Ein Tag nach morgen

  • Hallo,


    es war ja nur eine Frage der Zeit, bis sich herausstellt, dass Noel so etwas Ähnliches wie ein Vampir ist. Auch wenn Juli nach der Verwandlung in seinem Haus überraschend ruhig und gefasst bleibt, hast du die Szene auf beiden Seiten sehr intensiv beschrieben. Dadurch kam der Ernst der Situation entsprechend bei mir an und machte eine überaus passende Stimmung. An dieser Stelle frage ich mich aber, in welche Richtung sich die Geschichte entwickelt. Angesichts von Gilberts Ermittlungen wird wohl noch der eigentliche Täter gesucht und es ist nicht auszuschließen, dass er ebenfalls besondere Kräfte besitzt.


    Wir lesen uns!

  • >>Kapitel XXI Kleine grüne Wesen <<


    Ein Frosch



    Die Welt war zum Stillstand geraten. Seine Augen groß, geweitet, streckte er die Hände zum Himmel, dann war er nach hinten gekippt und das war alles, was in der hintersten Ecke seines Bewusstseins zurückblieb. Pechschwarze Tinte verbreitete sich in seinen Sichtfeld und im nächsten Moment war die Welt, die er kannte, verschwunden. Und dennoch hatte sich eine seltsame Ruhe in seine Brust gelegt, pulsierend wie ein fremdes Herz, wie das Ticken einer Uhr. Was ist eine Uhr? Was für ein seltsamer Gedanke. Die Luft war frisch, der Boden feucht. Er war umringt von einen Wald aus langen Gräsern. Und weil er nicht wusste was er sonst tun sollte, machte er sich auf das schier undenkbare Unterfangen, diesen Wald zu durchqueren, immer auf der Suche nach den sagenumwobenen Bach, in dem er sich niederlassen würde. Deshalb war er doch hier? Wieso sollte er sonst in einen Wald sein, wenn es nicht darum ging, Fliegen zu fangen oder einen Wohnsitz zu finden? Wohnsitz, was war ein Wohnsitz? Was ein Zuhause? Was für komische Gedanken er heute doch wieder hatte. Dabei war er doch schon immer, sein ganzes Leben lang, ein Frosch gewesen. Und weil er Frosch war, hüpfte er seinen Weg durch Dickicht so wie es Frösche nun einmal taten. Oder taten sie das? Wieso hinterfragte er es? Wie sonderbar. Bäume waren unüberwindbare Festungen und Steine Hügel, die es zu überwinden galt. So war das Gesetz des Waldes. Die Luft war klirrend kalt, doch spürte er diese Kälte auf seiner glitschigen Haut nicht und sagte sich, dass es so wohl schon immer gewesen sein musste. Seine Reise würde kein Ende finden, seine Arbeit keine Früchte tragen, nicht solange er keinen Bach fand.


    „Verdammt, verdammt, verdammt!! Noel! Noel, was machen wir den jetzt nur?! Hast du ihn gesehen? Was hast du gemacht?!“ Das Mädchen wirbelte herum. Ihre Schritte brachten seine gesamte Welt zum Beben.


    „Beruhige dich Juli. Das ist nur ein einfacher `Verwandlungszauber`. Wir müssen ihn nur fangen und-“ Fangen? Oh nein, dass kommt gar nicht in Frage. Der Mann trampelte den Wald aus Grashalmen nieder und schien sichtlich gestresst, fast als ob er kurz davor war zu hyperventilieren. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht kreidebleich geworden. Was bedeutet hyperventilieren? Der Frosch wusste es nicht, doch die lauten Geräusche machten ihm Angst, schreckten ihn auf, also sprang er in großen, schnellen Sprüngen weg, nur weg von den Monstern. Er war nicht als Frosch geboren worden, nur damit er sich von ein paar Tölpeln fangen ließ, denn immerhin war er – wer war er noch gleich? Hatten Frösche Namen? Mit jedem Sprung wurden die Geräusche leiser und leiser. Der erste war ungeschickt, der zweite missglückt, der dritte gelang. Sein Herz flatterte, wie er durch die Luft segelte. In der Welt gab es keine einzige Sorge. In diesen Moment erkannte er die Wahrheit, die diese schweigende Welt ihm verkündete. Eine Botschaft die nur er verstehen vermochte. Er hüpfte den Weg entlang über hohe Äste und Wurzeln, die ihn nicht stoppen konnten. Dann wie aus dem nichts, kam er zu stoppen. Ein seltsames Wimmern erfüllte die Luft mit einer sonderbaren Einsamkeit. Ein Riese lag längs auf den Boden. Die Hände hielt der seltsame Unbekannte vor seine grünen verquollen Augen. Seine blonden, gelockten Haare standen in alle Richtungen ab und seine Kleidung war von Dreck gesäumt. Einen Moment hielt der Frosch inne und verharrte in seiner Bewegung, beobachtete das fremde Wesen. Was für eine zu bemitleidende Kreatur. Das Herz des kleinen Frosches zog sich zusammen und sein Herzschlag nahm einen ungleichmäßigen Rhythmus an. Und doch – wieso? – konnte er sich das Gefühl dahinter nicht erklären. Wieso löste der Anblick des Kindes – was war ein Kind? – diese seltsame Nostalgie ihn ihm aus? Die verquollen Augen, das verdreckte Gesicht und die zerzausten Haare und grünen Augen – kannte er den Jungen? Es spielte keine Rolle und die Antwort auf die Frage würde er nicht bekommen. Wichtiger war seine Reise und die würde er nun fortsetzten.


    „H-he warte doch!“, hörte er jemand nach Luft schnappen. Der Frosch bemerkte seinen Fehler zu spät. Der träge Körper regte sich. Schnell, bloß weg von hier. Zwei Hände schossen in seine Richtung. Er wollte auf und davon hüpfen, doch da wurde er schon von Dunkelheit eingehüllt, als sich zwei Hände um seinen kleinen Körper legten. „Du bist jetzt mein Freund. Ich kümmere mich auch ganz, ganz gut um dich. Versprochen“



    ~+~



    „Schau mal, was ich für dich habe! Das sind Fliegen! Frösche mögen doch Fliegen? Deswegen hab ich dir welche gefangen.“ Wie sein Sichtfeld sich aufhellte, fand er sich in einem Marmeladenglas wieder. Durch kleine Löcher gelang Luft von außen nach innen. Mit einem Klack ging der Deckel auf und der Junge ließ die genüsslichen Fliegen in das Glas gleiten. Der Frosch konnte nicht anders als über diese Tat gerührt zu sein. Was war das, keimte etwa Dankbarkeit in ihm auf? Nun gut, vielleicht würde er den Worten des Kindes doch ein Weilchen lauschen, bevor er seine Reise fortsetzte. „Wir sind jetzt Freunde nicht? Du bist mein allerbester Freund. Ich glaube ich nenne dich Gustav, weil du wie ein Gustav aussiehst. Gefällt dir das Gustav?“ Dem Frosch war es natürlich herzlich egal, was für einen Namen man ihm gab. Er war schließlich nur ein Frosch und der Grund wieso er in den Moment mit seinen gigantischen Froschfüßen die Glaswand berührte war nicht etwa stille Zustimmung, sondern lediglich das Bedürfnis nach mehr Fliegen. „Dir gefällt der Name?“ Der Junge lachte. „Also gut Gustav-“, sagte der Junge und seine Augen strahlten. „Du kannst dich geehrt fühlen mit mir, den großen Oscar Oswalt, Bekanntschaft machen zu dürfen. Du bist jetzt mein erster“, den nächsten Teil sprach er deutlich leiser, „und auch einziger Freund. A-Aber das macht nichts. Ich werde dich auch gut behandeln. Zu Freunden muss man immerhin nett sein. Zumindest sagt das Schwester immer und die ist sehr klug.“ Der Junge hielt das Glas vor seinen Körper und inspizierte den Inhalt – also ihn – gründlich. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und seine Augen funkelten wie kleine Smaragde. Der Moment verstrich in Bruchteil von Sekunden und seine Mundwinkel zuckten. „Um ehrlich zu sein war das eigentlich gelogen. Tut mir leid Herr Gustav. Ich bin ein totaler Lügner.“ Das Kind legte das Marmeladenglas mit den Frosch zur Zeit ließ sich auf das Bett plumpsen. Oscar streckte beide Hände vom Körper und spreizte die Finger, während sein Blick zur Decke glitt und seine Augen jegliche Freunde verloren. Was zurück blieb war nur Oscar ohne die kindliche Neugierde, die ihn ausmachte. „Eigentlich mag mich nämlich gar niemand. Die Kinder in meiner Klasse sind immer gemein zu mir und machen sich über mich lustig. Aber gestern habe ich meine Schwester davon erzählt, weil ich ganz doll Angst hatte alleine nach Hause zu gehen. Eigentlich sollte mich mein Bruder abholen, aber der wollte nicht und dann…dann-“ , schniefte der Junge und rieb sich die Augen. Das Zimmer war spärlich eingerichtet. Auf den Boden lag ein Schulranzen, in den Regalen ein paar Bücher und ein Papierflieger. „Herr Gustav meinst du, wenn es jemanden da oben gibt, das er mir auch vergibt? Ich bin ein ganz böser Junge musst du wissen.“ Wimmern drang aus seiner Kehle. „Weil, ich hab meine Schwester ganz doll traurig gemacht, weil ich über die Schule geredet habe. Dabei wollte ich sie- “ Das Kind schluckte schwer. Jetzt brach seine Stimme und versagte fast. „Dabei wollte ich sie gar nicht zum Weinen bringen. Weißt du, ich bin mir jetzt ganz sicher, dass ich lieber manche Sachen für mich behalten sollte. Ich muss ein ganz, ganz schrecklicher Mensch sein, nicht? Nur böse Leute bringen liebe Menschen zum Weinen.“ Er rieb sich die Augen und warf einen flüchtigen Blick zu seinen kleinen Freund. „Aber Gustav, was habe ich denn Gilbert getan, dass er mich so sehr hasst? Es tut mir so leid. Was ich auch mache, ich bereite jedem nur Probleme. Aber weist du was? Das ändert sich ab heut! Immerhin muss man manchmal sein Leben selbst in die Hand nehmen.“ Der Junge drehte sich zur Seite und umklammerte mit seinen kleinen Händen das Glas. „Und ich bin ja schon ein großer Junge, also habe ich mir ein paar Sachen eingepackt und gehe arbeiten.“ Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Also einen Stift und einen Block. Was meinst du, kann ich Schwester dann auch unterstützen? Das würde mich sehr, sehr glücklich machen.“ Oscar grinste keck. „Ich weiß zwar nicht, wie genau man arbeitet, aber manchmal helfe ich meiner Schwester beim Geschirr abräumen. Meinst du, man kann das beruflich machen? Das würde ich nämlich echt gerne machen. Ob man damit viel verdienen kann? Ich mein ja nur, wenn ich viel verdiene, kann meine Schwester sich auch mal zurücklehnen. Sie schläft kaum noch.“ Natürlich verstand der Frosch kein Wort von den Jungen, dennoch fixierten der Blick des Frosches die traurigen Kinderaugen des Jungen, der sich wieder auf den Rücken drehte, das Glas immer noch in seinen Händen ruhend. „Aber jetzt habe ich ja dich. Weißt du, ich glaube mein Bruder hat Recht, immerhin bin ich jetzt schon fünf Jahre und außerdem-“ Sein Griff verfestigte sich, „Meinst du, dass er dann nicht mehr böse auf mich ist?“


    „Oscar, komm jetzt, auf zur Vorschule!“, hörte der Frosch eine Stimme. Sie war weich, sanft und kam von einer schwarzhaarigen Frau. Ihr Blick war vieles. Zum einen statisch, dann müde und von einer seltsamen Güte erfüllt, die sich der Frosch nicht so recht erklären konnte. Oscar sprang eilig von seinem Bett auf und schob das Glas in seinen Rucksack.


    „Komme schon Schwester“, trällerte das Kind, der eben noch geweint hatte. „Psst, Herr Gustav du musst jetzt ganz leise sein. Schwester darf nicht merken das ich dich mitnehme. Sie meint immer Tiere müssen frei sein, also wäre sie bestimmt böse mit mir. Aber du verratest mich doch nicht, nicht wahr? Ich will dich meinen Klassenkameraden vorstellen. Wenn die erst einmal sehen was für einen tollen Freund ich habe, dann sind sie bestimmt total neidisch. Und dann wollen sie bestimmt auch mit mir befreunden sein.“ Freunde, was waren Freunde? Der Frosch wusste nicht was Freunde oder eine Familie war, doch stand eines ganz zweifellos fest. Sein Bruder war offensichtlich ein Narr. In den Kopf des Frosches war er ein gar abscheulicher, hässlicher Tölpel, der selbst nichts auf die Reihe bekam und alles auf die anderen schob, während er derjenige war, ohne dem – ja ganz sicherlich, daran bestand kein Zweifel - die Welt besser wäre. Leider hatte der Frosch keinen Mund, und kannte keine Worte, um seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Alles was ihn blieb, war mit den immer gleichen Blick und den großen Augen zu den Jungen zu sehen und ein Quack von sich zu geben.


    „Hmm, Oscar mit wen redest du denn da?“


    „M-Mit gar niemanden. Ich freu mich nur schon total auf die Vorschule. Du bist total langsam Schwester!“ Mit einen Satz hatte er sich Schuhe angezogen, mit einen weiteren großen Schritt war er bei der Garderobe und streifte sich einen Mantel über. „Ich bin schon fertig.“ Die junge Frau lachte, doch ihr ganzer Körper zitterte unter der Last, die niemand sehen konnte.



    ~+~



    Für einen Moment war die Welt wieder finster geworden. Lediglich Stimmen drangen noch vereinzelt ins Innere der Tasche, wenn diese auch nur dumpf und kaum hörbar sein mochten. Nicht einmal ein Lichtstrahl vermochte ihm zu verraten, wo er sich momentan befand. All das bestärkte seinen Entschluss bald schon auszubrechen, auch wenn er den kleinen Jungen doch ein Stück weit bemitleidete. Aber er war immerhin ein kluges Köpfchen, er würde bestimmt auch ohne in zurrechtkommen. Eines stand dennoch fest. Der Junge hatte offensichtlich einen Tölpel als Bruder. Einen Tölpel der all seine Probleme auf andere projektzierte und seine Probleme zu Problemen anderer machte. Doch ich bin ein Frosch und du ein Menschenjunge und Mensch und Frosch können keine Freunde sein, dass weiß doch ein jeder. Und weil das, das Gesetz der Natur war, müssten sich ihre Wege auch schon bald wieder trennen.


    „He, was hast du da? Willst du mir deinen kleinen Freund nicht zeigen? Hmm, was meinst du?“ Die Frau aus dem Wald? Die Stimme kannte er doch.


    „N-Nein, du bist die komische Frau von gestern. Dich kenne ich doch! Mein Bruder ist dir gestern hinterhergelaufen. Du bist schuld daran, dass er nicht zurückgekommen ist! Ich lass nicht zu, dass du meinen Freund auch noch mitnimmst!“ Er klammerte sich an den Stoff der Tasche. „Nur über meine tote Leiche!“ Die Augen der Frau weiteten sich. Sie hatte eine Hand nach ihm ausgestreckt, doch jetzt zuckte sie zusammen. Richtig. Was der Junge sagt, machte durchaus Sinn. Was für eine spannende Geschichte. Nicht so spannend wie Fliegen natürlich. Na, wie willst du dich da noch rausreden? Der Frosch lauschte aufmerksam das Stimmenwirrwarr das von außen zu ihm drang.


    „D-Du bist uns-“, stieß sie aus, beendete den Satz jedoch nicht. Für einen Moment schien sie sichtlich nach Worten zu suchen. Also verteidigte sie sich nicht. Verdächtig, verdächtig. „Dann ist der Junge-“ Welcher Junge?


    „Ich bin sein Bruder!“ Dann ist das also der Trottel, was für eine Überraschende Wendung.


    „Hör mal-“, setzte sie wieder an, doch Oscar schlang seine Hände nur noch weiter um seinen Rucksack. „Das mit deinen Bruder tut mir unglaublich, unglaublich leid und ich weiß auch, das du den Frosch sehr lieb gewonnen haben musst, aber er gehört zu mir und ich habe mir sehr große Sorgen gemacht. Deshalb könntest du bitte-“


    „Nein!“, schrie der Junge. Sein Gesicht war zu einer entsetzten Grimasse verzogen. „Ich will aber nicht! Das ist mein Freund und ich lasse ihn nicht in Stich!“ Die Finger verkrampften sich in den Stoff der Tasche. „Er ist mein bester Freund. Und Mama hat gesagt ich soll nicht mit unheimlichen Leuten sprechen.“


    „Oh.“ War alles, was sie hinter zusammengepressten Lippen hervor pressen konnte. Natürlich war auch das eine Lüge, denn der Junge hatte den Frosch erzählt, dass er schon lange keine Eltern mehr hatte und es seit einigen Jahren nur noch sie Drei gab. Zwei Brüder und eine Schwester, das war die einzige Wahrheit, die existiert.





    ~+~



    Am späten Nachmittag nahm der kleine Oscar seinen ganzen Mut zusammen und enthüllte das kleine Wesen seinen Mitschülern und für einen kurzen Moment war die Welt – Oscars Welt – in Ordnung gewesen. Sein Herz musste ganz laut gepocht haben, wie er zu dem Glas in seinen Rucksack griff.


    „Wow, das ist ja total abgefahren.“, stieß einer der Jungen aus.


    „Das ist mein neuer Freund. Ich habe ihn gestern in Wald gefangen.“


    „Toll, aber kann er denn auch Tricks?“, meinte der Junge der sich Anton schimpfte. „So ein Haustier ist echt cool, aber wenn er keine Tricks kann, ist das voll Lame.“ Der Schwarzhaarige griff nach den Glas, sehr zu dem entsetzten des Jungen.


    Und dann war nichts mehr in Ordnung. „Na los, hüpf schon. Hüpf!“ Alles drehte sich. Der Frosch bekam einen heiden Schrecken, als er im nächsten Moment durch das Glas geschleudert wurde, die Welt sich erneut drehte, bis er auf der harten Oberfläche aufkam. Der Schmerz war schier unerträglich und raubte ihn jegliche Sinne. Sein Herz pochte so laut, dass es fast zu zerspringen drohte. „Beweg dich, nun hüpf schon dummes Ding. Dein Frosch ist total lame, der ist ja schon tot!“


    „Nein hör auf, bitte tu ihm nicht weh! Bitte lass das!“, schrie Oscar. „Bitte.“, keuchte er, seine Stimme ganz dünn, ganz heißern, als Tränen seine Wange hinunter kullerten.


    „Dummes Ding, nun hüpf schon!“, schrie der andere immer wieder und mit jedem Mal schüttelte er kräftiger. Und jedes Mal brach es Oscars Herz ein wenig mehr. Er versuchte nach dem Glas zu greifen, doch sein Mitschüler hielt es einfach weiter in die Höhe. „So ein dummes Ding! Ein Frosch, der nicht hüpfen kann, ist doch kein richtiger Frosch!“ Und obwohl jeder etwas hätte machen können, erhob niemand die Stimme, schritt niemand ein. Jeder lachte, lachte so laut, dass es durch den Raum hallte, wie ein gespenstisches, groteskes Echo, bis dann tatsächlich, in einen unachtsamen Moment, das Glas schallend auf den Boden viel und Frosch, der nicht hüpfen konnte, zu hüpfen begann. Kinderstimmen schrien und mit einem Male herrschte Chaos.


    „Ihh, igitt, tritt es tot, tritt das Ding tot!“, schrien Kinderstimmen.


    „Nein tut ihn nicht weh, bitte nicht!“ Oscar sank auf die Knie und tastete den Boden ab. „Bitte bewegt euch nicht ich muss doch- ich muss-!“ Doch die Kinder bewegten sich, schrien, rannten. Ein Chaos entstand und Oscar begann zu weinen. Am Ende des Tages blieb er alleine im Klassenzimmer zurück. Egal wo er auch suchte, der Frosch blieb unauffindbar. Er wagte es nicht darüber nachzudenken, was mit den kleinen Wesen passiert war. Sein Kopf blieb gesenkt, sein Herz ganz schwer, selbst als er sich schweren Herzens auf den Weg nach Hause machen musste.


    „Suchst du etwas?“ Oscar blinzelte mehrere Male, nur um sich zu vergewissern das er nicht träumte. Er hatte das große Tor durschritten, das auf den Feldweg führte, da erblickte er ihn, einen jungen Mann mit schulterlangen fast weißen Haaren. In seinen Händen trug er nichts anderes als einen Frosch, denn er sanft mit beiden Händen umschlossen hatte.


  • >>Kapitel XXII Ein Vampir... Teil I<<



    Juli



    „Wir haben wohl noch einiges zu bereden.“


    „Hm.“ Noel senkte den Kopf und nickte. Seine Lippen formten einen schmalen Strich. „Ich...Ich denke du hast recht. Gib mir-“ Er beendete den Satz nicht, stattdessen schlug seine Stirn Falten. „Lass mir nur ein wenig Zeit. Ich brauche nur einen Moment um alles zu Ordnung und-“ Jetzt hob er seinen Kopf. Sein Gesicht war kreidebleich. War er schon immer so bleich gewesen? Sie saßen zusammen an den Tisch in seinen Zimmer, keiner der beiden hatte auch nur ein Wort gesprochen, bis dann schließlich Juli die erste war, die Stille durchbrochen hatte. Sie umklammerte eine Tasse mit etwas von dem Noel zumindest behauptet hatte das es Tee gewesen sein sollte.


    „Dann lass uns morgen treffen. Geht das für dich in Ordnung?“


    „Morgen? Hmm.“ Seine Stimme war immer noch etwas angeschlagen, aber er widersprach zumindest nicht, auch wenn sie mit jedem Wort etwas an Farbe verlor. Er war müde und sie konnte es ihn nicht weiter verübeln. „Morgen sollte in Ordnung gehen. Aber sag mal, willst du dich-“ Noel schüttelte den Kopf und seine Lieder schlossen sich. Was Noel? Was will ich? „Ich meine… willst du…denn überhaupt noch weiter mit mir treffen? Du weißt schon, ich glaube nicht, dass das eine gute-“


    „Sei nicht albern!“ Sie schoss in die Höhe. „Mit wen ich mich treffe und mit wen nicht ist immer noch meine eigene Sache.“ Seine Augen weiteten sich und er zuckte zusammen. Sie hatte ihre Stimme erhoben. Wann war das passiert? Im nächsten Moment wollte sie sich entschuldigen, doch Noel ließ ihr nicht die die Gelegenheit.


    „Hmm.“ Er presste die Lippen zusammen und sein Griff um seine eigene Tasse verkrampfte sich weiter. „Gut.“ Sein Blick wanderte zum Boden. „Ich…“ Für einen Moment wirkte er so, als ob er etwas erwidern wollte, doch was immer er hatte sagen wollen, es blieb unausgesprochen. Stattdessen nickte er zaghaft und seine Lippen formten ein schmales Lächeln. Nicht echt und nicht natürlich, doch das erste, das er seit einer ganzen Zeit gezeigt hatte. „Dann lass es uns so machen. Lass uns in deinen Garten treffen. Am besten nach der Uni. Ich denke nicht, dass ich morgen schon wieder nach draußen kann. Nicht, wenn die Sonne noch scheint, also lass es uns auf Abend schieben.“


    „Gut.“ Sie lachte keck. „Dann ist das also ein Versprechen.“


    „Du siehst das ganze viel zu optimistisch.“ Er lächelte. „Aber gut, wenn du es als solches betrachten möchtest. Ich sollte dich allerdings vorwarnen ich… glaube nicht das ich dir viele Fragen beantworten kann.“



    ~+~



    Und wenn er nicht kommt? Sie schob den Gedanken beiseite, doch ganz verblasste er nie. Sie war zu früh dran. Natürlich war es zu früh. Juli hatte sich auf einen ihrer Düngesäcke gesetzt und ließ die Beine baumeln. Irgendwann musste sie sich einmal eine Bank besorgen. Vielleicht würde sie ihre Mutter fragen, ob sie ihr beim Tragen helfen würde und dann wäre dieser kleinen Garten schon bald mehr als nur ein Garten. Unter Umständen konnte sie ihn sogar richtig wohnlich gestalten. Ein paar Tische würden sich sicherlich gut hier machen. Die Terrasse von Herrn Albert tauchte vor ihren geistigen Auge auf. Gut, vielleicht etwas weniger chaotisch. Sie könnte etwas basteln, nicht? Als sie noch jünger war, hatte sie oft mit ihrer Mutter alles Mögliche gebaut, aber das war lange her gewesen. Ob sie das wohl immer noch könnte? Sie hatte noch ein paar Bretter im Schuppen. Ich könnte es probieren. Juli kreuzte ihre Beine, als sich ihre Augenbrauen zusammenzogen und ihre Hand zu ihrem Kinn wanderte. Die Luft war für den Frühsommer ungewöhnlich kalt. Der frische Geruch von Moos und Erde kroch in ihre Nase. Ihre Lieder flatterten leicht, wie sie den Sonnenuntergang betrachtete, da spürte sie plötzlich den sanften Druck einer Hand und die Wärme von jemanden, der sich neben sie setzte.


    „He, schon da?“ Langsam drehte sie ihren Kopf in der Richtung der bekannten Stimme. Noel hatte sich zu ihr gesetzt und sah etwas verlegen zu Boden. „Hast du schon lange gewartet?“ Er hatte die Hände ineinandergelegt und warf ihr einen flüchtigen Blick zu.


    „Hm? Eh… nein, nicht lange, nur ein paar Minuten.“ Juli stütze sich mit einem Ellenbogen ab. „Und bist du auf irgendetwas gekommen?“


    „Auf-“ Er zögerte und schüttelte den Kopf. „Nein“ Also, wie sollte sie am besten beginnen. So viele Fragen brannten ihr auf der Zunge. Ihr Herz machte einen Satz. Also gut, dann lass uns einmal anfangen.


    „Sag mal Noel, wie bist du eigentlich zu einem Vampir geworden? Du bist nicht als Vampir geboren worden, nicht? Stimmt es, dass Menschen sich in Vampire verwandeln, wenn sie von einem gebissen werden?“ Ihre Stimme war dünn, kaum hörbar, als sie nachdenklich in die Ferne sah, dann zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. „Wenn das so ist, verwandele ich mich dann auch in einen Vampir? Ich meine... ich nehme dir das natürlich nicht übel, deshalb frage ich dich nicht.“


    „Was?!“, hustete Noel. Seine Augen wurden groß. „Nein, nein, auf gar keinen Fall! Wieso hast du mich das nicht schon gestern gefragt?! So funktioniert das nicht und-!“


    „Schon gut Noel. Ich dachte nur. Ich habe mir darüber so ein wenig Gedanken gemacht, aber du schienst so durch den Wind, also-“ Sie biss sich auf die Lippen. „Wie albern von mir.“ Sie lächelte. „Sorry, ich hätte wohl einfach nachfragen sollen.“


    „Nein, Unsinn. Ich hätte es dir gleich sagen sollen aber... es ist so, weißt du, es stimmt das Vampire Menschen in Vampire verwandeln können, aber um ehrlich zu sein passiert das nur sehr, sehr selten.“


    „Wieso?“ Ihre Augenbrauen schossen nach oben.


    „Hmm? Gute Frage? Aber ich schätze die meisten überleben es einfach nicht, wenn sie von einem Vampir gebissen werden. Jedenfalls vermute ich, dass das der Grund ist. Aber wenn ich ehrlich bin, verfüge ich auch gar nicht über dieses Gift.“


    „Weil du kein Vampir bist?“


    „Was?“, er lachte schief. „Ha. Du hast recht. Schätze das wird wohl der Grund sein.“ Noel kratzte sich am Kopf und zog eine Grimasse.


    „Und wie ist das mit der Biologie? Weißt du etwas darüber? Wie unterscheidet sich der Körperbau von Menschen und Vampiren? Ich meine, die sehen doch genauso wie Menschen aus. Oder tun das nur die werdenden Vampire? Wenn ja, wie sieht dann ein richtiger Vampir aus? Und können Kinder auch zu Vampiren werden? Oh, und apropro Kinder, was passiert, wenn ein Vampir schwanger wird? Und können Menschen und Vampire Kinder bekommen? Sind das dann Halbvampire? Und was ist mit dem Ding außerhalb der Mauern? Meinst du, das war auch ein Vampir? Und fungiert die Mauer dann folglich als Art Schutzwall?“


    „Huh?! Das sind aber eine Menge Fragen.“ Noel lehnte sich ein Stück zurück und legte den Kopf schief. „Um ehrlich zu sein weiß ich selbst nicht so viel. Ich habe in dem letzten Jahrhundert, das ein oder andere Buch auftreiben können, allerdings-“, seine Stimme wurde leiser, dann wieder lauter, „war ich selbst nicht oft draußen. Vielleicht ein oder zweimal.“


    „Hast du da einen richtigen Vampir gesehen?!“ Ihre Stimme überschlug sich fast. Sie schnappte aufgeregt nach Luft als Noel zusammenzuckte.


    „Also-“, er zögerte mit seiner Antwort. „Ja. Ein einziges Mal. Das war als...darüber rede ich nicht gerne. Ob das Wesen, das wir damals gesehen haben, ein Vampir war, kann ich leider nicht mit Sicherheit beantworten. Möglich ist es, allerdings gibt es hinter der Mauer bei weiten mehr als nur Vampire.“ Das einzige Mal. Sie schluckte. Der Tag, an dem er zum Vampir geworden ist. Damals war er zweifelsohne auf einen Vampir gestoßen. Ihr Herz sank. Nicht doch.


    „T-Tut mir leid. Vergiss einfach, was ich gesagt habe!“ Wie unsensibel von ihr, dabei war das Thema doch ganz offensichtlich ein wunder Punkt für ihn.


    „Nein, nein schon gut, du brauchst dich nicht entschuldigen. Das ist alles schon... sehr, sehr lange her.“ Sie beugte sich ein Stück weit nach vorne. Ob sie weiter nachhacken sollte? Ihre Lippen öffneten sich fast automatisch.


    „Wie lange?“


    „Hmm, ich...“ Seine Hand wanderte zu seinem Kinn „Mindestens ein Jahrhundert?“


    „Ein Jahrhundert?!“


    „Hehe, du wirkst schockiert. Ich weiß, so alt sehe ich gar nicht aus.“ Ein seltsamer bitterer Ton schwang mit seiner Stimme mit. „Glaub mir, du willst gar nicht so lange leben. Das Ganze hat nur Nachteile.“ Für einen Moment schwiegen beide. So war das also. Du wolltest kein Vampir werden. Bestimmt war das alles sehr schwer für dich. Und du konntest dich niemanden anvertrauen. Das ist- Juli biss sich auf die Lippe. Sie sah zu Boden, bis sie sie sich wieder aufraffte, um eine weitere Frage zu stellen. Eine andere, eine die nichts mit Noel zu tun hatte.


    „Und was ist mit Astor? Ist er den ein Vampir?“


    „Astor?!“ Noel schüttelte den Kopf. Dieses Mal schien er zu lachen.


    „E-Echt nicht?! Aber er hat doch spitze Zähne und-“


    „Nicht jeder der spitze Zähne hat, ist auch ein Vampir. Um Himmelswillen. Astor ist ein Wechseling.“


    „Ein…Wechseling?!“


    „Du klingst ja fast überrascht.“


    „Natürlich bin ich das! Ich war mir so sicher, dass er ein Vampir sein muss. Ich meine, er sieht schon wie einer aus. Dann wiederum hat sich ja herausgestellt, dass ich nicht sonderlich viel über Vampire weiß, nicht?“ Sie lachte schief, und dieses Mal war es ein ehrliches Lachen.


    „Wechselinge sind Vampiren tatsächlich gar nicht so unähnlich wie man denkt. Du hast mich doch vorhin gefragt, was mit Kindern passieren würde, die gebissen werden? Oder nehmen wir es noch ein Stück genauer, was mit Säuglingen passieren würde. Nun, wenn ein Säugling gebissen wird, dann verwandelt es sich zu einen Wechseling.“


    „Verstehe, aber das kommt noch viel seltener vor, richtig?“


    „Glaub es oder nicht, aber Wechselinge gibt es wesentlich mehr als Vampire. Aus irgendeinem Grund überleben Babys die Verwandlung eher als Erwachsene. Ich habe schon viele Wechselinge gesehen, aber nur einen einzigen Vampir. Meistens sind sie ungefährlich, zumindest wenn sie alleine sind. Die meisten sind Scharlatane und machen sich einen Spaß daraus, den Menschen Streiche zu spielen. Ihre Verhaltensweise ähnelt sehr die eines Kindes.“


    „Hmm, verstehe das macht Sinn, immerhin sind sie ja auch irgendwie Kinder.“


    „So habe ich das noch gar nicht betrachtet, aber ja, das stimmt wohl. Jedenfalls sind sie nicht auf Blut angewiesen stattdessen essen sie fast alles. Aber so wie ich das bei Astor erlebt habe, wohl mit einer Vorliebe für Stuhlbeine.“ Noel lachte. Sein Lachen war warm und einladend.


    „Hm, aber Wechselinge sehen gar nicht so anders aus wie normale Kinder.“


    „Das liegt an meinen sehr genialen Zauber. Du musst wissen, das Wechselinge keine richtigen Hände haben. Deswegen trägt Astor auch immer lange Kleidung. Während ich ein Großteil seiner Gestalt verbergen kann, gelingt mir das nicht bei seinen Armen. Statt Händen haben sie Klauen. Und sie haben mehrere Gliedmaßen.“


    „D-Du meinst mehrere Arme und Beine?!“


    „Genau und ihre Augen sind riesig und ähnlich der einer Spinne.“


    „S-Spinnen?!“


    „Ja. Lange drahtige Gliedmaßen, die nur von einer dünnen, cremefarbenen Haut ummantelt sind.“ Juli erschauderte. Eine wahrlich unheimliche Vorstellung. In dem Fall sollte sie es sich zweimal überlegen sich mit Astor anzulegen. „Wo wir bei Spinnen sind. Wenn man es genau nimmt, haben die Vampire die ich kenne und die, die du in deinen Kopf hast, weniger gemeinsam als du denkst. Ich glaube sie Spinnenwesen zu nennen wäre wohl die passendere Bezeichnung. Juli, hörst du mir zu?“


    „Hmm? J-Ja natürlich. Ich habe nur über Astor nachgedacht und das ich auf keinen Fall auf seiner schwarzen Liste landen will.“


    „Ditto. Dem kann ich nur zustimmen. Jedenfalls, insofern du an deinen Besitztümern hängst und sie wieder an Ort und Stelle finden willst. Oder du vielleicht nicht möchtest das jemand mitten in der Nacht die Tür aufmacht und somit jeder einfach in dein Haus reinspazieren kann. Das wären schon einmal zwei Gründe.“


    „Aber mal was anders Noel, woher weißt du das alles, wenn du doch kaum draußen warst?“


    „Herr Albert hat mir das ein oder andere erzählt.“


    „D-Du hast freiwillig mit Herrn Albert gesprochen?!“


    „Ja. Wieso nicht? Er hat ein paar interessante Bücher. Schon merkwürdig, dass er wahrscheinlich mehr über Vampire weiß als ich selbst. Er meinte, dass ich jederzeit wiederkommen kann, wenn ich Hilfe bräuchte. Ich wäre ja der Enkel von einem seiner besten Freunde und so, da kann man ja auch mal etwas unter die Arme greifen. Eigentlich sollte ich mich schlecht fühlen, nicht? Er wird bestimmt nicht sonderlich begeistert sein, wenn er die Wahrheit wüsste, aber da kann man wohl nichts machen.“


    „Das ist wirklich-“ Noel ließ sie den Satz nicht zu Ende reden.


    „Jedenfalls ist der Körperbau eines echten Vampires, den einer Spinne wohl nicht unähnlich. Angeblich können sie sogar Kinder bekommen. Die ähneln wohl den Wechselingen sehr. Und sie legen Eier. Also so richtige Spinneneier, echt ekelhaft?!“ Er verzog angewidert das Gesicht. „Zu so einem Ding werde ich mich bestimmt nicht verwandeln. Soweit werde ich es nicht kommen lassen eher-“, er schluckte. „Vergiss es. Nicht so wichtig.“


    „Sag mal, was unterscheidet eigentlich richtige Vampire und Leute wie dich? Meinst du, es gibt noch andere?“ Noel sah zu Juli. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er schien für einen Moment in seinen eigenen Gedanken versunken zu sein. Sein Blick wurde schlagartig finsterer.


    „Also zum einen die Zähne. Ich habe lediglich etwas spitzere Eckzähne. Richtige Vampire haben mehrere Zahnreihen. Jeder einzelne Zahn ist messerscharf und in der Lage Gift zu injizieren das weiß ich weil...“ Seine Augen weiteten sich und er stoppte. Es gab also auch Dinge, über die selbst Noel nicht sprechen konnte. „Das ist alles. Wie es mit inneren Organen aussieht, weiß ich nicht, aber niemand hat je etwas gesagt, wenn ich zum Doktor gegangen bin, also gehe ich davon aus, das es weniger offensichtlich ist, als man vielleicht denkt. Dann wären da noch die Augen. Meine Pupillen sind spitz, allerdings sieht man das nur, wenn ich schlechte Tage habe.“


    „So wie gestern.“


    „Ja, so wie gestern. Tut mir leid dafür ich... wollte dir nicht weh tun.“


    „Schon gut, du musst dich nicht entschuldigen.“


    „Aber-“ Er beendete den Satz nicht, stattdessen schluckte er und begann noch einmal von vorn. „Jedenfalls, die Augen von werdenden Vampiren sind etwas farbintensiver, während richtige Vampire gar keine Augenfarbe mehr besitzen. Ihre Iris ist transparent. Ein weißer Augapfel mit einer einzigen schmalen Pupille. Das ist schon irgendwie … beängstigend.“ Ob er das auch gedacht hatte, als er in die pechschwarze Iris des Vampirs gesehen hatte, der ihn- Nein, genug davon Juli! Mach es nicht noch schwerer. Manche Fragen blieben lieber unausgesprochen.


    „Haben werdende Vampire eigentlich auch einen Namen?“ Eine von Noels Augenbrauen wanderte nach oben.


    „Aber Juli, wieso sollte man etwas einen Namen geben, das doch eigentlich gar nicht erst existieren sollte.“ Sie schluckte. Themenwechsel. Dann gäbe es da nur noch eine Frage zu klären.


    „Also gut, dann lass uns jetzt mit dem wichtigen Teil beginnen. Wie planst du deinen Ernährungsplan umzustellen? Ich habe mir ja schon den ein oder anderen Gedanken gemacht, aber so genau kenne ich mich mit Blut leider nicht aus. Oh, und nicht zu vergessen das Loch in der Mauer! Ich denke wir sollten unbedingt etwas dagegen unternehmen, findest du nicht auch?“


    „Was?“ Für einen Moment betrachtete er sie schweigend, dann begann, wie aus dem Nichts, zu lachen. „Du...Du bist echt unglaublich. Du solltest eigentlich vor Schreck schon längst weggelaufen sein. Stattdessen-“ Er hielt sich die Hand vor den Mund und schaffte es gerade noch so nicht laut los zu prusten.


    „He! Lach mich nicht aus.“ Sie verpasste ihn einen leichten Stoß in die Seite. „Einer von uns beiden muss ja nachdenken. Außerdem habe ich versprochen dir zu Helfen. Und eine Juli steht zu ihren Versprechen!“, hörte sie sich selbst sagen, doch ihre Hände zitterten.


  • Hallo,


    so viel Worldbuilding in einem Kapitel finde ich persönlich immer recht erschlagend. Auch wenn es an dieser Stelle vermutlich am besten passt, da Noels Geheimnis enthüllt ist, hätte es sich beispielsweise angeboten, die Informationen rund um Vampire nach und nach zu erwähnen und so immer weiter aufzubauen. Dennoch hast du einige interessante Aspekte eingebaut. Dass sich nicht alle Menschen verwandeln ist ebenso spannend zu erfahren wie die Tatsache, dass Astor nicht in seiner wahren Gestalt auftritt. Gut finde ich hier außerdem, Julis Gedankengänge mitzubekommen. Sie erwischt sich ja doch häufiger dabei, nicht alles ansprechen zu wollen.


    Wir lesen uns!


  • >>Kapitel XXII ...ein Frosch... Teil II<<


    Juli



    Heute Nachmittag trafen sich Juli und Noel ausnahmsweise nicht in ihren Garten, sondern tatsächlich in seinem. Das Gras war so hoch das es in ihren Knien und wünschte sich aus tiefsten Herzen Noel würde irgendwann einen Rasenmäher in Erwägung ziehen. Nicht das diese ungezähmte Natur nicht auch ihren Charm hatte, nur kitzelte besagter Charme sie gerade gewaltig in den Kniekehlen.


    „Schau“, rief er und deutete auf einen Haufen Erde. Sie konnte ihren eignen Augen nicht trauen. Der Haufen war auf die doppelte Größe angeschwollen, hatte sich gestreckt, dann verformt und hatte schließlich die Größe eines Kindes erreicht, das Astor zum Verwechseln ähnlichsah. Nur hatte dieses Etwas weder Gesicht noch Leben. So hatte es wie nichts weiter als eine tote, reglose Puppe.


    „Das ist ja unglaublich! So etwas kannst du machen?!“


    „Nun, ich brauche eine Basis. Aber ich denke so könnten wir zumindest eine Weile das Loch flicken. Könntest du mir ein Gefallen bitten? Kannst du mir morgen ein paar Dinge mitbringen, die du schön findest? Ich bin mir sicher du hast einen ausgezeichneten Geschmack.“


    „Hm? Ich? Oh, ich verstehe, je schöner der Gegenstand ist, desto stärker der Zauber, mit dem du die Mauer flickst?“


    „Nein, nein, nicht ganz.“ Er winkte ab. „Ich dachte nur wenn wir uns schon die Mühe machen das Loch verschwinden zu lassen, dann soll es zumindest fancy aussehen.“


    „Fancy? Wow Noel und ich dachte schon du hättest einen richtigen Grund.“


    „Ich vertraue nur auf deinen guten Geschmack. Meine Magie ist von den Gegenständen abhängig auf die ich sie anwende und es fällt mir nun einmal leichter meine Magie auf Dinge anzuwenden, die mir zusagen. Das ist ja wohl offensichtlich.“ Was für eine einblendende Logik.


    „Oh und du kannst sie nicht auf eines deiner eigenen Sachen anwenden?“


    „Natürlich nicht. Jedes einzelne meiner Besitztümer ist ein unersetzliches Unikat unmessbaren Wertes und-“


    „Nein kann er nicht, vergiss nicht Noel ist ein Messi. Auf den Tag an der sich von etwas trennt wartest du vergeblich, Mädchen. Und diese Ausgeburt ist ja wohl deine schlechterste Schöpfung.“, dröhnte eine Stimme in ihren Kopf und ließ sie Augenblicklich in Richtung der Haustüre herumwirbeln. Astor beobachtete sie aus den Türrahmen heraus und warf den beiden immer wieder flüchtige Blicke zu. Für einen Moment konnte Juli Zähne aufblitzen sehen und ein Schauder fuhr ihr durch Mark und Bein. Dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln. Sie nickte zaghaft.


    „Gut. Ich überlege mir etwas.“


    ~+~



    Etwas Schönes also? Was sollte sie damit anfangen? Vielleicht Schmuck? Sie hatte nicht viel und das, was sie hatte, waren Geschenke ihrer Mutter gewesen. Dabei hatte sie doch gewusst das Juli mit Schmuck noch nie viel anfangen konnte. Dennoch war immer seltsam warm ums Herz geworden, wenn sie daran zurückdachte. Ach Mum, du bist noch nie sonderlich gut darin gewesen Geschenke auszusuchen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Aber du hast dir immer Mühe gegeben. In diesen Fall würde einer ihrer Ketten als Basis funktionieren? Vielleicht die mit dem Marienkäfer. Der Wand würde die Kette bestimmt sehr viel besser stehen als ihr. Und ein Teil von ihr würde für immer bei ihr bleiben. Sie schmunzelte in einen Moment, im Nächsten zuckte sie zusammen. Was ist das?! Ihr Herz machte einen Satz. Sie spürte, wie jemand sie anrempelte. Augenblicklich wirbelte sie herum.


    „Oh entschuldigen sie Miss, das war nicht meine Absicht. Wie ungeschickt von mir, habe ich sie angestoßen?“ Sie blinzelte mehrere Male, nur um sich zu vergewissern das sie nicht gerade träumte. Der Junge vor ihr hatte krause, braune Haare, grüne Augen und eine dunkel Uniform, die ihr seltsam vertraut vorkam. Von woher nur? Eben war sie noch auf den Weg zu ihrem kleinen Garten gewesen, doch jetzt wurde ihrem Unterfangen für einen Moment ein jähes Ende gesetzt. „Aber um Himmels Willen, was tragen sie denn da alles? Lassen sie mich helfen, das ist doch zu schwer.“ Sie waren die einzigen auf den Feldweg, nur begleitet vom Säuseln des Windes, der sanft über einzelne Farne des Uferweges strich. Mit anderen Worten ergab sich keine Möglichkeit auf ein schnelles Entkommen. Juli trabte nervös auf der Stelle und nässelte am Saum ihres Mantels. Sie musste sich etwas überlegen, doch zu allen Übel war seine vollste Aufmerksamkeit auf niemand geringeren als sie gerichtet. Keine Gelegenheit da noch zu entkommen. Lass dir etwas einfallen Juli. Irgendetwas. Und weil heute ein besonders unglücklicher Tag war, viel ihr der Sack auch noch aus den Händen. Sie hätte am liebsten laut aufgestöhnt, stattdessen unterdrückte sie jedoch das stille Verlangen und biss sich auf die Lippe. Und natürlich nützte der Unbekannte die Gelegenheit sich zu ihr herunterzubeugen und ihr damit näher zu sein, als es ihr lieb wäre. Er hatte sie schon einmal angesprochen, richtig? Wie war noch gleich sein Name, es lag ihr auf der Zunge. Gil, Gal, Gilbert! In diesen Fall gab es nur einen logischen Ausweg.


    „U-Und... sie sind noch gleich?“, presste sie halbherzig hervor.


    „Oh, hatten wir nicht schon das Vergnügen Miss Anderson?“ Seine Augen weiteten sich unmerklich. Damit war Plan A offiziell fehlgeschlagen. Er erinnerte sich zweifelsohne an sie und ihr letztes Aufeinandertreffen war damit wohl auch keine zufällige Begegnung gewesen. „Oder sagen sie bloß, sie haben mich bereits vergessen?“ Er spionierte ihr also nach. Ganz ohne Zweifel.


    „Juli“, korrigierte sie ihn einsilbig und sah schnell in eine andere Richtung. Sie zerrte den Sack hinter sich her – mehr schlecht als Recht – und beschleunigte ihre Schritte.


    „H-He, so warten sie doch. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name lautet Gilbert und ich bin da, um zu helfen. Ich gehe auf das Gymnasium in der Stadt und bin Schulsprecher. Ich kann mir vorstellen, dass sie schon einmal von der Schule gehört haben und-“ Schnell Juli, war alles, was in ihren Gedanken widerhallte. Nur weg von hier. Sollte der junge Mann so viele Monologe führen, wie er wollte. Sie wäre schon längst über alle Berge, wenn er seine Rede beendet hatte. Für den flüchtigen Moment, in den er in seine eigene Welt versunken war, zog sie das Tempo an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, wie sie die letzten Meter bis zu den Bäumen, die den Beginn des Waldes ankündigten, überbrückte und drückte sich an die raue Rinde des Baumes. Julis Beine fühlten sich weich an und im nächsten Moment sank sie auf die Knie. Es standen zwei Dinge ohne jeglichen Zweifel fest. Der Typ beobachtete sie. Sie hatte ihn schon öfters gesehen, wie er flüchtige Blicke auf sie geworfen hatte, zufällige Begegnungen, die keine Zufälle waren. Die zweite wäre, dass Juli keine gute Lügnerin war. Nie gewesen und nie sein würde. Und damit hätten sie ein richtiges Problem. Ihre Hände wanderten zu ihrem Gesicht, wie sie da auf den Waldboden zusammengekauert zurückblieb. Wieso konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Egal was sie sich in ihren Kopf auch ausgemalt hatte, sie blieb alleine. Der Mann folgte ihr nicht, also erlaubte es sich Juli auszuatmen. Und doch sagte sie sich, dass all das, kein großes Ding wäre und sie Noel nichts davon erzählen würde. Immerhin würde sie schon alleine damit zurrechtkommen.



    ~+~



    Schlussendlich hatte sie sich für die Marienkäferkette, eine Tulpe und eine Rose aus ihrem Garten entschieden. Sie war gleich nach der Uni in den Wald gegangen und hatte sich dann um ihre Pflanzen gekümmert. Gegen spät Nachmittag hatte es angefangen zu regnen und sie hatte sich ihren roten Regenmantel übergezogen. Den Jungen von gestern hatte sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das war auch besser so, sie hätte wahrscheinlich nicht gewusst, wie sie ihn ein weiteres Mal abwimmeln hätte könnten. Und auf ihr Glück konnte sie sich hier nicht verlassen. Heute durfte nichts schief gehen, und sie würde auf Nummer sicher gehen, dass es das auch nicht tat. Wie immer das auch aussehen sollte. Und morgen gibt es das Loch nicht mehr. Irgendwie beruhigend. Sie wusste nicht, wie lange die Angelegenheit in Anspruch nehmen würde, ob nun Stunden oder Minuten, oder womöglich auch nur Sekunden, doch sie sollte auf alles vorbereitet sein. Die sanfte Melodie der Regentropfen, die auf die Erde niederprasselten, wirkte beruhigend, fast schon melodisch. Die Luft war kühl und frisch und füllte ihre Lungen und Geist mit neuen Leben füllte. Manchmal dachte sie darüber nach, wo sie in einem Jahr stehen würde, dann jedoch machte die Antwort ihr solche Angst, dass sie den Gedanken verdrängte und sich wieder ihren Pflanzen widmete. Ein Jahr war so eine schrecklich kurze Zeit. Was würde sich schon groß verändern? Sie war gerne hier. Selbst wenn es regnete oder stürmte, die Bäume sich ächzend bogen und die See hohe Wellen schlug. Dabei war das eigentlich total bescheuert, etwas worüber sie nur bitter lachen konnte und sich manchmal fragte, wann sie so seltsam geworden war. Wie sonst, ließ es sich erklären, wie glücklich das Getöse des Regens sie machte und das Pfeifen des Windes ihr Herz nur unmerklich schneller schlagen ließ. Du bist schon ein schräger Vogel. Ihre Unterlagen würden sich mit den Regen vollsaugen, die Tinte auf den Blättern langsam verschwimmen und doch war ihr ursprünglicher Plan gewesen, bei dem Wetter zu lernen. Wenigstens hatte sie doch noch einen winzigen Teil ihres gesunden Menschenverstandes behalten.


    Während der Regen stärker wurde machte sie sich auf den Weg nach Hause. Für eine Weile beobachtete sie das Treiben hinter der sicheren Fensterscheibe und lauschte den Regen, der gegen die Scheibe trommelte. Es war bereits spät am Abend, als sie das Haus wieder verließ, und mit jedem Tritt sah sie sich flüchtig, nur um sicherzugehen, dass ihr auch niemand folgte. Sie stolperte durch die Dunkelheit, durch Gestrüpp und Büsche und ab und an wirbelte sie herum. Der Regen übertönte jegliche Geräusche und egal wie sehr sie sich einbildete jemanden zu hören, Schritte hinter sich scharen zu hören, sie blieb allein. Juli erreichte den Feldweg, schlug in einen schmalen Trampelpfad ein und dann – endlich – erreichte sie Mauer. Groß, gigantisch, unüberwindbar. Und bald, schon sehr bald, wird das Loch nicht mehr existieren.


    „Da bist du ja. Hast du die Sachen, die dabei um die ich dich gebeten hast?“ Noel stand bereits vor der Mauer und ging langsam auf die Knie. Seine Finger strichen über den glatten Stein und seine Augen verengten sich zu Schlitzen.


    „Ja, aber ich glaube nicht, dass uns die helfen werden.“ Und auch wenn das durchaus ihre Meinung war, hoffte sie, er könnte sie vom Gegenteil überzeugen. Nur wie? Was sollten ein paar lose Gegenstände schon groß anrichten?


    „Das lass mich erst sehen.“ Er nahm die Gegenstände in seine Hände. Seine Finger fuhren erst über die Glatte Oberfläche der Kette, dann über die matten Blütenblätter. Ihr Herz begann unaufhörlich zu schlage und sie wusste nicht wieso. “Nein, nein, das ist perfekt. Wo hast du die Sachen her?“ Er sah überrascht zu ihr auf, während sich seine Augen nur ein Stück weit öffneten.


    „Das war ein Geschenk von- Ach nicht so wichtig. Was genau hast du damit vor Noel? Ist das auch einer dieser magischen Sachen, die ich nicht verstehe?“


    „Tja, ich hoffe ja wohl schwer, dass du sie verstehen wirst, wenn ich sie dir erkläre.“, murmelte er. Das war wohl einfacher gesagt als getan. „Also meine Magie besteht hauptsächlich aus Illusionen.“


    „Illusionen? Aber Illusionen haltet doch keine Monster auf.“


    „Tja, das möchte man meinen. Einbildung ist auch eine Form von Bildung Juli. Und in diesen Fall eine sehr, sehr mächtige. Stell dir das so vor. Vor dir steht eine Mauer, die schier unüberwindbar wirkt. Es wäre absurd überhaupt zu versuchen einfach durchzugehen. Und selbst wenn du es versuchen würdest, würdest du sofort den kalten Stein fühlen, der dich davon abhält, weiter voranzuschreiten. Und weil du davon überzeugt bist, dass die Mauer unüberwindbar ist und existiert, bleibt sie auch unüberwindbar.“


    „Das ist... und das funktioniert?“ Sie zog eine Augenbraue nach oben.


    „Natürlich, oder warum meinst du sieht mein Haus so aus, wie es aussieht?“


    „Was, hat das mit deinem-“ Noel drückte sich ruckartig vom Boden ab. Nanu?!


    „Dir ist auch niemand gefolgt?“ Sie zuckte zusammen. Noel ließ hastig seinen Blick durch die Gegend schweifen. Nein, nein das war absurd. Wer würde ihr bei dem Wetter den freiwillig folgen? Ihr Puls beschleunigte sich. Und was macht dich da so sicher? Nun sag schon Juli oder hast du das Sprechen jetzt auch schon verlernt?


    „Bei dem Regen? Nicht doch.“


    „Gut, dann lass es uns probieren. Ich muss gestehen, dass ich einen solch großen Zauber noch nicht gewirkt habe, aber wir können es ja auf einen Versuch ankommen lassen.“ Juli kniete sich neben Noel der angestrengt auf das Loch in der Wand blickte. Er lächelte leicht, seine Mundwinkel zuckten und seine Augenbrauen waren zusammengezogen. Irgendwie wirkte er auf diese Art friedlicher als sonst, wie er halb auf den matschigen Boden hockte und ihr flüchtige Blicke zuwarf, und sie musste lächeln weil sich eine seltsame Wärme in ihrer Brust breitmachte.


    „Wer meinst du wird das nächste Opfer?“ Hmm? Nächstes Opfer?! Sie zuckte in sich zusammen. Ihr Herz schlug schneller. Er sah immer noch auf das Loch. An seiner Mimik änderte sich kaum etwas und doch wogen seine Worte schwer. Das nächste Opfer. Richtig. Sie schluckte schwer und wollte den Gedanken am liebsten beiseiteschieben, den Moment nicht mit trüber Stimmung ruinieren. Der Gedanke alleine raubte ihr jegliche Sinne. Reiß dich zusammen. In ihren Herzen hoffte sie, das es jemand war, den sie nicht mochte. Vor ihrem inneren Auge tauchte flüchtig ein Name auf. Jemand den die Welt nicht vermissen würde. Jemand den sie nicht vermissen müsste. Vielleicht Nicole. Nicole Dellas wäre – was denkst du da Juli?!


    „Hm, ich weiß es nicht. Offengestanden weiß ich bis auf den Fall mit Oliver nicht viel. Und bis vor kurzem bin ich noch davon ausgegangen, dass… naja, dass die meisten einfach nur verunglückt sind. Oder von zuhause weggelaufen sind. Jeder würde doch davon ausgehen. Wer würde denn schon damit rechnen, dass-“


    „Herr Windson. Albert Windson würde das.“, unterbrach Noel sie.


    „Richtig. Jetzt wo ich so darüber nachdenke, hat er schon lange vor den ersten Vorfall von diesen Schauergeschichten-“ Richtig, keine Schauergeschichten. „Also willst du damit sagen, dass wir ihn fragen sollten?“


    „Nein, aber wenn du meine persönliche Meinung hören willst, dann denke ich, dass es diese Woche wieder zu einem Vorfall kommen wird. Kennst du jemand der isoliert lebt? Jemand der einfach mal eben verschwinden kann? Idealerweise jemand, der in der Nähe der Mauer lebt.“


    „Aber Noel, wollen wir nicht genau das verhindern?“ Sie schluckte schwer.


    „Das ist nicht so einfach und vergiss nicht, der Plan geht nur auf, wenn der Vampir sich nicht schon innerhalb der Mauer befindet. Du kannst dir denken was sonst passiert, nicht? Ich muss es nicht erst aussprechen? Solange die Zahlen noch so niedrig sind, wird sich niemand in der Position sehen etwas zu unternehmen.“


    „Das-“, wollte sie nicht glauben. Und doch hatten sie den Fall von Oliver auf Eis gelegt.



    Ein Schrei.



    Juli wirbelte herum, als die Nacht von einem Gebrüll erschüttert wurde. Jemand trat aus den Schatten hervor und ein eiskalter Schauer lief über ihren Rücken.


    „Stopp! Augenblicklich! Ihr seid überführt! Alles, was ihr jetzt noch sagt, kann und wird gegen sie verwendet. Ihr dachtet wohl ihr könntet mich hinters Licht führen, aber diese Verbrechensserie endet hier! Versuchen sie sich nicht rauzureden, ich habe sie auf frischer Tat ertappt!“ Die Augen von Noel weiteten sich. Juli strauchelte zurück und hielt sich die Hand vor dem Mund. Ihr Herz begann wie wild in ihrer Brust zu schlagen. Das ist ein Irrtum, wollte sie sagen, doch ihre Lippen wollten sich nicht öffnen. Was jetzt?! Der Schatten trat einen weiteren Schritt nach vorne und Gilbert – Moment der Junge von vorhin? – kam zum Vorschein. Nicht gut, gar nicht gut, der Kerl hielt ein Handy in der Hand.


    „Shit! Noel.“ Ihre Stimme zitterte. Mach was Noel!, flehte sie, doch ihre Gedanken blieben unbeantwortet.


    „Im Namen des Gesetztes-“ Noels ganzer Körper bebte. Seine Augen waren geweitet, seine Hände wanderten in seine Taschen und dann, wie aus den nichts durchflutete ein heller Lichtstrahl, beginnend von seinen Fingerspitzen, die Nacht. In den grünen Augen konnte sie Angst aufblitzen sehen. Es wurde hell, dann dunkel und dann…dann war der Junge verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Alles, was zurück blieb war ein Bündel Kleidung auf den Boden. W-was ist gerade passiert?! Sie schritt zu Noel und zupfte an seinen Ärmel. Doch Noel war in seiner Bewegung verharrt, rührte sich nicht von der Stelle. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen, dann hechtete er nach vorn. Sein Blick war ruhelos. Rastlos.


    „Wo ist er? Wo?! Das kann nicht sein, nein, nein, nein!“


    „Oh Gott Noel, was hast du gemacht?!“, japste sie. Noel kniete auf den Boden und tastete die feuchte Erde nach etwas ab. Er sah flüchtig zu Juli auf und etwas an den Blick machte ihr Angst, sagte ihr, dass sie es gar nicht wissen wollte, was passiert war, doch seine folgenden Worte, die er hervor presste, waren mit einem Male seltsam ruhig und doch gezwungen.


    „Ich habe ihn unter Umständen in einen Frosch verwandelt. Also, so etwas in der Art, du weißt ja-“


    „Oh Gott.“


    „Alles gut Juli. Ich verwandele ihn wieder zurück. Herr Frosch?! Komm schon, wir tun dir auch nichts!“, schrie er und fuhr hektisch mit seinen Händen über den Boden. Für einen kurzen Moment stand sie einfach nur da und rührte sich nicht von der Stelle. Ihr Herz pochte immer noch so laut, dass sie befürchtete es könnte gleich zerspringen. Und dann, dann beugte sie sich ebenfalls nach unten. Ihre Augen scannten flüchtig den feuchten Untergrund nach etwas Lebendigen ab, doch mit jeder verstrichen Sekunde, in der sie nicht fündig wurde, stieg mehr und mehr Panik in ihr auf.


    „Ich kann ihn nicht finden.“, japste sie. „Er ist weg. Was machen wir nur? Gilbert ist weg und-“


    „Alles gut. Atme ein und aus.“, hörte sie Noel sagen. „Lass uns überlegen. Er ist zwar ein Frosch, aber immer noch ein magischer Frosch. Und was macht jemand, wenn er nicht weiß, was passiert ist und orientierungslos durch die Gegend irrt?“


    „Er sucht nach einem Weg zurück. Nachhause.“


    „Genau.“


    „A-aber was, wenn er totgetrampelt wird?! Oder was, wenn ihn was passiert?! Oder wenn er von einem Tier-“ Juli spürte einen sanften Druck auf ihren Schultern und im nächsten Moment stand Noel vor ihr.


    „Stopp. Hör mir jetzt gut zu. Es wird alles gut werden Juli. Wir finden ihn und dann verwandele ich ihn zurück.“ Ihr Herz begann ein wenig langsamer zu schlagen.


    „Gut.“, schniefte sie und hielt ihre Tränen zurück.


    „Folgendes. Du gehst jetzt erst einmal nach Hause. Du kanntest den Jungen, nicht?“


    „Ja.“, gab sie einsilbig von sich. „Gilbert Oswalt. Er wohnt etwas näher an der Stadt als ich. Zusammen mit seiner Schwester und...und...“


    „Gut. Sehr gut. Dann erstattest du seiner Schwester morgen einen Besuch. Wer weiß, vielleicht hat er sich wirklich auf den Weg nach Hause gemacht. Das ist gut möglich. Sein Unterbewusstsein könnte ihn dahingetrieben haben.“


    „Meinst du wirklich?“ Ihr Blick blieb weiterhin gesenkt.


    „Ja, ganz sicher.“


    „Und was machst du?“


    „Ich bleibe hier und suche weiter, aber du gehst erst einmal nach Hause. Du hast morgen doch noch Uni? Da musst du früh aufstehen, nicht? Morgen wird ein anstrengender Tag werden.“


    „A-Aber-“ wiederholte sie mit heißerer Stimme.


    „Geh nach Hause.“, betonte er mit Nachdruck. Sie zuckte zusammen. Ihre Haare klebten an ihrer Haut ihre Augen waren rot und verquollen.


    „In Ordnung. Ich gehe nach Hause. Aber morgen komme ich wieder.“ Wie sie sich auf den Weg zurück machte, konnte sie noch lange ein Licht in der Ferne aufflammen sehen. Einer der Tricks, die Noel ihr noch nicht erzählt hatte.

  • >>Kapitel XXII ... und ein kleiner Bruder Teil III<<


    Juli



    „Schatz machst du auf?“, hörte sie ihre Mutter vom Wohnzimmer aus rufen.


    „Schon auf den Weg.“ Juli zog die Tür auf und im nächsten Moment wurde ihr ein Paket vom Postboden in die Hände gedrückt. Es war nicht schwer und gerade einmal so groß wie eine Ellbogenlänge. Sie stellte es auf das Sofa ab und begann vorsichtig das Klebeband aufzuschneiden. Seltsam, ich erwartete doch keine Pakete? Ihre Augen weiteten sich und sie hielt inne. Waren das… Shampoos? Juli blinzelte mehre male und begann den Inhalt genauer zu begutachten. Tatsächlich Shampoos. In dem Paket war nichts weiter als ein Haufen Shampoos und Luftreiniger. Ein kleiner Zettel, nicht größer als eine Fingerlänge, lag neben einer der Flaschen. >>Für meine kleine Stinkmorchel<<. Ihre Mundwinkel zuckten und wanderten augenblicklich nach unten. Dellas? Dellas. Das passte so gar nicht zu ihr. Es gab viele Dinge, die man über Rosemarie Anderson hätte sagen können, doch dieser Spitzname war bei weiten eine Anomalie unter ihren Spitznamen. Ihre Stirn schlug Falten.


    „Wer war vor der Tür Schatz?“ Juli löste sich aus ihrer Starre und schielte zur halb offenen Zimmertür. Die Stimme ihrer Mutter drang dumpf an ihr Ohr.


    „Niemand wichtiges.“ War das wieder einer ihrer dummen Schikanen? Juli presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund schnürte sich ihr der Hals zu. Nicole Dellas hatte ihren Missmut immer sehr deutlich gemacht, aber das? Wieso sich die Mühe machen und ein Paket zu verschicken, nur damit sie sich schlechter fühlte? Wozu der Aufwand? Hatte sie nichts Besseres zu tun? Die Anschrift war in Druckbuchstaben geschrieben worden und vom Absender fehlte jede Spur. Seit der Beerdigung hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt, also wieso ausgerechnet jetzt? Juli schluckte, dann ging sie in Richtung Garderobe, wo ihre Schritte schlagartig langsamer wurden.


    „Mum ich bin dann mal weg.“ Richtig, es gab jetzt Wichtigeres.


    „Gut. Pass auf dich auf.“ Dann mal auf zu Miss Oswald. Sie atmete ein und aus. Ihre Hand verkrampfte sich in den Stoff ihrer Bluse. Ich will nicht gehen. Das war die Wahrheit und dennoch ließ es sich nicht weiter aufschieben. Aber was sollte sie schon groß sagen? Juli zog das Tempo an und beschloss zu mindestens auf den Weg dorthin keinen weiteren Gedanken daran zu verlieren. Ihr würde schon irgendetwas einfallen, nicht?



    ~+~



    Die Wohnung, die Gilbert und seine Familie bezog, lag in einem Haus im äußersten Ring der Stadt. Hier und da konnte man einzelne Bäume und kleine Gärten entdecken, ein Großteil des Bodens war jedoch bereits gepflastert, während der Schotterweg von geteerten Straßen abgelöst wurde. Jeder ihrer Schritte wurde zunehmend schwerer, als ob ein unsichtbares Gewicht sie nach unten ziehen würden. Sie presste die Lippen aufeinander, dann in einen Schwall spontanen Zuversicht, drückte sie die Klingel. Ihr Herz pochte wie wild gegen ihre Brust. Die Tür knarrte und sie schreckte hoch, ihr Kopf schnellte nach oben und dann, dann blickte sie in das müde Gesicht einer jungen Frau. Sie hatte ihre schwarzen Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.


    „Wie kann ich ihnen helfen?“ Juli zögerte, verharrte an Ort und Stelle. Ihr Mund wollte sich nicht öffnen. Nanu? „Hmm? Wenn sie nichts wollen dann-“


    „Oh, nein. Nicht doch, tut mir leid. Ich habe es nicht so mit Leuten also-“


    „Oh verstehe.“


    „Also. Das ist mir etwas peinlich-“ Lächle Juli. Lächle so wie du es eingeübt hast. Und auf ein Neues. „Mein Name ist Rosemarie. Ich wohne etwas abseits von der Stadt in einem Wohnsiedlung in der Nähe des Waldes.“ Ihre Hände zitterten, doch sie verbarg sie hinter ihren Rücken.


    „Oh?“


    „Ja also…das ist mir sehr unangenehm. J-Jedenfalls…also ich habe ein Haustier. Oder so etwas in der Art. Leider ist der kleine Kerl mir entlaufen, als ich auf den Weg nach Hause war.“


    „Ein Haustier? Ein Hund?“ Ihre Mundwinkel zuckten.


    „N-Nein also...es ist ein Frosch.“


    „Ein Frosch?! Und sie denken, dass er hier sein könnte, weil...? Wir sind hier in einer sehr ländlichen Gegend. Es gibt bestimmt tausende von Fröschen im näheren Umfeld.“


    „Ja. Natürlich. Aber er ist sehr zutraulich zu Menschen also dachte ich vielleicht... naja-“ Was für eine dumme Ausrede. Natürlich erkannte sie ihre Flunkerei sofort. „Also, um ehrlich zu sein ist er für ein Projekt in meiner Universität. Sie kennen ja bestimmt dieses Phänomen. Wenn schlechtes Wetter aufzieht, dann steigen die Frösche auf einer Leiter die Sprossen hinauf. Faszinierend nicht?“ Was für ein ausgemalter Blödsinn. Sie studierte nicht einmal... Froschologie? Nein, Biologie Juli. Man nennt es Biologie. Wo behandelte man solche Themen überhaupt?


    „Ah…natürlich. Die Studienfächer werden auch immer seltsamer, nicht?“ Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.


    „Ist ein Wahlfach.“, presste Juli hastig hervor.


    „Ah...verstehe. Einen Frosch habe ich nicht gesehen, aber ich kann ja mal meine Geschwister fragen, ob die vielleicht etwas wissen.“


    „Oh, sie haben Geschwister?“, platzte es aus ihr heraus. Natürlich hatte sie das. Die Frau hob eine Augenbraue und sah nun wieder in Julis Richtung.


    „Hmm, ja zwei kleine Brüder, aber die sind momentan nicht zuhause. Gilbert hat sich mal wieder nicht blicken lassen. Wahrscheinlich ist der wieder bei seiner Freundin. Oder einer Freundin.“ Die Frau verdrehte die Augen und seufzte. „Whatever.“


    „U-Und sie machen sich keine Sorgen?“ Juli schluckte. Natürlich macht sie sich das nicht. Sie hat ja keine Ahnung. Beruhige dich Juli. Ihr Lächeln wackelte und ihr Gesicht verlor ein Stück weit an Farbe.


    „Hm? Wieso sollte ich? Der ist alt genug. Brauchst du etwas von ihm? Ich kann seine Freundin anrufen, wenn es wichtig ist.“


    „N-nicht doch. Alles gut.“, japste sie. „Jedenfalls danke für-“ Ja, genau, für was noch nochmal?! „…ihre Bemühungen. Das war sehr aufschlussreich.“ Nicht, aber das könnte sie ihr ja wohl kaum so ins Gesicht sagen. Die Frau zog eine Augenbraue nach oben, dann wanderte ihre Hand an ihr Kinn, fast so, als ob sie über etwas grübeln würde. Im nächsten Moment weiteten sich ihre Augen unmerklich.


    „Moment mal, kann es sein-“, murmelte sie halb abwesend und hob den Kopf leicht, um einen besseren Blick auf Juli zu werfen. „Warte mal eben, da fällt mir gerade etwas ein. Jetzt wo ich so darüber nachdenke, Oscar hat heute mit einem gewissen Herrn Gustav geredet. Ich dachte ja das nur wieder einer seiner imaginären Freunde handelt, jetzt wo ich aber so darüber nachdenke…ja, ich denke das der kleine Schlingel mich doch glatt übers Ohr gehauen hat. Na warte Oscar.“ Herr Gustav?! Ihr war zum Heulen zu mute. Ganz ruhig Juli.


    „U-Und sie denken das könnte der Frosch, ich meine mein Frosch, sein?! Oh Gott, vielen, vielen Dank. Ich kann ihnen nicht genug-!“


    „Nun hol doch erst mal Luft. Dieser Frosch muss ja aus Gold sein, so wie du über ihn sprichst. Ich werde heute einmal ein erstes Wort mit ihm reden und-“


    „Nicht nötig, das kann ich selber. Haben sie vielen, vielen Dank!“ Jemand packte sie an der Schulter und sie hielt in ihrer Bewegung inne. Nanu?


    „Nun warte doch mal. Du weißt doch nicht einmal, wo er überhaupt ist.“ Stimmt ja. „Also gut, ich gehe mal nicht davon aus das du irgendein Psychopath sind.“


    Stille.


    „Eh, natürlich. Ich meine-.“


    „Schon gut, schon gut, ich weiß Bescheid. Du bist doch die Tochter von Josefine Anderson?“ Ha, wer hätte das gedacht. Ihre Mutter kannte also wirklich jeder. „Also gut dann will ich mal nicht so sein und es dir verraten. Ich kann ihn erst am Abend fragen, weil ich noch arbeiten muss, wenn du aber nicht so lange warten kannst, würde ich dir raten gut zuzuhören. “ Julis Herz hüpfte und schlug Purzelbäume. „Also-“



    ~+~



    Hier ging der kleine Oscar – das war wohl der Name des Bruders – also zum Kindergarten und anschließend zur Vorschule. Der Wohnkomplexe setzte sich aus zwei kleineren Häusern zusammen. Während das eine in warmen, gelben Farben gestrichen war, wurde das andere mit einem weißen Anstrich schlicht gehalten. Hier und da konnte sie Spielsachen im Gras entdecken. Gute 20 Meter lagen zwischen den beiden Häusern und sie war sich sicher, das eines davon mutmaßlich die Vorschule sein könnte, das andere der Kindergarten. In ihren Kopf ging sie noch einmal die Informationen der Schwester Revue passieren, ehe sie wieder einen flüchtigen Blick auf ihr Handy warf. Richtig. Noel hatte kein Handy. Juli seufzte und tippte auf den Bildschirm. Festnetztelefone waren als alleinige Kommunikation einfach nicht mehr zeitgemäß. Sie tippte nervös auf den Display, doch statt einer Antwort spürte sie den sanften Druck einer Hand auf ihrer Schulter und ihre Augen weiteten sich. Noel?!


    „Du meinst also, dass der kleine Bruder seinen großen Bruder gefunden hat?“ Träumte sie gerade? Er grinste keck in ihre Richtung und seine Mundwinkel huschten nach oben. Nanu?! Sie blinzelte mehrere mal, doch sein Lachen war echt und verschwand nicht. Sag bloß du findest das amüsant? „Das wäre schon etwas ironisch nicht, findest du nicht?“ Er war wie aus dem nichts erschienen und sie fragte sich unweigerlich, ob das wohl auch zu einer seiner speziellen Fähigkeiten gehörte. Dann wiederum fragte sie sich das, nach all dem, was sie erlebt hatte, bei vielen Dingen, die ihr bis vor kurzen noch alltäglich vorgekommen waren. Weil nichts so ist wie es scheint.


    „Ja nicht? Ich konnte es auch kaum glauben. Das wäre zu gut, um wahr zu sein.“ Oh Gott, bitte lass mich richtig liegen. Lob den Tag nicht vor den Abend. Sie biss sich auf die Lippe.


    „Willst du mit ihm reden oder soll ich?“ Du, wäre die einfache Antwort gewesen und ein Teil von ihr drängte sie dazu zu nicken, doch stattdessen schüttelte sie den Kopf. Wie konnte er nur so gelassen bleiben?


    „Nein, alles gut Noel. Ich glaube es ist besser, wenn ich ihn frage.“ Weil die Gerüchte vorrauseilen und die Leute die Gerüchte kennen. Sie schluckte, als die Worte ihr im Halse stecken blieben.


    „Gut, tu dir keinen Zwang an.“ Er lehnte sich gegen einen weiß lackierten Zaun und ließ seine Hände in seine Manteltasche fahren. „Dann werde ich hier warten. Viel Glück.“


    „Ja. Danke.“ Das würde sie gebrauchen können, immerhin war ihr Zeitfenster gerade einmal ein paar Minuten – der Moment, in dem der kleine Oscar von einem zum anderen Gebäude gehen würde – und diese Gelegenheit dürfte sie unter keinen Umständen verpassen. Die ersten Kinder traten ins Freie und dann – tatsächlich – ein kleiner Junge mit blonden Haaren, rot gestreiften T-Shirt und einer blauen Anglermütze. Das ist er, das ist Oscar Oswald. Ihr Herz machte einen Satz und sie fasste sich an die Brust. Juli beschleunigte ihre Schritte und konnte gerade noch von Noel aufgehalten werden, der sie an ihre, Ärmel zurückzog.


    „Schau, da kommen noch andere Kinder.“ Und tatsächlich, ein ganzer Schwall von Vorschülern setzte Fuß in den Hoff. Julis Augen weiteten sich ein Stück weit und ihr Mund blieb halb offen. Richtig, vielleicht sollte nicht unbedingt jeder das Gespräch mitbekommen, dennoch straffte sie schon einmal die Schultern und überlegte sich hastig die ersten Sätze, die das Gespräch beginnen würden. Mal sehen wie wäre es mit-


    „He, was hast du da? Willst du mir deinen kleinen Freund nicht zeigen? Hmm, was meinst du?“ Und jetzt immer schön lächeln. Juli hätte den Moment der Stunde genützt, um an den Jungen heranzutreten, doch entgegen ihren Erwartungen stolperte das Kind ein paar Schritte zurück und drückte seinen Rucksack noch fester an seinen schmächtigen Körper. Nicht gut, was?


    „N-Nein, du bist die komische Frau von gestern. Sie kenne ich doch! Mein Bruder ist ihnen gestern hinterhergelaufen! Sie sind schuld, dass er nicht zurückgekommen ist! Ich lass nicht zu das sie meinen Freund auch noch mitnehmen!“ Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Gut, das verlief jetzt schon einmal so schlecht wie maximal möglich. Hatte er sie beobachtet? „Nur über meine tote Leiche!“ Das klang jetzt doch etwas dramatisch.


    „D-Du bist uns-“ also gefolgt. Der Rest blieb ihr im Halse stecken. Nein, nicht doch, sie durfte sich jetzt nicht verraten. Ihre Mundwinkel zuckten, dennoch versuchte sie beschwichtigend eine Hand nach dem Kind auszustrecken. Immer schön mit der Ruhe. In einer entfernten Erinnerung tauchte ein Bild auf, wo ihre Mutter ihr einst sagte, sie könne gut mit Kindern umgehen und sie legte all ihre Zuversicht in diese Worte.


    „Es tut mir leid.“, flüsterte sie, „Er muss dir sehr wichtig sein, aber er gehört zu mir und ich habe mir sehr große Sorgen gemacht. Deshalb könntest du bitte-“ Er war in der Nähe gewesen, nicht? Wenn er seinen Bruder gesehen hat, dann muss er einfach im näheren Umfeld gewesen sein, mit anderen Worten, sein kleiner Freund muss Gilbert sein. Bei den Göttern lass mich richtig liegen! In diesen Fall musste sie einfach-


    „Nein!“ Der Junge riss sich los und wirbelte herum. Ein Ausdruck des Entsetzten stand in seinem Gesicht geschrieben. „Ich will aber nicht! Das ist mein Freund und ich lasse ihn nicht in Strich.“ Seine dürren Finger verkrampfen sich in den Stoff der Tasche. „Er ist mein bester Freund. Und Mama hat gesagt ich soll nicht mit unheimlichen Leuten sprechen.“ Mutter, dieses Wort hallte immer wieder in ihren Inneren. Sie hatten eine Mutter? Aber wieso hatte seine Schwester dann gesagt- Drei Personen wohnten in einem Apartment, zwei Brüder, eine Schwester. Ihre Augen weiteten sich. Jetzt begriff sie und bis sich auf die Lippe.


    „Oh.“, presste sie unter zusammengepressten Lippen hervor. „W-Warte!“ Der Junge drehte sich von ihr weg und einen Moment später rannte er, rannte vor ihr… davon? Um Himmels Willen, sie hatte den Kleinen doch nicht einschüchtern wollen! Hatte sie sich … unangebracht verhalten? Flüchtig sah sie zu Noel, der schelmisch zu grinsen begonnen hatte. Hätte es schlechter laufen können? Vielleicht. War die momentane Situation eine Katastrophe? Oh, aber sicher doch!


    „Ich glaube ich sollte das übernehmen. Nimm dir das nicht so zu Herzen. Aber siehst du? Immerhin sind wir um eine Information reicher. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass der Kleine ihn gefunden hat.“


    „Oh und was macht dich da so sicher?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und eine Augenbraue wanderte nach oben.


    „Bauchgefühl und zwei Brüder die Händchen halten.“ Sein Grinsen wurde wärmer und sie konnte sich nicht ganz erklären wieso. Händchenhalten?!


    „Was redest du jetzt schon da?“


    „Ich erkläre es dir später, viel wichtiger ist jetzt erst einmal, dass ich jetzt weiß, wie wir ihn zurückholen.“ Dann las mal hören.



    ~+~



    Die Uhr auf ihrem Display zeigte kurz nach vier. Über die Stunde hinweg, machte sich ein ganz flaues Gefühl in ihren Magen breit. Sie hatte sich zunehmend schlechter gefühlt. Natürlich hatte sie das, immerhin spionierten sie einen kleinen Jungen nach, aber sie sagte sich, dass es hier immerhin um ein Menschenleben ging. Und bestimmt machte sich der Junge auch Sorgen um seinen Bruder. Hätte sie die Wahrheit sagen sollen? Entschuldigung aber wir haben deinen Bruder in einen Frosch verwandelt und wollen ihn gerne zurück verwandeln, wärest du also freundlich? Unsinn. Sie schüttelte den Kopf. Dann wäre er erst recht davongelaufen, wahrscheinlich sogar noch schreiend. Sie konnte es ihn nicht verübeln. Ihr Blick wanderte zum Fenster, wo sie die Bewegung der Kinder beobachtete, die aufmerksam auf die Tafel schauten. Immer wieder sah sie etwas in die Richtung von Oscar fliegen. Was genau, konnte sie nicht sagen, doch ihr Herz zog sich Augenblicklich zusammen. Dann, nach einer schieren Ewigkeit, verließ die Erzieherin endlich den Klassenraum. Flüchtig warf sie einen Blick zu Noel, dessen Brustkorb sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte. Was um Himmels Willen machen wir hier?! Ihr Herz begann schneller zu schlagen und röte kroch in ihre Wangen. Und was, wenn uns jemand sieht? Was dann Noel? Vielleicht verharrte ihr Blick nur eine Sekunde zu lange an Ort an Stelle, vielleicht stachen ihre Fingerknöchel unter den weiß ihrer Hände deutlich hervor, weil sie sich in den Stoff ihrer Hose verkrampften, und vielleicht stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen, das nicht hätte da sein sollen.


    „Es ist erst 16 Uhr Juli.“ Er nickte und sie drehte schnell den Kopf zur Seite, bevor er einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen konnte.


    „Das mag schon sein, aber 16 Uhr?! Das sind Kinder, keine Zinnsoldaten. Das ist doch viel zu lange! So lange kann sich doch niemand konzentrieren. Ganz besonders nicht in dem Alter.“ Noel ging nicht weiter auf sie ein, stattdessen deutete er mit dem Finger auf die Scheibe.


    „Schau mal. Nun rate mal, was der Kleine gerade in den Händen hat, na?“ Ihr Herz machte einen Satz und holte tief Luft. Tatsächlich, Oscar war gerade im Begriff etwas aus seiner Tasche zu ziehen und – ihr Puls beschleunigte sich – ein grünes Wesen kam zum Vorschein. Ein Frosch?!


    „Das ist es. Das muss Gilbert sein!“, stieß sie aus. Der kleine Junge ummantelte das Glas mit seinen Händen und stellte es anschließend bedacht auf den Holztisch ab. Bestimmt leuchteten seine Augen dabei, ganz wie es die Ihren zu Kindertagen getan hatten. Ihr Herz machte einen Satz. Er zeigt es seinen Freunden. Wie nett. So etwas dachte sie für einen flüchtigen Moment, bevor eines der Kinder das Glas an sich riss und es zu schütteln begann. Nicht doch! Jemand schrie, doch jeder Laut wurde von den Wänden geschluckt. Ihre eine Hand grub sich in ihre Kopfhaut, die andere verkrampfte sich in Noels Ärmel.


    „Noel?!“ Tu etwas!


    „Beruhige dich Juli“ Beruhigen?! War er des Wahnsinns?! „Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass ich einen Plan habe.“ Er grinste breit. Wie konnte er in einer solchen Situation gelassen bleiben?!


    „Noel, die bringen ihn um!“.


    „Nein Juli. Vertrau mir.“ Was er aus seiner Manteltasche hervorbrachte, war nichts weiter als ein gewöhnlicher Stein. Was wollte er denn bitte damit? „Wieso darauf warten, wann wir zu ihn kommen können, wenn er genauso zu uns kommen könnte, nicht?“ Ein außerordentlich schlechter Zeitpunkt für einen Witz.


    „Was redest du da?!“


    „Dann zähle ich wohl bis drei, bereit Juli?“


    „Noel?!“


    „Und los.“ Alles passierte ganz schnell. Der Stein schwoll an, verformte sich streckte sich und mit einem Male umschlossen seine langen Finger ein Wesen, das einer Fliege nicht unähnlich sah. Allein der Anblick ließ sie erschaudern, das Surren sie aufschrecken, doch dann schweifte ihr Blick wieder ins Innere. Was dann passierte, war nicht weniger als sonderbar. In einem Moment regte sich der Frosch nicht, im nächsten war Oscars Hand leer. Sie hörte das Quietschten einer Tür, doch niemand der sie geöffnete hatte, dann einen Windhauch hinter sich, ohne dass jemand herangetreten war. Sekunden später brach Chaos aus und Oscar stürzte sich augenblicklich zu Boden, wo seine Hände panisch den Boden abtasteten. Nur den Frosch konnte sie nirgends entdecken. Gilbert wird doch nicht- Ein Quaken ließ sie hochschrecken und sie schielte reflexartig zu Noel, dessen Hände nun ein kleines grünes Wesen beherbergten. Wie?! „Geschieht ihnen Recht, den armen Jungen so zu ärgern. Schämen sollten sie sich. Das sollte ihn hoffentlich eine Lehre seine Kinder können so-“


    „Grausam sein.“, ihre Lippen öffneten sich und ertappte sich wie sie die Worte laut ausgesprochen hatte. „Dann …dann hast du es also gewusst.“ Sie schmunzelte und ließ an der Hauswand herabsinken. Ihre Handrücken berührten die raue Oberfläche.


    „Was gewusst? Du sprichst mal wieder in Rätseln.“


    „Schon gut, ist nicht wichtig.“ Juli schüttelte den Kopf. Hauptsache Gilbert ging es gut. Sie schlang ihre um ihren Körper und fühlte, wie eine Last von ihrer Schulter genommen wurde. „Dann bleibt jetzt nur noch eine Sache übrig.“



    ~+~


    Einmal, da existierten zwei Brüder. Die beiden Brüder hielten sich an den Händen und nichts in der Welt würde sie je wieder trennen können.



    Oscar verlies als letzter das Klassenzimmer und diese Gelegenheit nützte Noel, um an den Jungen heranzutreten. Zuerst hob er nicht einmal den Kopf und sein trüber Blick klebte fast schon apathisch am Boden.


    „Suchst du etwas?“ Oscars Augen waren rot, sein Gesicht blass. „I-Ich“, stammelte der Junge. Er riss augenblicklich die Augen auf, als ein Quack seine Ohren erreichten. „D-das-“ Seine Stimme brach immer wieder, wie er zu schluchzen und nach Luft schnappen begann. Sein gesamter Körper bebte und wollte nicht aufhören. „Gustav. Ich bin ja so froh!“, schniefte der Junge und wischte sich seine Nase mit seinem Ärmel. Dicke Tränen kullerten über seine Wange, doch es kümmerte den Kleinen nicht, wie kratzig und heißen seine Stimme geworden war. Das sie zu nichts mehr als einem Piepsen geworden war. „Ich bin ein ganz, ganz schrecklicher Freund. Es tut mir ja so leid Gustav.“


    „Aber nicht doch.“ Noels Stimme war sanft, als er den Kopf schüttelte. „Du musst wissen, dass nicht jeder Mensch so sanftmütig und verantwortungsbewusst ist, wie du es bist.“


    „Ich bin nicht-“, setzte der Junge an.


    „Aber natürlich bist du das. Du bist ein sehr tapferer Junger. Ich bin mir sicher, dass Gustav das auch so sieht. Er kann sich glücklich schätzen einen so tollen Freund zu haben, wie du es bist.“


    „A-Aber Bruder meint immer das wegen mir-“ Der Man kniete sich nieder und legte eine Hand auf den Kopf des Kindes.


    „Manchmal sagen Erwachsene Dinge, die sie nicht so meinen, weil sie nicht wissen, was sie sonst sagen sollen.“


    „Aber-“


    „Hast du ihn nicht versucht zu retten? Und du warst sogar so klug Luftlöcher in das Glas zu machen. Ich habe das ja als Kind immer vergessen, deswegen sind meine Insekten immer gestorben. Du musst sehr klug sein, wenn du selbst daran gedacht hast.“.“


    „Aber…aber ich hab Herrn Gustav gestohlen. Ich wusste nicht, dass er zu jemanden gehört, aber ich hab die Frau angelogen und angeschrien und das war ziemlich gemein von mir. Ich hätte das nicht tun sollen.“ Ein Wimmern drang aus seiner Kehle.


    „Und tut es dir leid?“ Nun sah er auf und sein Blick wurde fragend. Sein Tränenfluss stoppte für einen Moment, als er erneut zu schiefen begann.


    „A-Aber ja doch!“, schniefte der Junge.


    „Na siehst du. Du hast jedenfalls ganz toll auf Herr Gustav aufgepasst. Du kannst sehr, sehr stolz sein.“ Die Augen des Jungen waren feucht geworden.


    „Ganz echt?“


    „Ganz echt. Ein Noel O`Neil lügt doch nicht.“


    „O`Neil? Das ist aber komischer Name.“ Der Junge begann zu grinsen „Sag mal Herr O´Neil, wie heißt Herr Gustav eigentlich wirklich?“ Oscars Augen waren immer noch gerötet, doch ein Fünkchen Freude, hatte sich zu Trauer und Scharm dazugesellt. Noel zögerte einen Moment und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Seine Hand wanderte zu seinem Kinn.


    „Gilbert, der Frosch heißt Gilbert und bald wird er dahin zurückkehren, wo er hingehört.“


    „Das ist aber ein Zufall! Mein Bruder heißt auch Gilbert. Aber Herr Frosch Gilbert ist viel lieber als mein Bruder Gilbert! Mein Bruder hasst mich nämlich, müssen sie wissen. Das ist aber in Ordnung.“ Etwas, wie das Kind diese Worte aussprach, ließ seine Mundwinkel nach unten wandern. Oscar näselte am Saum seiner Jacke und sah etwas betreten zu Boden.


    „Und das ist bestimmt nicht deine Schuld.“ Für einen Moment sah Oscar lediglich zu Noel auf, dann begann er zu Lachen. Ein warmes Lachen, das Zahnlücken entblößte.


    „E-Echt?“ Seine Augen sprühten Funken und Oscar hielt seine Hände vor die Brust. „Sie sind ja gar nicht so böse wie mein Bruder immer sagt. Ich glaube er ist einfach nur neidisch.“


    „Neidisch also.“


    „Aber natürlich!“ Der Junge ballte seine Hände zu Fäusten. „Weil sie viel cooler sind als er. Er ist da immer sehr nachtragend müssen sie wissen, aber ich bin auf ihrer Seite.“ Seine Stimme überschlug sich mehrere Male. „Ich hab ihn gesehen und dann bin ich ihn nach gelaufen. Natürlich heimlich, weil er sonst immer böse auf mich wird. Mein Bruder hat mal gesagt, dass er nur Verbrecher jagt, aber sie sind ja gar keine Verbrecher. Eigentlich sind sie voll cool. Sind sie ein Zauberer? Oder ein Superheld?“ Noels Augen weiteten sich und er hielt in seiner Bewegung inne. Seine Stirn schlug Falten, seine Mundwinkel zuckten erst, dann huschten sie nach oben.


    „Ich glaube nicht-“ setzte er an. „Also gut, aber verrate es keinen weiter, ja?“


    „Großes Indianerehrenwort Herr Zauberer.“ Das Kind reichte Noel den kleinen Finger. „Und ich verpetze sie auch nicht, versprochen.“


    „Gut dann ist das ein Deal.“ Der Deal zwischen einen Zauberer und den Bruder eines Frosches. Wie Juli die beiden aus sicherer Entfernung beobachtete, musste sie schmunzeln.



    ~+~



    Kaum hatte Noel sich von den kleinen Oscar verabschiedet, waren sie zurück zur Mauer gegangen. Mittlerweile war es bereits dunkel geworden und die Bäume warfen gespenstische Schatten.


    „Gut, das sollte es dann wohl gleich gewesen sein.“, murmelte Noel, während seine Augenbrauen sich zusammenzogen. Er löste den Deckel des Glases und legte es auf den Boden, dann schloss er die Augen. „Frosch steh auf!“, schrie er. „Ich befehle dir, erhebe dich und werde wieder zum Menschen.“ Ein gellendes Licht flutete den Ort, dann dehnten sich die Glieder des Frosches zu einem drahtigen Gebilde, das wieder zu dem Menschen wurde, den sie als Gilbert kennengelernt hatten. Dieser saß im Froschsitz da, die beiden Beine von sich gespreizt, beide Handflächen auf den Boden was ein äußerst...skurriles Bild abgab. Gilbert blinzelte mehrere Male, sah erst zu Noel, dann zu Juli, dann auf seine Handfläche und es verstrichen mehrere Sekunden, bis er den Mund öffnete.


    „Das-“, stieß er aus und hielt einen Moment inne „Das werdet ihr mir Büsen! Ihr seid so was von dran, aber ich habe auch erwischt! Tja, wir werden ja noch sehen, was die Polizei dann – Quack“ Noel hielt sich die Hand vor den Mund. Gilbert riss die Augen auf und sein Gesicht wurde zu einer entsetzten Fratze. „Ihr habt mich unter Drogen gesetzt?! Dafür kommt ihr vors Gericht.“ Oh, du hast ja keine Ahnung, was alles passiert ist. „L-Lacht nicht, euch wird das Lachen auch noch vergehen!“ Noels Augenbrauen wanderten nach oben.


    „Hmm? Aber nicht doch, wir haben sie hier auf den Waldboden gefunden, und als verantwortungsbewusste Bürger konnten wir sie ja wohl kaum einfach dort liegen lassen. Aber mal etwas anders, was machen sie denn in der Nähe der Mauer, junger Herr? Schon irgendwie verdächtig nicht? Ich mein ja nur. “ Noel grinste und gab sich gespielt nachdenklich. „Also ich finde das schon sehr auffällig, was meinst du Juli?“ Sie nickte und schloss die Augen.


    „Jetzt wo du es sagst.“ Ihre Hand wanderte nun ebenfalls zu ihrem Kinn. „Ich meine Menschen verschwinden und dann tauchst du auf. Schon irgendwie verdächtig. Dann wiederum möchte ich den Leuten natürlich nichts unterstellen. Ich meine, es gibt auch Zufälle, nicht wahr Noel? Sicherlich war auch das nur Zufall. Es gibt auch Leute, die gerne Spaziergänge machen, auch zu Orten wie der Mauer.“


    „Meine Worte, meine Worte.“ Gilbert sah zwischen Juli und Noel hin und her. Seine Pupillen weiteten sich. „Man möchte ja niemanden etwas anhängen, nicht war Juli?“ Sie hörte Gilbert scharf nach Luft schnappen.


    „Bitte was?!“, platzte es aus ihm heraus. „Das-“, fauchte er. „Das wird ein Nachspiel haben! Ihr wandert so was von hinter Gittern!“ Mit hochrotem Kopf nahm er seine Füße in die Hände. Sie hatte schon lange niemand mehr so schnell rennen sehen. Tja, es gab für alles ein erstes Mal.



    Die kleinen Schritte im Schlamm beachteten sie nicht, noch bemerkten sie den Jungen, der gegen einen Baum gelehnt war und sie beobachtete. Seine Finger gruben in die Rinde, seine Pupillen weiten sich und sein Herz begann schneller zu schlagen als eines, wie ein ungeschriebenes Gesetz feststand.



    Noel O`Neil war ein waschechter Zauberer.

  • Hallo,


    zugegeben hätte ich nicht damit gerechnet, dass es sich bei dem Frosch um Gilbert handeln würde. Zwar mutet es seltsam an, dass Juli so offensichtlich nach einem Frosch gefragt hat, aber wenn ich die Ereignisse rekapituliere, hast du das Geheimnis um die Verwandlung gut verwahrt. Es erklärt jedenfalls auch, warum die Sicht des Frosches relevant war, denn dadurch wurde Oscars Charakter auf eine interessante Art eingeführt und das Verhältnis mit seinem Bruder erneut klargestellt. Ich frage mich, ob er vielleicht der Junge am Ende des Kapitels ist. Es würde passen, Zauberei mit solcher Begeisterung zu sehen.


    Wir lesen uns!

  • >>Kapitel XXIII Oscar<<


    Oscar



    Noel O`Neil ist ein Zauberer. Ein richtiger, waschechter Zauberer. Oscar wirbelte herum als Blicke in seine Richtung geworfen wurden, wich zurück und drehte den beiden den Rücken zu und hätten Noel und Juli ihn entdeckt, hätten sie ihn wohl aufgehalten. Aber Oscar war nicht dumm und würde sich nicht so leicht erwischen lassen. Er rannte durch das hohe Gras, das ihn an den Beinen kitzelte, rannte durch den Wald über die Feldwege, geteerten Straßen, bis zur Haustüre. Sein Herz pochte ganz laut gegen seine Brust, als seine Mundwinkel nach oben huschten. Seine kleinen Hände wanderten zur Türklinke und sein Herz begann wie wild zu hüpfen. Selbst dann als sich die Tür langsam, unter einen quietschen, öffnete konnte er seinen eigenen Herzschlag noch hören. In was für einer wundersamen Welt sie doch lebten.


    „Wo ist Oscar?! Ich habe es dir doch schon dreimal erklärt! Wann raffst du es endlich, dass hier ist nicht irgendein Spiel!“ Ein Herz zerbrach. Die Augen von seiner Schwester waren weit aufgerissen, rot und voll mit Tränen, als sie herumfuhr. „Oscar. Bei den Göttern, dir geht es gut.“ Ihre Stimme glich fast ein Schluchzen. „Ich bin ja so froh.“


    „Ich sag doch, er macht nur Probleme!“


    „Halt die Fresse. Du weißt genau, dass du ihn heute abholen solltest! Ich habe es dir dreimal, ich wiederhole, dreimal gesagt! Was geht da nicht in deinen Schädel?! Stell dir vor ihm wäre etwas passiert!“


    „A-Aber Gilbert-“ Seine Stimme brach.


    „Er ist alt genug.“


    „Er ist fünf Gilbert. Fünf!“ Ihre Hände knallten auf den Tisch und Oscar zuckte zusammen, bevor er langsam eine Hand hob.


    „A-Aber Gilbert konnte doch wirklich nicht-“, fiepte Oscar. Er konnte mich doch wirklich nicht abholen. Er war doch ein Frosch, wie hätte er ihn da abholen können?


    „Und wenn schon. Wen juckts?! Sei doch ehrlich, wäre er nicht da, dann könntest du auch einmal ausgehen. Oder sag bloß-“, ein Tonfall wurde spottend, „Sag bloß du bevorzugst dieses Leben?! Mach dich nicht lächerlich, niemand würde so ein Leben bevorzugen.“ Ihre Augen sprühten Funken, wie die Glut eines Feuers und Oscars Herz sank in seine Hose. Hört auf. Hört doch bitte auf zu streiten.


    „Leg mir keine Worte in den Mund!“, fauchte sie. „Sag so etwas, nie, nie wieder. Ich habe genug. Nächsten Mal wirst du ihn abholen, und wenn ich dich eigenhändig hinter mir herziehen muss!“


    „Gilbert trägt aber wirklich keine Schuld. Er war sehr beschäftigt.“ Etwas zog sich in ihm zusammen. Etwas brach.


    „Geh auf dein Zimmer Oscar!“, brüllte sie und er ließ die Hand wieder sinken. „Das hat rein gar nichts mit dir zu tun!“ Die Augen seiner Schwester glühten und er hatte sich in seinen ganzen Leben noch nie so sehr vor etwas gefürchtet.


    „A-Aber-“


    „Geh!“ Oscars Herz sank wie ein Stein. Ein unsichtbarer Schlag in die Magengrube, der ihn nach Luft schnappen ließ.


    „Ich-“, sein Hals schnürte sich zu und er drehte sich ein letztes Mal zu den beiden um. „Ich hasse euch beide!“




    ~+~




    Oscar lag zusammengekauert auf seinem Bett, umschlang beide Beine und starrte auf die weiße Decke und in dieser Position verweilte er für eine ganze Weile. Sein Blick war trübe, als er eine Hand nach oben Streckte und die Finger spreizte. Von außen hörte er dumpfe Stimmen und presste beide Handflächen auf seine Ohren. Bitte hört auf. Hört auf zu streiten. Ich will doch nicht das ihr euch wegen mir zankt. Das hatte er nie gewollt und doch bekamen sie sich wegen ihn immer in die Haare. Sein Blick war apathisch und er schielte zu seinen braunen Bärenrucksack. Ach, wäre er doch nur hier, dann könnten sie auch ein glückliches Leben führen und das wünschte er sich für die beiden vom ganzen Herzen. Seine Schwester könnte ausgehen, auf Partys gehen und einen Beruf ausführen, den sie liebte. Oder sie könnte zur Schule gehen und noch schlauer werden, als sie es ohnehin schon wäre. Sie könnte jemand nettes kennenlernen und könnte ab und an auch wieder lachen.


    Oscar, du bist aber keine drei mehr. Du musst auch mal Verantwortung übernehmen, nicht immer nur die anderen. Seine Hände ballten sich Fäusten, als er sich langsam aufsetzte. Trübsal blasen brachte doch nichts. Da tauchte ein flüchtiges Bild in seinen Sichtfeld auf, eine Idee, die immer mehr Form annahm. Er würde einfach zu Herrn Noel gehen und ein waschechter Zauberer werden. Oder vielleicht auch nur ein Zauberlehrling, immerhin musste man klein anfangen. Seine Mundwinkel huschten nach oben. Richtig, er könnte bestimmt, ganz bestimmt, auch auf sich selbst aufpassen. Nur seine Geschwister würde er dann nicht mehr so oft sehen, immerhin wäre er als Zauberlehrling bestimmt schwer beschäftigt. Das machte ihn jetzt doch etwas traurig, aber es ließ sich wohl nicht ändern. Hastig griff er nach seinem Rucksack und suchte das Notwendigste für diese lange Reise, wohin sie ihn auch führen mochte. Er tapste blindlings durch den dunklen Flur. Seine Hände wanderten zu einer der Kommoden und brachten eine Taschenlampe zum Vorschein. Im Wohnzimmer brannte immer noch Licht. Er konnte es durch den schmalen Spalt unter der Tür sehen, nur die Stimmen von vorhin waren verstummt. Dann heißt es jetzt also auf wiedersehen sagen. Natürlich würde er ihnen das nicht direkt sagen, auch wenn er sich gerne bedankt hätte. Dafür, dass sie sich so lange und lieb um ihn gekümmert hatten und wie glücklich er sich schätzen hatte können, solch tolle Geschwister gehabt zu haben. Aber er war jetzt erwachsen und musste sich auch weiterentwickeln. Mit diesem Gedanken und einen Rucksack mit all dem, was er zum Leben brauchte, also ein Malbuch, Crackers, einer Trinkfalsch, ein Fotoapparat und einer Taschenlampe, machte er sich auf zur Mauer. Jetzt brauchte er nur noch etwas Glück. Er überbrückte den Weg durch die Felder, den Wald bis zur Mauer, doch was vorfand war nicht etwa Noel O`Neil, sondern ein gigantisches Loch in einer schier endlosen Mauer.


    _____________


    Endkommi: Unter Umständen, nur ganz vielleicht, habe ich das Kapitel komplett neu geschrieben XD Das nächste Kapitel kommt dann nächste Woche. Eigentlich bin ich schon fertig aber... (nein ich prokrastiniere nicht, gar nicht ´^´). Jedenfalls wird vorerst wohl nur ein Kapitel pro Woche kommen. Spiele ein wenig mit dem Gedanken im letzten Ark was umzuschreiben. OH UND BILDER. Bilder wären auch toll. *.* Aber hey, mit Kapitel XXII ist offiziell Teil 1 von Ark 3 fertig. :3 Das wars auch schon, einen schönen Freitag und ein schönes Wochenende :3 Oh und Ark 3 hat jetzt auch ein Bild. Mal sehen wie viel Motivation ich noch für die anderen Kapitelbilder habe. :unsure: * schielt zum Grafikboard *


    Lg Sinya

  • Hallo,


    Oscars Identität wurde schneller enthüllt als erwartet. Dass er sich inmitten der Streitereien seiner Geschwister aber völlig entfremdet fühlt und stattdessen der Faszination nachgehen möchte, von Noel zu lernen, finde ich für sein Alter nachvollziehbar und realistisch. Man zieht sich doch eher zurück, wenn es innerhalb der Familie öfters laut wird und das nahezu schon die Regel ist. Aus der Unterhaltung sowie seinen anschließenden Gedanken kann ich jedenfalls verstehen, warum er sich zu Noel begeben möchte. Fraglich ist, ob die beiden aufgrund des Sichtschutzes zusammenkommen. Oscar müsste sich schon auf die Lauer legen und ihn abfangen.


    Wir lesen uns!

  • >>Kapitel XXIV: Das Verschwinden des Oscar Oswald<<



    Gilbert




    Ein Kind wanderte alleine durch eine verlassene Stadt. Es wanderte und wanderte, auf der Suche nach einem Zauberer. Doch was der Junge fand, war nicht etwa ein Zauberer, sondern ein anderes Kind, dessen Mundwinkel fast mechanisch nach oben huschten, als es die folgenden Worte sprach: „Lass uns ein Spiel spielen.“


    ~+~



    „Ach mach dir nichts draus, ich finde dein Quaken jedenfalls äußerst erfrischen mein Liebling. Das klingt nach einem außerordentlich wunderbaren Tag. Ich wünschte ich wäre dabei gewesen, als du mitten im Unterricht zu Quaken begonnen hast.“, summte Mina und klatschte in die Hände, bevor sie einen Finger auf ihre Lippen legte.


    „Hm?“ Er zog eine Augenbraue nach oben und legte den Kopf schief. „Sag mal, hast du mir gerade überhaupt zugehört?!“ Wo hatte sie diesen Blödsinn jetzt wieder aufgeschnappt? Dieses dumme Mädchen. Er hätte mit jemand anderen sprechen sollen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ausgerechnet sie, um einen Rat zu fragen? Natürlich brabbelte sie nur wieder dummes Zeug vor sich her. Er schielte in ihre Richtung und schüttelte schließlich den Kopf. „Tut mir leid, ich habe wohl zu viel erwartet.“ Was war gestern passiert?! Sie hatten ihn eindeutig unter Drogen gesetzt, nur welche?! Seine Finger massierten seine Schläfe und er kniff seine Augen zusammen. Geh noch einmal alles Revue passieren. Du hast Rosemarie beobachtet, sie hat das Haus verlassen und du bist ihr gefolgt. An der Mauer hast du eine Unterhaltung mitbekommen. Du wolltest sie zur Rede stellen und dann – Nichts.


    „Tut dir etwas weh?“, murmelte Mina. Ihre Stirn schlug Falten und sie spitzte die Lippen. „Mein armer Schatz. Du überdenkst das nur.“ Mina kicherte und ihm war zum Kotzen zumute.


    „Still, ich muss mich konzentrieren.“, brummte er und kratzte auf der Holzfläche des Tisches. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Keine Chance. Es fällt mir nicht ein!“, schnaubte er. Er stemmte sich mit beiden Händen vom Tisch auf, was Mina zusammenzucken ließ.


    „W-Warte, gehst du denn schon? Ich dachte du hättest in letzter Zeit öfters Stress mit der Familie. Du gehst freiwillig früher? Ist etwas passiert? Habe ich etwas falsches gesagt?“, japste sie.


    „Nichts.“ Das verstehst du nicht, wäre wohl der passendere Ausdruck. Er hatte einen ganzen Tag gefehlt. Was zur Hölle hatte er in der Zeit getrieben?!„Ich gehe.“


    „H-He, du kannst mich doch nicht einfach hier sitzen lassen!“, quickte sie und sprang vom Stuhl auf. „Du hast mich gestern den ganzen Tag geghostet!“, schnaubte sie. Jetzt beginnt das schon wieder. Gilbert rollte mit den Augen.


    „Ich habe für dein Schnattern keine Zeit. Behalte es für dich, wenn es nicht wichtig ist.“


    „Du! Was bildest du dir ein?! Mich ghostet man nicht! Sag mir jetzt sofort was los ist.“ Oh Gott, war die anstrengend.


    „Und Tschüss.“


    „B-bleib stehen!“ Fingernägel krallten sich in seine braune Schuluniform und die ersten Blicke wurden in ihre Richtung geworden. Blöde Schnepfe. Schrei nicht so rum, die anderen schauen schon.


    Lass los.“ Ihre Augen weiteten sich, dann lockerte sich ihr Griff ein Stück weit und diesen Moment nützte er um einige Meter Abstand zu gewinnen. „Ha, du warst mir eh zu langweilig.“, seufzte er und ihr Gesicht färbte sich rot.


    „Du-“, schnaubte sie. „Das wirst du-“ Bereuen? Ich bitte dich. Diesmal hatte er es sogar zwei Wochen mit ihr ausgehalten. Ihm sollte ein Orden verliehen werden.


    „Ach Mina? Dein Make-Up verwischt, vielleicht solltest du das in Ordnung bringen, bevor du dich auch noch vor allen anderen blamierst.“


    „Ehh?“ Sie riss die Augen auf und Scharm stieg in ihre Wangen. Sie konnte gerade noch ein „Shit.“ von sich geben, bevor sie in der Damentoilette verschwand.



    ~+~



    Dieses Mal machte er sich nach der Schule, direkt auf den Weg nach Hause. Seine Schwester war gerade dabei den Tisch zu decken. Im Hintergrund konnte man das Fett in der Pfanne brutzeln und das Pfeifen einer Teekanne hören. Seine Finger wanderten zu einem Magazin.


    „Gilbert sag mal, hast du Oscar heute zum Kindergarten gebracht?“ Oscar? Was ist jetzt schon wieder? Er seufzte, hob allerdings nicht den Kopf. Als ob er nichts Besseres zu tun hatte, als seinen Bruder zum Kindergarten zu bringen.


    „Aber natürlich habe ich das.“ Der Geruch von gegrilltem Gemüse lag in der Luft.


    „Oh Gott sei Dank. Ich bin heute nicht mehr dazu gekommen, weil meine Schicht doch noch länger gedauert hat als gedacht. Und als ich in sein Zimmer geschaut habe, da-“ Sie beendete den Satz nicht, stattdessen atmete sie auf. Ah, interessant. Und wieso ist das jetzt mein Problem sein? Moment – seine Augen weiteten sich ein Stück weit – wenn Oscar nicht in den Kindergarten gebracht wurde, wo ist Oscar dann? So ein Unsinn, machte er sich gerade etwa Sorgen? Mit einem Ruck setzte er sich vom Tisch auf und scannte den Raum. Im Wohnzimmer war er schon einmal nicht. Seine Schwester stand immer noch in der Küche und warf ihn nur ab und flüchtige Blicke. Gilberts Puls beschleunigte sich unmerklich und doch hörte er leise seinen Herzschlag. Gut, dann das Kinderzimmer.


    Er ist zu alt für so einen Kitsch, schoss es ihn in den Kopf, als er den Raum seines Bruders betrat. Wohin Oscar auch ging, sein Bärenrucksack begleitete ihn. Der Mund diente als Reisverschluss, ein Detail was er schon damals als kindisch abgestempelt hatte. Auch von dem hässlichen Teil fehlte jegliche Spur. Auf den Boden lagen Buntstifte und Blätter verteilt und hier und da musste er aufpassen nicht auf irgendein Spielzeug zu treten, doch Oscar glänzte mit Abwesenheit. Er verschränkte die Arme vor der Brust und trommelte mit den Fingerspitzen gegen seinen Oberarm. Hier ist er also auch nicht. In der Garderobe im Gang fehlen ein paar Schuhe. War er etwa alleine losgegangen? Wer hatte ihn die Erlaubnis dazu gegeben?! Und was kümmert es dich? Nicht dein Problem. Der würde schon wieder zurückkommen. Bestimmt. Gilbert hatte wichtigere Dinge zu erledigen. Er musste zur Polizei und seine Beweise überreichen, dann wäre dieser O´Neil hoffentlich endgültig erledigt. Und vielleicht würde da auch etwas für ihn dabei rausspringen, immerhin hätte er den entscheidenden Beweis geliefert. Sein Blick fuhr zur Haustüre, doch seine Beine bewegten sich nicht von der Stelle.


    Gut, vielleicht würde er nur einen kurzen Moment warten, nur um sicherzugehen, dass er ihn nicht gerade so verpasste. Irgendjemand musste Oscar ja die Ohren langziehen.



    ~+~



    Oscar kam nicht. Gilbert hatte eine gute halbe Stunde gewartet und mittlerweile schlug die Uhr sieben. Er hätte so viel erledigen können, stattdessen lehnte er gegen die Wand des Flurs und schielte zur Haustür. Was machte er da?! Es wird schon dunkel, schoss es in seinen Kopf und er drückte sich von den Holzdielen ab. Seine Schwester war um fünf wieder zur Arbeit aufgebrochen. Einen flüchtigen Moment hatte er gehofft, er würde jeden Moment durch die Tür treten und manchmal bildete er sich ein, dass die Türklinke unmerklich nach unten gedrückt wurde. Nichts. Das war ja nicht zum Aushalten, er würde einfach in der Vorschule anrufen. Wenn er sich nicht irrte, dann sollte der Kindergarten schon lange vorbei sein. Da würde er bestimmt keinen mehr erreichen. Er drehte sich zur Kommode und tippte die Nummer auf dem Ziffernblatt. Einen Moment hörte er nichts als ein Piepen.


    „Hallo, hier spricht Gilbert Oswald.“ Seine Mundwinkel huschten nach oben. Sehr gut, gleich würden sie ihm sagen, dass Oscar lediglich etwas länger geblieben war. Was für ein lästiges Missverständnis. „Ich bin der große Bruder von Oscar Oswald und wollte fragen –“


    „Oh, gut, dass sie anrufen, ich konnte sie leider vorhin nicht erreichen. Oscar ist heute nicht zur Vorschule erschienen. Ich nehme an, dass er krank ist? Wenn dem so ist –“, sein Herz rutschte ihm in die Hose, „dann müssen sie sich trotzdem an die Regeln halten und vor 9 Bescheid geben. So geht das nicht. He, sind sie noch dran?“ Der Hörer fiel ihm aus seiner Hand, die reflexartig zu seinem Mund wanderte. Er ist nie hingegangen. Aber wo…wo ist Oscar dann?! „H-Hallo ist hier noch jemand?!“ Beruhige dich Gilbert, es gibt für alles eine logische Erklärung. Aber was wäre hier die Erklärung? Oscar hatte noch nie gefehlt und zuhause war er ja auch nicht. Und was, wenn – seine Pupillen weiteten sich, als sich ein fast monströser, beängstigender Bild vor seinem inneren Auge abzeichnete. Aber ja doch! Noel, Noel steckt hinter den Vermisstenfällen und ich habe sie entlarvt. Was, wenn sie beschlossen hatten eine kleine Geisel zu nehmen?! Natürlich wäre er zu gerissen, als dass sie ihn direkt angreifen würden, sein kleiner Bruder jedoch, wäre schon eine ganz andere Geschichte. Weißt du, mein großer Bruder hasst mich. Richtig, irgendwann hatte Oscar einmal diese Worte zu ihm gesagt, nur wann war das gewesen? Es wollte ihm nicht einfallen. Das ist alles O´Neils Schuld und er würde ihn dafür zur Rede stellen. Oder vielleicht wäre zu Rede stellen, keine gute Idee. Wahrscheinlich rechnete der Dreckkerl gerade damit, und er würde blindlings in einer Falle treten. Nein, er dürfte jetzt nicht voreilig handeln. Denk nach Gilbert, wo könnte man einen kleinen Jungen verstecken. Wo frägt niemand genauer nach? Das Haus? Nein, Unsinn, das wäre doch das erste, das überprüft werden würde. Und das Loch? Was ist mit dem Loch in der Mauer? Sein Puls beschleunigte sich. Hinter der Mauer schoss es in seinen Kopf. Seine Hände zitterten, als er zu einem Zettel griff. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, würde er seiner Schwester eine Nachricht hinterlassen, man wusste ja nie.


    >>Es tut mir leid<<, begann er. Wieso entschuldigte er sich? Für was? >> Falls ich nicht zurückkommen sollte, stell Noel O`Neil zur Rede.<< Den Zettel legte er auf der Küchentheke ab, dann kehrte er der Wohnung den Rücken zu. Also gut. Zeit einem Verbrechers das Handwerk zu legen. Seine Krawatte um seinen Hals fühlte sich seltsam eng an, als ob sie ihm die Luft zum Atmen abschnüren würde.



    ___________

    Und das wars auch schon. Ein schönes Wochenende an alle Leser :3


    Lg Sinya

  • >>Kapitel XXIV: Das Verschwinden des Oscar Oswald Teil II<<



    Gilbert




    „Lass uns ein Spiel spielen. Du versteckst dich und ich such dich.“, sagte das Kind zu dem kleinen Jungen, ohne dass sich dessen Mund sich öffnete. „Aber wenn du mir zu langweilig wirst, dann-“, ein Lachen drang aus der Kehle und tausend kleiner Zähne kamen zum Vorschein, „Dann beiß ich dir den Kopf ab.“



    ~+~



    Das ist alles deine Schuld. Wieso musst du auch immer solche Dummheiten machen, wieso musst du uns immer nur Probleme bereiten! Wenn du nicht mehr da wärst, wenn es dich nicht gäbe, dann… dann bleib ich allein zurück. Seine Hände verkrampften sich und sein Hals schnürte sich zu. Ein Loch in einer Mauer. Die Mauer hatte keinen Makel, keine Lücke und kein Loch – natürlich nicht – und doch konnte er die Realität nicht leugnen. Eine klaffende Wunde, die nicht hätte, da sein sollen. Die untergehende Sonne warf lange Schatten auf den grasigen Untergrund. Er müsste sich bücken, wenn er sich da durchzwängen wollte, und dann würde der Schlamm seine Kleidung ruinieren. Für einen Moment zögerte er, bis er schließlich beide Lippen aufeinanderpresste und auf die Knie ging. Also gut, es half alles nichts. Er robbte auf den Boden und sein Herzschlag beschleunigte sich. Im nächsten Moment musste er mehrere Male blinzeln.



    Träumte er? Vor ihm lag eine vollkommen zerstörte Stadt. Eine Ruine aus einer alten Zeit. Hohe Wohnkomplexe sprossen zum Himmel. Die Scheiben waren eingeschlagen worden, der Putz blätterte von den Wänden. Alles war überwuchert von Gras und Ranken. Der Asphalt unter seinen Füßen war an vielen Stellen beschädigt. Gras kämpfte sich durch die einzelnen Ritzen der Straßen. Die Ampel und Schilder waren verbogen, als ob jemand heftig dagegengetreten hätte. Doch wer? Hier ist doch niemand. Er schluckte und beschleunigte seinen Schritt. Hier und da konnte er das Frack eines Autos sehen. Sie waren rostig und die Sitze modrig. Es würde ihn nicht weiter wundern, wenn eine einzige Berührung ausreichen würde, und sie würden in ihre Einzelteile zerfallen.


    „O-Oscar!“, hörte er sich selbst schreien. Keine Antwort. Verdammt. „Irgendjemand?!“ Sein Herz schlug gegen seine Brust, immer schneller und schneller, als die Sonne zunehmend sank. Seine Schritte wurden langsamer. Was zum Teufel war das hier? Eine verlassene Stadt? Nicht möglich, so ein Vorfall müsste doch verzeichnet sein? Kein einziges seiner Geschichtsbücher hatte je ein Wort über diesen Ort verloren und er hatte es nie hinterfragt. Wieso? Gilbert ließ seine Hand zu dem Handy in seiner Jackentasche fahren. Kein Signal. Seine Stirn zog sich kraus. Nicht gut. Gar nicht gut. Wenn er sich zu weit von der Mauer entfernte, dann würde er sich noch verlaufen. Hier würde ihn garantiert niemand finden. Wieder bildete er sich ein, Schritte hinter sich scharen zu hören. Ein Schatten, der seinen jeden Tritt verfolgte. Und dieser Schatten hatte für den Bruchteil einer Sekunde die Silhouette eines Kindes angenommen. Nanu?


    „O-Oscar?!“ Sein Schrei blieb unbeantwortet. Er war alleine und blieb alleine. So ein Blödsinn. Wieso sollte ein Kind ihn verfolgen? Es war bereits stockfinster geworden, als er ein altes Herrenhaus erreichte. Wäre er auf direkten Weg dorthin gegangen, dann hätte er es in einer guten Viertelstunde erreicht, doch sein Blick wanderte immer wieder durch die Gegend, ließ ihn bei jeder noch so kleinen Kleinigkeit innehalten. Vor alten, verrosteten Fahrradständern, verwilderten Strebergärten und überwucherten Terrassen. Und jedes Mal ertappte er sich dabei, wie er den Namen seines Bruders rief. Immer und immer wieder. Niemand antwortete und Nervosität stieg in ihn auf, ließ seinen Puls schneller schlagen. Ihm wird doch nicht etwa – nicht doch! Er schluckte und schob den Gedanken beiseite, doch seine Hände begannen zu schwitzen und seine Gedanken zu kreisten. Konzentrier dich auf das Hier und Jetzt. Vor ihm lag ein Herrenhaus. Es war etwas besser in Schuss gehalten worden, als der Rest der Häuser, was es deutlich hervorstechen ließ. Die Fenster waren intakt und Vorhänge versperrten den Blick ins Innere. Nanu, wohnt hier jemand? Sein Herz machte einen Satz, als er eine Hand in Richtung des Gebäudes streckte. Wer sollte sonst die Vorhänge zuziehen? Oder wurde das Anwesen einfach so zurückgelassen? Ein Weg formte sich vom großen, steinernen Torbogen, durch kniehohes Gras, zu einer alten Holztür. Die Haustüre? Er verschränkte die Arme vor der Brust. Ob hier… wohl noch jemand wohnt? Gilbert schluckte, als er begann sich einen Weg zu dem Haus zu bahnen. Das Gras kitzelte ihn in den Kniekehlen und er verzog angestrengt das Gesicht. Was nicht von dem Lichtkegel seines Handylichts eingefangen wurde, ließ sich jetzt nur noch erahnen. Da war er wieder, der Schatten. Er zuckte zusammen und tatsächlich, die Gestalt hatte in etwa die Größe eines Kindes. Sie stand neben der Eingangstür und regte sich nicht. Was macht das Mädchen hier? Ruhig Gilbert. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wieso stellten sich seine Nackenhaare auf? Das war ein gutes Zeichnen, nicht wahr? Wenn Oscar hier vorbeigekommen war, dann könnte er das Kind nach den Hausherrn fragen und vielleicht konnte der ihm weiterhelfen. Das kleine Mädchen vor ihm hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer Puppe. Lange Wimpern, braune Augen und ein grünes Kleidchen, doch die Augäpfel bewegten sich nicht, selbst dann nicht, als er eine Hand hob, fast so als ob es nicht lebendig wäre. Aber das wäre absurd, nicht? „He sie da!“ Keine Antwort. Gilbert blinzelte. Niemand stand neben der Holztür. Er war alleine. Seltsam, hatte er sich das gerade nur eingebildet? Was für eine seltsame Einbildung oder war das Mädchen hineingegangen, ohne das es ihm aufgefallen war? Zögernd fuhr seine Hand zur Türklinke und drückte sie hinunter.



    Ein Knarren war zu hören, dass ihn durch Mark und Bein ging. Nanu, er war doch sonst nicht so schreckhaft? Die Bodendielen quietschen mit jeden einzelnen seiner Schritte, als er sich blindlings durch die Dunkelheit tastete. Lediglich ein paar einzelne Kerzen hüllten manche Stellen des Raumes in ein warmes Licht und ließ die Umrisse von einzelnen Möbeln sichtbar werden. Sein Puls beschleunigte sich, als die Silhouette von jemand anderen auftauchte. Jemand mit dem er nicht gerechnet hatte. Unmöglich?!


    „Oscar?!“ Seine Stimme überschlug sich fast. Oscar stand wie angewurzelt da, den Kopf leicht zur Seite gedreht und regte sich nicht von der Stelle. Er hatte ihn wohl nicht bemerkt, jedenfalls reagierte er nicht sofort, aber es war zweifelsohne Oscar. Die blonden Haare und das alberne Bärenshirt würde Gilbert überall erkennen. „Was machst du hier?! Weißt du wie viel Sorgen wir uns gemacht haben! Mach so etwas nie, nie wieder. Hast du verstanden?! Was hast du dir überhaupt dabei gedacht und-“ Wieso reagierte er nicht? Gilbert trat noch einen Schritt auf seinen Bruder zu. Jetzt drehte er seinen Kopf schon fast mechanisch in seine Richtung und Gilbert hielt den Atem an. Oscar hatte pausenlos in einen komplett leeren Raum gestarrt. Aber wieso? Ein Schloss viel in die Angeln und Gilbert zuckte zusammen. Der Blick seines Bruders war leer. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er freute sich nicht ihn zu sehen.


    „Oh du bists.“, war alles, was er erwiderte, dann drehte er sich zu Seite und begann in Richtung Osten zu gehen. „Du bist also gekommen. Das ist sehr nett von dir“, murmelte er, doch seine Stimme war dünn und sein Gesicht kreideblass.


    „Oscar?!“ Oscar schrie nicht. Er weinte nicht und lachte nicht, stattdessen rührte er sich für einen Moment nicht von der Stelle, als er in Gilberts Richtung schielte.


    „Schrei nicht so. Das mögen sie nicht und dann sind sie böse auf mich.“


    „Sie?! Oscar, wer sind sie? Du bist mir die Wahrheit sagen, hörst du?!“ Seine Hände fuhren zu den Schultern seines Bruders. Er wollte ihn anschreien, schütteln, ihn zur Rede stellen, stattdessen tat er nichts davon.


    „Sie spielen immer mit mir. Ich soll sie finden, aber sie hassen es, wenn man schreit, sie mögen Licht nicht und außerdem bist du sehr, sehr laut.“


    „D-Du hast Freunde gefunden? Wer sind sie? Beantworte meine Frage.“ Irgendetwas stimmte hier nicht.


    „Schau mal. Das ist ihr Kinderzimmer.“, flüsterte Oscar. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Stimme ruhig und seltsam apathisch, dann presste er beide Lippen aufeinander. Oscars Arme baumelten seitlich an seinen Körper herab und wenn man genau hinsah, erkannte man, das er zitterte. Nein, sein ganzer Körper bebte. Was passiert hier? Der Raum, der vor ihnen lag, war fast komplett leer. Oder vielleicht erschien er auch nur so, weil ein Großteil in der Dunkelheit verborgen blieb. Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber war da nicht etwas Weißes in den Ecken? „Sie spielen immer mit mir. Ich verstecke mich und sie fangen mich. Und dann bin ich dran mit Suchen. Wenn ich folge, dann sind sie sehr nett zu mir, aber sie mögen es nicht, wenn man laut ist.“ Hilf mir. Er fasste seinen Bruder an den Schultern.


    „Hör mir jetzt gut zu Oscar. Ich werde uns beide jetzt hier rausbringen und wir gehen zusammen nach Hause, verstanden?“ Für einen flüchtigen Moment keimte Hoffnung in den trüben Augen des Kindes auf.


    „Dann hast du Noel mitgebacht?“ Noel? Wieso Noel?! Was redet er da?!


    „Nein. Noel ist nicht hier.“


    „Oh.“, war alles, was der Junge hervorbrachte. Im nächsten Moment verzog sich sein Gesicht zu einer Fratze. Sein ganzer Körper begann unkontrolliert zu beben und seine Mundwinkel huschten nach unten, als er die Augen aufriss. Tränen kullerten über seine Wange und ein heißeres Wimmern drang aus seiner Kehle. „Es tut mir so, so leid! Ich wollte nicht, dass du da mit hineingezogen wirst. Das ist alles meine Schuld! Wir werden hier nie, nie wieder rauskommen.“ Bitte was?! Gilbert fuhr herum und ließ den Lichtkegel seines Handys durch den Raum fahren. In der Dunkelheit sah er die starren Augäpfel, die auf sie gerichtet wurden. Die Wesen hatten drahtige, knochige Glieder, blasse haut, mehrere Arme und Beine und wie sie ihren Mund öffneten, kamen tausende von messerscharfen kleinen Zähnen zum Vorschein. Viele Stimmen wiederholten immer wieder den gleichen Satz.


    „Wir hassen schlechte Spieler.“

  • Hallo,


    was mir an den letzten Kapiteln ungemein gut gefällt, ist die in Gilbert ausgelöste Panik. Zuerst wirkte er tatsächlich noch so, als wäre ihm Oscar egal, aber als sein Verschwinden durch die Abwesenheit in der Vorschule Realität wurde, hast du die Reaktionen sehr gut dargestellt. Auch die Dunkelheit im Herrenhaus, Oscars Reaktion auf die Spielgefährten und wie sie auftraten, brachte viel Stimmung in die Kapitel. Gleichzeitig ist eben auch die Frage, wie sie wieder entkommen können. Da Gilbert eine Nachricht bezüglich Noel hinterlassen hat, schätze ich aber mal, dass sich deren Schwester auf den Weg macht.


    Wir lesen uns!

  • Huhu, einen schönen Freitag :3

    XXV Mein ganzes Leben lang


    Veronica



    Liebe war ein großes Wort und Liebe konnte man nicht einfach erzwingen. So war es nun einmal mit Gefühlen, die man weder greifen, noch sehen konnte. Sie hatte früher viele Träume gehabt, hatte sich selbst in der Bibliothek einer Universität gesehen. Oder aber, sie wäre durch die Welt gereist, hätte neue Leute kennengelernt und wäre glücklich gewesen. Manchmal verfluchte sie den Tag, dann verfluchte sie sich selbst, wie sie überhaupt so etwas hatte denken können, denn wie hätte sie jemals nein sagen können? Vielleicht dachte, oder vielmehr grübelte sie, was bei ihr verkehrt gelaufen war und war sich fast sicher, dass sie schon ihr ganzes Leben ein schlechter Mensch gewesen sein musste. Oder aber, nur ganz vielleicht, wollte sie auch nur einen einzigen Tag nur für sich selbst, für niemand anderen, leben. War das denn so verkehrt? War es so verwerflich? Ein großes Apartment, mehr als ein winziges Zimmer und ein Leben, dass sie so leben konnte, wie sie es wollte. Wie hätte sie den beiden jemals erklären können, wie sehr sie sich wünschte, sie während nicht da. Oder, das sie sich nach einen leichteren Leben sehnte. Ein Leben wo sie nicht jeden Cent dreimal umdrehen musste, oder bis spät in der Nacht arbeitete, nur um am nächsten Tag wieder früh aufzustehen. Dann wiederum verurteilte sie die bloße Vorstellung daran und schob die Erinnerung der vielen Zweifel und den Moment, wo sie es tatsächlich in Betracht gezogen hatte, beiseite. Solche Gefühle existierten nicht. Nicht für Veronica Oswald. Als die beiden vor all den Jahren, dann schließlich vor ihr gestanden hatten, da verschwanden die Zweifeln zwar nicht vollständig, doch wurden sie ein klein wenig bedeutungsloser.


    Sie erinnerte sich an die ersten Monate, wo Gilbert sich in sein Zimmer eingeschlossen hatte und mit niemanden hatte, reden wollen. Das schloss natürlich auch sie ein, nicht dass das weiter verwunderlich war. Sie war noch nie gut mit Kindern gewesen, hatte sich immer seltsam fehl am Platz gefühlt, als ob sie ein Leben führen würde, das nicht ihr eigenes wäre. Und trotzdem viel ihr ein Stein von Herzen, als Gilbert dann doch die ersten Bekanntschaften mit anderen Kindern knüpfte, Freunde fand und sich nach und nach einlebte. Als Oscar zur ihr gekommen war, war er noch so klein gewesen, dass er sich eher schlecht, als recht auf den Beinen hatte halten können, doch Gilbert hatte ihn an der Hand gehalten, war vorausgelaufen und hatte ihn angefeuert und die Augen des kleinen Oscars hatten zu leuchten begonnen. Es gab so viel, was die beiden noch nicht verstanden und nicht wussten. Darüber wie man Rechnungen zahlte oder, was es kostete ein Dach über den Kopf, warmes Wasser oder Strom zu haben. Sie war schon immer kalt – nein überfordert – gewesen, wusste nicht, wie man mit zwei kleinen Kindern umgehen könnte und aus Folge dessen, war sie ganz besonders hart zu den beiden gewesen. Doch die Welt war so viel strenger und kälter als sie. Wer würde sie davor behüten? Wer würde ihnen erklären, dass die Welt sich nicht ihren Willen beugte, nur weil sie es so wollten. Manchmal bereute sie es und manchmal gab es nichts, was sie glücklicher machte, als den beiden Stück für Stück, Zentimeter um Zentimeter, beim wachsen zuzusehen.


    Sie war zu hart gewesen, daran bestand jetzt kein Zweifel mehr. Ich schätze ich muss mich dann wohl entschuldigen. Dieser Gedanke ließ sie nicht los und hatte sich quälend langsam in ihrem Unterbewusstsein eingenistet. Und selbst wenn sie versucht hätte, selbst diesen Gedanken zu verdrängen, wurde diesem Plan ein jähes Ende gesetzt, als ihr Handy plötzlich vibrierte. Veronica hatte eine äußerst üble Schicht gehabt, schlecht gelaunte Kollegen und noch schlecht gelauntere Kunden und war alles andere als motiviert für einen spontanen Anruf. Seufzend ließ sie dann doch eine Hand in ihre Arbeitsuniform fahren.


    „Hier spricht Veronica Oswald, sie rufen wegen Oscar an?“ Immerhin zeigte das Display die Nummer von einer der Erzieherinnen an. „Was genau brauchen sie?“


    „Wie gut, dass ich sie erreiche. Ihr Bruder hat mich vorhin angerufen, aber er hat plötzlich aufgelegt. Es geht um Oscar. Er ist heute nicht zur Vorschule gekommen. Im Kindergarten ist er wohl auch nicht aufgekreuzt. Ich hoffe doch, dass alles in Ordnung ist?“ Ihr Herz machte einen Satz. Ihre Hände zitterten.


    „Verstehe.“, war alles, was sie trocken hervorbrachte. „Ich kümmere mich gleich darum. Ich rufe später zurück.“ Ihr Herz hatte noch nie so laut gegen ihre Brust gehämmert. Das kann nicht wahr sein. Das muss ein Scherz sein. Bitte nicht. Sie wartete nicht, stattdessen hechtete sie zur Garderobe, riss die Tür auf und spielte nicht einmal mit den Gedanken Bescheid zu geben. Das war jetzt unwichtig. Es kümmerte sie nicht, dass sie die Hälfte ihrer Sachen zurückließ. Oder dass ihre Lungen brannten, als sie zurück nach Hause sprintete. Bitte lass mich falsch ließen. Bitte lass es ein Irrtum sein. Die Türe wurde aufgestoßen und ihr Herz wurde lauter und lauter. Ihr Puls raste.


    „Gilbert?!“ Du Gott verdammte Ratte, wenn ich dich in die Finger bekomme, Gott steh dir bei! Keine Antwort. Ihre Hände zitterten, ihre Stimme bebte, als sie die Türklinke zu Oscars Zimmer herunterdrückte.


    „Oscar?“ Keine Antwort. Das Zimmer war dunkel, das Licht aus. Nicht doch. Sie schluckte, und kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Ihr Hals schnürte sich zu. Alles nur das nicht. Ein Irrtum, ein Irrtum, bitte lass das alles nur ein dummer Scherz sein. „Oscar? Gilbert? Kommt sofort her! Ich schwöre, wenn ich euch in die Finger bekomme.“ Stille. Sie eilte zum Wohnzimmer. Ihr Herzschlag nahm mit jedem Schritt zu. Ihre Mailbox war leer. Keine neuen Nachrichten. Sie hatte jeden Winkel in der Wohnung abgesucht. Ihr Schlafzimmer, das Bad, alle Kinderzimmer und zuletzt das Wohnzimmer und da viel ihr Blick auf einen kleinen Zettel auf dem Küchentresen. Gilberts Nachricht. Ihre Augen weiteten sich. Ihre Hände verkrampften sich in das dünne Papier und zerknitterten es.



    >>Es tut mir leid. Falls ich nicht zurückkommen sollte, stell Noel O`Neil zur Rede.<<




    Alles, was danach passierte, blieb lediglich eine verschwommene Erinnerung. In einem Moment stand sie reglos da, im nächsten stürmte sie zur Haustüre und einen Wimpernschlag später, stand sie draußen. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen und die Luft brannte in ihren Lungen. Sie spürte jeden einzelnen Muskel ihres Körpers und doch stoppte sie nicht. Niemand, überhaupt niemand legt sich mit meiner Familie an. Sie überwand den Fußmarsch in kürzester Zeit, hielt nicht einmal für einen Bruchteil einer Sekunde inne. Nicht um eine Pause einzulegen, nicht um zu verschnaufen. Oh Noel, ich dreh dir den Hals um! Ihre Zähen knirschten, als sie auf das große Anwesen zutrat. Ein kunterbuntes Haus, doch sie widmete dem Gebäude keinerlei Beachtung. Es hätte ihr nicht gleichgültiger sein können. Was für ein groteskes Spektakel. Und wenn ich dich erst in die Finger bekomme dann- Veronica zog die Glocke und wartete nicht einmal auf eine Antwort, stattdessen hämmerte sie wie wild gegen die Tür und ihr Hämmern verklang erst, als jemand – nein Noel – die Tür aufzog. Der blonde Mann blinzelte Male und warf ihr verwirrte Blicke zu, doch sie könnte er damit nicht hinters Licht führen. Oh, wie ich auf diesen Moment gewartet habe! Sie stürzte sich nach vorne. Noel riss die Augen auf, wollte zurücktaumeln, doch sie gab ihn keine Gelegenheit dazu. Nichts da Bürschchen! Ihre Hand wanderte zu seinen Kragen und er japste nach Luft und riss entsetzt die Augen auf.


    „Sie müssen sich-“ Irren? Den Falschen haben? Nicht doch. Ich habe genau den Richtigen. Und jetzt hör mir ganz genau zu.


    „Ich sage das nur einmal und ich wiederhole mich nicht. Wenn Gilbert und Oscar bis morgen nicht zurück sind, dann geht es dir an den Kragen. Verstanden? Gut. Dann sind wir uns ja einig.“

    ____________

    Nachwort: Ein etwas kürzeres Kapitel, hat sich hier aber so angeboten. Und damit noch ein schönes Wochenende :3


    Lg. Sinya

  • XXVI Inmitten der Nacht Teil I


    Juli



    Juli, wir haben ein Problem!“ Oh großartig, immer her damit. Ihr Blick flackerte. Wie viel Uhr war es noch gleich?


    „Es ist mitten in der Nacht.“, brachte sie tonlos hervor und rieb sich die Augen. Sollte sie wieder auflegen? Ihre Lieder fielen ihr fast von alleine wieder zu. Was für seltsame Träume sie doch hatte. In ihrem Kopf ließ sie alles noch einmal Revue passieren. Sie war von dem lauten Klingeln eines Telefons hochgeschreckt. Für einige Sekunden hatte sie aufrecht in ihrem Bett gesessen, bis sie dann deutlich verzögert aufgestanden und schlaftrunken durch den dunklen Flur zum Hörer getorkelt war. Natürlich, sie träumte. Und wenn sie jetzt auflegte, würde sie dann wieder erwachen? Jegliche Stimmen verebbten und sie blieb mit nichts, als Stille zurück, dann, wer hätte es gedacht, läutete das Telefon erneut. Ha, so funktioniert das schon einmal nicht. Ihre Hand wanderte zu ihrem Kinn. Juli legte den Kopf schief und erst nach mehreren Sekunden griff sie erneut zum Telefon.


    „Hier spricht Juli Anderson. Wie kann ich ihnen helfen?“ Mit einem Arm stütze sie ihren Kopf ab. Ihr Körper fühlte sich schwer und träge an und für einen Bruchteil von Sekunden spielte sie mit der Idee, gleich wieder aufzulegen.


    „Juli!“


    „Das ist mein Name und was verschafft mir die Ehre?“, kicherte sie und hielt sich eine Hand vor dem Mund, die ihr breites Grinsen jedoch nicht ganz verbergen konnte. Aber wenn kümmerte das schon? Noel könnte sie ohnehin nicht sehen. „Sag mal Noel, du musst meinen Namen ja gewaltig gerne haben.“ Ein Lachen kroch ihre Rachen hinauf und sie kniff die Augen zusammen, während ihre Mundwinkel noch weiter nach oben huschten. „Ich mein ja nur, du hast mich schon so genannt, bevor ich mich überhaupt so vorgestellt habe. Ich finde das jedenfalls urkomisch, du nicht auch?“, säuselte sie. So lustig, dass sie gar nicht mehr aufhören könnte zu lachen.


    „Was redest du da?! Juli, die Situation ist ernst. Was ist in dich gefahren?!“ Was mit ihr los war? Nichts. Rein gar nichts. Ihr hätte es nicht besser gehen können. Mal abgesehen davon, dass sie befürchtete jeden Moment im Stehen einzuschlafen. Sie antwortete nicht, stattdessen kicherte sie und abseits von ihrem Kichern, blieb die Leitung still. Mal sehen, wenn ich jetzt- „Stopp, nicht auflegen! Ich schwöre dir, wenn-“, zischte es am anderen Ende der Leitung. Nanu, was ist denn plötzlich in den gefahren? Seine Stimme wurde unterbrochen, als sie den Hörer wieder zurücklegte. Und erneut fragte sie sich, was sie für merkwürdiges Zeug träumte. Es läutete erneut und sie seufzte. „Gilbert und Oscar sind verschwunden! Das ist kein Scherz, seine Schwester ist gerade vor meiner Tür aufgetaucht und hat es mir persönlich erzählt. Ich schwöre dir, die hätte mich am liebsten an Ort und Stelle umgebracht! Kannst du das glauben?!“ Nein, eigentlich nicht. Victoria Oswald und gewalttätig? „Das ist eine Katastrophe. Wir haben bis morgen Zeit. Nein.“ Seine Stimme wurde noch dünner. „Bis heute. Heute Nacht.“ Oh, das ist jetzt aber ungünstig. Das ist ja schon… welchen Tag haben wir noch gleich? Sie begann mit ihren Fingern runterzuzählen und ihre Augenbrauen schoben sich zusammen. Eine Falte bildete sich auf ihrer Stirn.


    „Juli?! Noch dran?“


    „Hmm?“


    „Denk doch mal nach. Zwei Menschen verschwinden und niemand weiß wohin. Kommt dir das nicht bekannt vor?“


    „Ja aber natürlich!“ Sie hatte keinen blassen Schimmer, wovon er da gerade sprach. Ohnehin zog sich die Unterhaltung jetzt doch in die Länge. Gut, vielleicht sollte sie sich trotzdem korrigieren. „Kommt darauf an, was du unter bekannt verstehst.“


    „Konzentrier dich!“ Oh, und wie sie sich konzentrierte! Sie konzentrierte sich darauf, auf beiden Beinen stehen und nicht augenblicklich einzunicken. Sie wollte sich ja nicht selbst loben, aber zu mindestens das gelang ihr doch recht gut. Ein Seufzen drang vom anderen Ende an ihr Ohr.


    „Ach, vergiss es. Lass uns einfach vor meinem Haus treffen und persönlich reden. So macht das keinen Sinn, ich kann es dir später erklären. “


    „Gut, gut, dann in zwei Stunde vor deinem Haus.“


    „Stunde Juli.“, fiel er ihr ins Wort.


    „Ja, ja.“ Dann musste sie jetzt wirklich aufstehen? „Wird gemacht Sir.“


    „Und vielleicht-“, fügte er hastig hinzu, „trink einen Kaffee. Oder zwei.“



    ~+~



    Konnte sie bitte im Erdboden versinken? Oh, und wenn möglich würde sie da auch erst einmal bleiben. Das lässt sich doch bestimmt einrichten? Herzlichen Dank dafür.


    Nach der ersten Tasse Kaffee gelang es ihr, die Augen für mehr als fünf Minuten offen zu behalten. Nach der zweiten Tasse kroch Scharm in ihre Wangen, als sie nach und nach das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ. Nach dem Scharm folgte die Panik, und ihr dämmerte langsam, was Noel hatte andeuten wollen. Jetzt wo die kalte Nachtluft unter die Haut kroch, kroch auch eine gar beängstigende Erkenntnis in jeder Ritze ihres Inneren. Es ist genau wie damals mit Oliver, schoss es ihr in den Kopf. Und Oliver ist – Jeder Muskel spannte sich an und sie versuchte krampfhaft den Gedanken beiseitezuschieben. Aber Gilbert und Oscar sind nicht Oliver. Ihre Finger verkrampften sich in den Stoff ihres roten Regenmantels. Richtig, ihnen wird schon nicht passiert sein. Aber was hatte sie da vorhin nur vor sich her gebrabbelt?! Was hatte sie sich dabei gedacht?! Gott, wie peinlich. Nein, stopp, das ist jetzt nicht wichtig Juli. Konzentrier dich auf die wichtigen Details. So bist du jedenfalls keine Hilfe.


    Die Straßen waren dunkel, nur das fahle Licht einzelner Laternen fiel matt auf den Schotterweg. Von weiten konnte sie die Umrisse von Bäumen erkennen. Gilbert und Oscar sind verschwunden, hallte es in ihrem Kopf, wie ein gespenstisches Echo. Sie sind nicht zurückgekehrt. Um Gilbert machte sie sich deutlich weniger Sorgen, immerhin war der alt genug, um auf sich selbst aufzupassen - und ja, möglicherweise, nur ganz vielleicht, lag es auch daran, dass sie ihn nicht ausstehen konnte - aber Oscar?! So ein lieber Junge. Das ist nicht unsere Schuld, richtig?! Wir haben damit nicht am Hut. Rein gar nichts. Nichts außer-, ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihre Augen weiteten sich, das Loch! Was war mit dem Loch, sie hatten es doch sicherlich verschlossen, nicht?! Und wenn das Loch verschlossen ist, dann kann auch niemand rein, wenn es allerdings nicht- Eine Gänsehaut jagte ihren Rücken hinunter. Fast gleichzeitig schnürte sich ihr Hals zu. Nein, nein, Unsinn! Du malst nur wieder den Teufel an die Wand. Juli biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Wir werden sie schon wieder finden. Ihre Hand wanderte zu ihrer Brust. Würden sie das? Sie hatten Oliver damals auch gefunden, also gab es da bestimmt einen Trick, ein Ass im Ärmel, von dem Noel ihr einfach noch nicht erzählt hatte. Richtig, wir haben Oliver gefunden, allerdings war Oliver…Oliver war bereits- Schluss! Sie ließ ihre Hände in ihren roten Mantel fahren. Daran wollte, nein durfte, sie jetzt nicht denken.


    Als sie wieder aufsah, stand sie vor Noels Haus und ihr Puls hatte sich wieder einigermaßen normalisiert. Juli hatte sich immer noch nicht ganz daran gewöhnt. Es war ein seltsamer Anblick. Von den Wäscheleinen hoch oben auf den spitzen Dächern, zu den altmodischen Mauern und bunt bemalten Wänden. Und mit jedem Blick, den man darauf erhaschte, konnte man etwas Neues entdecken. Ein nicht endendes Haus der Wunder.


    „Da bist du ja.“, hörte sie jemand nach ihr rufen und im nächsten Moment spürte sie den sanften Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Sie hatte ihn nicht kommen sehen, doch er hatte bereits die Distanz zwischen ihnen überbrückt und war an sie herangetreten. Sein Atem war deutlich wärmer als die kalte Nacht und kitzelte sie im Nacken. Ruckartig wirbelte sie herum und ihre Wangen fingen Feuer. „Tut mich leid, dass ich dich vorhin so überrumpelt habe. Im ersten Moment war ich sehr schockiert und da habe ich-“


    „J-Ja.“, murmelte sie und nickte fast mechanisch, verharrte allerdings an Ort und Stelle und rührte sich nicht.


    „Wie dem auch sei, lass uns gehen.“ Eine seiner Augenbrauen wanderte nach oben, als er ihr einen flüchtigen Blick zuwarf. „Hm, Juli, habe ich etwas im Gesicht?“


    „N-Nein, nichts! Gar nichts.“ Konzentrier dich! Sie sah hastig auf den Boden, während sich ihre Finger in den Stoff ihrer Kleidung gruben und sie ihren Marsch fortsetzten. „A-Also, was machen wir noch gleich? Du sagtest Gilbert und Oscar wären verschwunden, aber ich verstehe nicht ganz, was du damit meist.“ Die nächsten Worte wollte sie nicht aussprechen. „Meinst du etwas, dass sie...dass der Vampir-“ Sie schluckte, konnte den Satz allerdings nicht beenden. Wenn das der Fall war – nein das darf es nicht. Es musste eine andere Erklärung geben. Juli zückte ihr Handy und tippte auf den Bildschirm. Im nächsten Moment erschein ein runder Lichtkegel der den Weg vor ihnen beleuchtete. Sie waren bereits den Feldweg entlanggeschlendert und waren gerade dabei in den Trampelpfad einzubiegen. Die Bäume bogen sich durch den kalten Wind, der ihr ihre Haare ins Gesicht peitschen ließ. Sie waren auf dem Weg zur Mauer, nicht?


    „Offengestanden hoffe ich, dass sie von alleine zurückkommen werden. Manche Kinder reißen von zuhause aus. Solche Dinge passieren ab und zu.“ Aber wir wissen beide, dass sie das nicht werden.


    „A-Aber-“, ihre Mundwinkel zuckten, „du hast doch die Mauer verschlossen, nicht?“ Das hast du doch?!


    „Also…der gestrige Tag war hektisch, es ist so viel passiert und-“ Sein Blick wanderte zum Boden und fixierten etwas, das sie nicht sehen konnten. Julis Hände verkrampften sich in den Stoff ihrer Bluse. Verstehe. Das war schlecht, sehr schlecht. „Ich will nur auf Nummer sicher gehen, dass sie nicht- Ich meine...“ Er senkte den Blick und ließ ihn in Richtung der Mauer wandern und da sah sie es, das Loch. Nach wie vor hatte die Mauer ein Loch. Ihr Herz zog sich zusammen.


    „Du denkst also, sie könnten nach draußen gegangen sein?“


    „Ja.“ Noel biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. „Ich meine vielleicht. Möglicherweise. Das ist immer noch das beste Szenario. Im schlimmsten Fall-“


    „Verstehe.“, schnitt sie ihm das Wort ab. Allein bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Sie erreichten das Loch in der Mauer und Bilder der letzten Wochen fluteten ihren Kopf. Das Tor zu einer anderen Welt. Sie wusste nicht, ob sie bereit war, wieder einen Fuß nach draußen zu setzen, doch ob sie nur bereit war oder nicht, spielte ohnehin keine Rolle. Hier geht es um Menschenleben, kapierst du das nicht?! Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ihre Hände bebten, doch natürlich versteckte sie sie hinter ihren Rücken. Es war stockfinster und sie hatte trotz des Lichtkegels der Taschenlampe alle Müh und Not nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Aber es ist sicher, nicht? Es muss sicher sein, sonst würde Noel doch nicht... er würde doch nicht nach draußen gehen, wenn es nicht sicher ist? „N-Noel ich-“ Ich habe Angst, aber das hält mich nicht mehr auf.


    „Wir bleiben in der Nähe der Mauer. So weit können sie in der Zeit nicht gekommen sein. Jedenfalls hoffe ich das, denn wenn nicht dann-“ Seine Stimme klang seltsam angeschlagen. Er sah nicht einmal in ihre Richtung und wandte stattdessen seinen Blick von ihr ab. Und sie wusste, dass sie nicht nachfragen würde.


    „Ja, das hoffe ich auch. Das hoffe ich wirklich. “ Noel war der erste, der sich bückte und durch die schmale Öffnung kroch und Juli folgte ihn auf Schritt und Tritt. Da waren sie wieder, am Rande einer verlassenen Stadt. Man könnte meinen das keine Menschenseele diesen Ort je betreten hätte und jegliches Leben nur eine ferne Erinnerung einer vergessenen Zeit wäre. Und doch erzählten die kleinen Gärten, die umgeworfenen Zäune und verrosteten Autos eine andere Geschichte. Für eine ganze Weile folgten sie einfach der Hauptstraße, bis Noel dann plötzlich abrupt stehen blieb. Er hatte den Kopf nach oben gestreckt und ganz leicht die Augen geschlossen, fast als ob er ihm stehen schlafen würde, aber das tat er natürlich nicht. Was für ein alberner Gedanke. Sie schmunzelte.


    „Ich kann sie riechen.“


    „Was?!“, japste sie. Riechen, was meinte er damit, er könne sie riechen?! Gilbert, Oscar, oder Vampire?“ Letzteres jagte ihr einen Schauer über den Rücken.


    „Sie sind hier. Nur…nur wo genau?“ Hier? Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Hier in dieser Gegend? Sie sind also tatsächlich hier vorbeigekommen. Ihr Magen zog sich zusammen. Im nächsten Moment zuckte er zusammen. Wieso? Was war das? Ein Lufthauch? Nein, Schritte, ganz leise, kaum hörbar, scharrten sie auf dem Boden. Es war zu spät, sie bemerkte es einen Moment zu spät. Juli strauchelte zurück, während Noel an Ort und Stelle verharrte. Ein Vampir, es muss ein Vampir sein, schoss es in ihren Kopf. Doch die Stimme war kein Vampir und kein Monster sondern-


    „Was macht ihr da? Menschen haben an einen Ort wie diesen nichts zu suchen.“ Noel zuckte nicht einmal zusammen. Nicht dieses Mal, dennoch waren seine Schultern gestrafft.


    „Wie lange verfolgen sie uns schon?“, hörte sie Noel sagen. Ein junger Mann trat aus dem Schatten. Er hatte bleiche Haut, lange, blonde Haare, die ihn bis zu den Kniekehlen reichten und an mehreren Stellen zusammengebunden waren und trug einen grauen, schlichten Mantel. Keine Angst, keine Trauer oder Freude – nichts als Leere tanzte in seinen graublauen Augen. Er lachte nicht und wirkte auch nicht verärgert und genau das ließ Unbehagen in ihr aufkeimen. Ein Mensch, es ist nur ein Mensch. Mit Menschen kann man reden.


    „Kehrt dorthin zurück, woher ihr hergekommen seid.“ Und wer ist der Mann? Wohnt er hier? Unsinn, wer würde hier schon freiwillig wohnen wollen?! Aber wenn er nicht hier wohnte, was machte er dann hier? Existierten Menschen außerhalb der Mauer?


    „Ich muss mich entschuldigen.“ Sie deutete den Anstand halber eine Verbeugung an, doch dann wanderte ihr Blick an den Mann hinauf und ihre Augen begannen zu funkeln. „Es tut mir ausgesprochen leid Sir, aber wir können leider nicht zurück. Ein Freund von uns-“


    „Das kümmert mich nicht. Menschen von innerhalb der Mauer haben hier nichts zu suchen.“ Innerhalb der Mauer?! Ihr Herz machte einen Satz. Was hatte das zu bedeuten?!


    „J-Ja natürlich.“, presste sie hervor, machte jedoch keine Anstalten umzukehren. Stattdessen verharrte sie an Ort und Stelle. Wieso war ihr das nicht schon vorhin aufgefallen? Noel hatte den Mann vor ihr bemerkt, nur wann? Verfolgte er sie schon, seitdem sie Fuß in die Stadt gesetzt hatten? Es spielte keine Rolle, sie würde hier nicht einfach kleinbeigeben. Er war immer noch ein Mensch und sie war schon einen Vampir gegenübergestanden. Ihr Mund wollte sich nicht öffnen. Wie schlimm konnte ein Mensch schon sein?


    „Falls es ihnen nicht aufgefallen sein sollte, verschwinden immer wieder Menschen innerhalb der Mauer. Wir sind auf der Suche nach jemanden und wir werden nicht umkehren, bis wir ihn gefunden haben. Wenn sie wissen, wie gefährlich der Ort ist, wieso unternehmen sie dann nichts dagegen? Kann ich sie das fragen?!“ Das war keineswegs eine Frage. Seine Stimme war bestimmt. Ein Schwert, schoss es ihr in den Kopf und ihr Herz stoppte fast. Jetzt erkannte sie den Gegenstand auf den Rücken des Mannes und ihr Hals fühlte sich mit einem Male ganz trocken an. „Immerhin sind sie doch ein Vampirjäger, nicht? Dürfte das dann nicht ihre Aufgabe sein, die Menschen zu schützen und nicht sie zu bedrohen? Sie müssten doch bestens über die Vorfälle der letzten Wochen unterrichtet sein, oder etwa nicht?“ Der Fremde wandte kurz den Blick ab und seine Hand wanderte zu seinem Kinn. Er antwortete nicht. „Dann liege ich also richtig. Scheint ja großartig zu laufen. Ich mein ja nur, da fühlt man sich doch gleich sicher. Ist ja nicht so, als ob wir die Nächsten sein könnten. Oder warte-“, Spott tanzte in seinen grünen Augen, „es hat ja bereits zwei weitere erwischt. Dann wären wir wohl bereits bei drei. Aber was machen schon ein paar Menschenleben?“


    „Das-“, setzte der Mann an und verstummte. Ein Vampirjäger? Der Mann war ein Vampirjäger. Dieses Kind?! Nein, ein Kind war er nicht. Er wirkte zwar auf den ersten Blick jung, war jedoch ein guter Kopf größer als sie und auch wenn er weiche, jugendliche Gesichtszüge haben mochte und seine Wimpern lang und geschwungen waren, war seine Stimme dennoch tief. Er sprach monoton, dumpf und kalt. Nein nicht kalt, vielmehr feststellend.


    „Ihr solltet gehen.“, murmelte der Mann in einen immer gleichbleibenden Tonfall.


    „Ja ja, ich weiß. Es ist ihre Aufgabe uns fernzuhalten und das machen sie auch ganz wunderbar, nur werden sie uns nicht so leicht wieder los, und wenn ich mich nicht sehr irre, und dafür muss ich mich nicht mal wirklich aus dem Fenster lehnen, gehe ich mal stark davon aus, dass ihr Befehl nicht lautet uns irgendein Haar zu krümmen. Nicht wahr?“ Diesmal antwortete der Mann nicht, stattdessen beobachtete er Juli und Noel dabei, wie sie begannen ihren Weg fortzusetzen. Erst verfolgte er sie mit einem losen Blick, dann setzte er sich selbst in Bewegung und für eine kurze Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, ohne dass irgendeiner der drei etwas sagte. Sie hätte Noel gerne so einiges gefragt, aber mit Herrn Vampirjäger an ihrer Seite, wäre ihr das wohl kaum möglich. Sie konnte seinen Blick deutlich in ihren Nacken spüren und er würde ihr keine Gelegenheit geben, noch ein paar ernste Worte mit Noel zu wechseln. So konnte das nicht weiter gehen. Die Stille ließ sie bei jedem Geräusch zusammenfahren. Jemand musste doch irgendetwas sagen?! Sie bahnten ihren Weg durch Schutt und Gerümpel zu einem alten Haus.


    „Sag mal Herr Vampirjäger, sie haben doch bestimmt einen Namen, nicht? Wir können sie ja wohl kaum einfach Vampirjäger nennen?“, durchbrach Juli als erste die beklemmende Stille.


    „Einen Namen?“ Während seine Mimik gleich blieb, änderte sich seine Stimmlage unmerklich und wurde am Ende des Satzes lediglich um eine Nuance höher. Als er wieder zu sprechen begann, warf er ihr nicht einmal einen flüchtigen Blick zu. „1023“ 1023 …eine Nummer? Welche Eltern gaben ihrem Kind denn bitte eine Nummer als Name?!


    „So können wir sie doch nicht nennen?! Sie haben doch bestimmt einen richtigen Namen?!“


    „Name?“ Wiederholte der junge Mann, widmete dem gesagten dann allerdings nur wenig Aufmerksamkeit. Es schien lediglich etwas in seinem Vokabular zu sein, das ihm nicht gängig war. Aber jeder brauchte doch einen Namen?! Wie könnte er den bitte keinen haben?!


    „Gut, dann ist es beschlossen! Ab heute heißt du Freitag.“ Weil heute Freitag ist. Sie hörte ein Schnauben von Noels Richtung. Wenigstens amüsierte sich einer. Wie gut, dass sie solche Dinge auch ausblenden konnte. Freitag war jedenfalls ein umwerfender Name für einen jungen Mann. Der Mann schielte zu ihr, dann zu Noel, erwiderte allerdings nichts und damit widersprach er ihr auch nicht. Gerade als er wieder seinen Mund öffnete, kam ihm Noel zuvor.


    „Da sie uns ja bereits auf Schritt und Tritt folgen, wie wäre es, wenn wir uns für den Moment zusammentun? Immerhin werden wir dann bestimmt schneller fertig und sie können sich wieder Wichtigerem widmen. Und Zeit ist ja bekanntlich Geld, nicht? Das sehe ich doch richtig?“ Sehr gut Noel. Für einen Moment schien es tatsächlich so, als ob er die Oberhand über das Gespräch gewinnen würde. Und all das tat er mit einem galanten Lächeln. Nur wenn man genau hinsah, konnte man seine Mundwinkel zucken sehen.


    „Hm. Ich kann ihrer Logik leider nicht folgen.“


    „Eh?!“, japste Noel. Wie akward. „T-Tja, da kann ich ihnen leider auch nicht helfen.“ Noel beschleunigte eiligst seine Schritte und warf dem Mann nicht einmal einen flüchtigen Blick zu. „Aber nett sie kennengelernt zu haben. Wir haben es nur leider sehr, sehr eilig, aber sie meinten ja, sie seien beschäftigt, also kein Ding. Keine Sorge wir finden den Weg auch alleine. Einmal geblinzelt und wir sind auch schon wieder zurück hinter der Mauer. Man könnte meinen wir hätten die Zone nie verlassen. “ Für einen Moment sah Freitag ihnen lediglich nach und blieb wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen. Erst als sie sich ein paar Schritte fortbewegt hatten, begann er ihnen erneut zu folgen, dieses Mal allerdings mit einen etwas größeren Abstand.


    „Noel, siehst du das?“


    „Ja ich weiß. Er folgt uns.“, zischte er.


    „Meinst du er denkst, dass wir ihn nicht sehen? Sollten wir nicht mit ihm sprechen? Wir können nicht ewig so tun, als ob er nicht da wäre.“ Noel warf einen Blick über die Schulter und schüttelte den Kopf.


    „Können wir nicht?“ Der Mann beobachtete sie immer noch mit Argusaugen. Das war... mehr als nur beunruhigend. Die Stille bohrte kleine Löcher in ihre Brust, die sie erschaudern ließen.


    „Also gut, wie wäre es mit einen Gesprächsthema? Also Freitag, wo wohnst du eigentlich? Ich meine, jeder kommt doch von irgendwoher?“ Was faselte sie da?! Etwas Besseres war ihr nicht eingefallen?! Sie zwang sich zu einem Lächeln. Er war ein gutes Stück entfernt von ihnen und auch wenn sie sich nicht umgedreht hatte, müsste er sie dennoch gehört haben. Die Frage beantwortete er trotzdem nicht, was die Situation noch viel unangenehmer machte, als sie ohnehin schon war. Genauer gesagt, sagte keiner der beiden etwas. Sie verweilten eine ganze Weile schweigend, bis Noel dann schließlich stehen bleib.


    „He, schau mal Juli! Siehst du das Herrenhaus da?! Sieht doch echt krass aus, nicht? Also wenn ich jemand wäre, der hier rumirren würde, was ich natürlich nicht bin, aber stell dir vor ich wäre so jemand, dann würde ich bestimmt genau dort Zuflucht suchen.“ Krass? Was war das denn bitte wieder für eine Geheimsprache? Spürt er Gilbert in dem Haus? Wollte er ihr das damit sagen? Wie ärgerlich, wenn der Typ bei ihnen war, konnten sie sich nicht einmal mehr normal Unterhalten. Und angenommen, nur angenommen, Gilbert befände sich tatsächlich in dem Haus, bestand dann die Möglichkeit, dass Oscar es ebenfalls täte? Freitag warf ihnen Blicke zu, die sie nur als Verwunderung deuten konnte. Nicht, das sich groß etwas an seiner Mimik änderte. Lediglich eine Augenbraue wanderte für einen flüchtigen Augenblick nach oben.


    „Eine ausgezeichnete Idee Noel! Lass uns dieses Haus genau unter die Lupe nehmen. Du kommst immer auf die besten Ideen.“, pflichtete sie ihm bei und fühlte sich insgeheim wie zwölf, als es noch in Mode war, mit Geheimtinte versteckte Nachrichten zu schreiben.


    „Was macht ihr da?“, drang Freitags trockene Stimme an ihr Ohr.


    „Eh... Sightseeing?“, stotterte sie halbherzig. Sight was?! Wo kam das denn jetzt bitte her?!


    „Wir denken unser Freund ist hier drinnen. Ist ein schönes Haus, nicht? Jedenfalls würde ich mich in einem Haus sicherer fühlen als auf der offenen Straße, finden sie nicht auch?“, half Noel ihr, nicht das es da noch viel zu retten gab.


    „Drinnen?“, murmelte der Blonde. „Dort würde ich nicht rein gehen. Wenn er dort drinnen ist, dann ist er vermutlich schon tot.“ Ihr Herz rutschte in ihre Hose. Tod. Dann sind sie wahrscheinlich schon Tod.


    „Hältst du uns denn auf?“ Noel zwang sich zu einem lockeren Lächeln. Und was genau befindet sich dann in diesem Haus? Ein eiskalter Schauer jagte über ihren Rücken und ihre Nackenhaare stellen sich auf. Reiß dich zusammen. Sie konnten tot sein. Sie konnten aber auch noch leben.


    „Dafür habe ich keine Anweisungen erhalten.“


    „Gut. Na dann Juli, kommst du?“


    „J-Ja! Aber natürlich!“ Etwas unheilvolles lag in der Luft. Das Herrenhaus war alt, manche Scheiben eingeschlagen, andere intakt und der Putz blätterte bereits an einigen Stellen von den Wänden. Mehrere Kletterpflanzen kraxelten die Wände empor. Ein Knarren war zu hören, als Noel die Türklinke hinunterdrückte und die Tür langsam öffnete. Es war still, keiner sagte etwas nur das Klappen von drei Schuhpaaren hallte vom staubigen Parkettboden. Ihre Beine fühlten sich weich an und doch stoppte sie nicht in ihrem Schritt, auch wenn ihr Herz wie wild gegen ihren Burst hämmerte. An den Wänden hingen Bilder, doch wenn man genauer hinsah, waren die Gestalten verzerrt, die Gesichter entstellt und kaum erkennbar. Ein Großteil der Farbe war bereits ausgebleicht, ein anderer Teil abgeblättert. Manche Räume hatten Tapeten, andere waren komplett in weiß gestrichen. Abgesehen davon, waren fast alle Räume spärlich möbliert. Aus dem Augenwinkel heraus bildete sie sich ein, etwas Weißes in den Ecken des Raumes erkennen zu können. Etwas, das sich in die hinterste Ecke des Raumes verzogen hatte. Dieses Etwas bewegte sich. Was?! Hatte sie sich das gerade nur eingebildet? Überall hingen Spinnweben. Juli hatte in ihrem gesamten Leben noch nie so viele Spinnweben gesehen, wie in diesem Haus. Oder waren es überhaupt Spinnweben? Die langen, klebrigen Fäden zogen sich durch den gesamten Raum und der bloße Anblick ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Ein widerlich süßlicher Gestank kroch in ihre Nase. Da war noch etwas anders. Schimmel? Vermodertes Holz? Der Geruch kam ihr bekannt vor. Woher? Etwas bewegte sich in dem weißen Zeug, als ob es ein Eigenleben entwickelt hätte. Ihr Herz machte einen Satz und ihr Hals schnürte sich zu. Sie wollte schreien und schaffte es gerade noch, ihre Hand vor den Mund zu schieben. Die Glieder des Wesens dehnten sich, formten einen neuen Körper und dann... stand ein Kind mit langen schwarzen Haaren und drahtigen Gliedern vor ihnen. Ein stechender Geruch nach faulen Eiern breitete sich im Raum aus.


    „Bist du gekommen, um mit mir zu spielen?“, hörte sie das Kind sagen, als es in den Lichtkegel der Taschenlampe trat. Ihre Augen weiteten sich. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ihr Puls begann zu rasen. Jemand zupfte an ihrem Ärmel und sie erhaschte einen Blick auf Noel, der ganz vorsichtig einen Schritt zurücktrat.


    „He, du da? Die anderen Kinder waren so schrecklich schlechte Spieler, aber du bist doch bestimmt ein guter Spieler, oder?“ Die Anderen?! Dann hörte sie einen dumpfen Schrei, sah wie sich etwas in den Inneren des weißen Organs bewegte. Ganz leise, kaum hörbar.



    Hilfe. Helft uns. So helft uns jemand. Ein Kopf trat aus den Spinnweben hervor und ihr Herz fast, als sie ihn wiedererkannte.



    Dann passierte alles ganz schnell. Ihr Herz explodierte fast. Etwas viel dumpf auf den Boden und bleib liegen. Stimmen surrten um sie herum und Lärm, nein Schreie, dröhnten in ihrem Ohr.


    „Gemein, gemein, gemein! Spielverderber! Bleib weg, verschwinde. Langweiliger Spielverderber. Niemand mag dich. Dummes Kind. Ich hasse dich. Sie waren dumme Spieler, wir haben nichts Falsches gemacht. Dumme Spieler gehörten bestraft.“ Und plötzlich waren sie überall, kamen von überall, doch der Junge mit dem blonden Haar zuckte nicht einmal zusammen, sondern hechtete an ihr vorbei nach vorne.

  • XXVI Inmitten der Nacht Teil II


    Gilbert


    Zwischen diesem und jenem Moment lagen lediglich Stunden




    Kinder, Kinder, es sind doch nur Kinder! Das passiert gerade nicht wirklich. Gilberts Herz hämmerte wie wild gegen seine Brust. Und gleich würde es zerbrechen. In tausend kleine Stücke zersplittern. Kalter Schweiß klebte auf seiner Stirn. Seine Augen mussten ihn einen Streich spielen. Oder bin ich verrückt geworden?!, echote eine Stimme. Das ist alles die Schuld von diesem Noel. Ohne ihn wären wir jetzt nicht hier. Das ist alles Oscars Schuld. Wieso hört er nie auf mich? Wieso muss er immer nur Probleme bereiten? Wieso kann er sich nicht einmal zusammenreisen? Wieso muss er sich alles immer so zu Herzen nehmen? Eine Stimme übertönte alle andere. Das wollte ich nicht. Er riss die Augen auf, während sein Atem fast stoppte. Gilbert strauchelte zurück, als sich das Gedärm aus langen, weißen Fäden aufblähte und stetig, mit jedem Atemzug, näherte. Nein, in Wirklichkeit ist das alles – Stopp!


    „Verpisst euch!“, brüllte er. Ein erstickender Laut verließ seine Kehle. Ich muss Träumen. Das ist nicht möglich. Im nächsten Moment wirbelte er herum. Seine Hände gruben sich in die Schultern seines Bruders. Das ist Irrsinn. Absoluter Wahnsinn! „Hör mir jetzt gut zu Oscar, wir gehen nach Hause, hörst du?!“ Gilbert sah zu seinem Bruder, doch der erwiderte seinen Blick lediglich mit einem müden Lächeln. Oscar weinte nicht, sah ihn nicht einmal in die Augen und hob auch nicht seinen Blick vom Boden ab.


    „Es tut mir leid, so leid, aber ich glaube nicht, dass wir hier wieder rauskommen werden. Das ist meine Schuld. Du hattest Recht, ich bereite nur Probleme.“ Er weinte nicht, schrie nicht. Sein Tonfall war belegt, seine Augen trüb und resigniert. Oscar erzähl keinen Scheiß!


    „Wir sterben nicht. Hast du gehört Oscar?! Sag so einen Scheiß nie wieder, sonst- Sonst!“ Sonst was? Er packte seinen Bruder an den Schultern und schüttelte ihn. „Ich hol uns hier raus, verstanden?! Also hör schon auf zu flennen! “, krächzte er. „Du bist immer nur am Rumheulen weißt du? Und immer beschwerst du dich nur. Das kotzt mich an! Du bist so eine verdammte-“ Seine Stimme brach und etwas Nasses kullerte über seine Wange. Er zuckte zusammen, rang um Atem als eine Stimme ihn aus seiner Trance riss.


    „Lass uns ein anderes Spiel spielen.“, hörte er sie surren. „Wir nennen es Flaschenwerfen. Flaschendrehen spielen Menschen auf Festen. Das ist lustig und auch ganz einfach. Die Regeln sind simpel. Ihr bekommt ein Ball und werft ihn auf die Flasche.“ Gurgeln echote im Raum. „Das bekommt ihr doch hin?“ Aus dem weißen Fadenwirrwarr traten weitere kleine Kreaturen hervor. Sein Herz stoppte fast und er spürte die raue Wand an seinen Rücken, als er einen weiteren Schritt zurücktrat. „Nun macht schon, nun macht schon! Wir warten nicht gern!“, fauchten sie. Eine matte Mettalkugel, kullerte aus der Dunkelheit vor ihre Füße. „Einer stellt sich in den Lichtkegel, der andere wirft.“ Fahles Licht fiel vom Fenster auf die staubigen Holzdielen. Sein Herz machte einen Satz und er riss augenblicklich denn Kopf nach oben.


    „Wo bleiben die Flaschen?“, wisperte er halblaut. Da waren keine Flaschen? Wieso waren da keine Flaschen?!


    „Dummer Junge, dabei ist das Spiel so einfach. Einer stellt sich ins Licht, der andere wirft. Ein ganz lustiges Spiel und wir schauen zu. Für den Kopf gibt es Extrapunkte“ Seine Kehle schnürte sich zu. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an und sein Herz begann schneller zu schlagen. Das ist Irrsinn!


    „Seid ihr Wahnsinnig?!“, keifte er heißer. „Das kommt gar nicht in Frage! Ihr habt wohl den Verstand verloren, aber da spielen wir nicht mit! Oscar?!“ Gilbert warf seinen Bruder einen flüchtigen Blick zu und griff reflexartig nach seiner Hand. Die verzerrte Grimasse, die er dort entdeckte, ließ sein Herz in die Hose rutschen. Gleichzeitig zog er ihn zu sich, Richtung Tür. Alles wird gut. Alles wird gut, ich verspreche es dir Oscar. Ich bringe uns beide hier raus. Und dann reden wir - ich, du, Schwester - so wie wir es schon vor langer Zeit hätten tun sollen. Er spürte Blicke in seinen Nacken und wieder echote der Gleiche Gedanke in seinen Kopf. Es sind doch nur Kinder! Was können mir Kinder schon groß tun?! Doch seine Stimme bebte und seine Beine waren so weich, dass er befürchtete jeden Moment auf die Knie zu sinken. „Komm jetzt, wir gehen nach Hause Oscar. Schwester macht sich schon Sorgen.“, hörte er seine eigene, kratzige Stimme. Doch Oscar blieb mit einem Mal ruckartig stehen und bewegte sich nicht von der Stelle. Rührte sich nicht. Seine Hände waren schwitzig, sein Gesicht kreidebleich und ausdruckslos.


    „Was für einen dummen Bruder du doch hast mein lieber Oscar, dabei wollten wir nur ein kleines lustiges Spiel spielen. Der kapiert nicht einmal die einfachsten Spielregeln, dabei haben wir sie ihn so toll erklärt.“ Im ganzen Raum hallte ein Gurgeln wider. „Wer hat gesagt das ihr ablehnen dürft? Was meinst du Oscar, was soll man mit jemand machen, der sich nicht an die Regeln hält? Sag schon.“, summten die Stimmen wie im Kinderchor. „Wir hassen Spielverderber.“ Im nächsten Moment hörte er ein Pfeifen, dann Schreie. „Wenn er nicht hört, dann musst er bestraft werden.“


    „Bestraft muss er werden!“


    „Bitte nicht!“ Oscar stürzte nach vorne und löste sich aus Gilberts Griff. In dem Moment lachte das Kind. Ein hohles Lachen, bei dem sich Mundwinkel auf groteske Art nach oben zogen. Gilbert konnte nicht schreien, konnte sich nicht rühren, konnte lediglich zusehen wie sein Bruder auf die Knie sank und die Hände vor die Brust faltete. Und all das jagte einen Schauer über seinen Rücken. „Bitte tut ihn nicht weh, er meint das nicht so!“, schrie er, wimmerte er, bis aus dem Wimmern ein Flehen wurde.


    „Aber Oscar-“, säuselte das Kind mit den schwarzen Haaren und drahtigen Gliedern, „wenn es nicht seine Schuld ist-“, der Kopf drehte sich fast mechanisch, „wessen Schuld ist es dann?“


    „Meine.“, platzte es aus ihm heraus. Erstickende Laute eines Kindes. „Es ist meine.“, wisperte er, während sich seine Finger in das weiße Gewand des Kindes gruben. Tränen kullerten über rote Wangen. „Also bitte, ich flehe euch an, bestraft mich!“


    Etwas begann in seinen Kopf zu rattern, wie rostige Zahnräder einer verstaubten Uhr. Wenn ich traurig bin, dann wein ich nicht, denn wer will schon andere traurig machen? Wenn ich glücklich bin, dann behalte ich es für mich, den wen interessiert das schon? Wenn ich daneben sitzen darf und lausche, dann ist das genug für mich. Und wenn ich jemand damit helfe, wenn ich – Oscar! Gilberts Hals schnürte sich zu.


    „Nicht. Stopp!“, hallte Gilberts Schrei, wie ein Echo durch den Raum. Hör auf damit. Sag so etwas nie wieder. Wag es nicht einmal so etwas zu denken Oscar! Im nächsten Moment passierte alles ganz schnell. Gilbert wollte sich von der Wand abdrücken, doch knochige Finger schlangen sich um seine Handgelenke. Er versuchte zu schreien, zu protestieren, sich loszureißen und die wenigen Meter zwischen ihn und seinen Bruder zu überbrücken. Die weit aufgerissene Augen seines Bruders, Schreie die ihm galten, ein stechender Schmerz, ausgehend von seiner rechten Hand, die erst zu brennen, dann zu stechen begann, begleitet von höhnenden Stimmen, waren die letzten Momente, die vor seinen Augen tanzten. Die Welt verschwamm und dunkle Flecken benebelten sein Sichtfeld. Das Knacken von Knochen wurde zu einem Flüstern im Hintergrund.


    „Ab damit, ab damit.“ Immer und immer wieder echote die immer gleichen Worte durch den Raum. „Ihr seid beide ganz schrecklich langweilige Spieler. Und wir hassen langweilige Spieler.“ Er sah seine Hand, die in die Richtung seines Bruders ausgestreckt war und verschwommene Konturen, die er bereits nicht mehr identifizieren konnte. Dann sah er nichts mehr. Den Schrei hörte er nicht mehr. Am Ende war selbst das Flüstern und verebbt und nichts als Stille blieb zurück.


    ___________

    Ich... hab zur Zeit ein paar Probleme mit Word -.- Das hat mir doch tatsächlich nen ganzen Absatz von nem Kapitel gelöscht. Zwar hab ich ein Backup, das ist allerdings noch nicht korrigiert. Schlussendlich ist es wohl nur ne Seite, trotzdem ärgerlich. Oh, und ich prokrastiniere mal wieder beim Korrekturlesen XD Bei dem Kapitel musste ich sehr viel zensieren weil die ursprüngliche Variante länger und... *hust* blutiger war. Hab ein wenig ausgeblendet das ich die Szenen mal geschrieben hatte. XD DARAN konnte ich mich gar nicht mehr erinnern XD Notiz an sich selbst: Tritt dir in den Hintern und korrigiere endlich ´^´


    Das wars auch schon. Schönes Wochenende :3


    Lg Sinya

  • XXVI Inmitten der Nacht Teil III


    Gilbert



    Wenn eine einzige Säule ein ganzes Haus trägt, was passiert, wenn sie bricht, und was ist mit den Menschen, die darunter stehen? Gilbert hatte sich nichts öfters gefragt. In seinen Träumen saßen sie zu dritt am Esstisch, lachten, alberten herum und redeten über dies und das. In seinen Albträumen standen sie vor fremden Türen, wurden von Verwandten zu Verwandten weitergereicht und verweilten nirgends lange genug, als das sie sich die Gesichter hätten einprägen können. Und alles, was diese und jene Zukunft voneinander trennte, war eine einzige Säule. Wieso sollte er derjenige sein, der sich aufopferte, der sich bemühte? Wieso konnte er seine Hände nicht einfach an seine Ohren pressen, so fest das nicht einmal die lautersten Stimmen ihn erreichen könnten? Wieso sollte ihn nicht all das zustehen?



    ~+~



    Waren das…Stimmen? Ich spüre meine Beine nicht mehr. Irgendwann war er erwacht, wie viele Stunden vergangen waren, konnte er jedoch nicht sagen. Es war stockfinster. Dumpfe Geräusche drangen an sein Ohr, aber wer weiß, vielleicht bildete er sich selbst das nur ein. Bin ich tot, oder spielt mir mein Kopf nur einen Streich? Niemand wird für euch kommen. Wieder Stimmen. Das allein reichte, um einen kleinen Hoffnungsschimmer aufkeimen zu lassen. Wenn er doch nur schreien könnte, seinen Mund nur ein Stück weit öffnen könnte. Da redete tatsächlich jemand, wer genau konnte er nicht sagen. Gilbert hatte das Gefühl mit jeder Sekunde weniger Sauerstoff zu bekommen und vielleicht ließ ihn das Dinge hören, die gar nicht da waren. Wahrscheinlich wäre es vergebens wenn er jetzt versuchen würde um Hilfe zu schreien.


    „He großer Bruder, spielst du etwas mit uns? Die anderen Kinder waren so schrecklich schlechte Spieler.“ Aber ich muss es probieren.


    „Hilft uns, wir sind hier. Bitte. Ich flehe euch an.“ Ein erstickender Laut verließ seine Kehle. Niemand antworte ihn. Sein Herz pochte schwach gegen seine Brust. Jede Bewegung wog schwer. Er spürte die Fäden an seiner Haut und Lippen und jetzt auch in seinen Mund. „H-Hilf-“ Mehr bekam er nicht hervor. Schritte scharrten auf den Boden und sein Herz begann etwas schneller zu schlagen. Alles, was er tun konnte, war den Geräuschen zu lauschen.


    „Gemein, gemein, gemein! Spielverderber. Langweiliger Spielverderber! Kinder der Sonne müssen brennen. Niemand mag dich. Stirb dummes Kind. Ich hasse dich. Sie waren dumme Spieler. Wir haben nichts Falsches gemacht. Dumme Spieler gehörten bestraft. Bestraft gehören sie!“ Im nächsten Moment war nichts als ein Surren zu hören und mit einen mal lockerten sich die Fäden, die so fest gespannt waren, das er das Gefühl gehabt hatte, sie würden in seine Haut schneiden und ihn das Blut abdrücken. Dann viel er mit einem plumpen Geräusch auf den Boden. Eine Silhouette eines kleinen Körpers lag neben ihn, doch sein Blick war zu verschwommen, als das er sie genau hätte identifizieren können. Oscar?


    „Setz euch in Bewegung!“, hörte er jemanden rufen und wie er den Kopf hob, erkannte er die verschwommenen Umrisse einer Frau in einem roten Gewand. Was passiert hier nur?! Noel stand neben ihr. Seine Augen waren weit aufgerissen, doch er sah nicht zu Gilbert, sondern in eine andere Richtung. Nanu? Mit einem Kribbeln kehrte das Gefühl in seinen Beinen zurück und er konnte sich wieder aufsetzen. Halb benommen drückte er sich vom Boden ab. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Lautes Kreischen ertönte, doch als er herumwirbelte, war es bereits zu spät. Er konnte nichts machen, konnte nur zusehen, was als nächstes passierte. Zwei Wesen stürzten sich auf ihn. Die Schattengestalten quickten als plötzlich, wie aus dem nichts, ein Schwert auf sie niederprasselte und sie mit einen schmatzenden Geräusch in zwei Hälften teilte. Etwas von der widerlichen Flüssigkeit spritze in sein Gesicht und er strauchelte zurück. Gilbert schnappte nach Luft, als sein Herz fast stoppte. Ein Mann mit langen blonden Haar stand vor ihn. In seiner Hand hielt er ein Schwert an dem eine seltsame viskose, rote Flüssigkeit klebte. Blos weg von hier! Dann begann er sich in Bewegung zu setzten. Seine Beine wollten jeden Moment nachgeben, doch er zwang sich dazu nicht stehen zu bleiben, einen Fuß vor den anderen zu setzten und der Adrenalinschub gab ihn die Kraft dazu. Ließ ihn den stechenden Schmerz ausblenden. Nun komm schon, reis dich zusammen!


    „Oscar, steh auf. Wir müssen von hier weg.“, krächzte er und knirschte mit den Zähnen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ich lass uns hier nicht sterben! Er wartete nicht auf die Antwort, sondern zog seinen Bruder wieder auf die Beine. Gilbert kannte den blonden Mann nicht, nicht einmal als flüchtige Bekanntschaft, als sein Blick dann allerdings auf Rosemarie und Noel fiel, zog sich etwas in ihm augenblicklich zusammen. Wieso sind die hier? Was machen die hier?! Sie sind doch nicht gekommen um- Für einen Moment verharrte er an Ort und Stelle, während eine dumpfe Vorahnung zu einer Realisation wurden. Seine Arme und Beine kribbelten und eine Stimme in seinem Kopf wurde zunehmend lauter. Wart nicht hier du Idiot! Nimm deine Beine in die Hand. „Wir müssen von hier weg!“, wiederholte er fast mechanisch. Gilbert zuckte zusammen und schnappte nach Luft. Eines der der Kinder stellte sich ihnen in den Weg. Die drahtigen Glieder standen unnatürlich von dem kleinen Körper ab. Es lachte und ein Mund mit mehreren Zahnreihend aus kleinen, spitzen Zähnen wurde entblößt, dann raste es auf die beiden zu. Der Blondhaarige, warf ihnen einen flüchtigen Blick zu und stieß sich von staubigem Boden ab. Gilberts Augen weiteten sich als eine Klinge auf das Wesen niederprasselte und zwischen den beiden Schulterblättern landete. Ein ganz abscheuliches Knacken war zu hören, dann stürzte es zu Boden. Doch der Mann schenkte dem Wesen keine Aufmerksamkeit mehr, stattdessen bückte sich und schaffte es gerade noch den spitzen Fingernägeln, die sich in seine Schulter bohren wollten, zu entgehen. Er rollte sich zur Seite ab und kam im selben Moment wieder zum Stehen. Ein weiterer Körper schmiss sich gegen ihn, brachte ihn ins Wanken und lies ihn gegen die Wand krachen. Der blonde Mann schrie nicht, sein Gesicht verzog sich nicht, nicht einmal für Sekunden, obwohl er ganz offensichtlich Schmerzen haben musste. Er ging auf die Knie, stieß sich jedoch einen Bruchteil später wieder von der Wand ab und versenkte sein Schwert in den fremden Körper. Wieder das gleiche Knacken von Knochen, das Gilbert erschaudern ließ. Der Fremde ging reflexartig auf die Knie, duckte sich und entging so in letzter Sekunde den nächsten Hieb eines weiteren Gegner. Dieser kam ins straucheln und der Blonde nutzte diese Gelegenheit um den Griff seines Schwertes in die Magengrube des Gegners zu versenken. Das Wesen ächzte und fluchte, Worte die Gilbert nicht verstehen konnte, und klappte in sich zusammen. Ein ohrenbetäubendes Kreischen erfüllte den Raum. Blut tropfte auf den staubigen Boden. Aber damit stoppte es nicht. Es wird nie stoppen. Gilberts Herz sank, als weitere dieser Kreaturen hervortraten. Immer mehr und mehr.


    „Stirb, stirb, sitrb!“, hörte er sie immer und immer wieder schreien. Reflexartig schob der Fremde sein Schwert vor seinen Körper, wirbelte herum und blockte den ersten Hieb, während er den zweiten konterte. Eine Klinge sauste durch die Luft. Wieder ertönten Flüche. Es ist ausweglos. Der hat keine Chance. Sein Hals wurde trocken und schnürte sich zu.


    „Komm!“, zischte Gilbert und zog seinen Bruder hinter sich her. Seine Hände zitterten. Ein weiterer Körper wurde gegen die Wand geschmettert und ließ ihn zusammenfahren. Das Wesen zuckte immer noch, versuchte seine knochigen Finger um Gilberts Knöchel zu legen, doch dieser stolperte unbeholfen zur Seite und schlug eine andere Richtung ein. Nein, nein, ihr bekommt mich nicht!, echote es immer wieder in seinen Kopf. Wer würde dann auf Oscar aufpassen? Wer ihn zurück nach Hause bringen? Er durfte hier nicht drauf gehen. Seine Hände waren schwitzig, als er die Türklinke hinunterdrückten. Nicht gut, überhaupt nicht gut, wo sind wir hier? In welchem Stockwerk befanden sie sich?! Nicht einmal das konnte er mit Sicherheit sagen. Die Tür viel mit einem Knall zu. Sein Herz hämmerte wie wild gegen seine Brust, als die Schreie des Kampfes zu dumpfen Lauten wurden. Weg von hier, bloß weg von hier! Er begann sein Schritttempo anzuziehen und hatte gleichzeitig das Gefühl als ob die Luft gewaltsam aus seinen Lungen gepresst werden würde.


    „Ich kann nicht mehr.“, wimmerte Oscar. „Meine Beine-“, keuchte er atemlos, dann sank er auf die Knie. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. „Ich will nicht mehr. Sie bekommen uns so oder so. Das hat doch alles keinen Sinn.“ Seine Hände wanderten zu seinen roten Augen. Die Welt ums sie herum war still geworden. Lediglich ihre eigenen Schritte hallten jetzt noch vom Boden, doch anhalten wollte er, nein konnten sie, nicht. Wenn wir stehen bleiben, dann werden sie uns einholen und-


    „Hör auf so etwas zu sagen! Beweg dich Oscar, wir können hier nicht bleiben!“, hörte er sich selbst sagen, doch seine Stimme bebte. „Alles wird gut werden, verstanden?! Wenn dein großer Bruder das sagt, dann muss es stimmen. Hörst du?!“, verlies ein Wimmern Gilberts Kehle. „Dein großer Bruder lügt nicht, also hör auf zu heulen! Ich tue es nämlich auch nicht. Hast du gehört?!“ Gilbert schaffte es Oscar wieder auf die Beine zu ziehen, doch mit jedem Schritt wurden sie zunehmend langsamer, bis sie schließlich zum Stehen kamen. Jedes noch so kleine Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Die seltsamen Wesen folgten ihnen nicht mehr. Seltsam, wieso? Hatten sie die Verfolgung etwa tatsächlich schon aufgegeben? In den Raum den sie erreicht hatten, stand ein einziger einsamer Spiegel neben einem Fenster, ansonsten war auch dieses Zimmer komplett leer. Also gut-


    „Wir machen eine Pause, aber nur für ein, zwei Minuten, dann müssen wir weiter gehen.“ Und ich werde die Gelegenheit nutzen und aus dem Fenster sehen, mal sehen, ob ich herausfinden kann, wo wir uns gerade befinden. Wenigstens das Stockwerk wäre interessant. Er machte sich keine großen Hoffnungen, dass sie einfach aus den Fenster springen könnten, dennoch sollte er die Möglichkeit nicht ganz von der Hand weisen.


    „Du Bruder sag mal, findest du den Spiegel nicht auch irgendwie seltsam?“ Gilbert beugte sich über den Rand des Fensters und sah nach unten. Eine Welt in Trümmern lag vor ihn, fast wie eine Ruine aus alter Zeit. Alte, verwahrloste Straßen, überwucherte Gärten und eingestürzte Häuser. Nicht gut, das ist sicherlich mindestens der zweite Stock. Sie konnten unmöglich nach unten klettern, das war ausgeschlossen. Wo könnte die Treppe sein, denk nach Gilbert!


    „Hm? Was meinst du? Wovon redest du?“, murmelte er und eine Hand fuhr zu seinem Kinn, dann drehte er seinen Kopf ganz leicht in Oscars Richtung. Lediglich aus dem Augenwinkel heraus konnte er Oscars Reaktion beobachten. Sein Bruder hatte den Blick zum Boden gesenkt, rührte sich nicht von der Stelle und weigerte sich aufzusehen. Was ist denn jetzt schon wieder los? Gilberts Blick wanderte zum Spiegel und er verengte die Augen zu Schlitzen. Nanu was… ist das? Auf der Oberfläche des Spiegels tanzten dunkle, wabernde Schatten. Wie eine dünne Schicht aus Eis trennte er diese Welt von der nächsten. Gilberts Herz schlug schneller, stoppte fast. Seine Fingerspitzen berührten gerade die glatte Oberfläche, als mit einem Male, plötzlich wie aus den nichts, alle Blicke zu ihm fuhren. Leere, weiße Augenhöhlen, die ihn ins Visier genommen hatten. Im nächsten Moment stand niemand mehr an der Stelle, wo Gilbert bis eben noch gestanden hatte.


    Der Schrei seines Bruders war zu einer entfernten Stimme aus einer anderen Welt geworden. Wie er seine Augen wieder öffnete, war er allein in einer ihm fremden Welt.

  • Hallo,


    zuerst einmal: Personen über ihre Haarfarbe, wie etwa „Der Blondhaarige“, zu beschreiben, ist ziemlich unpersönlich. In solchen Fällen ist es natürlich in Ordnung, fremde Charaktere durch Pronomen zu beschreiben oder sie direkt beim Namen zu nennen, falls sie bekannt sind. Bezüglich Freitag kam mir Juli auch überraschend sarkastisch vor, wo sie kurz zuvor noch Angst verspürt hatte. Davon abgesehen fand ich aber besonders die Szene rund um Gilbert sehr gut beschrieben. Die mysteriösen Monster, die in ihm aufkeimende Panik (damit verbunden auch seine Gedanken zu Oscar) sowie sein anschließendes Verschwinden haben sehr zur düsteren Stimmung beigetragen.


    Wir lesen uns!

  • XXVII Welt in Scherben





    Oscar




    Sein Mund blieb geschlossen, seine Augen stumm. Gilbert? Nichts. Es begann mit einem Zittern der Lippen, gefolgt von einem Beben seines gesamten Körpers. Kleine Hände, die in Richtung des Spiegels wanderten. Keine Antwort folgte und kein Laut verließ seinen Rachen. Weitere Sekunden verstrichen und erst dann sickerten die ersten Fragmente der Realität in sein Unterbewusstsein. Manifestierten sich wie Schatten vor seinem inneren Auge. Er ist fort Oscar. Er ist fort und du musst bleiben. Hände fuhren zu seinen geschwollenen Augen. Das ist deine Schuld. Deine ganz alleine. Erst eine, dann die nächste Familie, dann seine Schwester. Und schlussendlich sein Bruder. Wenn er über die Vergangenheit nachdachte, dann war es immer gleich gewesen. Eine immer gleiche Geschichte, wie ein stummes Ostinato eines nicht gespielten Liedes. Nichts als Unglück bringst du. Seine Finger verkrampften sich.


    „Gilbert.“ Und er versuchter ruhig zu bleiben, versuchte zu lachen, fast so als ob er hoffen würde das Gilbert nur kurz weg wäre. Das er gleich wieder zurückkommen würde und dann, dann wäre er ein klein wenig weniger einsam. Weniger allein. Er kommt nicht wieder. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Oscars Mundwinkel zuckten, dann huschten sie nach unten und sein Gesicht wurde zur Fratze. „Gilbert?!“, echote ein Wimmern durch den Raum und wurde doch von nichts beantwortet. „Bitte.“ Ich tu alles, nur bitte, ich flehe euch an, bitte- „Gebt ihn mir zurück!“ Doch der Spiegel hatte keinen Mund und er antwortete den kleinen Jungen auch nicht. Stille füllte den Raum, in dem er der einzige Bewohner blieb. Oscar tastete den Boden ab und Fingernägel gruben sich in die raue Oberfläche. Das ist alles meine Schuld. Wäre ich nicht- hätte ich nicht- Wärst du nicht gewesen Oscar, dann- Er ist doch nur wegen dir- Seine Hände ballten sich zu Fäusten und kamen mit einem dumpfen Ton auf den Boden auf. Schrammen säumten seine Fingerknöchel, als er nach Luft schnappte. Das nächste, das er hörte war sein Herz, das wie wild gegen seine Brust hämmerte und erst dann bemerkte er, dass er irgendwann angefangen hatte zu weinen. Dicke Tropfen fielen auf den staubigen Untergrund und hinterließen hässliche Flecken auf dem Holz. Was machst du da Oscar?! Seine Augen weiteten sich, als seine kleine Hand sich im Stoff seines Oberteils verkeilten. Nein. Schluss damit. Hör auf! Sein Rachen fühlte sich trocken an, gleichzeitig eng, als ob er ganz langsam zugeschnürt werden würde. Wenn du Angst hast, was ist dann mit Gilbert? Er muss tausendmal mehr Angst haben als du! Als seine Wimmern verebbte und sein Herzschlag sich regulierte, wurde schlagartig eine andere Stimme lauter. Hol Hilfe. Du musst Hilfe holen. Erst leise, dann immer lauter. Und dann ein weiterer Gedanke. Noel ist ein Zauberer. Noel wird eine Lösung finden. Er muss. Noch ist es nicht zu spät. Es darf nicht zu spät sein. Du musst jetzt ganz stark sein, hörst du? Oscar presste beide Lippen aufeinander. Alles wird gut werden. Gilbert hatte Recht gehabt, er war echt eine Heulsuse, nicht wahr? Immerzu weinte er nur und änderte doch nichts. Steh auf Oscar. Du musst jetzt aufstehen! Vorsichtig setzte er ein Bein vor das andere und wenig später begann er zu rennen. Immer wieder horchte er auf, lauschte den immer lauter werdenden Geräuschen. Er wusste nicht, wo Noel sich aufhielt, also blieb ihn nichts anders übrig, als dahin zurückzukehren, wo er hergekommen war. Auch wenn er sich vor nichts mehr fürchtete. Auch wenn es ihn atemlos werden ließ. Möglicherweise kämpfte Noel dort immer noch gegen die fremden Kreaturen. Möglicherweise auch nicht. Möglicherweise würde er sterben, sobald er auch nur einen Fuß in den Raum setzte. Um alle Möglichkeiten abzuwägen hatte er keine Zeit und die Kreaturen würden ihn ohnehin früher finden, richtig? Deswegen war es in Ordnung alles zu riskieren, richtig? Ihm blieb doch nichts anderes übrig, richtig? Und genau deshalb stieß auch die Tür auf, unterbrach den Gedankenfluss und dachte nicht mehr darüber nach über all das, was hätte sein können. Was er zu Gesicht bekam, ließ ihn das Blut in den Adern gefrieren. Alles war voll mit weißen Fäden, roch nach faulen Eiern und Schrei surrten durch die Luft. Im nächsten Moment hörte er jemanden seinen Namen rufen.


    „Oscar was machst du hier?! Das ist zu gefährlich, verschwinde von hier!“ Rosemarie stürzte sich auf die Knie. Eine Klaue zischte über ihren Kopf und landete einen Bruchteil später dumpf auf den Boden. Ihre Pupillen waren geweitet, doch im nächsten Moment stürzte ein Fremder auf das Wesen und die Kreatur ging zu Boden. Chaos herrschte, jemand schrie, etwas knackte und etwas flog durch die Luft.


    „Oscar? Wo ist Gilbert?“, hörte er eine Stimme und spürte eine Sekunde später eine Hand auf seiner Schulter.


    „Noel“, fiepte er. „Gilbert ist-“, begann er, als seine eigene Stimme im Getose des Kampfes fast unterging. Reiß dich zusammen. Nur ein einziges Mal musst du stark sein. „Gilbert ist in den Spiegel gegangen und-“


    „Wo?! Kannst du mich zu ihm führen Oscar?“ Seine Stimme war gespannt, als er Rosemarie einen flüchtigen Blick zuwarf. „Du bleibst bei Freitag. Beweg dich nicht von der Stelle.“ Panik lag hinter seinen grünen Augen versteckt.


    „I-Ich denke ja.“


    „Dann komm Oscar, lass uns deinen Bruder abholen.“



    ~+~



    Gilbert




    Als Gilbert wieder zu sich kam, lag er inmitten einer grünen Wiese. Wie lange er schon im kniehohen Gras gelegen hatte, wusste er nicht, noch viel weniger, wie er überhaupt hier gelandet war. Die Sonne flimmerte im Firmament und wie die letzten Strahlen verblassten, färbte sich der Himmel dunkel. Sein ganzer Körper fühlte sich seltsam leicht an, selbst dann, als er sich träge vom Boden abdrückte und langsam den Kopf hob. Weiße Punkte tanzten im Meer aus Tinte und hüllten die Welt in ein milchiges weiß, ließ die Welt zu Umrissen und Silhouetten werden. Er blinzelte mehrere Male, rieb sich die Augen, bevor die Realität langsam in sein Bewusstsein sickerte. Träume ich? Der Boden war feucht, die Luft frisch, als Kälte sich in jede Rize seines Körpers schlich. Leise konnte er Wasser rauschen und den Wind über Schilfgras streichen hören. Du träumst nicht, echote es in seinen Kopf. Das hier ist echt. Sein Herz hämmerte in unregelmäßigen Abständen gegen seine Brust. Grüne Halme kitzelten ihn dort, wo sie seine nackte Haut berührten. Je länger er den Uferweg entlangschlenderte, desto mehr veränderte sich der Boden unter seinen Füßen, bis aus Stein Holz wurde, aus Kies Stege, die sich wie Straßen einer Stadt über das Wasser zogen. Sein Puls beschleunigte sich.


    Sag bloß du bist nervös?!, hörte er eine höhnische Stimme in seinen Kopf spotten. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Bruder zu ihm aufblicken und keck lachen. Dieses hässliche, kindische Lachen, das seine Zahnlücken entblößte.


    So ein ausgemalter Blödsinn, antwortete jemand, der seinem jüngeren Selbst, nicht unähnlich sah. Gilbert kauerte auf seiner Unterlippe und seine Hand verkrampfte sich zu einer Faust. Seltsame Wesen kamen ihm entgegen. Gestaltlose Schatten, die wie Nebelschwaden durch die Welt glitten und groteske Fratzen zogen. Weiße Augäpfel quollen aus dem Schwarz hervor. Und doch beachtete keiner dieser Wesen ihn, fast als ob sie sich in unterschiedlichen Realitäten befänden. Sein Herzschlag beschleunigte sich weiter. Hier und da konnte er einen Blick auf seltsame Stände, mit noch viel seltsameren Waren und wundersamen Apparaten erhaschen. Das Gesicht eines Jungen spiegelte sich in der Wasseroberfläche des Sees wider. Seine Kleidung war vom Dreck gesäumt, Schrammen zierten seine Wangen, sein Blick war müde und ausgelaugt und seine braunen Haare klebten an seinem Hals. Gilberts Herz setzte fast aus. Was ist das? Er schnappte nach Luft, als sich seine Augenbrauen zusammenzogen und sich Falten auf seiner Stirn legten, dann steckte er ganz langsam seine Hand aus. Nanu? Vom Spiegelbild aus konnte er Augenpaare erkennen, erst eins, dann zwei, dann immer mehr. Und sie alle waren auf ihn gerichtet, egal ob er zurück strauchelte, oder zur Seite wich, sie beobachteten, verfolgten, jagten ihn und dann, dann bildete er sich ein eine Hand auf seiner Schulter zu spüren. Klopf klopf. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Im nächsten Moment blinzelte Gilbert, rieb sich die Augen und die Bilder verschwammen. Was ist das? Klopf Klopf. Nanu? Er war hochgeschreckt, da spürte er etwas Weiches an seiner Brust. Seine Hände begannen zu zittern und er riss den Kopf in die Höhe. Hatte er jemanden angerempelt? Klopf klopf. Für einen Moment bildete er sich ein etwas gelbes im Himmel aufblitzen zu sehen.


    „E-Entschuldigen-“, setzte er gerade an, dann sah er es. Gilbert riss die Augen auf, doch es war bereits zu spät. Leere Augenhöhlen, wabblige, entstellte Glieder und schließlich das Gesicht, die Augen und ein sichelförmiger Mund. An viel konnte er sich nicht erinnern. Da waren Schreie, wieder das Klopfen, das Geräusch von gebrochenem Glas und eine seltsame Kraft, die sich um seinen Körper legte. Ihn müde werden ließ. Was ist das?


    „Nicht!“, schrie jemand, als ob sein Leben davon abhinge. Etwas prallte dumpf gegen etwas Robusten und bunte, orange Punkte tanzten unter der Wasseroberfläche. Dann, wie aus dem nichts, explodierte der Himmel, bekam Risse als ein gigantisches Loch den Himmel zerfetzte. „Du Idiot! Gibst du dich so schnell auf?! Dann bist du noch viel erbärmlicher als ich angenommen habe!“ Die verschwommene Silhouette eines Mannes. Er segelte vom Himmel, erschein wie aus dem nichts und in dem Moment riss die Kreatur den Kopf herum und sah direkt in die Richtung des Mannes. Er schrie und jaulte als seine Füße halt auf den glitschigen Steg fanden, dann taumelte er zurück. „Verschwinde!“, kreischte er. „Du bekommst diese Seele nicht. Hau ab! Sieh mich nicht an oder ich zeig dir was passiert, wenn du dir die Seele eines Vampirs nimmst!“ Vampir? So ein Unsinn, wer glaubt den an so etwas? Der Mann muss nicht ganz bei Trost sein. Doch Gilbert konnte nichts erwidern, schaffte es nicht einmal mehr seinen Mund zum Öffnen zu bewegen, als jegliche Kraft aus seinem Körper wich. Mit schmerzverzerrtem Gesicht streckte der Mann beide Arme von sich und warf etwas in die Luft. Wieder blitzte etwas Oranges in seinen Sichtfeld auf, mehr konnte Gilbert nicht erkennen, doch kaum hatte er das gemacht passierte etwas Wundersames. Die orangen Punkte sanken hinab in den See, dehnten sich und wuchsen zu fischartigen Wesen heran. Sie erreichten die Wasseroberfläche nicht mehr, prallten immer wieder gegen die glatte Oberfläche, als ob eine unsichtbare Eisschicht sie abhalten würde. Klopf klopf, ein dumpfes Geräusch, das immer lauter wurde. Die gesamte Welt bebte. Selbst mit zerschmetterten Köpfen hielten sie nicht inne, stoppten nicht, nicht für eine Sekunde oder einen Bruchteil eines Momentes. Die Augen des Mannes wurden zu Schlitzen, wie er sagte: „Erhebt euch. Oh erhebt auch meine roten Teufel der Tiefen. Brecht die Grenze des Dies- und Jenseits!“ Dunkle Flecken tanzten vor Gilberts Augen. Die Goldfische wurden größer prallten mit einem gewaltigen Krachen gegen die Wasseroberfläche und dann, dann zersprang sie und seine gesamte Welt mit ihr, in tausend Scherben. Sie tauchten in eine See aus pechschwarzer Finsternis, umringt von kleinen, gelben Lichtern. Das Nächste, was er mitbekam, war der Geruch von altem Holz, der in seine Nase kroch.



    ~+~



    Noel



    „He, verdammt, steh auf. Alles in Ordnung mit dir?“ Noel wartete nicht auf eine Reaktion, auch nicht auf ein Lebenszeichen, stattdessen packte er Gilbert an den Schultern und Schultern und schüttelte ihn. Ihm war übel und eine seltsame Trägheit wurde von einer widerlichen Süße auf seiner Zunge begleitet. Alles hat seinen Preis Noel, hallte es in seinen inneren wider. In den Moment krümmte er sich und unterdrückte ein Würgen, als Sterne vor seinen Blick Blickfeld tanzten. Sie waren zurück im Anwesen und wie er eins und eins zusammengezählt hatte, wusste er mittlerweile, wieso der Raum gemieden wurde. Nun mach schon, beweg dich du Idiot. Sie mochten fürs erste entkommen sein, doch wenn sie nicht bald ihre Beine in die Hand nehmen würden, dann wars das. Seine Hände wurden schwitzig. Kälte. Wie Maden in einem faulen Stück Fleisch, fraß sie sich durch seinen Körper und ließ ihn erschaudern und nach Luft schnappen. Er hielt sich den Bauch, stöhnte, dann versuchte er sich auf den Rücken zu drehen, doch es half alles nichts. Reiß dich zusammen. Zusammenreißen. Zu- Noel verzog das Gesicht, doch der Süße Geschmack breitete sich nur weiter aus. Er würge und keuchte, doch auch das half ihm nicht weiter und er wüsste, dass sich mit der Süße schon bald ein trockener Hals ankündigen würden. Sein Gesicht verzerrte sich, als Fingernägel in Holzdielen bohrten und Schweißperlen seine Stirn hinab rollten. Schlussendlich entleerte er seinen Mageninhalt auf den kalten Boden und fühlte sich noch viel elendiger, als er sich ohnehin schon gefühlt hatte. Erbärmlich. Absolut widerwärtig. In seinen gesamten Leben hatte er sich noch nie so gedemütigt gefühlt. Ausgerechnet vor so einem Vollidioten wie Gilbert Schuster. Im nächsten Moment hörte er ein Krachen und sein Herz setzte fast aus. Noels Blick flog zur Tür mit nur einen einzigen Gedanken. Shit.



    ~+~



    Juli



    „Freitag, sie versuchen durch die Tür zu entkommen!“ Juli hatte sich schützend vor den Jungen gestellt. Wieso schlugen sie auf einmal einen anderen Weg ein?! Was passierte nur gerade? Flohen sie? Eins dieser Dinger erwischte sie und sie kippte nach hinten. Ihr Rücken krachte auf den Boden. Sie japste nach Luft und hörte Oscar nach ihr rufen. Die panischen Rufe eines Kindes. Nein, nein, ich darf hier nicht sterben!, hallte es in ihren Inneren wider. Sie versuchte sich loszureißen, wartete nicht auf den Moment, wo sie ihre Kiefer in ihre Schulter gruben, sondern drückte mit aller Kraft ihre Hände vom Körper ab. Es gelang ihr nicht, sie trat nach dem Ding, doch trat ins Leere. Ihr Herz setzte fast aus und ihr Gesicht wurde käsig, als sich eine kalte Hand um ihren Hals legte. Das darf, kann nicht passieren! Ich träume, das muss ein Albtraum sein, lass es ein Albtraum sein! Im nächsten Moment hörte sie den dumpfen Ton eines Körpers, der zu Boden fiel. Sie stieß sich fast instinktiv ab und wirbelte herum. Das Ding rührte sich nicht, keinen Zentimeter und doch rasselte ihr Atem immer noch, während sie sich an den Hals fasste.


    „Sie sind auf den Weg zu den anderen“, stellte Freitag fest, dann verschwand er durch die nun offene Tür und stürmte in den Flur. Sie folgte ihm nicht. Ihr war schlecht und schwindlig, aber das war nicht schlimm. Sie könnte immer noch laufen. Richtig, sie mussten Noel und Gilbert retten, das hatte jetzt Priorität. Nein, das war das einzig Wichtige und wenn sie es sich nur oft genug sagte, dann stimmte es irgendwann auch. Sie schluckte. Aber ich habe solche entsetzliche, entsetzliche - Schluss. Ihre Hände zitterten. Ihre Beine fühlten sich weich an.


    „Los Oscar wir müssen ihn folgen.“ Oscar stand wie angewurzelt da. Für einen Moment sah er sie nur an, sagte jedoch kein Wort. Genauer genommen sagte keiner der Beiden ein Wort. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen und gerötet und genau deshalb beschloss sie als erste das Schweigen zu brechen und zwang sich zu einem Lächeln.


    „Hör auf.“, keuchte der Junge und Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Bitte hör auf. Du musst nicht kämpfen.“


    „Alles gut. Wein doch nich-“, wollte sie sagen, doch begann zu husten. Mir geht es gut. Bitte glaub mir, es geht mir gut. Deswegen, ich bitte dich, weine nicht. Kein einziges Wort verlies ihre zitterigen Lippen. Sie hörte immer noch Schreie, wie Flüche einer anderen Sprache und jedes Mal, wenn sie die seltsamen Laute hörte, erschauderte etwas tief in ihr.


    „Ich bin so nutzlos“, japste Oscar und sein Blick war zum Boden gerichtet, während er sich gegen ihren Körper lehnte und seine kleine Hand in ihre Hand legte. „Nur wegen mir-“, hörte sie ihn sagen. Ihr Hals fühlte sich trocken an. Schnürte sich zu.


    „Na komm“, hauchte sie. „Sag so etwas doch nicht. Ich bin mir sicher dein Bruder wäre nicht begeistert, wenn er das hören würde. Außerdem warst du doch so tapfer.“ Überall lagen reglose Körper auf den nackten Boden und doch waren sie alleine. Freitag war fort und ob sie ihn wiedersehen würden, wusste sie nicht. Offengestanden wusste sie nicht wie es jetzt weitergehen würde. Selbst die Geräusche wurden leiser, bis nur noch ihre eigenen Stimmen zurückblieben.


    „Rosemarie. Du blutest“, fiepte der Junge und zupfte an ihren Ärmel. „Dein Kopf.“


    „Hmm?“ Ihre Haare klebten an ihren Hals und ihr Gesicht war kreidebleich, während ihre Beine sich weich anfühlten. Als sie ihre Hand durch ihre Haare fahren ließ, klebte eine rote Flüssigkeit an ihren Fingerspitzen und dann, dann sank sie auf die Knie und begann zu weinen.



    ~+~



    Noel



    Noel drückte sich von Boden ab und wich zurück, gerade noch rechtzeitig, als einen Bruchteil später die Tür barst und mindestens ein duzend dieser Viecher den Raum fluteten. Schlecht, sehr schlecht. Seine Hand fuhr in seine Tasche, bis seine Fingerspitzen etwas rundes zu fassen bekamen. Im nächsten Moment ließ er etwas auf den Boden kullern und sein Herzschlag beschleunigte sich, als Klauen auf ihn und Gilbert zuschossen. Nanu, hatte der sich gerade gerührt?


    „Komm zu mir oh Muttergöttin, breite deine Flügel aus und lass die Welt deinen Willen spüren.“ Murmeln kullerten auf den Boden und explodierten im selben Moment. Mit einem Male schossen Ranken aus dem Boden, die auf die drahtigen Angreifer zuschossen und sich um ihre knochigen Glieder schnürten. „Verzieht euch!“, brüllte er und wankte von einem Bein auf das andere. Seine Stimme war heißer geworden und sein ganzer Körper stand in Flammen, und doch tauchten immer mehr schwarzer Flecken in seinem Sichtfeld auf. Kälte zog sich durch seinen gesamten Körper, als wäre er in einen See gefallen und drohte zu ertrinken. Raff dich auf. Steh gerade. Eines dieser Viecher schaffte es sich zu befreien, er bemerkte es zu spät, und verpasste in einen Schlag in die Magengrube. Noel schrie. Eine Sekunde später krümmte er sich abermals und übergab sich.


    „Das funktioniert nicht!“, schrie Gilbert, der offensichtlich gerade von den Toten auferstanden war und sich gerade noch rechtzeitig ducken konnte. Schlechtes Timing, sehr schlechtes Timing Dornröschen. Gilberts Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. „Du musst was anders versuchen, siehst du nicht das das nicht funktioniert?!“ Halt den Mund. Nur mühselig stand er wieder auf, als eines der Ranken den Schädel einer der Kreaturen zerschmetterte. „Sie stehen wieder auf!“, keuchte Gilbert. Halt den Mund. Halt verdammt noch mal den Mund. Das weiß ich doch. Als ob ich das nicht selber sehe. Abermals griff Noel in seiner Tasche und brachte eine neue Hand voll Murmeln hervor. Einbildung ist die stärkste aller Bildungen also konzentrier dich Noel und- „Hört mit deinen scheiß Murmeln auf! Siehst du nicht das wir in Gefahr sind?! Oder bist du jetzt völlig bescheuert?!“ Noel fletschte die Zähne.


    „Jetzt halt mal deine verdammte Drecksfresse! Siehst du denn nicht-“ begann er, und spürte, wie etwas seinen Kopf traf. Er kippte nach vorne und fluchte. Du verdammter Dreckskerl, du hast so ein Glück, das ich nicht hungrig bin. Er schnappte nach Luft und versuchte instinktiv nach seinen Murmeln zu greifen, die nun auf den Boden verteilt lagen. So ein gottverdammter Dreck. Seine Fingerspitzen berührten fast die glatte Oberfläche der Kugel, als sich plötzlich ein stechender Schmerz von seinem Oberarm ausbreitete, der ihn fast den Atem raubte. Eins dieser Viecher hatte seinen Kiefer in seinen Arm verkeilt und ein hässliches Knacken war zu hören. „Las mich los-“, fauchte er. Lass mich gefälligst los du dreckige Missgeburt! „Fass mich nicht an! Ich brech dir dein Genick, wenn du nur daran denkst deinen Saber auf mir zu verteilen.“ Ich will das nicht. Nicht hier, nicht jetzt. Wieso muss ausgerechnet ich sterben?! Das ist ungerecht, so ungerecht! Wofür war dann das alles? Wofür hatte er durchgehalten? Wieso sich verstecken, wie eine Made, die mit nur einen einzigen Finger zerdrückt werden konnte? Von einem, zum anderen Ort fliehend und doch kein Zuhause zu haben. Und nichts ist echt. Wieso Hoffnung haben, wieso sich auf den nächsten Tag freuen? Ausgerechnet diese Witzfiguren. Alles passierte ganz schnell. Jemand stürzte in den Raum und im nächsten Moment wurde der Raum von Licht geflutet. So warm, dass er das Gefühl hatte seine Haut würde von seinen Knochen schmelzen. Eine Klinge surrte durch die Luft, dann war es wieder still. Als er wieder nach oben blickte, sah er Freitag, der auf die beiden herabblickte.


    „Oh Gott, sie sind gekommen. Noel geht es nicht gut. Wir brauchen einen Arzt.“ Er kannte das Licht, das gellende Weiß, das seine Haut verbrannte und seine Knochen schmelzen ließ.


    „Nein.“, keuchte er. Er schlug die Hand ab. „Alles gut.“ Ausgerechnet ein Vampirjäger. Was für eine absolute Demütigung.


  • XXVIII Ein Frosch und sein kleiner Bruder


    Juli



    Schritte schallten vom Boden und ihr Blick hellte sich augenblicklich auf.


    „Oh Gott.“ Juli hielt sich eine Hand vor den Mund. „Euch geht es gut. Gott sei Dank. Ich dachte-“, schniefte sie, schüttelte dann aber den Kopf. Sie konnte Gilbert, Freitag und Noel den Raum betreten sehen und ihr Herz machte einen Satz. Auf den Boden lagen Scherben und Bruchstücken von Möbeln. Lediglich eine flüchtige Erinnerung von all dem, was sich letzte Nacht hier abgespielt hatte. Hier und da blätterte Putz von den Wänden. Es ist vorbei. Sie hatten überlebt. Ein neuer Tag brach an und die ersten Sonnenstrahlen hüllten den Raum in ein warmes Licht. Sie atmete auf und ihr Körper entspannte sich, wenn auch nur ein wenig. Es war still geworden, schon fast gespenstisch still. Lediglich ihre eigenen Stimmen waren jetzt noch zu hören, da sickerte die Realität in ihr Bewusstsein. Wir haben überlebt. Wir haben es tatsächlich- Sie schnappte nach Luft und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Vorbei. Endgültig vorbei „Danke Herr Freitag. Wir verdanken ihnen unser Leben. Ohne sie hätten wir Gilbert und Oscar nicht retten können.“


    „Hmm.“, murmelte Freitag und drehte ihnen den Rücken zu.


    „W-Warten sie doch!“, entgegnete Juli hastig und folgte ihn auf Schritt und Tritt. „Sagen sie, gibt es vielleicht irgendetwas, das wir für sie tun können? Wir müssen uns doch irgendwie erkenntlich zeigen können? Da muss es doch bestimmt etwas geben?“


    „Hm?“ Er schüttelte den Kopf und schlenderte weiter den Flur entlang. Es war still geworden. Splitter lagen überall, der Teppich war an manchen Stellen zusammengerollt worden und hier und da konnte sie Löcher in der Wand erkennen. Ihre Hände fuhren zu ihrer Brust. Eine seltsame dunkle Flüssigkeit klebte auf den Boden und Wänden und ließ sie erschaudern.


    „Wo gehen sie hin?“, fragte Juli schließlich als sie wieder den Eingangsbereich erreichten. „W-Warten sie! Ich wollte mich auch noch einmal bedanken, wo wir schon dabei sind. Sie haben uns gerade das Leben gerettet vor diesen Kindern.“


    „Kinder?“, fragte der blonde Mann trocken und warf ihr lediglich einen flüchtigen Blick zu. „Wechselinge, aber keine Kinder. Da war noch etwas Anderes.“ Noels Gesicht wurde käsig. Er beschleunigte seine Schritte und stellte sich Freitag in den Weg.


    „Etwas anderes?“, murmelte er und fixierte Freitag mit beiden Augen. Doch Freitag antwortete nicht. Er ging einen Schritt zur Seite und setzte seinen Weg schließlich fort. Offensichtlich beachtete er sie nicht weiter und hatte selten wenig Interesse diese Unterhaltung fortzusetzten.


    „Was haben sie jetzt vor Herr Freitag? Gehen sie nach Hause? Zu ihren Eltern?“ Vorausgesetzt er lebte noch bei seinen Eltern. Sein Alter konnte sie nur schwer schätzen, aber irgendein Zuhause musste er ja wohl haben. Menschen, die hinter der Mauer leben, hallte es in ihrem Inneren. Was für ein Leben sie wohl führten?


    „Hm?“ Er sah sie fragend an, fast als ob er ihre Worte nicht verstanden hätte. „Eltern?“ Ihr Magen zog sich zusammen.


    „Oh verstehe“, sagte sie hastig und versuchte das Thema zu wechseln. „Jedenfalls danke für ihre Hilfe. Wissen sie, wie wärs, sie kommen uns einfach besuchen, dann können wir uns auch persönlich erkenntlich zeigen. Gute Idee? Gute Idee! Wir wohnen hinter der Mauer und-“


    „Hm.“ Wieder keine Antwort. Natürlich. Sie schluckte.


    „Sie müssen natürlich nich-“ Die Tür ging unter einem Quietschen auf und er schob seinen Körper ins Freie. Freitag war eine seltsame Art von Mensch. Er konnte schnell rennen und hoch springen fast so, als ob er vom Wind selbst getragen werden würde. Er sprang mühelos von einer Mülltonne zur nächsten, griff mit der anderen Hand nach einer Leiter und zog sich nach oben. Von einen, auf den anderen Moment stand er nicht mehr neben ihr. Wie surreal. Die Häuser standen hier so nah beisammen, dass man von einem Dach zum nächsten springen konnte. Ob man sich das ganze allerdings auch zutraute, wäre eine andere Geschichte. Nicht, wenn einem das eigene Leben lieb wäre.


    „Worauf wartest du Juli?“, meinte Noel und stupste ihre Schulter an. Ihr Blick war immer noch auf die Häuserreihen fixiert. Ihre Augen verfolgten den Schatten über den Dächern.


    „Noel meinst du wir können ihn trauen?“, war das erste, das sie nach einer ganzen Weile von sich gab. Er hat unser Leben gerettet. Sie ließ ihren Blick zu Noel schweifen, dessen Hand fast automatisch zu seinem Kinn fuhr. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.


    „Hmm…ich weiß nicht, aber er wird nicht kommen Juli. So viel kann ich sagen. Ich würde mir da keine großen Hoffnungen machen, dass er auf deine Einladung zurückkommt.“ Bis eben hatte der Schatten des Gebäudes die Sonne ferngehalten, doch jetzt streiften die ersten Sonnenstrahlen den Asphalt und Noel zuckte zusammen. Seine Hände zitterten.


    „Alles gut?“


    „Hmm? Natürlich. Umwerfend. Mir ging es noch nie besser. Schnell lass uns weiter gehen, irgendwie sind ich und Sonne grade keine so tollen Freunde.“ Bis eben hatte der kleine Junge seine Hand noch in die Hand seines Bruders gelegt, doch plötzlich beschleunigte er seine Schritte und schloss zu den Beiden auf.


    „He Noel sind sie eigentlich ein Vampir?“, meinte Oscar und Noel schreckte augenblicklich hoch. „Na, sie haben ganz spitze Zähne und sie sind ein Zauberer und können ganz unglaubliche Dinge. Das ist schon irgendwie cool. Deswegen meiden sie jetzt bestimmt auch die Sonne, oder? Aber keine Sorge, ich verrats niemanden.“


    „A-Also naja-“, stammelte Noel und rang um Worte.


    „He Oscar rede keinen Unsinn. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht immer diese komischen Bücher lesen sollst, die bringen dich nur auf absurde Ideen. Was denkst du dir nur dabei? Hör dich doch mal selbst? Nur weil man spitze Zähne hat, ist man doch noch lange kein Vampir. Ich bitte dich. Und der? Sieh ihn dir doch an! Sieht der für dich etwa wie ein Vampir aus? Nicht, dass es Vampire wirklich gibt.“ Noel trat einen Schritt zur Seite als die Sonne zu wandern begann. „Sieht der Typ etwa aus, als ob er sich vor etwas Sonnenschein fürchten würde?!“ Sein Gesicht war kreidebleich geworden, als er einen weiteren Schritt zurücktat. Schweißperlen kullerten über seine Stirn.


    „Was für ein bescheidener Tag.“


    „Hm, wie war das Noel? Hast du etwas gesagt? Jedenfalls muss ich mich bei euch beiden entschuldigen. Ich war völlig auf dem Holzweg. Natürlich wart ihr nicht die Übeltäter. Die Antwort liegt ja wohl auf der Hand. Bis eben tappte ich noch in Dunkeln, aber jetzt ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Es ist eigentlich recht simpel. Wenn man alles Unmögliche ausschließt, bleibt nur noch die Wahrheit übrig.“


    „Ach ja?“, japste Juli, sichtlich nervös. Es war vorbei, nicht?


    „Aber natürlich.“ Seine geballte Faust klatschte auf die flache Handfläche.


    „Ich schwöre wir können alles erklären. Du musst wissen-“, setzte Juli an, wurde allerdings von Gilbert unterbrochen.


    „Ganz offensichtlich entführt hier jemand Kinder und zwingt sie zu diesen Psychospielchen. Wahrscheinlich wurden sie ihr gesamtes Leben in diesem Haus festgehalten und sind völlig verwahrlost. Das würde ihren körperlichen Zustand erklären. Und ihren Geistigen. Die Kinder müssten an die acht Jahre alt gewesen sein, nicht? Was meint ihr, gab es in der Zeitpanne eine größere Entführungskette? Wobei, bei der Menge müsste das eher ein ganzes Weißenhaus gewesen sein. Aber ich habe seltsamerweise nie von einem solchem Vorfall gehört. Das lässt natürlich nur eine logische Schlussfolgerung zu. Jemand versucht den Vorfall zu vertuschen. Ich denke es geht hier um was rein Politisches. Wer weiß was so ein Skandal auslösen würde?“ Gilbert verschränkte die Hände vor der Brust. „Jetzt gilt es nur noch herauszufinden. Welcher dreckige Bastard steckt dahinter.“ Er hob langsam seinen Kopf und schielte in Richtung Juli. „Schon Ideen?“


    „Eh?!“ Sie hörte wohl nicht recht. Noel beugte sich zu ihr herüber.


    „Nein, nein, ich glaube der meint das ernst“, flüsterte und warf Gilbert einen flüchtigen Blick zu.


    Dieser war immer noch in seiner eigenen Welt versunken und schien einen schier endlosen Monolog über den möglichen Tathergang des Verbrechens zu führen. Eine Idee absurder als die andere. Selbst als sie die Mauer erreichten, redete er noch.


    „Und deshalb denke ich das es genauso passiert sein muss. Huch, wir sind schon da? Wie die Zeit doch vergeht. Ich denke dann heißt es wohl jetzt auf Wiedersehen. Oder wartet, ich gebe euch meine Nummer. Ihr könnt mich jederzeit anrufen, falls ihr etwas brauchen solltet, oder falls euch noch etwas aufgefallen sein solltet. Vergesst nicht, jeder Hinweis kann entscheidend sein. Und falls wieder jemand ein Gerücht verbreiteten sollte, zögert nicht mich um Hilfe zu bitten. Aber es ist jetzt schon spät, oder früh, wie man es nimmt. Meine Schwester wird mich umbringen, wenn ich noch länger auf mich warten lasse, also fasse ich mich kurz. Danke für alles.“ Er griff erst nach Julis Hand, dann nach Noels und schüttelte sie. „Danke das ihr meinen Bruder gerettet habt.“ Juli sah irritiert zu Noel, dann zu Gilbert.


    „Eh. Kein Ding“, war alles, was sie hervorbringen konnte. Was für ein schräger Vogel.


    „Danke Juli und Herr Zauberer“, schrie der kleine Oscar, der abermals von seinem Bruder ermahnt wurde, dass er Leuten nicht einfach solch alberne Spitznamen geben sollte. Noch dazu, ohne sie davor zu fragen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen und sie hatte ohnehin nicht viel Schlaf bekommen. Vielleicht würde sie doch ausnahmsweise mal blau machen.


    „Hmm, Lust heute noch etwas zu unternehmen Noel?“


    „Ich glaube ich passe.“


    ~+~



    Gilbert



    Oscar und Gilbert waren auf den Weg zurück nach Hause und obwohl sie schon längst nicht mehr in Gefahr waren, zitterten seine Beine. Was war das nur? Hatte er Angst? So ganz konnte er es noch immer nicht glauben. Für eine ganzen Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, während die Umgebung immer mehr etwas Vertrautes annahm. Oscar war der erste der wieder zu reden begonnen hatte.


    „Tut mir leid wegen deinem Finger“, fiepte Oscar und kaute auf seiner Unterlippe.


    „Hm?“ Richtig. Mittlerweile war das Blut getrocknet, aber er sollte damit definitiv zu einem Doktor. Jetzt wo er es erwähnte pochte die Wunde unangenehm und ein Stich durchfuhr seine Hand. Oscar hatte bis auf ein paar Kratzer keine schlimmeren Verletzungen abbekommen und zum ersten Mal erwischte er sich dabei, wie er froh darüber war. Dabei tat die Wunde immer noch höllisch weh. Es war schon fast ironisch, aber in den letzten Stunden war ihm so einiges klar geworden. „Hör mal, ich weiß ich war in den letzten Jahren ein echt miserabler Bruder. Like, richtig miserabel.“ Was wollte er überhaupt sagen? So viele Sachen und doch wusste er nicht wie er überhaupt anfangen sollte. Er hatte Oscar oft zur Last geworfen ein Klotz zu sein. Und manchmal stimmte das sogar und doch stellte sich zeitglich die immer gleiche Frage. Was bin ich dann? Sein Blick wanderte zum Boden und er schluckte schwer. Gilberts Hals schnürte sich zu. Oscar war immerhin ein Kind und er? Er war fast erwachsen. Ein Erwachsener, der sich wie ein Kind aufführte. Und spätestens, wenn Oscar nicht mehr da gewesen wäre – daran wollte er nicht einmal denken – dann hätte das auch jeder anderer gesehen. Dabei war er schon immer, schon seit er denken konnte, sein größter, oder in diesen Fall kleinster, Verbündeter gewesen. Natürlich war Gilbert großartig, oder nein, vielmehr redete er sich das ein, um sich etwas besser zu fühlen, weil er so den Leuten in Erinnerung bleiben wollte. Vielleicht hatte er das auch nur gedacht, weil er in Wahrheit immer alles seiner Schwester überlassen hatte und sich vor den Tag fürchtete, wo ihr all das zu viel werden würde und sie wieder ganz alleine wären. Und selbst dann hätte er Oscar, nicht sich selbst die Schuld für alles gegeben. Als es nur Oscar und ihn, gegen den Rest der Welt, gab – damals waren sie noch deutlich jünger gewesen – hatte sie beschlossen alles auf sich zu nehmen. Natürlich hatte Gilbert deswegen kein schlechtes Gewissen. Oder vielleicht ein bisschen. Er konnte seinen eigenen Gefühlen nicht mehr trauen. Wann sah er sie überhaupt noch zuhause? Es ist peinlich, da bin ich doch der große Bruder von uns Beiden und tu nichts anders als mich immer nur zu beschweren. Und du, du hast dich kein einziges Mal beschwert. Was soll denn aus mir werden, wenn ich mich nicht einmal um mich selbst kümmern kann? Und wenn Oscar hier wirklich gestorben wäre, was dann? Wen hätte er dann die Schuld geben sollen? Seiner Schwester? Seine Hand verkrampfte sich. Mach dich nicht lächerlich.


    „Weißt du Oscar, ich habe da über etwas nachgedacht. Erinnerst du dich, als du meintest du willst einen Job annehmen? Weißt du, eigentlich ist das eine ganz großartige Idee. Aber weißt du was, ich sollte derjenige sein der sich einen Job sucht. Na, was meinst du, wie würde ich mich als Kellner machen? Wäre ja ganz schon peinlich, wenn mein kleiner Bruder arbeitet, während ich zuhause auf dem Sofa liege. Stell dir mal vor was die Leute sagen würden.“


    „Aber Bruder-“ Oscar kicherte.


    „Hmm?“


    „Du brauchst doch kein schlechtes Gewissen haben.“


    „Wie?! I-Ich habe kein schlechtes Gewissen. Nur das dus weißt, ich mache das natürlich auch für mich! Immerhin kann ich so etwas Taschengeld ansparen.“ Diese kleine Kröte! Sein Bruder grinste breit und wie er so darüber nachdachte, hatte er Oscar schon lange nicht mehr so breit lachen sehen. Er klammerte sich an Gilberts Ärmel und dachte nicht einmal daran loszulassen.


    „Danke das du gekommen bist. Du bist gar nicht böse und du bist der coolste Bruder überhaupt.“


    „Ach Oscar sag so was nicht.“ Stimmt da gab es noch etwas, das er ihn sagen musste, nur fiel es ihn deutlich schwerer als der Rest. Reiß dich zusammen Gilbert. Er schloss die Augen und biss sich auf die Lippe. „Also. Hör mal Oscar. Ich wollte das du weißt, dass du dir von niemanden mehr sagen lassen sollst, dass du ein Klotz am Bein bist. Hörst du?!“ Seine Stimme kratzte, aber er zwang sich fortzusetzen. Sein Hals war trocken geworden. „Das stimmt nämlich nicht. Das habe ich nur gesagt, weil ich mich selbst wie ein Klotz gefühlt habe. E-Es tut mir so, so leid.“ Wieso wurden seine Augen nass? Seine Stimme brach. Reis dich zusammen. Was wäre er denn für ein Bruder, wenn er ausgerechnet jetzt anfangen würde zu heulen? „Also denk nie wieder daran einfach so weg zu laufen, ja? Du bist unersetzlich und ich könnte mir nie, nie im Leben verzeihen, wenn dir etwas passiert. Verstanden?! Und wenn ich noch mal so etwas sage sollte, dann hast du meine Erlaubnis mir höchst persönlich eine überbraten und-“


    Wimmern Drang an sein Ohr und er blickte an sich herab. Oscar sah ihn für einen Moment regungslos an, dann begann er wie aus dem nichts zu weinen an und grub sein Gesicht in das Hemd seines Bruders.


    „A-aber ich...ich bin doch nur-“


    „Nicht nur!“, stieß Gilbert aus, und schlang seine Hände um seinen Bruder. „Du bist Oscar, der tapferste kleiner Bruder der Welt.“


  • Hallo,


    die vielen Perspektivenwechsel haben das vorletzte Kapitel etwas verwirrend gemacht. Jedenfalls sehe ich, dass hier der Eindruck aller handelnden Personen wichtig war und im Nachhinein wurde vieles von dem, was da angesprochen wurde, ausreichend erklärt. Abschließend ist es schön zu sehen, dass Gilbert über seinen Schatten springen und Oscar endlich das sagen konnte, was er vielleicht schon die ganze Zeit machen wollte. Die Szene ist zum Ende hin sehr rührend gestaltet und in meinen Augen hast du sie emotional immer weiter bis zum Höhepunkt gesteigert. Ich hoffe, dass dieser Zusammenhalt nun auch auf Dauer sein wird.


    Wir lesen uns!