ geben konnte, war aus dem hinteren Bereich der Klasse laut „Ai Nakamura“ zu vernehmen. Autsch. (Okay, diese Antwort müsst ihr euch nicht aufschreiben). Ai Nakamura – das ist, wie gesagt, mein Name. Müßig zu erwähnen, dass ich auf diese Aussage hin am liebsten bittere Tränen vergossen hätte. Aber diese Genugtuung wollte ich meinen Mobbern nicht geben. Unser Lehrer hatte diese wohl nicht vernommen. Oder er wollte sich keine zusätzliche Arbeit aufhalsen. Jedenfalls lautete sein Kommentar zu meinem Schweigen nur: „Nun, man kann nicht alles wissen.“ Ich hingegen musste mehrmals heftig schlucken und brachte damals keinen Ton mehr heraus.
Wie es nun einmal im Leben so ist, ab diesem Zeitpunkt hatte ich in meiner Klasse einen neuen Spitznamen weg: „Krötenmädchen“. Nicht sehr schmeichelhaft. Aber immer noch besser als etwa „Krötenhexe“. Dagegen war die spöttische Bezeichnung als „Prinzessin“ richtig schmeichelhaft. Man sollte alles positiv sehen. Dennoch. So etwas erschüttert das Selbstvertrauen eines Menschen in den Rest der Menschheit – und sich selbst. Gerade wenn man ein Mädchen ist, dass ohnehin schon unter seinen Körperformen leidet.
„Ai? Bist du noch da? Du kommst mir ein wenig geistesabwesend vor.“
Masao holte mich in die Gegenwart zurück.
„Wie? Ach so, mir kam es gerade nur so vor, als müsste ich eine Stellungnahme zu meinem Leben abgeben.“
„In Gedanken?“
„Warum nicht? Außerdem, würde ich meine Gedanken stets laut aussprechen, bekäme ich vermutlich noch einen schlimmeren Spitznamen als „Otaku-Prinzessin“ oder „Krötenmädchen“.
„Wie du meinst. Und wirst du heute nun die Gunst der Stunde nutzen um deinem Liebsten deine Gefühle zu gestehen?“
„Ich sehe schon, ich hätte dich nie einweihen sollen.“
„Was heißt hier, du hättest mich eingeweiht?! Du warst zur Nachhilfe bei mir und als du deinen Block rausgekramt hast, waren darauf lauter Regenschirme[5] mit euren Namen darunter gekritzelt. Jeder Mensch der lesen kann hätte das an meiner Stelle ebenso rausgekriegt.“
„Du bist nicht jeder Mensch. Aber wenn schon jemand mein Geheimnis kennt ist es mir lieb, dass du es bist.“
Masao und ich waren im Prinzip wie Geschwister aufgewachsen. Er war mein Nachbar und seit jeher mein bester Freund. Technisch gesehen war er zwar um ein paar Monate jünger als ich, aber dafür der weitaus gefestigtere Mensch. Wäre dies eine romantische Komödie gewesen, hätten sicher einmal zwischen uns Funken romantischer Art gesprüht. Aber dies war die Realität und davon wollten wir beide nichts wissen. Wir hatten früher zusammen gebadet, im selben Bett übernachtet und weitere geschwisterliche Aktivitäten unternommen. Wir liebten uns – aber eben nur als Bruder und Schwester. Ging es dem einen schlecht, kümmerte sich der andere um ihn. So wie Familienmitglieder eben füreinander einstanden. Punkt.
„Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“
„Entschuldige, ich hatte das Gefühl es wäre ein weiterer innerer Monolog fällig. Aber um deine Frage zu beantworten: Nein! Ich werde den Mund halten.“
„Aber du hast ihm doch sicher Schokolade gemacht. Soll die Arbeit umsonst gewesen sein?“
„Ich kann sie ihm ja heimlich zukommen lassen. Vielleicht stelle ich sie ihm einfach in seinen Spind, wenn keiner hinsieht?!“
„Was macht es für einen Sinn, wenn er nicht weiß von wem sie kommt?! Dann bist du nur eine weitere seiner vielen Verehrerinnen, die ihm Schokolade schenken. Auf die Weise wird das nie etwas.“
„Selbst, wenn ich ihm eine glühende Liebesbekundung machen würde, hätte eine wie ich keine Chance. Vergiss nicht, ich bin das Krötenmädchen.“
„Oder die Otaku-Prinzessin.“
Masao sagte das derart trocken, dass mir vor Prusten sicher die Milch aus der Nase geschossen wäre hätte ich welche getrunken.
„Siehst du, du kannst über dich selber lachen. Das können die meisten Mädchen an unserer Schule nicht.“
„Da gibt es auch keinen Grund zu lachen. Das sind ausgewiesene Schönheiten.“
„Und das bist du nicht?“
„Ja … nein … Warte, ich muss erst überdenken, welche Antwort ausdrückt, dass ich mich nicht für sonderlich attraktiv halte.“
„Erinnerst du dich eigentlich noch an die Kamera, die meine Mutter früher hatte?“
„Warum?“
„Mit der hat sie doch zahllose Erinnerungen an unsere Kindheit festgehalten.“
Mir schwante Böses.
„Da gibt es doch dieses spezielle Foto, von unserem Strandausflug, auf dem du …“
„Untersteh dich!“
„… dich aller Kleider entledigt hattest, weil es so unsagbar heiß war.“
„Nicht so laut. Wenn dich jemand hört. Außerdem war ich damals erst vier Jahre alt.“
„Trotzdem. Ein Bild der nackten Otaku-Prinzessin hätte an unserer Schule einen gewissen Liebhaberwert.“
Eltern, selbst wenn es nicht die eigenen waren, konnten für heranwachsende Jugendliche wirklich eine echte Gefahr sein.
„Das würdest du nie wagen. So unverschämt bist du nicht.“
„Ich erpresse dich nur zu deinem eigenen Besten.“
„Ich habe also nur die Wahl, ob ich mich selbst demütige oder mich von dir bloßstellen lasse?“
„Keiner verlangst, dass du deine Liebeserklärung vor der ganzen Schule machen sollst. Ich wäre schon mit einem Brief zufrieden, den du deiner Schokolade beilegst. Aber bitte ein bisschen etwas originelleres, als nur ‚Ich liebe dich!‘ und deine Unterschrift.“
„Meinst du vielleicht etwas in diese Richtung:
‚Lieber Ito-san,
seit du mir das erste Mal begegnet bist brennt ein loderndes Feuer in meiner Brust. Dein ganzes Sein ist es, nach dem ich mich verzehre. Jeder Schritt den du tust bringt mein Herz zum Klopfen. In deiner Nähe sein zu können bedeutet für mich zu leben. Kannst du es spüren, das wilde Pochen? Lass unsere Herzen im selben Takt schlagen, dem Rhythmus unserer Leidenschaft. Ich möchte auf ewig bei dir sein und deinen Wegen folgen. Ich liebe dich für immer.‘“
Masao schwieg daraufhin einige Momente lang. Hatten ihn meine Gefühle etwa derart berührt?
„Das war …“
„Umwerfend?! Herzergreifend?! Von Liebe erfüllt?!“
„Ehrlich gesagt klang das als wolltest du ihn stalken. Irgendwann fände man ihn dann eingesperrt in deinem Keller. Viel schlimmer hättest du dich gar nicht ausdrücken können. Würde ich dich nicht so gut kennen hätte ich Angst bekommen.“
Das Urteil war niederschmetternd.
„Versuch doch mehr etwas in diese Richtung:
‚Lieber Ito-san,
du bist für mich ein sehr wichtiger Mensch. Aus diesem Grund habe ich Schokolade für dich gemacht, bin aber zu schüchtern um sie dir persönlich zu überreichen. Ich würde mich freuen, wenn du sie annimmst. Ich bitte dich nicht dich in mich zu verlieben, aber erkenne meine Gefühle für dich an.
In Zuneigung, deine Ai Nakamura.‘“
Das war … besser. Eindeutig. Wer hätte gedacht, dass Masao dermaßen gut Gefühle zum Ausdruck bringen konnte?! Dabei waren es nicht einmal seine eigenen. Ob er den Text vielleicht aus einem Shojo‑Manga abgekupfert hatte?
„Sieh es als Dank für die Freundschaftsschokolade an. Aber lass es nicht zur Gewohnheit werden.“
Masao war wirklich ein Schatz. Ich würde zwar um ein Geschenk zum White Day[6] umfallen, aber wer weiß ob mir diese Zeilen nicht viel kostbarer werden konnten, als jeder weltliche Besitz. Eilig machte ich mich daran noch an Masaos Platz den Brief niederzuschreiben.
„Stopp!!! Was soll das denn werden?“
„Na, ich schreibe auf, was du mir gerade vorgeschlagen hast.“
„Das war zu Inspirationszwecken. Immerhin will ich nicht mit Ito-san zusammenkommen. Sag es gefälligst mit eigenen Worten.“
„Na gut, aber manchmal machst du mir schon das Leben schwer.“
Ich mühte mich redlich meine Gefühle auszudrücken, ohne dass ich dabei gruselig war. Masao warf einen Blick darauf und gab mir ein „Daumen hoch“. Dann war die Pause vorüber und ich musste zurück in meinen eigenen Klassenraum. Davor drückte ich Masao noch richtig stark an mein Herz. Ich war einfach unsagbar dankbar für seine Hilfe.
Um noch einmal auf den White Day zurückzukommen: Letztes Jahr hatte ich auch Kazuki und Kazuko richtige Freundschaftsschokolade zukommen lassen. Aus ungezügelter Freude darüber hatten sie mir für den White Day glatt ein Maid-Outfit[7] geschneidert und mir vor aller Augen überreicht. Die Reaktionen unserer Mitschüler könnt ihr euch sicher denken. Deshalb hatte ich meine diesjährige Gabe bewusst klein gehalten. Die Beiden waren zwar echt nette Kerle, aber leider lebten sie im gleichen Maße ihr Dasein als Otakus ungezügelt aus. Ohne jede Rücksicht auf Verluste. Masao lebte zwar auch für sein Hobby, allerdings besaß er ein gutes Gespür dafür, wie er mit seinen Mitmenschen umgehen musste.
Seine Geschenke bestanden üblicherweise aus Gegenständen, die ich ihm gegenüber irgendwann einmal erwähnt hatte. Um in den Besitz meines Lieblingsarmreifens zu bekommen hatte ich irgendwann vor einem Schaufenster lediglich: „Sieh mal! Den trägt die Schauspielerin X in ihrer Serie auch immer.“ erwähnt. Und das war immerhin im November davor. Für meine Lieblingshaarspange musste ich ihm nicht einmal ein konkretes Modell nennen. Manchmal war es echt unheimlich, wie gut er mich kannte. Das Mädchen, das einmal mit ihm zusammen sein würde konnte sich wirklich glücklich schätzen. Es gab natürlich auch Mädchen, die ihre Schokolade breit streuten um dann im März möglichst viele Gegengeschenke einzuheimsen. So etwas nahm der Sache dann natürlich die ganze Romantik.
Ich hatte wenigstens das Glück Ito-sans Klasse besuchen zu dürfen. Ich hatte gehört, dass es in anderen Klassen Mädchen gab die damit drohten in Hungerstreik zu gehen, wenn sie nicht in seine Klasse kämen. Anscheinend reichte aber eine strenge Rüge der Rektorin aus um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ich verstand nur zu gut wie er einem das Herz stehlen konnte. Manche Leute allerdings reagierten einfach zu extrem.
Auf dem Weg dorthin hörte ich ein paar meiner Klassenkameradinnen miteinander sprechen. „Amuro‑san geht heute anscheinend in die Vollen.“ „Ihre Familie hat es ja auch. Ich wollte, ich könnte auch so um Ito-san buhlen wie sie.“ „Anscheinend hat sie einen riesigen Präsentkorb voller Schokolade besorgen lassen. Den will sie ihm jetzt wohl überreichen.“ Diese Worte in den Ohren klingend beschleunigte ich meinen Schritt drastisch. Mit den Mitteln einer Ryoko Amuro konnte ich keinesfalls konkurrieren. Was, wenn Ito-san sich kaufen ließe? Das wäre zu schrecklich.
Gerade rechtzeitig zur Übergabe betrat ich den Raum.
„Hideaki-kun, als Vorsitzende deines Fanklubs erlaube ich mir dir diesen Geschenkkorb mit erlesenen Schokolade-Spezialitäten aus aller Welt zu überreichen. Darin findest du außerdem eine Einladung zu einem romantischen Tête-à-Tête in einem französischen Restaurant mit mir. Ich freue mich schon.“
Das Mädchen, dem diese Worte entstammten war Amuro-san. Sie war ebenso Teil meiner Klasse. Wie sie bereits selbst erwähnte war sie auch die Vorsitzende des Fanklubs von Ito-san an unserer Schule. Ihre Eltern waren sehr vermögend, weswegen dieses üppige Valentinstaggeschenk vermutlich nicht einmal den Rahmen ihrer Portokasse sprengte. Ein Mädchen wie sie passte besser zu meinem Schwarm. Das sah ein Blinder. Und sie hatte auch das nötige Selbstvertrauen um ihre Gefühle vor der ganzen Klasse kundzutun. Irgendwie konnte ich nicht anders als sie dafür gleichzeitig zu verabscheuen und zu bewundern.
Es waren diverse Schachteln an Pralinen enthalten. Belgische, französische und sogar welche aus der Schweiz. Und das waren nur die, deren Schachteln deutlich lesbar waren. Und mittendrin, mit einer Schleife verziert, lag ein rosafarbener Umschlag. Wohl die angesprochene Einladung.
„Du übertreibst es wie immer maßlos.“, sagte Ito-san, auf dessen Pult der riesige Geschenkkorb Platz gefunden hatte.
„Alles nur um die die Tiefe meiner Gefühle zu beweisen.“
„Wenn sie so tief sind wie dieser Korb schwer müsste ein riesiges Loch in deinen Körper klaffen. Außerdem habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich an einer Beziehung nicht interessiert bin.“
„Ich weiß, du sagst so etwas nur um deinen zahllosen Verehrerinnen nicht das Herz brechen zu müssen.“
In Amuro-sans Stimme war ein deutlicher Unterton aus Empörung herauszuhören.
„Denk doch, was du willst. Ich bedanke mich für den Geschenkkorb. Aber ich denke, es gibt sicher jemanden, dem der Inhalt mehr Freude bereitet als mir.“
Damit stellte er den Gabenkorb auf dem Lehrerpult ab. Amuro-san biss empört auf ihre Unterlippe. Am liebsten hätte sie wohl einen schrillen Schrei ausgestoßen. Allerdings wäre dies nicht damenhaft gewesen.
Nur weniger Augenblicke später betrat unser Lehrer den Raum und konnte sein Glück kaum fassen.
„Wie komme ich nur zu so einer Ehre?!“
Dabei sprach er mit tränenunterdrückter Stimme. Den Gutschein für das Essen mit Amuro-san gab er allerdings wieder zurück.
„Ich freue mich über deine Gefühle für mich. In deinem Alter ist es nur natürlich, sich in einen älteren Mann zu verlieben. Noch dazu, wenn er eine Autoritätsperson ist. Aber ich finde, du solltest dir besser jemanden in deinem Alter suchen.“
Ich gebe zu, ich konnte mein Lachen nur mit Mühe unterdrücken. Der gute Sensei[8] war immerhin schon weit jenseits der Fünfzig und stand wenige Jahre vor seiner Pensionierung. Und er erteilte der Schulschönheit gerade in aller Unschuld eine Abfuhr. Das war einfach zu komisch mitanzusehen.
Die Schadenfreude kam nicht von ungefähr. Immerhin war Amuro-san es, die mit ihrem Zuruf aus mir einst das Krötenmädchen gemacht hatte. Sie selbst war erfolgsverwöhnt und schien derlei Probleme nicht zu kennen. Amuro-san war 1,80 Meter groß, hatte mindestens 90 cm Brustumfang und höchstens 60 cm an Taille. Dazu kamen ihre makellose, weiße Haut und ihr langes, glattes, tiefschwarzes Haar. Sie war eine absolute Schönheit, zumindest äußerlich. Man konnte sie getrost als Königin unseres Jahrgangs bezeichnen. Wenn nicht gar der ganzen Schule. Wie es sich für eine Königin gehörte, hatte sie auch ein zweiköpfiges Gefolge: Rin und Suki. Dieses hielt sich in ihrem Dunstkreis auf und lebte von Amuro-sans Resten. Ihre Wortwahl war zudem äußerst beschränkt.
„Du bist so toll, Ryoko.“
„Können wir etwas für dich tun, Ryoko?“
„Du hast wie immer Recht, Ryoko.“
„Wir wünschten, wir könnten so sein wie du, Ryoko.“
Ryoko hier, Ryoko da. Rin und Suki waren die geborenen Speichelleckerinnen. Interessant, wie unterschiedlich Gruppendynamiken verlaufen konnten. Masao hätte sich von Kazuki und Kazuko niemals derart hofieren lassen.
Ich hätte gerne eine Freundin in der Klasse gehabt, mit der ich über meinen Brief reden konnte. Aber alle Mädchen hielten sich von mir fern. Schließlich konnte mein Spitzname ansteckend sein. Und die Jungs wollten ohnehin nichts von einem Krötenmädchen wissen. Aber in so einer Situation war weiblicher Zuspruch ohnehin kostbarer. Auch wenn ich Masao sehr schätzte. Der „Klub zur Erforschung von Medien alternativer Realitäten“ umfasste leider alle meiner, ausschließlich männlichen, Freunde. Wenigstens waren dies echte.
Es war ein offenes Geheimnis, dass Amuro-san sich als einzig legitime Wahl für den Platz an Ito-sans Seite hielt. Jede, die es wagen sollte, diesen einnehmen zu wollen bekäme ihre Unbarmherzigkeit zu spüren. Ihn zu bewundern war erlaubt. Eroberte sie ihn, gälte ein gerüttelt Maß an Bewunderung zwangsläufig auch ihr. Ich muss allerdings zugeben, dass ich gerne ihr Selbstbewusstsein gehabt hätte. Vielleicht nicht das ganze, aber so fünfundzwanzig Prozent davon wären schon nett gewesen.
Vom Unterricht in der letzten Stunde bekam ich nicht allzu viel mit. Englisch stand an der Tagesordnung und ich hatte so kurz vor meinem großen Vorhaben wirklich keinen Sinn dafür irgendjemandem den Weg zum Bahnhof zu erklären. Oder war es das Postamt? Es war mir wirklich so egal wie sonst etwas. In nur kurzer Zeit würde ich meine Gefühle derjenigen Person offenlegen, die ich liebte. Sogar schriftlich. Dass Ito-san Amuro-sans Korb mit einem ebensolchen beantwortete machte mir ein wenig Hoffnung. Immerhin schienen ihm Status und Geldeswert nicht wichtig zu sein. Diese Seite an ihm gefiel mir gut. Aber was, wenn er mir ebenso vor versammelter Mannschaft einen Korb geben würde? Mit einem „Nein“ war ja zu rechnen. Ich würde noch mehr zum Gespött, als ich es ohnehin schon war. Nein, so durfte ich nicht denken. Ich versuchte ihn ja nicht zu überrumpeln. Falls überhaupt, würde eine Antwort von ihm sicher so diskret erfolgen wie mein Brief.
8
Meine Stunde hatte geschlagen. Geduldig wartete ich, bis der große Trubel bei den Spinden vorüber war. Lautes, weitgehend inhaltsloses Geplapper der Schülerschaft war verhallt und Ruhe eingekehrt. An den Wänden hingen einige Plakate, mit den üblichen Verhaltensregeln. Für mich waren diese aber unnötig. Ich war ohnehin sehr folgsam. Ein Regelverstoß wäre für mich nie in Frage gekommen.
Ito-sans Spind lag praktischerweise gegenüber von meinem. So hätte sich auch niemand gewundert, der mich dort sah. Vorsichtig öffnete ich dessen Tür und legte die Schokolade mit meinem Brief dazu hinein. Wie eingangs erwähnt hatte ich mich für Pralinen entschieden, denen ich höchstpersönlich Form verliehen hatte. Es wäre auch möglich gewesen einfach welche zu kaufen. Allerdings fand ich, dass erst der persönliche Einsatz ihnen wirklich Bedeutung gab.
Zugegeben, an einen fremden Spind zu gehen war schon so etwas wie ein Bruch der Vorschriften. Aber immerhin ging es hier um Liebe. Da war bekanntlich sehr viel erlaubt. Auch, was in anderen sozialen Konflikten untragbar wäre.
Auf den ersten Blick war es äußerst unlogisch mich Ito-san gerade heute zu offenbaren. Immerhin sagte er Amuro-san gegenüber, er habe kein Interesse an einer Beziehung. Andererseits hatte er sich auch nicht genau ausgedrückt. Hatte er kein Interesse an einer Beziehung im Allgemeinen oder nur mit ihr nicht?! Das war eine deutliche Grauzone.
Aufgrund meines Alters konnte ich nicht sagen, wie eine Erwachsene mit dieser Situation umgegangen wäre. Immerhin war ich erst siebzehn Jahre alt. Also war es quasi mein Job jeden noch so kleinen romantischen Funken Hoffnung zu einer Supernova anschwellen zu lassen. (Bei solchen Vergleichen machte sich gleich wieder meine Leidenschaft für Naturwissenschaften bemerkbar.) Ich würde vermutlich einen furchtbaren Bauchklatscher erfahren, aber Masao hatte einfach recht. So würde ich wenigstens erfahren woran ich war beziehungsweise es bestätigt bekommen.
Waren da Schritte gewesen? Erschrocken wandte ich mich um. Wäre es Amuro-san gewesen, ich hätte mindestens die Schule wechseln müssen. Nach ihrer Blamage heute wäre sie wohl zu allem fähig gewesen. Hohn und Spott waren noch die harmloseste Gefahr. Ich gebe zu, ich fürchtete sie ziemlich. Wenn sie sich in der Nähe aufhielt, waren meine Hosen meist gestrichen voll. Zu meinem Glück aber war niemand zu sehen.
„Ai, altes Mädchen, beruhige dich. Du siehst schon Gespenster.“
Beruhigend redete ich auf mich ein. Meine Hände zitterten allerdings dennoch gewaltig. So einfach ließ sich das Gefühl der Beobachtung nicht abstreifen. Schnellen Schrittes ging ich nach draußen zu meinem Fahrrad. Dort wartete bereits Masao auf mich um mit mir den Heimweg anzutreten. Kazuki und Kazuko waren dazu eingeteilt worden noch den Klassenraum zu säubern.
„Hast du es hinter dich gebracht?“
Es klang ein wenig, als fragte er, ob ich einen Mord oder etwas Ähnliches begangen hätte. Ich nickte nur stumm und lächelte erleichtert. Dann öffnete ich das Schloss und wir fuhren nebeneinander heim. Untermalt von den Klängen der Animemusik, die aus Masaos Kopfhörern klang.
Zuhause angekommen wollte ich mich eigentlich nur noch hinlegen. Nachdem ich mich von Masao verabschiedet hatte öffnete ich die Tür und Arabiki-kun kam freudig wedelnd auf mich zugelaufen. Dieser Hund liebte mich beziehungsweise Menschen im Allgemeinen einfach. Während er sich an meinem Bein entlang aufrichtete hörte ich auch schon die gebrochene Stimme meiner Großmutter aus dem Schlafzimmer.
„Ai-chan, bist du das?“
„Ja, Großmutter.“
„Ist die Schule etwa schon zu Ende?“
„Ja, Großmutter. Warte, ich komme gleich zu dir.“
Ich richtete für Arabiki-kun noch schnell eine kleine Auswahl an Nass- und Trockenfutter an und stieß dann zu meiner Großmutter. Wahrscheinlich war sie zu schwach um alleine aufzustehen.
„Ist es etwa schon Nachmittag? Puh! In meinem Alter sollte ich es vielleicht doch ruhiger angehen lassen. Manchmal zumindest.“
„Das sagst du jedes Mal, wenn du einen Kater hast. Dann feierst du doch wieder die Nächte durch.“
„Sei doch nicht so streng. Kaede-chan hatte immerhin Geburtstag. Da fließt gerne einmal ein wenig Sake.“
„Ein wenig?!“
„Fünfundsiebzig Jahre ist das alte Mädel geworden. Ein stolzes Alter. Und ich bin immerhin seit der Grundschule mit ihr befreundet. Dein Großvater wäre froh gewesen hätte er ein solches Alter erleben dürfen. Friede seiner Asche.“
Wenn es einen Grund zum Feiern gab trank Großmutter gerne einmal über den Durst. Eigentlich auch, wenn es keinen besonderen Anlass gab. Sie war kein Kind von Traurigkeit und vertrug ordentlich etwas. Nur die Folgen davon steckte sie nicht mehr ganz so gut weg wie in jungen Jahren. Kurz entschlossen öffnete ich die Vorhänge und hellstes Tageslicht flutete den Raum. Die plötzliche Helligkeit blendete Großmutter und schien ihre Kopfschmerzen zu verschlimmern. Danach griff ich nach einer Flasche Wasser und goss ein wenig daraus in Großmutters Becher, bevor ich ihn ihr reichte. Sie betrachte den Inhalt argwöhnisch.
„Hast du nicht etwas anderes? Es muss ja nicht einmal etwas Alkoholisches sein.“
„Trink. Es wird dir guttun.“
„Buärk. So ein Zeug ist nichts für mich.“
Ein Schluck und Großmutter stellte den Becher wieder beiseite. Dann fiel ihr etwas ein.
„Sag mal, ist heute nicht Valentinstag?“
Ich ahnte, worauf diese Frage hinauslief und nickte nur vorsichtig.
„Ich hoffe, du hast heute tüchtig Schokolade ausgeteilt? Du bist schließlich nur einmal jung.“
„Selbstverständlich. An Masao. Und Kazuki und Kazuko habe ich auch welche geschenkt.“
„Herrgott, ich spreche doch nicht von wertloser Freundschaftsschokolade. Diese habe ich nie verteilt. Nur dein Großvater hat einmal solche von mir bekommen. Da kannte ich ihn allerdings noch kaum. Weil er mir leidgetan hat. Sonst hatte nämlich keiner etwas für ihn übrig. Nein, ich will etwas von leidenschaftlichen Liebesdingen hören, von verbotenen Freuden …“
Leidenschaft? Freuden? Verbotene noch dazu? Was wollte meine Großmutter da eigentlich von mir wissen? Solche Dinge sollten keinesfalls zwischen Großeltern und Enkelkindern besprochen werden. Erst recht nicht, wenn eine Partei noch minderjährig war. Mein Gesicht lief knallrot an.
„Ich sehe schon, du bist noch zu jung für so etwas. Aber für einen jungen Mann wirst du doch wohl etwas übrighaben?!“
Schweigend versuchte ich die Sache auszusitzen.
„Aha! So ist das also. Es gibt da wirklich jemanden.“
Obwohl ich kein Wort gesagt hatte durchschaute sie mich.
„Na, es geht mich auch nichts an. Du wirst schon reden, wenn die Zeit reif ist. Ich jedenfalls denke gerne an die Zeit zurück, als ich schokoladeverteilend durch die Klassenräume gezogen bin. Zum White Day gab es immer reiche Beute. Allerdings verursachte meine Freigiebigkeit auch häufig Zoff, weil die vielen Beschenkten ihren Mund einander gegenüber nicht halten konnten.“
Es ist müßig zu erwähnen, dass ich eindeutig nach meinem Großvater kam. Hoffentlich änderte sich das nicht, wenn ich älter wurde.
„Wer weiß, vielleicht sollte ich auch noch einmal meinen Hut in den Ring werfen. Wenn ich den Richtigen fände … hö, hö, hö …“
Wieder etwas zu dem ich nichts sagen konnte. Ich brauchte nicht zwangsläufig einen neuen Großvater. Wenn sie dadurch allerdings ruhiger würde war die Sache eine Überlegung wert. Sie war mir lieb und teuer, allerdings auch recht aufwendig in der Handhabung.
Ich befand, dass sie meiner Anwesenheit nicht bedurfte um sich in ihren Erinnerungen und Kopfschmerzen zu suhlen und ging zurück zu Arabiki-kun. Dieser hatte mittlerweile sein Mahl verzehrt und war fällig für seinen Spaziergang. Meine Erholungspause musste noch warten.
8
Am Abend lieh ich mir erneut Masaos Ohr. Bevor ich mit ihm telefonierte, hatte ich noch gebadet und mich dabei unbewusst besonders gründlich an allen Ecken und Enden gewaschen. Normalerweise wäre Großmutter vor mir in das Wasser gestiegen. Allerdings forderte die Geburtstagsfeier nach wie vor ihren Tribut. Wäre sie in dem Zustand ins Wasser gestiegen, hätte ich an ihrer Seite sitzen müssen. Ansonsten wäre es leicht möglich gewesen, dass sie ertrank. So beschloss sie, dass sie heute auf das Baden verzichtete. Dafür gab es den restlichen Sake vom Vorabend. Ja, sie vertrug wirklich viel.
Abermals berichtete ich ihm von meiner Unsicherheit und der Angst vor der furchtbaren Klatsche, die mir am nächsten Tag bevorstünde.
„Manchmal bedarf es eben der defensiven Stärke eines Pottrott um aus einer Beere wirkungsvolleren Beerensaft werden zu lassen.“
„Wie bitte?!“
„Anziehung hat sicher auch seine Daseinsberechtigung, allerdings muss man ein wildes Pokémon erst Stück für Stück schwächen, bevor man es einfangen kann. Ist man dabei zu forsch, geht es k.o. und man hat seine Chance vertan.“
„Ich weiß ja, dass du ‚Pokémon‘ liebst, aber über Videospiele wollte ich mich eigentlich nicht unterhalten.“
Masao seufzte tief.
„Ich meine, manchmal muss man eine dicke Haut haben, bevor eine Verbesserung der Lage eintritt. Selbst, wenn du ordentlich einstecken musst, kann daraus besseres erwachsen. Solange du nicht endgültig besiegt bist kann selbst aus Rückschlägen noch etwas Großes werden.“
Mein bester Freund seit Kindertagen drückte sich ein wenig umständlich aus, aber ich begriff, was er meinte.
„Selbst wenn Ito-san meine Liebe nicht erwidert muss dies nicht endgültig sein?!“
„Wovon spreche ich denn die ganze Zeit?! Viele kleine Handlungen sind besser als eine große. Nimm Amuro-san als Beispiel. Sie hat es vollkommen übertrieben und ihn in die Flucht geschlagen, bevor sie überhaupt versuchen konnte ihn mit einem Pokéball einzufangen.“
„Deine Videospielvergleiche sind wirklich anstrengend.“
Masao schwieg kurz.
„Gib niemals auf. Du weißt nie was kommt.“
Das klang ein wenig nach einem Rat für Mangacharaktere vor der großen Schlacht, aber nicht falsch.
„Ich hab‘ dich lieb, Masao. Danke, dass du immer noch auf mich aufpasst.“
Hatte ich gerade wirklich etwas derart Kitschiges gesagt? Wir schwiegen eine Weile peinlich berührt.
„Gerne.“
Danach beendeten wir das Gespräch und gingen zu Bett. Ich zumindest. Wie durch ein Wunder schlief ich diese Nacht tatsächlich so ruhig wie ein Baby in seiner Wiege.
8
Am nächsten Morgen stand ich früher auf als üblich. Nachdem ich meine Morgenroutine hinter mich gebracht hatte machte ich für meine Großmutter und mich das Frühstück. Da sie Langschläferin war stellte ich ihre Portion beiseite. Wegen ihres Katers hatte sie am Vortag nur wenig Nahrung zu sich genommen. Also konnte sie heute eine kräftigende Mahlzeit gut brauchen. Ich hoffte, dass sie dazu den Tee aus der Thermoskanne trinken würde und zumindest heute nicht über die Strenge schlüge. Sie war ein sehr herzlicher Mensch, aber leider gab sie nicht sonderlich gut auf sich Acht. Geistig war sie rege wie ein junges Mädchen. Leider sah sie aber nicht ein, dass ihr Körper immer älter wurde. Eigentlich hatte meine Mutter mich zu ihr gegeben, damit sie auf mich aufpasste. Mit den Jahren aber hatten wir die Rollen getauscht.
Ich war an diesem Tag so zeitig aufgestanden, weil ich noch vor allen anderen in der Schule sein wollte. Eigentlich war Ito-san sonst der früheste Vogel, aber ich wollte selbst noch vor ihm da sein, um mich auf meine Niederlage vorzubereiten. Dies hieße auch, dass ich heute alleine den Schulweg antreten würde müssen. Ohne Masao.
Schnee war in unserer Gegend schon lange keiner mehr liegengeblieben. Somit war es unproblematisch mit dem Fahrrad anzureisen. Als ich zuhause losfuhr fühlte ich mich innerlich gefestigt. Ich hatte noch Masaos Worte im Ohr und spürte, ich war nicht allein auf der Welt. Auch, wenn ich mich oft so fühlte.
Man sagt, die erste Liebe sei die bittersüßeste. Dies galt wohl auch, wenn sie einseitig war. Seit dem Tag, an dem ich ihn in der Oberschule das erste Mal sah, war Ito-san mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Ich hörte immer wieder, wie toll er sei. Wie souverän und zuverlässig. Die Jungen in unserer Klasse eiferten ihm nach, die Mädchen himmelten ihn an. Von Zeit zu Zeit erschien er mir beinahe als nicht real. Er war einfach zu perfekt.
Aber gerade diese perfekten Seiten an ihm interessierten mich am wenigsten. Ich wollte vielmehr wissen, welches Eis er mochte, welche Musik er hörte, wer er eigentlich abseits seines Schul‑Ichs war. Was sänge er wohl beim Karaoke? Schlager, Pop, oder etwas vollkommen anderes? Schämte er sich, wenn er einen Ton nicht traf? Was tat er, wenn er alleine war? Lernte er oder las er Manga? Hatte er ein Haustier?
Ich wusste so gut wie nichts über ihn. War es albern über Liebe zu sprechen, wenn man jemanden kaum kannte? Vielleicht. Aber mein Herz hatte ihn sich dennoch ausgesucht. Je näher ich dem Schulgebäude kam umso mehr wurde mir bewusst, dass ich später nicht mehr dieselbe sein würde. Ich hätte mein Herz geöffnet, aber es wäre nicht auf Zuneigung gestoßen. Jedenfalls nicht die, die ich mir von Ito-san wünschte.
Ich öffnete das Tor und ging zu meinem Spind. Ich wollte meine Schuhe tauschen und fand stattdessen meine Pralinen im Spind. Zertreten. Auf meinem Brief fanden sich groß die Worte:
„DU HAST IHN NICHT VERDIENT!!!“
Ende des 1. Kapitels
[1] Comics, die sich speziell an heranwachsende Mädchen richten
[2] dünne Keksstäbchen mit Schokoladeüberzug; hierzulande unter dem Namen „Mikado“ bekannt
[3] Menschen, die mit großer Passion viel Zeit für ihre Hobbys aufwenden
[4] eine Box, mit verschiedenen, voneinander abgetrennten Speisen
[5] statt eines Herzens zeichnet man in Japan einen Regenschirm und schreibt dann den eigenen wie auch den Namen seines Schwarms darunter
[6] Gegenstück zum Valentinstag am 14. März; Jungen und Männer revanchieren sich hier mit kleinen Geschenken für die Valentinsschokolade
[7] die Kleidung eines Dienstmädchens
[8] Anrede für Lehrer
Kapitel 2 - Ich habe ihn nicht verdient
„Scheint, als würde dich jemand als ernstzunehmende Konkurrenz betrachten.“
„Soll mich das freuen? Hätte es nicht gereicht einfach Pralinen und Brief verschwinden zu lassen?“
„Mit meiner Idee hast du dich unbeliebt gemacht. Aber wer wäre dermaßen wütend?“
„Denkst du, es war Amuro-san?“
„Nein, der dreiköpfige Zerberus war einer der ersten, die nach mir die Schule verlassen haben. Sie kann es eigentlich nicht gewesen sein. Sie und ihr Gefolge sind mir aufgefallen, weil Amuro-san ziemlich laut rumgestampft hat. Ich denke, es war niemand aus deiner Klasse. Es tut mir leid, das so ausdrücken zu müssen, aber niemand dort würde dich ernsthaft als Konkurrentin ansehen. Dazu müssten sie deine Qualitäten besser kennen. So wie ich.“
Einerseits freute es mich, dass ich in meiner Klasse sicher zu sein schien. Wenn man von meinem Spitznamen absah. Andererseits tat es aber auch weh, von niemandem dort anerkannt zu werden. Masaos Einschätzungen waren in der Regel ziemlich zuverlässig. Daher zweifelte ich meinen Platz auf dem Thron der Unbeliebtheit auch nicht an.
„Entschuldige. So war das nicht gemeint.“
Selbst mein trauriger Blick war ihm nicht entgangen.
„Ich meine nur, dass dort ja auch niemand von unserem Plan mitbekommen haben konnte.“
Stimmt. Die Idee für meinen Liebesbrief kam ursprünglich von Masao, und das war in SEINEM Klassenraum, nicht meinem. Demzufolge war es auch wahrscheinlich, dass der Sabotageakt von hier ausgegangen war. Das war nur einleuchtend. Allerdings fühlte ich mich nun hier von Feinden nahezu umzingelt. Gut, die Jungs konnte ich wahrscheinlich ausschließen. Das war zwar politisch nicht korrekt, ließ mich meine Person aber weniger bedroht fühlen. Dafür gingen Frauen mit ihren Feinden fieser um, viel heimtückischer. Das hatte ich zumindest einmal in einer Sendung über wahre Verbrechen gesehen. Danach musste ich einige Tage bei meiner Großmutter und Arabiki-kun schlafen. Ich hatte mich alleine einfach nicht mehr sicher gefühlt. Aber das war eine andere Geschichte. Ich muss zugeben, in der jetzigen Situation schien mir meine Haut in echter Gefahr zu sein.
Wieder erriet Masao meine Gedanken.
„Mach dir keinen Kopf. Dir selbst geschieht sicher nichts. Immerhin bin ich ja in deiner Nähe. Und du kannst immer auf die Hilfe des ‚Klubs zur Erforschung von Medien alternativer Realitäten‘ zählen. Vergiss nicht, Kazukis und Kazukos Kampfkraft ist gefürchtet.“
„In ‚Dungeons and Dragons‘. Ehrlich gesagt, sogar ICH glaube den Beiden problemlos Herr werden zu können. Gleichzeitig. Dabei fällt mir auf, wo stecken sie eigentlich?“
„Sie haben sich gestern erkältet. Einer hat den anderen angesteckt. Sie hüten erst mal ein paar Tage ihr Bett.“
„Da wäre ich jetzt auch gern. Also, in meinem.“
„Auch wenn es sich hart anhört, mach dir jetzt nicht zu viele Gedanken darüber. Mit vereinten Kräften werden wir die Angelegenheit schon aufklären. Halt den Kopf erhoben und zeige dem Feigling, dass du dich nicht unterkriegen lässt.“
Masaos Worte machten mir vorsichtige Hoffnung. Es war wirklich erstaunlich, dass ein solch tatkräftiger und liebenswerter Mensch so einen Außenseiterstatus innehatte.
Vor Masaos Klasse unterhielten sich zwei Mädchen angeregt.
„Was ist das eigentlich mit dieser ‚Otaku‑Prinzessin‘? Ständig hängt sie bei uns rum. Hat sie in ihrer eigenen Klasse keine Freunde?“
Oh, man sprach sogar über mich. Leider in gewohnter Weise wenig wohlwollend. Ich war sogar so unauffällig, dass man meine Anwesenheit nicht bemerkte.
„Sei doch nicht so. Dort hat sie sogar noch einen schlimmeren Spitznamen als bei uns. Irgendwas mit ‚Kröte‘.“
Wieso traf es eigentlich immer mich? Gab es eine Gottheit, die das lustig fand? Auch heute wünschte ich mir, ich besäße ein wenig von Amuro-sans Selbstvertrauen. Spräche man so über sie, von den Beiden bliebe nur ein Häuflein Asche. Aber ich war nun einmal nur Ai Nakamura, das Krötenmädchen und eine Otaku‑Prinzessin. Mit mir konnte man es ja machen. Auf meiner Liebe trat man eben herum. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Langsam lief mir eine einzelne Träne über das Gesicht. Und dann noch eine. Und noch einige mehr. Ein Damm war geborsten und meine Gefühle brachen sich Bahn in meinem Gesicht. Es war mir egal, wer mich so sähe. Ich wollte nur noch allein sein. Ich hielt mir die Hände vor das Gesicht und lief an den beiden Mädchen vorbei Richtung Krankenstation.
„Wenn man vom Teufel spricht.“
„Glaubst du, sie hat uns gehört? Das wollte ich nicht.“
„Selbst wenn. Wir haben nur die Wahrheit gesagt. Wenn sie lauscht ist sie selber schuld.“
Bevor ich die Krankenstation betrat wischte ich meine Tränen sorgfältig mit einem Taschentuch ab. Auch wenn mir die Situation zusetzte wollte ich nicht, dass sie hohe Wellen schlug. Am Ende wäre meine Geschichte noch vor der Klasse vorgetragen worden. Unter Umständen verkam ich dann zu einer noch größeren Lachnummer. Das wollte ich nun wirklich vermeiden.
Die Schulschwester las gerade einen kitschigen Liebesroman. Sie bemerkte mein Eintreten und sah einigermaßen genervt davon auf. Vermutlich hatte sie sich ihr Leben auch anders vorgestellt. Wahrscheinlich an der Seite eines reichen Arztes. Vielleicht auch an jener eines anderen Charakters, der aus ihrem Schundroman entsprungen sein konnte. Hier ihre Zeit zubringen zu müssen war wenig glamourös, ja noch nicht einmal aufregend. Meistens kamen einzelne Schülerinnen vorbei, die eine Stunde schwänzen wollten und deshalb auf krank machten. Zu tun gab es für sie so gesehen nichts. Daher war ihre Realitätsflucht nur zu verständlich.
Ich simulierte Bauchkrämpfe und sie nickte verständnisvoll. Ein Mädchen zu sein brachte durchaus Vorteile mit sich. Da die Lehrerschaft an unserer Schule größtenteils männlich war gäbe sie sich mit dieser Erklärung sicherlich zufrieden. Die wenigen weiblichen Lehrer dagegen brächten aus eigener Erfahrung sicherlich Verständnis auf. Eine runde Angelegenheit also.
Hier in der Abgeschiedenheit der Krankenstation konnte ich wieder in Ruhe zu mir finden. Es war seit gestern entsetzlich viel Aufregendes passiert. Ich fand den Mut eine Liebeserklärung niederzuschreiben. Ich fühlte mich so gefestigt eine Abfuhr hinnehmen zu können. Ich erfuhr den Hass eines Menschen, dem mein Handeln ein Dorn im Auge war. Vielleicht war es einfach an der Zeit die Schule zu wechseln. Ein unbelasteter Neuanfang war verlockend. Es gab allerdings keine Garantie, dass ich woanders nicht sofort wieder unter die Räder kam. Und wenn ich ginge, wäre der „Klub zur Erforschung von Medien alternativer Realitäten“ Geschichte. Außer er fände wieder ein viertes Mitglied, was unwahrscheinlich war. Mein Körper und Geist liefen auf Hochtouren. Mir war, als würde es um mich herum immer heißer. Dabei war es immer noch Februar.
Tatsächlich konnte es vorkommen, dass man für Krankheiten anfällig wurde, wenn man mit sich nicht im Einklang war. Gut möglich, dass ich tatsächlich Fieber bekam. Das war nicht einmal das Schlechteste. Ich könnte mich für ein paar Tage zuhause zurückziehen und (seelisch) wieder zu Kräften kommen. Wäre es mir mit der Zeit nicht immer elender geworden, ich hätte mich gefreut.
„Hier, ich habe dir einen krampflösenden Tee aus Kräutern aufgebrüht.“
Die Krankenschwester hatte ich wohl falsch eingeschätzt. Sie war sogar so freundlich, mir eigens einen Tee ans Krankenlager zu bringen. Den konnte ich auch gut gebrauchen. Wenn mir nur nicht so heiß gewesen wäre.
„Du meine Güte. Dein Gesicht ist ja knallrot. Deine Kleidung ist auch völlig durchgeschwitzt. Ich rufe dir gleich einen Arzt.“
Ein Arzt … Ob der mir helfen könnte? Wie heiß es doch war. Ich nahm das Telefonat der Schwester nur noch am Rande war. Eine beruhigende Dunkelheit umfing mich …
8
Als ich wieder zu mir kam fröstelte ich ein wenig in meinem dünnen Nachthemd. Ein Nachthemd? Woher kam dieses? Und auch das Bett war anders, wenn auch ähnlich. Es roch penetrant nach Desinfektionsmitteln und vermischte sich unangenehm mit dem Duft nach Essen. Großmutter saß an meiner Seite und umfasste meine Hand fest mit ihrer eigenen.
„Ai. Kind. Endlich bist du aufgewacht. Was machst du nur für Sachen?!“
„Großmutter … Was …“
Jetzt erst bemerkte ich, dass mein Hals völlig ausgetrocknet war.
„Hier, trink erst einmal. Der Tee wird dir guttun.“
Langsam nahm ich ein paar Schlucke aus dem Becher, der auf dem kleinen Nachttischchen neben meinem Lager stand. Er schmeckte ein wenig bitter, tat mir aber ansonsten wirklich gut. Vermutlich zeugte gerade seine Bitterkeit von seiner gesunden Wirkungsweise. Nicht alles was einem Menschen gut tat schmeckte auch so. Im Gegensatz war nicht alles Leckere dem Organismus zuträglich. Meine Erinnerung war ein wenig bruchstückhaft.
„Die Schulschwester hat sofort einen Krankenwagen gerufen, nachdem du das Bewusstsein verloren hast. Du hattest hohes Fieber.“
Ich schämte mich anderen Menschen Sorge bereitet zu haben.
„Du bist wirklich ein Abkömmling deines Großvaters. Ein Schluck Sake und er lag auf der Matte. Er hatte auch so wenig Widerstandskraft.“
Großmutter versuchte die Stimmung aufzulockern, aber ihr Gesicht sprach Bände. Auch wenn sie lächelte, ich kannte sie zu gut. Ich musste ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt haben.
„Du musst dir wirklich keine Sorgen machen, Großmutter. Ich habe mir nur ein wenig viel zugemutet.“
„Und dann musstest du dich gestern auch noch um mich kümmern. Ich bin als deine Oma wirklich eine Schande.“
Unerwartet eröffnete sich mir eine Möglichkeit, meine Großmutter ein wenig zu zähmen, ihr die schlechten Eigenschaften abzugewöhnen. Dafür hätte ich die Schuld allerdings ihr aufbürden müssen, was nicht richtig und vor allem ziemlich gemein gewesen wäre. Wenn sie außerdem nicht von sich aus ihr Leben ändern wollte und mit ihrer Situation zufrieden war, konnte ich auch damit leben.
„Du hast nun wirklich keine Schuld daran. Das kann ich dir versichern.“
Sie wirkte ungläubig, ob meine Worte denn der Wahrheit entsprächen.
„Als Kind ist es dir auch öfters so gegangen. Ich habe bereits deine Mutter angerufen, aber sie war gerade in einer Sitzung und man wollte mich nicht durchstellen."
„Jetzt übertreib es mal nicht. Ich habe mir wahrscheinlich nur eine etwas heftigere Erkältung eingefangen.“
Dass der Grund höchstwahrscheinlich seelischer Natur war musste niemand wissen.
„Mama hat ohnehin schon genug um die Ohren. Sie muss sich wirklich nicht noch um mich sorgen.“
„Aber Kind …“
„Es ist wirklich schon gut so, wie es ist. Ich habe heute Morgen noch Oyakodon[1] vorbereitet. Das musst du nur noch erhitzen.“
„Kind …“
Großmutter schien es sichtlich unbehaglich zu sein, dass ich auch jetzt noch für sie Sorge trug.
„Du wirst deine Kräfte brauchen, wenn ich nachhause komme. Dann werde ich mich nach Strich und Faden von dir verwöhnen lassen. Und um Arabiki-kun musst du dich die nächste Zeit wohl auch kümmern.“
Letzteres war ernst gemeint. Die Spaziergänge mit ihm würden ihr guttun und sie während meiner Genesung auf andere Gedanken bringen.
„Es wird alles wieder in Ordnung kommen. Und jetzt geh bitte nachhause und iss ordentlich. Immerhin müssen zwei Portionen verdrückt werden.“
Ich lächelte ein wenig, war aber spürbar erschöpft. Die ganze Aufregung verlangte ihren Tribut.
„Ich werde jetzt noch ein wenig schlafen.“
Zum Abschied ergriff ich noch einmal ihre Hand und drückte sie fest, bevor ich die Augen schloss und gleich darauf einnickte.
8
Als es Abendessen gab erwachte ich wieder. Eigentlich weckte mich die zuständige Schwester, die es brachte. Als ich meine Augen aufschlug fühlte ich mich merklich erfrischt. Auch meine Temperatur hatte sich wieder dem Normalwert angenähert, wie das Thermometer anzeigte. Sie war auf etwa 38,2° gesunken. Großen Appetit hatte ich nach wie vor keinen, aber eine leichte Mahlzeit vertrug ich schon. Ich aß die Miso‑Suppe und nahm von dem Hähnchenfleisch zu mir. Es gab noch einiges mehr, aber wie gesagt stand mir der Sinn nicht nach allzu viel. Den grünen Tee aber trank ich gerne. Satt und erschöpft ließ ich mich entspannt wieder auf meine Liegestatt fallen und genoss die Ruhe um mich herum.
Als Großmutter vorhin davon gesprochen hatte fiel mir wieder ein, dass ich als Kind tatsächlich auch recht kränklich gewesen war. Auch damals schon vermutete man seelische Ursachen für meine Leiden. Ich war noch recht klein, als mein Vater Mama und mich verließ. Sie waren beide keine schlechten Menschen, aber ihre Liebe füreinander war praktisch nicht mehr vorhanden. Sie mühten sich redlich mich ihre Auseinandersetzungen nicht mitbekommen zu lassen, allerdings waren unsere Wände dünn. Jedes Mal bekam ich sofort ein schlechtes Gewissen, als ihre Stimmen lauter wurden. Ich hatte entsetzliche Angst, dass sie mich loswerden wollten. Ich trug keine Schuld, ja, aber erkläre das mal einem kleinen Kind, das nur die Beiden hatte. Im Endeffekt fühlte ich mich auch heute noch oft allen nur im Weg …
Meiner Eltern trennten sich dann irgendwann. Meiner Mutter gelang es allen Widrigkeiten zum Trotz sich später im Beruf zu profilieren. Sogar eine kleine Firma konnte sie nach einiger Zeit aufbauen, mit einem treuen Kundenstamm. Dies bedeutete allerdings auch, dass sie mich aufgeben musste. Ich glaube, ich habe sehr viel geweint, als ich bei Großmutter einzog. Als Kind versteht man einfach nicht, dass einem ein Dach über dem Kopf nicht geschenkt wird. Seit jeher unterhält sie mich und Großmutter und lässt es uns an nichts fehlen. Die Firma bedeutet sehr viel Arbeit und wir sehen uns nur selten. Aber sie ist mein großes Vorbild und ich wünschte, ich wäre so stark und unabhängig.
Meine vielen Aufenthalte im Krankenhaus wurden erst weniger, als Masaos Familie neben Großmutter einzog. Damit erweiterte sich meine damals schon kleine Welt. Ich bekam quasi einen Bruder an dem ich wachsen konnte.
„Sind sie bereits fertig mit dem Essen? Dann räume ich mal eben ab.“
„Danke sehr.“
„Oh, ist das nicht Doraemon?“
„Wie?“
„Der Anhänger da auf dem Nachtkästchen. Den habe ich als Kind geliebt.“
„Ich auch. Hat den meine Großmutter mitgebracht?“
„Nein, ich glaube nicht. Als sie geschlafen haben war kurz ein junges Mädchen hier. Etwa in ihrem Alter. Es trug auch die gleiche Schuluniform wie sie. Das war, noch bevor ihre Großmutter hier eintraf. Es wird wohl eine Freundin von Ihnen gewesen sein.“
Damit verließ die Schwester den Raum mit meinem Tablett. Eine Freundin? Wer das wohl war? Und warum brachte sie mir einen Anhänger von Doraemon? Bei näherer Betrachtung war er auch nicht fabrikneu. Er hatte doch schon einige, wenn auch nicht viele, Abnutzungserscheinungen vorzuweisen. Die Angelegenheit gab mir zu denken. Wenn ich die Schwester das nächste Mal sähe, würde ich sie um eine Beschreibung bitten. Ich rollte mich auf die Seite und versuchte wieder einzuschlafen, aber die Sache ließ mir keine Ruhe, bis mich dann doch die Kräfte wieder verließen.
Ich schlief bis zum nächsten Morgen durch und fühlte mich den Umständen entsprechend gut. Meine Temperatur war neuerlich gesunken und bot keinen Anlass mehr zur Besorgnis.
„Nein, Großmutter, du musst mich wirklich nicht auch heute besuchen. Hab lieber ein Auge auf Arabiki‑kun. Du weißt, wieviel Aufmerksamkeit er sonst immer von mir einfordert. Wir wissen schließlich nicht, wie er reagiert, wenn er mich ein paar Tage lang nicht sieht.“
„Wohl ist mir dabei nicht, dich allein zu lassen.“
„Wer ist denn hier allein? Ich bin von hunderten Schwestern umgeben, die mir jeden Wunsch von den Augen ablesen und ich kann mich bedienen lassen. Das ist Luxus pur.“
Wer mich kennt, weiß, dass ich nur ungern andere für mich arbeiten lasse. Aber Großmutter gegenüber war so eine Notlüge in Ordnung. Schließlich musste sie hierher eine längere Busfahrt mit einigen Umstiegen in Kauf nehmen. Dabei war mir wirklich nicht wohl und außerdem war es auch nicht billig. Zudem konnte sie ohnehin nichts ausrichten. Was machte der Aufwand dann für einen Sinn?!
„Wenn du nicht hören willst werde ich Frau Takahashi bitten, dass sie ein Auge auf dich hat.“
Frau Takahashi war Masaos Mutter und unsere Nachbarin. Großmutter war eine Rossnatur, die sich ungern bevormunden ließ. Also sollte die Androhung einer Gouvernante Wirkung zeigen.
„Untersteh dich!!!“
Treffer, versenkt. Ich hatte ihren Kampfgeist erfolgreich angestachelt. Danach verabschiedeten wir uns und ich legte mein Handy beiseite.
Diese Gefahr konnte ich erfolgreich bannen. Leider hatte die Schwester, die mir gestern das Abendessen brachte, einige freie Tage genommen. Ergo konnte ich sie auch nicht weiter nach dem Mädchen fragen, das mich gestern besucht hatte. Noch immer fragte ich mich, wer das wohl gewesen war. Ich war einigermaßen unbeliebt und hatte zudem nur männliche Freunde. Die wiederum hatten keine Schwestern, die mich in ihrem Auftrag besuchen konnten. Auch der Anhänger in Gestalt von Doraemon machte keinen Sinn. Ich war als Kind ein großer Fan des Anime, aber das wussten nun wirklich nur Menschen, die mich damals schon kannten. Es konnte aber auch nur ein Zufall sein. Schließlich gab es diese Fanartikel auch heute noch wie Sand am Meer. Grundsätzlich freute ich mich aber sehr, dass es eine weitere Person gab, der ich am Herzen zu liegen schien. Wer weiß, vielleicht schaute sie von selbst noch einmal vorbei und meine Gedanken waren müßig?
8
So schön es war ein wenig Ruhe genießen zu dürfen, so langweilig war es auch. Ich hätte viel gegeben, ein Buch über die Flora und Fauna eines weit entfernten Landes zu bekommen. Sogar ein paar Manga von Masao wären willkommen gewesen. Aber es gab nichts dergleichen. Es herrschte tote Hose.
„Ist der Eintritt gestattet?“
„Masao! Du bist gekommen.“
Wenn man vom Teufel sprach …
„Als Klubchef muss ich doch für meine Untergebenen sorgen.“
„Spinner!“
„Ach ja, dieses Päckchen ist von deiner Großmutter.“
„Was ist das?“
„Unterwäsche zum Wechseln.“
Vor Schreck verschluckte ich mich an dem grünen Tee, den ich gerade trank. Was dachte Großmutter sich eigentlich. Auch wenn Masao zur Familie gehörte, so war er doch immer noch ein Junge. Schlimmer noch, ein Junge in der Pubertät.
„Die mit dem Häschenmotiv ist auch dabei.“
„Du hast sie dir angesehen?“
„Nein, nur beim Einpacken geholfen. Dabei ist sie mir aufgefallen.“
Ich wollte vor Scham im Erdboden versinken.
„Ist etwas? Früher haben wir uns doch ganz oft in Unterwäsche gesehen. Auch ohne.“
Masao war wirklich abgebrüht.
„Da waren wir noch Kinder! Im Kindergarten!!!“
„Könnten Sie sich bitte etwas leiser unterhalten? Andere Patienten brauchen wirklich ihre Ruhe.“
Die Tagesschwester ermahnte uns. Im Affekt hatte ich vergessen wo wir uns befanden und herumgebrüllt.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals!“, sagten wir unisono.
„Manchmal bist du echt unmöglich!“
„Ich? Du läufst hier doch mit meiner Unterwäsche durch die Weltgeschichte.“
„Könntest du das bitte anders formulieren? Die Schwester könnte sonst einen falschen Eindruck von mir kriegen. Man sollte sich immer so ausdrücken, dass keine Missverständnisse entstehen.“
„Schon gut. Im Grunde bin ich wirklich froh, dass du mich besuchst.“
„Im Grunde?“
„Jetzt leg nicht jedes Wort von mir auf die Goldwaage. Weißt du etwas hiervon?“
„Doraemon? Das weißt du doch selbst am besten. Er ist eine Roboterkatze aus der Zukunft, die panische Angst vor …“
„Masao!“
Wenn er witzig sein wollte fand ich ihn wirklich am schlimmsten.
„Ich meine, wer mir den Anhänger geschenkt hat und vor allem, warum.“
Masao untersuchte den Gegenstand eindringlich. In seinem Kopf schien es zu rattern begonnen zu haben. Aber eine Antwort darauf gab er mir nicht. Ich hatte mir irgendwie mehr von ihm erhofft.
„Es muss ein Mädchen von unserer Schule gewesen sein. Aber ich weiß nicht, wer dafür in Frage kommt. Ich dachte, du hättest vielleicht eine Idee.“
„Mit Mädchen hab‘ ich nicht viel am Hut. Du kennst ja den Ruf unseres Klubs.“
„Naja. Wer könnte überhaupt davon gewusst haben, dass ich ins Krankenhaus musste?“
„Als der Krankenwagen vor unserer Schule aufgetaucht ist gab es eine große Aufregung. Dann machte schnell ein Gerücht die Runde, dass die Otaku-Prinzessin wohl auf der Toilette ausgerutscht sein musste und dabei mit dem Kopf wahrscheinlich gegen die Kloschüssel geknallt wäre. Was man sich halt so ausdenkt. Auf jeden Fall warst du selbst in unserer Klasse das Gesprächsthema Nummer Eins. Es wusste so gut wie jeder.“
„Das klingt ziemlich demütigend.“
Leider waren derlei Sensationsmeldungen zu erwarten. Man traute mir eben nicht viel zu. Nicht einmal den Gang zum Klo.
„Falls es dich tröstet, ich habe die Geschichte von Anfang an nicht geglaubt. Ich weiß doch, wozu du fähig bist.“
„Das klingt in dem Zusammenhang wenig tröstlich.“
Um die Wahrheit zu sagen, ich fürchtete die Geburt eines neuen Spitznamens. Vielleicht würde die Geschichte sogar zu einer Art düsteren Legende. Etwa, dass ich mir aus Kummer auf dem Klo das Leben genommen hätte und jetzt dort alle heimsuchen würde, die ein schöneres Leben führten als ich es je gehabt habe. Hach, ich wollte vor Scham im Erdboden versinken … Es würde mich nicht einmal wundern, wenn Amuro-san das bösartige Gerücht in die Welt gesetzt hätte um von ihrem eigenen Debakel abzulenken.
„Irgendwas ist hier im Gange und ich habe keine Ahnung was.“
„Nicht jeder ist zum Conan[2] geboren.“
„Masao, bitte. Jemand aus unserer Schule besucht mich eigens und hinterlässt mir Doraemon. Warum?“
„Vielleicht hatte sie keine Zeit einen richtigen Talisman zu besorgen und Doraemon ist bloß ein Platzhalter?“
„Möglich. Aber wer würde sich überhaupt die Mühe machen mich zu besuchen? Ich meine …“
„Du stellst dein Licht wieder mal unter den Scheffel. Vielleicht bist du beliebter, als du denkst.“
Das erschien mir dann doch als zu weit hergeholt.
„Wie dem auch sei. Ich finde, du solltest dich jetzt in erster Linie auf das Gesund werden konzentrieren. Detektiv spielen können wir auch nach deiner Genesung. Wer weiß, vielleicht taucht das Mädchen auch von selbst noch einmal auf und …“
„Entschuldigen Sie bitte, aber unsere Besuchszeiten enden bald. Bitte verabschieden Sie sich langsam und machen sich auf den Heimweg.“
Die zuständige Schwester setzte unseren Ermittlungen ein jähes Ende.
„Dann trennen sich unsere Wege vorläufig an dieser Stelle. Zerbrich dir nicht zu viel den Kopf darüber. Meistens klären sich solche Angelegenheiten ganz von selbst auf. Die Erklärung dahinter ist oft ziemlich simpel.“
Masao hatte leicht reden. Darüber nachzudenken war meine einzige Unterhaltungsquelle in diesen langweiligen Mauern. Aber ich selbst hatte ja bereits gedacht, dass meine geheimnisvolle Besucherin mir vielleicht ganz von allein einen zweiten Besuch abstatten würde.
Sie tat es nicht.
8
Schließlich kam der große Tag und ich wurde nachhause entlassen. Es galt allerdings die Auflage, dass ich noch einige Tage Bettruhe einhalten müsse, damit ich nicht wieder zusammenklappte. Großmutter kümmerte sich wirklich rührend um mich. Am ersten Tag meiner Rückkehr bekam ich zwar nur leichte Kost in Form von Reisbrei, aber die Gerichte wurden zusehends gehaltvoller. Unsere Nachbarin Frau Takahashi ließ mir durch Masao eine ihrer berühmten Mehlspeisen überbringen. Dafür verpasste ich ihm scherzhaft den Spitznamen „Rotkäppchen“.
Arabiki‑kun hielt treu an meinem Bett Wache. Scheinbar hatte ihm meine Abwesenheit auch Sorge bereitet. Er war wirklich eine Seele von einem Hund. Damit ich nicht zu viel vom Unterricht verpasste brachte mir Masao überdies täglich die Hausaufgaben. Auch er war wirklich ein Schatz.
Bald war ich wieder vollends genesen und durfte zurück in die Schule. Es war zwar ganz angenehm eine Zeitlang keine hinterhältigen Kommentare befürchten zu müssen, aber auf die Dauer würde ich trotz allem einfach zu viel Stoff auf die lange Bank schieben. Außerdem war ich gespannt, ob sich meine anonyme Besucherin zu erkennen geben würde. Wie eine Art Erkennungszeichen hatte ich den Doraemon‑Anhänger deutlich sichtbar an meiner Tasche angebracht. So sah das Mädchen sofort, dass ich ihre Gabe anerkannte. Ich wusste zwar noch immer nicht, was er bedeuten sollte, aber sicher gab es einen Grund für dieses Accessoire. Da ich ohnehin zum Otaku-Klub gehörte würde sich auch niemand groß darüber wundern. Man täte es wohl als eine Art Klubabzeichen ab.
Die Stunden vergingen, aber ein Zeichen blieb aus. Vielleicht hatte sie auch einfach Angst, von mir in den Schlund der Unbeliebtheit gerissen zu werden, wenn sie offen Kontakt aufnahm. Ich konnte es ihr ehrlich gesagt nicht verdenken. Allein, dass sie den Aufwand auf sich genommen hatte mich zu besuchen war bemerkenswert. Ich hoffte dennoch mich mit ihr unterhalten und vor allem bei ihr bedanken zu können.
Die große Pause verbrachte ich wieder einmal in Masaos Klasse. Zwei Mädchen daraus hatten zwar vor meinem Krankenhausaufenthalt über mich gelästert, aber ich hatte beschlossen, die Kontrolle über mein Leben zurückzugewinnen. Wenn es Leute gab, denen es nicht passte, dass ich mit ihren Klassenkameraden befreundet war, dann sollten sie sich eben das Maul über mich zerreißen. Ich war gerne dort und stiftete keinerlei Unruhe. Wenn es jemanden gab, der damit ein Problem hatte, so war das deren Sache, nicht meine. Vielleicht steckte doch etwas von Großmutters Wesen in mir?!
Als hätten wir uns verabredet, war es auch Kazukis und Kazukos Tag der Rückkehr. Im Gegensatz zu mir steckte bei ihnen keine psychische Angelegenheit hinter ihrer Erkrankung. Sie hatten sich einfach ein Virus zugezogen und untereinander verteilt. Masao war wohl robuster gebaut als wir. Irgendwie entzog es sich meiner Erinnerung, ob ich ihn jemals krank gesehen hatte.
„Oh, Nakamura-san, endlich bekennst du dich zu uns.“
„Der Anhänger ist wirklich süß. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Ich meine, ich hätte ihn schon einmal gesehen.“
„Bei wem?“
Ich packte Kazuko wild entschlossen an den Armen.
„Nakamura-san, was ist denn in dich gefahren?“
Jetzt erst bemerkte ich, dass ich ihn angegangen war als hätte ich den Verstand verloren. Schnellstmöglich gab ich seine Arme wieder frei.
„Entschuldige, aber das ist wirklich wichtig. Wer hat noch so einen? Es muss ein Mädchen gewesen sein.“
Kazuko dachte kurz angestrengt darüber nach.
„Ich glaube, dass er einmal Sato-san aus der Tasche gefallen ist.“
„Sato-san? Wer ist das?“
„Mimi Sato. Unsere Klassensprecherin.“
„Und es war wirklich dieser Anhänger?“
„Ob es derselbe ist kann ich nicht sagen. Mir ist er nur in Erinnerung geblieben, weil ich einen solchen selbst in meiner Kindheit besessen habe. Und sie wurden seit damals auch nicht wieder neu aufgelegt. Dieses Modell gab es damals nur für ganz kurze Zeit während des Sommers. Eigentlich passt er auch nicht zu einer ernsthaften Person wie Sato-san.“
Den Expertisen des „Klubs zur Erforschung von Medien alternativer Realitäten“ konnte man in dieser Hinsicht blind vertrauen. Es wäre auch wirklich zu viel des Guten, wenn es sich dabei um einen schlichten Zufall handelte. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich noch nie ein Wort mit dieser Sato-san gewechselt oder irgendwie sonst zu ihr Kontakt gehabt. Bis gerade eben wusste ich noch nicht einmal um wen es sich dabei handelte. Dennoch war es sehr wahrscheinlich, dass sie mich im Krankenhaus aufgesucht hatte. Warum nur? Ich war nicht einmal in ihrer Klasse. Sonst wäre es vielleicht ein Höflichkeitsbesuch gewesen. Aber so konnte ich nicht den Sinn erfassen.
„Ich denke, ich werde nach dem Unterricht auf sie zugehen und sie ansprechen …“
8
Dachte ich bis vor wenigen Stunden noch, dass ich dabei war so etwas wie Selbstvertrauen zu entwickeln, so übernahm die Schüchternheit wieder Kontrolle über meinen Geist und Körper. Ich stand vor der Schule und zitterte innerlich. Auch meine Hände bewegten sich wider meinem Willen. Ich hasste Konfrontationen. Selbst, wenn sie im Fernsehen stattfanden und erst recht, wenn ich darin verwickelt war. Mir fiel es schwer zu jemandem den Kontakt aufzunehmen, wenn ich ihn nicht schon vorher kannte. Zwischenmenschliche Gespräche machten mir Angst. Vielleicht, weil ich schon so viele negative Erfahrungen gemacht hatte. Dann kam sie als eine der Letzten aus dem Schulgebäude. Masao hatte zwar gefragt, ob er mir Beistand leisten sollte, aber ich wollte alleine das Gespräch mit Sato-san suchen.
„Ähm, Sato-san?“
„Ja?“
Allein ihre Präsenz war ehrfurchtgebietend. Ich schätze, man musste so ein Typ sein, wenn man Klassensprecherin werden wollte.
„Mein Name ist Ai Nakamura und ich wollte …“
Sie starrte direkt in meine Augen.
„… mich dafür bedanken, dass du mich im Krankenhaus besucht hast.“
Schweigen. Auch sonst keine Reaktion.
„Das warst doch du, richtig?“
Ihr Blick durchbohrte mich geradezu.
„Was veranlasst dich zu dieser Annahme?“
Es war Ende Februar und draußen nicht mehr so kalt. Aber in ihrer Gegenwart erschien es mir als wäre es tiefster Winter. Erst nachdem ich einige Male geschluckt hatte wagte ich, ihr Antwort zu geben.
„Der Anhänger … einer deiner Klassenkameraden hat gesehen, wie er dir einmal aus der Tasche gefallen ist. Weil es sich doch dabei um so ein seltenes Stück handelt ist er ihm aufgefallen.“
Weiteres Schweigen.
„Ich verstehe nur nicht, warum du ihn mir geschenkt hast.“
Keinerlei Reaktion. Sie war wirklich eiskalt.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Wenn das alles war kann ich ja gehen.“
„Aber … ich …“
Tatsächlich drehte sich Sato-san weg und machte Anstalten mich einfach stehenzulassen. Ich war so perplex, dass ich nur noch leise, kaum hörbar die Worte „Wenn Masao doch hier wäre …“ aussprechen konnte.
„Dass du dich nicht schämst!!!“
Hilfe! Was war denn jetzt in sie gefahren.
„Du hast ihn nicht verdient!!!“
Diese Worte hatte ich doch schon einmal gehört?!
„Machst auf lieb und nett und hast es dabei faustdick hinter den Ohren.“
Am liebsten wäre ich einfach davongerannt, aber ich hatte Angst, dass sie mich einholen und in Stücke reißen würde. Im Prinzip so, wie es Raubtiere mit ihrer Beute taten. Ich hatte keine Ahnung, dass ein solcher Vulkan unter ihrer betont kalten Oberfläche brodelte. Was erwartete sie jetzt von mir? Sollte ich ihr weiter zuhören? Wollte sie, dass ich etwas sage? Sie jagte mir gerade eine Heidenangst ein. Letzten Endes entschied ich mich für letzteres.
„Habe ich dir etwas getan? Dann tut es mir ehrlich leid.“
Flammen schienen aus ihren Augen zu schlagen.
„Bist du etwa auch in Ito-san verliebt? Ich wusste ja nicht …“
„Wer spricht den hier von Hideaki?“
War sie so vertraut mit ihm, dass sie ihn schon beim Vornamen nannte?
„Aber, dass du ihm wie selbstverständlich Pralinen schenkst und auch noch einen Liebesbrief schreibst …“
Wie? Davon wussten doch nur ich, Masao und … Mit einem Mal hielt sich Sato-san die Hand vor den Mund und blickte zu Boden. Sie war so emotional geworden, dass sie mehr gesagt hatte als sie eigentlich wollte und sich mir als Attentäterin auf mein Liebesgeständnis offenbart hatte.
„Du hast meine Pralinen zerstört, stimmt’s? Und du hast mir auch geschrieben, dass ich Ito-san nicht verdient hätte. Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass du solche tiefen Gefühle für ihn …“
Sato-san blickte mich leicht angewidert an.
„Ich habe keine tiefergehenden Gefühle für Hideaki. Jedenfalls nicht mehr, als angebracht sind. Er ist ein Familienmitglied, mein Cousin, und nichts weiter.“
Sie hatte ihre Stimmung wieder in den Griff bekommen.
Aber, Moment!
„Du bist nicht an Ito-san interessiert?“
Wen dachte sie denn, dass ich ihr dann streitig machen würde? Kazuki und Kazuko schloss ich aus. Das einzige andere männliche Wesen, mit dem ich sonst zu tun hatte, war … Konnte das sein? War sie etwa in Masao … In diesem Moment errötete Sato-sans Gesicht, wie ich es noch nie zuvor bei einem menschlichen Wesen erblickt hatte. Sie schien instinktiv erfasst zu haben, auf wen meine Gedankengänge abzielten. Ihrer Kehle entwich ein quietschendes „Kyaaaaah!“. Dann begann sie undeutlich einige Wortfetzen zu stammeln.
„Ich … mag … Takahashi...-kun …“
Danach fand sie ihre Stimme wieder.
„Aber das darfst du ihm auf keinen Fall verraten!!! Sonst sterbe ich vor Scham!!!“
Ich nickte nur. Warum auch sollte ich es ihm verraten? Schließlich waren Sato-sans Gefühle allein ihre Sache. Andererseits ging es natürlich nicht, dass sie aus Eifersucht auf denen anderer Leute herumtrampelte.
Ihr war das Geständnis derart peinlich, dass sie nur noch auf und davon wollte. Eines der wenigen Male in meinem Leben ergriff ich allerdings die Initiative und damit ihren Arm. Die Angelegenheit musste jetzt restlos aufgeklärt werden.
„Nochmals von vorne. Kann es sein, dass du denkst, dass ich und Masao ein Paar wären?“
Sato-san nickte.
„Ihr verbringt jede Pause zusammen. Ihr nennt euch beim Vornamen und ihr macht euch gemeinsam auf den Nachhauseweg. Was solltet ihr also sonst sein?“
Ich blieb ihr eine Antwort schuldig.
„Und als du gesehen hast, wie ich am Valentinstag Pralinen in Ito-sans Spind gelegt habe, dachtest du, ich wolle Masao betrügen?“
Sato-san nickte abermals.
„Also meintest du es wäre Masao, den ich nicht verdient hätte und nicht Ito-san?“
Sato-san nickte erneut. Masao hatte recht. Man sollte wirklich darauf achten sich so unmissverständlich wie möglich auszudrücken. Anscheinend hatte sie nicht nur unser Verhältnis falsch verstanden, sondern auch nicht mitbekommen, dass Masao selbst mir zu dem Brief geraten hatte.
„Warum hast du mich dann im Krankenhaus besucht?“
Diesmal konnte sie sich nicht mit einem Nicken aus der Affäre ziehen.
„Als ich hörte, dass du im Krankenhaus warst bekam ich Angst, dass du dir wegen meiner Tat vielleicht etwas antun hattest wollen. Ich hatte Panik, dass ich zu weit gegangen war. Deshalb wollte ich die Angelegenheit wieder ins Reine bringen und mich entschuldigen. Aber als ich ankam hattest du geschlafen und ich erfuhr, dass du wegen hohem Fieber eingeliefert wurdest. Da ich erkannt hatte, dass es mich eigentlich nichts anging, wen du betrügst, habe ich dir als Buße meinen wertvollsten Besitz dagelassen. Aber als du mich vorhin angesprochen hast und nicht einmal wusstest weshalb das Ganze geschehen war ist meine Wut auf dich wieder zurückgekehrt.“
Die ganze Geschichte wurde immer klarer. Eine Frage war aber noch offen.
„Der Doraemon-Anhänger ist dein wertvollster Besitz? Warum?“
Wieder errötete Sato-san.
„Weil …“
„Du bist noch hier? Leider habe ich ein wichtiges Buch im Klubraum vergessen und muss es noch holen. Oh, Sato-san.“
Masao kam zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt um die Ecke des Schulgebäudes gebogen. Sato-sans Gesicht erbleichte, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Schlagartig aber wurde sie „nüchtern“ und entriss geistesgegenwärtig ihren Arm meinem Griff. Da sie nicht wissen konnte, wieviel Masao von unserem Gespräch mitbekommen hatte versuchte sie sich noch einigermaßen aus der Affäre zu ziehen.
„Nun, wenn du auch nicht zu unserer Klasse gehörst freut es mich, dich wieder bei guter Gesundheit zu sehen. Als Mitglied der Schulsprecherschaft ist es mir ein stetes Anliegen, dass meine Schulkameraden in der Lage sind, dem Unterricht beizuwohnen. Leider habe ich jetzt noch einige administrative Dinge zu erledigen. Ich hoffe, wir können unser Gespräch beizeiten einmal fortführen.“
Ich verstand nicht sofort was sie da redete, aber Sato-san Verstand hatte sofort eine Ausrede für unsere Unterhaltung gefunden. Sie konnte ja nicht wissen, wieviel ich Masao von der ganzen Angelegenheit erzählt hatte. Sie ging ja immer noch davon aus, dass ich vorhatte Masao zu betrügen. Leider kam ich nicht dazu dieses Missverständnis aufzuklären. Sie verbeugte sich artig und zog ihrer Wege. So schnell, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.
„Lass uns nachhause fahren.“
„Hast du uns etwa die ganze Zeit über belauscht?“
„Wie kommst du darauf? Ich war schon unterwegs, als mir einfiel, dass ich ein Lehrbuch in der Schule vergessen hatte. Das ist alles.“
„Wolltest du nicht eben noch direkt mit mir nachhause fahren? Willst du es nicht vorher holen?“
„So dringend ist es dann doch nicht.“
Ich ließ es dabei bewenden und wir setzten uns auf unsere Fahrräder. Masao sagte während der ganzen Fahrt kein weiteres Wort. Ich war mir nicht sicher, ob er alles was Sato-san und ich besprochen hatten mitbekommen hatte. Irgendwie erschien mir sein Kopf während des Strampelns ein wenig erröteter als sonst. Aber ich dachte, es wäre noch nicht an der Zeit ihn danach fragen …
Ende des 2. Kapitels
[1] Reisgericht, mit Huhn, Ei und Frühlingszwiebel
[2] Krimi-Manga von Gosho Aoyama, über einen verjüngten Detektiv, der sich zur Tarnung den Namen „Conan“ auswählt