Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen.
Sturmwolkengedanken
Zum wiederholten Mal tippte Jungglut ihrer Trainerin auf die Schulter, diese zuckte aber nur kurz, als würde sie ein nerviges Insekt verscheuchen wollen und presste ihren Kopf nur noch tiefer in die Kissen. Dabei schien ihr Körper zu beben, was das Feuerwesen aber nur hilflos beobachten konnte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was mit ihrer Menschenfreundin los war. Sie befand sich in diesem Zustand, seit sie sich am frühen Abend mit Caleb Samina gestritten hatte. Erst war das Menschenmädchen scheinbar entsetzt gewesen, aber sobald sie auf den Schreck ihre Stimme wiedergefunden hatte, war sie richtig wütend geworden. Fast hatte es so ausgesehen, als wollte sie ihrem Vorgesetzten eine Ohrfeige verpassen, sich aber doch noch zusammengerissen. Sie hatte versucht ihn davon zu überzeugen, dass seine Entscheidung völlig bescheuert war, dies aber nicht unbedingt freundlich ausgedrückt. Am Ende hatten sich die beiden richtiggehend angebrüllt. Aber Caleb hatte die Rothaarige in ihre Schranken verwiesen, woraufhin sie etwas gesagt hatte, dass wohl den Jungen und Jungglut gleichermaßen verwirrt hatte, denn er war dabei schneeweiß im Gesicht geworden. Sie jedoch hatte es nicht so ganz verstanden. Dann war Jungglut Trainerin geradezu davon gerauscht und in dem einen Moment der Verwirrung, in dem das Feuerwesen zurückgeblieben war, hatte sich der Junge nur auf den Boden sinken lassen. In seinen Augen war deutlich Furcht zu erkennen gewesen und er hatte gezittert.
So schnell sie ihre Krallenfüße getragen hatten, war sie in Richtung der Unterkünfte gelaufen und hatte ihre Trainerin wirklich in ihrem Zimmer gefunden, auf dem Bauch in ihrem Bett auf der Decke liegend und den Kopf in die Decken gedrückt. Erst hatte sie gedacht, das Mädchen würde weinen, aber es gab einfach keinen Laut von sich und irgendwie herrschte im Raum eine seltsame Atmosphäre, wie etwas, das einfach nicht sein darf.
Hingegen der Annahme ihrer kleinen Freundin, war Sabrina allerdings gar nicht nach weinen zumute. Im Gegenteil, fauchend und tosend tobte schier unbändige Wut in ihr. Wenn sie nur daran dachte, wie Caleb ihr so dreist ins Gesicht gesagt hatte, dass sie diese Mission aussetzen würde und er stattdessen Tobias mitnehmen würde. Ausgerechnet diesen arroganten Idioten, der sich selbst für den größten Frauenschwarm aller Zeiten hielt. Wie konnte er es wagen? Diese ignoranten Menschen waren doch allesamt verachtungswürdige Geschöpfe. Dumm und einfältig.
Ein Stoß glühender Flammen schoss erneut durch ihren Körper, füllte sie komplett aus und vergiftete ihre Gedanken noch mehr. Der Dämon in ihr regte sich und bevor sich ihr Körper ohne ihren Willen aufbäumen konnte, versengte die Rothaarige ihre langen Zähne in dem Kissen, das so fest auf ihrem Gesicht lag, dass sie eigentlich Atemnot hätte bekommen müssen.
Es knackte, als sich ihre Fingernägel zu schwarzen Krallen umbildeten. Alles in ihr drängte dazu, die schwache, menschliche Hülle abzustreifen. Aber gleichzeitig wusste sie, dass das nicht geschehen durfte. So presste die Hände mit ihrem Oberkörper gegen die Matratze und packte sich selbst an den Oberarmen, sodass ihre Arme vor der Brust verschränkt waren. Kein Laut entwich ihrem Mund, auch wenn das Fauchen schon in ihrer Kehle saß. Es war beinahe wie ein Zwang, der sie mit aller Macht dazu trieb, das alles verschlingende Feuer in sich gefangen zu halten.
Ihre Ohren zuckten unter der wallenden, roten Mähne, die auch den Blick auf ihr Gesicht verwehrte.
>>Menschen!<<, zischte es durch ihre entflammten Gedanken und ein Schauder jagte über ihre Haut. Tatsächlich traten kurz darauf die beiden Mitbewohnerinnen des Mädchens ein und unterhielten sich aufgeregt weiter. Die Rothaarige auf ihrem Bett schienen sie gar nicht zu bemerken.
>>Wie schwach sie sind. Kaum in der Lage den Hauch von Leben zu beschützen, der ihnen geschenkt wurde. Und der ihnen entweichen wird, wenn meine Krallen ihren Weg in ihr Herz finden, das wie ein kleiner Vogel im Käfig hockt und ängstlich pocht. Oh, wie ich sie verabscheue. Flammen sollen ihr Leben aushauchen, sie verzehren und den Himmel mit ihrem Blut bedecken.<<
Ein leiser Schrei ertönte. Die kleinere der beiden Mädchen hatte die Anwesenheit des Dämons bemerkt. Der Blick der Kleineren lag auf der Gestalt im Bett.
Zwei Augen blitzten aus den Kissen auf und bohrten sich mit glühend roter Intensität in die der kleinen Blondine. Kein Wort entwich ihr, obgleich sie den Mund erschrocken öffnete. Dann sackte sie mit einem Mal ohnmächtig zu Boden. Ihre Kameradin eilte zu ihr und geriet, als sie sich schaudernd umsah, ebenfalls in den Bann des Dämons, welcher sie niederstreckte.
>>Schwach, sie alle sind schwach.<<
Und dennoch hatte die kleine Machtdemonstration das hitzige Gemüt besänftigt. Das Flammende Meer der Wut zog sich zurück und seine rasenden Wellen, die alles unter sich begruben, ebbten ab. Die schwarzen Klauen wurden heller und bildeten sich zu menschlichen Fingernägeln zurück, während die strahlenden Flammenjuwelen mit der animalisch geschlitzten Pupille zu tiefgrünen Smaragden abkühlten. Innerhalb weniger Sekunden war der Dämon verschwunden und hatte das rothaarige Mädchen zurückgelassen.
Stumm betrachtete sie einige Augenblicke ihre beiden bewusstlosen Zimmergenossinnen und ein zufriedenes Lächeln glitt über ihr Gesicht, bevor sie sich Jungglut zuwandte, welches ängstlich zurück zuckte. Geschmeidig erhob Sabrina sich, trat zu Olga und hob die Kleine mühelos vom Boden hoch, um sie auf ihr Bett zu legen. Bei der deutlich kräftigeren Elena musste auch Jungglut mit anpacken. Die beiden Mädchen würden sich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern, was ihren Zusammenbruch verursacht hatte.
„Trotzdem war es meine Mission.“, behauptete Sabrina ärgerlich, obwohl sie wusste, dass ihr niemand antworten würde. Ihre Stimme hatte noch immer einen leicht zischenden Unterton, der an das Flüstern von Flammen erinnerte. „Er hätte mich nicht einfach mit diesem bekloppten Weiberheld ersetzen dürfen.“ Ihr kleiner Feuervogel zuckte nur hilflos mit den Schultern. Ihr war die ganze Situation sichtlich unangenehm und so recht schien sie auch nicht zu wissen, wie sie mit dem Verhalten ihrer Trainerin umgehen sollte. Diese wandte sich aber schon wieder ab und machte ihrem Unmut Luft, indem sie gegen den Bettkasten ihres Bettes trat. Ihre Wut war noch lange nicht erloschen, sondern nur auf ein halbwegs menschliches Maß geschrumpft. Sie spürte Junggluts Furcht und rief daher ihre Partnerin zurück in deren Pokéball, wo sie sich ausruhen konnte. Es war der Rothaarigen ohnehin gerade ganz recht, alleine zu sein, da sie so in aller Ruhe auf ihren Freund und Vorgesetzten wütend sein und sich über seinen Verrat an ihr aufregen konnte. Wie konnte dieser Junge es nur wagen…? Und dann hatte Caleb auch noch den Nerv, seinen p-Pod zu deaktivieren. Nun konnte sie ihn nicht einmal erreichen. Mit einem Schlag mischte sich nun zu der Wut auch Sorge um ihren Freund, die nicht länger von rasendem Zorn zurückgehalten werden konnte. Niemand konnte sagen, was ihn auf Galazir erwartete und er hatte noch nicht einmal einen technischen Betreuer, der ihn vom Hauptquartier aus unterstützte. Normaler Weise hätte das Domi gemacht, aber dieser war zurzeit wegen dem Verdacht auf Infomationsdiebstahl und Spionage in einem gesonderten Zimmer auf der Krankenstation.
„Warum konnte dieser Aufreißer nicht ein paar Tage damit warten, Domis PC zu hacken?“, murrte sie halblaut und ungnädig, bevor sie sich wieder auf ihr eigenes Bett fallen ließ und den Kopf stöhnend in den Kissen versenkte. Unaufgefordert begann ihr Kopf alle Ereignisse der letzten Zeit durchzugehen und Verknüpfungen herzustellen. Vielleicht hatte er auch schon vorher damit begonnen, jedenfalls kam er nun wohl zu einem Ergebnis und mit erstaunlicher Präzision platze plötzlich ein Bild, eine Erkenntnis in Sabrinas alles andere als rosigen Gedanken und drängte sich unangenehm in den Vordergrund. Die Rothaarige spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Unfähig noch länger an sich zu halten, sprang sie auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Das konnte nicht sein! Und doch, es war logisch. Schnell ging sie in Gedanken jede Verknüpfung durch, die sie unbewusst erstellt hatte, kam aber wieder zu dem gleichen Ergebnis. Und das bedeutete eine Sache für sie: sie musste handeln und zwar rasch. Nur, was konnte sie von hier aus tun? Sie musste einen Weg finden, von dieser Insel fortzukommen.
Schon fast an der Zimmertür, hielt sie noch einmal inne und schnappte sich den p-Pod von ihrem Nachttisch. Die Tasten, die sie betätigte, fanden ihre Finger von ganz allein und schon umhüllte sie das gewohnte, rötliche Licht, welches ihren Identitätswechsel begleitete. Kaum war es erloschen, griff das nun blonde Mädchen an ihren Gürtel und ließ ihr Luxtra erscheinen. Cleopatra hob aufgeregt den Kopf und blickte die Trainerin an, sie wusste, gleich würde es wieder lustig werden.
Ob Ethan geahnt hatte, was für einen Gefallen er Jess mit diesem Pokémon getan hatte? Wohl kaum, denn das ehemalige Crypto mit dem unstillbaren Freiheitstrieb und der Angewohnheit, jedes Schloss zu knacken, hatte sich bereits kurz nach seiner Erlösung als unendlich wertvoller Helfer für die Diebin entpuppt. Die besondere Begabung des großen Vierbeiners, durch Wände sehen zu können und seine Fähigkeiten im Bereich des Einbruches, ermöglichten es Jesica, sich in dem eigentlich feindlichen PA Hauptquartier sorgenlos und völlig frei zu bewegen. Ihre Gefährtin mit dem blauschwarzen Fell übernahm stets die Führung und gab acht, dass sie beide nicht in Agenten oder den Sichtbereich der Kameras gerieten. Und solange die Blonde Cleo regelmäßig Auslauf gewehrte und sie ihrer Leidenschaft nachkommen ließ, war das Luxtra auch ohne große Probleme händelbar.
Die Flure wichen rasch an ihnen vorbei, als Jess und Cleo durch die Gänge der PA eilten. Das Donnerwesen hielt ihr flottes Tempo mühelos mit. Kleine Stromschläge in die Stahlwände, schalteten kurz die Kameras, denen sie nicht ausweichen konnten, ab, wobei Cleo genau darauf achtete, dass die Unterbrechung genau rechte, um aus dem Sichtfeld der Kamera zu verschwinden, aber nicht lang genug war, um den Alarm auszulösen.
Auch die Türen der Krankenstation öffneten sich widerstandslos für das Duo. Selbst die Tür, die den Raum verschloss, in dem der verdächtige Hacker unter Arrest gestellt war, schwang schon nach kurzer Zeit auf. Das ehemalige Mitglied von Team Stormnight lächelte selbstgefällig und schlüpfte in den Raum. Domi schreckte auf, als sie sich neben seinem Bett leise räusperte.
„Ruhig bleiben, ich bins nur.“, raunte sie ihm eindringlich zu und löste die Hand, die sie ihm reflexartig auf den Mund gepresst hatte.
„Was machst du hier?“, erkundigte sich der Computerspezialist ablehnend und wandte leicht den Kopf ab.
„Ich brauch deine Hilfe, Caleb ist auf einem Alleingang…“, setzte sie eindringlich an, aber Domi unterbrach sie: „Ja und? Macht er doch dauernd, das ist typisch.“
„Er ist auf einer nicht genehmigten Mission mit Tobias.“, setzte Jess ernst nach.
„Ok, das ist neu, aber soll er doch.“, murrte der Junge abweisend, „Ruf ihn doch einfach an, wenn du dir Sorgen machst, oder glaubst du etwa, er betrügt dich?“
„Er hat seinen p-Pod nicht an und ist mit dem Trottel auf dem Weg nach Galazir, um Nancy abzuholen, die mich um Hilfe gebeten hat.“, zischte die Blondine, die allmählich ihre ohnehin gerade begrenzte Geduld verlor. Nun machte Domi große Augen und blickte sie direkt an.
„Wäre es da nicht besser, wenn du dabei wärst?“, erkundigte er sich sarkastisch.
„Mach du das mal unsrem Zweifler klar. Ich weiß nicht, was ihn gebissen hat, aber scheinbar misstraut er gerade allem und jedem.“, schimpfte die Diebin verhalten.
„Scheint ja doch was in der Beziehung zu krieseln.“, bemerkte der Hacker kalt, „Aber mal ehrlich, bist du noch bei Trost? Ich bin unter Arrest, weil ich angeblich die PA verraten haben soll und du plauderst so freimütig aus dem Nähkästchen.“ Seine Stimme machte klar, dass er wirklich am Verstand seiner Gesprächspartnerin zweifelte, was diese veranlasste, die Augen drohend zu Schlitzen zu verengen.
„Lass den Scheiß, wir beide wissen, dass du überhaupt nicht der Spion sein kannst.“, fuhr sie ihn ungehalten an und erneut lag ein leichtes Flackern in ihrer Stimme.
„Wie kannst du dir so sicher sein? Hast du überhaupt eine Ahnung, was man bei mir gefunden hat?“, erkundigte sich Domi beinahe herablassend.
„Ich weiß es genau, ich war im Zimmer, als Tobias Caleb über seinen Fund aufgeklärt hat.“, meinte sie drohend und blickte starr auf den Jungen herab, „Viel wichtiger find ich aber das, was nicht gefunden wurde und das sind sämtliche Informationen über mich, Jess und meine Rolle in der Sache. Du hattest diese Daten von Anfang an und wärst du wirklich auf der Seite unserer Gegner, wäre es ein leichtes für dich gewesen, mich auffliegen zu lassen. Die Witzbolde haben ganz andere, teilweise brisantere Sachen auf deinem PC gefunden, wo ich mich frage, wieso du solche Daten, die dir das Genick brechen können offen rumliegen lässt, während du mich und meine Identität unbedingt schützen willst. Das passt nicht zu einem Doppelagenten.“
„Schön, dann traust du mir eben, damit bist du aber die einzige und jetzt lass mich allein!“, murrte der Junge ablehnend, was zur Folge hatte, dass dem Mädchen endgültig der Geduldsfaden riss.
Ein zischendes Fauchen entwich ihr und ihre Augen glühten blutrot auf, während ihre Hand vorschnellte, den Hacker am Kragen packte und aus seiner liegenden Position in die Höhe zerrte. Entsetzt starrte Domi mit offenem Mund das Wesen an, das plötzlich vor ihm stand und war dabei unfähig etwas zu sprechen.
„Hör mal zu Freundchen, du reißt dich jetzt sofort zusammen und schwingst deinen Arsch aus dieser ekelhaften Deprilaune, sonst vergesse ich mich auf der Stelle. Das hält ja keiner aus.“, verlangte sie drohend und ihr funkensprühender Blick machte deutlich, wie ernst ihr diese Drohung war.
Wenn Domi es noch gekonnt hätte, hätte er wohl in diesem Moment unbewusst den Kopf eingezogen, so leistete er aber keinerlei Widerstand, als sie ihn wieder unsanft auf das Bett zurückfallen ließ.
„Und jetzt hörst du mir erst einmal zu!“, verlangte sie und funkelte ihn ärgerlich an. Der Braunhaarige schien wie in sich zusammengeklappt, denn er nickte schwach und starrte sie weiterhin an, als wäre er sich nicht sicher, ob seine Augen ihn trogen, während das Feuer schon wieder aus ihrer Erscheinung wich.
So knapp wie möglich teilte sie dem Hacker ihre Erkenntnisse von vorhin mit und als sie geendet hatte, stand in Domis Blick nur noch blankes Entsetzen.
„Bist du dir sicher?“, hackte er beinahe kleinlaut nach.
„Ziemlich! Das ist eine Falle und die beiden steuern geradewegs darauf zu.“, bestätigte sie angespannt.
„Und was hast du jetzt vor?“, erkundigte sich der Junge vorsichtig.
„Ich muss nach Galazir und Caleb warnen.“, antwortete sie.
„Aber wie? Du hast noch nie einen Jet gesteuert, geschweige denn, dass du einen in deinem Inventar hast und mit deinem Boot bist du viel zu langsam.“, warf der Hacker ein.
„Ein Jet zu entwenden dürfte noch möglich sein, ich bring ihn ja wieder zurück. Aber das Problem ist das Fliegen, wie du schon gesagt hast. Ich kann kein solches Gerät fliegen, deshalb brauch ich auch deine Hilfe, denn du kannst es, sogar ohne das Hauptquartier zu verlassen.“, erinnerte Jess ihn.
„Aber wie? Schau mich an, ich bin ein Krüppel! Ich kann nicht einmal einen Finger rühren. Und Professor Samina hat meinen PC sperren lassen.“, stöhnte er hoffnungslos.
„Jetzt werd mal keine Heulsuse, wir beide wissen, dass dich ein gesperrter PC nicht aufhalten kann und ich hab schon oft gesehen, wie du deinem Porygon Z Sachen gesagt hast und selbst etwas anderes gewerkelt hast. Außerdem könnte es hierbei um das Leben eines Freundes gehen.“, fegte die Blonde seine Argumente vom Tisch.
„Und wie soll ich das ohne Pokémon machen? Ich stehe unter Arrest, man hat sie mir demnach abgenommen…“, begann Domi, doch er wurde durch leises Kratzen an der Türe unterbrochen.
„Perfektes Timing.“, merkte das Mädchen an und ließ ihr Luxtra ins Zimmer, welches zwei Pokébälle im Maul hatte.
Es klapperte leise, als das Donnerwesen die Bälle in die Hände ihrer Trainerin fallen ließ.
„Damit wäre auch das Problem behoben.“, merkte das Mädchen an und öffnete einen der Kapseln, worauf Rotom freigesetzt wurde.
„Lucker!“, kommentierte Domi und folgte mit den Augen seinem Blitzgeist, der sich scheinbar sehr freute, wieder bei seinem Menschen zu sein, „Rotom, wir machen einen Spaziergang. Hilfst du mir?“ Der kleine, rote Geist nickte und huschte sofort in den Rollstuhl, welcher neben dem Bett stand. Nur Sekunden später erwachte dieser zum Leben. Mehrere Schläuche fuhren wie Tentakeln aus dem Gerät und umschlungen den Jungen. Vorsichtig hoben sie ihn an und setzten ihn sicher auf dem Stuhl ab.
„Wir können.“, erklärte Domi wortkarg und Jess öffnete die Tür.
„Bleib einfach dicht hinter uns beiden.“, wies sie den Hacker an und rannte zusammen mit Cleopatra los.
„Du willst doch wohl nicht einfach so durch das Hauptquartier der PA laufen?“, hackte der Junge noch nach, aber die Blonde brachte ihn mit einer raschen Bewegung zum Schweigen.
Wie zu erwarten, erreichte die kleine Gruppe ohne Schwierigkeiten den Bereich, in dem Domi sein Zimmer und Arbeitsraum hatte. Der lebende Rollstuhl öffnete selbstständig die Zimmertür und die Diebin verabschiedete sich, um sich auf den Weg zum Dach zu machen. Und als sie wenige Minuten später in die klare Nachtluft trat, hatte ihr der Hacker bereits einen Jet auf den p-Pod geladen.
Zum ersten Mal saß sie hinter dem Steuer eines dieser stählernen Vögel, aber sie hatte nicht vor, viel selber zu fliegen. Den Start musste sie überstehen, erst danach konnte ihr technischer Helfer den Autopiloten spielen. Mit seiner Anweisung war das allerdings auch kein großes Problem und sobald die Maschine die notwendige Höhe erreicht hatte, verband Jess ihren p-Pod mit der Steuereinheit und gab somit die Kontrolle über das Fluggerät ab.
„Eine Diebin, die mal eben so durch das angeblich sicherste Gebäude Gorars rennt… Das sollte Professor Samina eigentlich zu denken geben.“, schnitt Domi beinahe scherzhaft an, aber der Versuch, die Stimmung zu lockern misslang, sie waren beide viel zu angespannt wegen dem, was vor ihnen lag.
Zur gleichen Zeit näherte sich Calebs „White Arrow“ bereit ihrem Ziel. Die beiden Jungen hatten die Zeit genutzt, um einige der Dinge zu klären, die in letzter Zeit zwischen ihnen ungesagt geblieben waren. So war Tobias inzwischen auch über ihr Ziel und die eigentliche Mission unterrichtet, ebenso, dass Jess zu den Guten gehörte und für die PA arbeitete. Nur ihre wahre Identität hatte Caleb noch vor seinem besten Freund zurückgehalten. Es hatte verdammt gut getan, endlich mit Tobias reden zu können.
„Hey Caleb, bevor wir uns gleich in feindliches Gebiet stürzen, wie wärs mit ner kleinen Erfrischung?“, wollte der Schwarzhaarige wissen und hielt seinem Kameraden eine Dose Limonade hin, die dieser gerne annahm. Mit kräftigen Schlucken leerte Caleb seine Dose und dematerialisierte diese mit seinem p-Pod.
„Ich raff die ganze Story immer noch nicht.“, erklärte Tobias zwischen zwei Schlucken, „Ich meine, mir war schon immer klar, dass du einiges auf dem Kerbholz hast, aber, was du mir erzählt hast, schlägt dem Fass echt den Boden aus. Wenn du die Seite wechseln würdest, könntest du mit deinen Spielchen bestimmt in Rekordzeit Karriere machen. Das ist doch fast zu krass um wahr zu sein. Aber irgendwie überrascht es mich doch, dass du in deiner Geschichte keine feuerspeienden Seeschlangen und Eis erschaffenden Elevolteks erwähnt hast. Denn das hätte mich wirklich interessiert.“
„Du spielst auf den Kampf zwischen Jess und Ethan an.“, stellte der Lilahaarige fest, „Dazu kann ich nicht viel sagen, vermutlich weißt du sogar mehr als ich, denn du warst dabei. Ich habe Jess auch später nie mit diesem Garados kämpfen sehen, aber ich weiß, dass ihr Kanivana es überlebt hat und dass Garados ein wildes gewesen ist, welches sie bis zu diesem Kampf nicht gekannt hat.“
„Das heißt also, sie hat dieses Monster nicht behalten?“, erkundigte sich Tobi fassungslos.
„Weiß ich nicht genau. Meinst du jemand wie Jess erzählt ihrem Vorgesetzten alles?“, wich Caleb recht überzeugend aus. Es war eine Sache, wenn sein Kumpel alles über ihn und seine Rolle in dem Spiel wusste, aber Jess war etwas anderes. Mal ganz davon abgesehen, dass er kein Recht hatte, ihre Geheimnisse zu verraten, war dieses Mädchen ja laut dem, was sie und Domi immer wieder angedeutet hatten, mehr als nur ein normales Mädchen und unter Umständen weniger menschlich, als es den Anschein haben konnte. Nach all dem, was Tobi heute schon erfahren hatte, wäre es nach Meinung des Juniorchefs zu viel gewesen, ihm jetzt auch noch davon zu erzählen, dass Jess, die Diebin seine Freundin war und über unglaubliche Kräfte verfügte, ebenso, dass die Gegner sich mit finsteren Mächten, Göttern oder wie auch immer verbündet hatten. Das würde nun doch viel zu sehr in Richtung Märchen gehen, um noch glaubhaft zu sein.
„Trink aus, wir müssen.“, wies Caleb seinen Kameraden, der bereits angesetzt hatte, um was zu sagen, an.
„Was meinst du, ich kann die Insel doch noch gar nicht sehen.“, wunderte sich der Gifttrainer.
„Eben, wenn wir sie sehen, sehen die Leute dort uns auch, also müssen wir unauffälliger näherkommen.“, erklärte Saminas Sohn, als wäre das selbstverständlich, was es für ihn auch tatsächlich war. Sein Kamerad schien das nicht so zu sehen, vor allem nicht, als Caleb ihm einen Pokéball in die Hand drückte.
„Was zur Hölle hast du vor?“, wollte Tobias besorgt wissen.
„Ganz einfach, der Rest wird geflogen, wir müssten in spätestens zehn Minuten da sein.“, informierte der Lilahaarige den Badboy und tippte einige Male auf seinen p-Pod.
„Bist du wahnsinnig? Lass das…“, brüllte der Schwarzhaarige schockiert, doch schon begann sich der Jet um sie beide aufzulösen und sie fielen. Caleb wartete geübt, biss er den Bereich des Stahlvogels verlassen hatte und rief dann Libelldra aus seinem Ball, welches ihn routiniert im Fall auffing. Tobi stellte sich weit weniger geschickt an und schaffte es auch direkt, Staraptor so zu rufen, dass der ihn voll verpasste und ihm im Sturzflug hinterher jagen musste. Trotzdem schaffte es der große Vogel schnell, ihn doch noch sicher aufzufangen und wieder aufzusteigen. Der Juniorchef lachte neckend und lenkte Libelldra mit knappen Worten in die Richtung, in der ihr Ziel lag.
„Du bist genauso wahnsinnig, wie deine Mutter.“, schimpfte der Schwarzhaarige und klammerte sich an dem schwarzen Vogel fest, während dieser seinem Trainer und dem Drachen folgte.
„Was hätten wir sonst machen sollen? Versuchen mit einem Jet direkt am feindlichen Hauptquartier zu landen, welches auch noch ein einzelner, spitzer Felsen ist, der garantiert keine Landebahnen besitzt? Einen Landeplatz für Helikopter haben sie, aber ein Jet ist eben kein Heli. Und außerdem hätten wir dann auch direkt klingeln können. Nicht ideal, wenn man unentdeckt bleiben will.“, schleuderte Caleb ihm entgegen. Er musste brüllen, denn der rauschende Wind riss ihm die Worte von den Lippen.
„Ach nein, DU hättest den Jet gleich gegen die Felswand geflogen.“, setzte der Lilahaarige noch nach. Diesen Spruch hatte er sich einfach nicht verkneifen können und er war sich sicher, dass Tobi ihn hörte, denn der Gesichtsausdruck seines Gefährten verfinsterte sich kurz. Aber dann tauchte schon Galazir Island wie ein riesiger, schwarzer Zahn vor ihnen in der Nacht auf und an reden dachte keiner von ihnen mehr.
Still und leise landeten sie auf einem der vielen natürlichen Balkone des Steinspeeres und Caleb rief seine geflügelten Freunde zurück und wandte sich an seinen Begleiter.
„Wir sollten nach Möglichkeit soweit es geht auf Licht verzichten. Von diesem Eingang aus kommen wir direkt zum bewohnten Teil der Insel, wir müssen nur immer geradeaus gehen. Dazu brauchen wir nicht unbedingt Licht, wir können uns die meiste Zeit an den Wänden entlang tasten. Sobald wir auf den Hauptgang zu dem bewohnten Teil gelangen, müssen wir vorsichtiger sein. Diesen erkennen wir an der künstlichen Beleuchtung und daran, dass der Fels dort bearbeitet ist. Von dort an hab ich eine Karte.“, erklärte der Juniorchef angespannt und ließ gleichzeitig sein Hundemon erscheinen.
„Woher zur Hölle weißt du so viel über diesen Ort?“, wollte Tobias fassungslos wissen.
„Weil ich Jess heute Abend noch danach gefragt hab und mir den Weg penibel genau erklären hab lassen.“, antwortete der Lilahaarige überraschend brüsk.
„Wie du hast heute noch Jess getroffen?“, hackte der Gifttrainer ungläubig nach.
„Ja, kurz bevor wir beide uns auf dem Dach getroffen haben, hab ich mich von ihr verabschiedet, oder besser, sie hat mich ziemlich wütend stehen lassen, nachdem ich ihr gestanden hab, dass sie nicht auf diese Mission mitkommt, ich sie aber zuvor über Galazir ausgefragt hab.“, gestand Caleb seufzend, „Ich fürchte, das wird sie mir nicht so schnell verzeihen.“
„Moment! Stopp!“, wehrte Tobias ab, „Nochmal zum Mittschreiben: Jess, die Diebin hat dich heute getroffen? Im HQ?? Und sie hätte eigentlich mit dir auf diese Mission gehen sollen? Was soll der Scheiß? Ich dachte, deine Freundin wäre die Begleitung… NEIN!“ Schockiert starrte er seinen besten Freund an. „Bitte, sag mir jetzt nicht, dass JESS deine ominöse Freundin ist.“
„Tut mir leid, aber den Gefallen kann ich dir nicht tun.“, erwiderte der Juniorchef ernst, „Aber bleib beim Thema, du hast später noch genug Zeit, um über privates zu reden, jetzt konzentrier dich auf die Mission.“ Sein Kamerad schien darauf etwas einwenden zu wollen, aber der Lilahaarige ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen und redete gleich weiter: „Also, sollten wir uns in der Dunkelheit verlieren, was ich nicht hoffe, versuche einen Weg nach unten zu finden. So ziemlich alle Gänge, die nach unten führen, enden irgendwann im Wasser und haben Zugang zum Meer. In deinem Inventar ist ein Boot, wenn ich mich recht erinnere. Nutze das, um von der Insel ein Stück wegzukommen. Wenn alles gut geht, werde ich dich dann wieder aufsammeln. Aber lass uns zusehen, dass wir zusammenbleiben.“
„Du betrittst zum ersten Mal diese Insel und hast schon einen konkreten Plan und einen Notfallplan, falls was schiefgeht... Streber!“, grummelte der Schwarzhaarige, „Ich finds übrigens nicht gut, dass du das Thema wechselst.“
„Lass stecken Tobi, das ist der falsche Ort für dieses Thema. Sobald wir von diesem großen Felsen wieder herunter sind, gerne, davor nicht. Und jetzt halt die Klappe und komm mit.“, wies Caleb ihn genervt an und betrat ohne sich umzudrehen den Tunnel. Nur wiederwillig folgte Tobias ihm. Ein kurzer, roter Blitz erleuchtete schwach den Gang, als der Lilahaarige sein Hundemon zur Unterstützung rief. Dieses konnte ihm mit seinem ausgezeichneten Geruchssinn sicherlich nützlich sein.
Tatsächlich schaffte Tobias es, den Mund zu halten, während sie durch die dunklen Höhlengänge Galazirs immer tiefer ins feindliche Gebiet eindrangen. Die linke Hand konstant auf der Schulter seines vierbeinigen Gefährten und die Rechte tastend an der Wand, kam der junge Spezialagent seiner Meinung nach zügig voran und erreichte kurze Zeit später tatsächlich einen Bereich, in dem sich der Boden anders anfühlte. Prüfend ließ der Junge die Hand über die verdächtig glatte Wad gleißten, er hatte sich von Zeit zu Zeit nur an Hundemon gehalten und auf dessen Instinkt vertraut. Hinter der nächsten Biegung des gewundenen Weges wurde es dann auch endlich hell. Schnell sprang Caleb zurück und suchte im unbeleuchteten Bereich an der Wand Schutz, ehe er erneut um die Ecke schielte. Niemand war zu sehen, aber er wusste ganz genau, dass sie ab jetzt sehr vorsichtig sein und jede mögliche Deckung nutzen mussten.
Sein Feuerpokémon stand aufmerksam neben ihm und hielt Wache, während er die Karte auf seinem p-Pod öffnete, die Domi einst aus dem Gerät gezogen hatte, auf welches Jess bei einer ihrer Irrwanderungen gestoßen war. Leider zeigte sie nur den bewohnten Teil und war ohne Insiderwissen für jeden, der nicht zum Team Stormnight gehörte, völlig wertlos. Sobald er diese nun aber griffbereit hatte, wandte er sich zu Tobias um, um diesem ein Zeichen zu geben und erstarrte in der Bewegung. Dort war niemand! Aber wie war das möglich? Immerhin war er sich sicher, die ganze Zeit hinter sich die gedämpften Schritte seines Kameraden gehört zu haben. Sicher, sie hatten sich bemüht leise zu sein, aber dennoch auf jedes Geräusch gelauscht. Umso beunruhigender war nun das Fehlen des Freundes für den Jungen. Selbst Hundemon wirkte verwirrt und schnüffelte prüfend am Boden, ehe er seinen Menschen bestätigend anblickte. Also war sich das finstere Wesen auch sicher gewesen, den anderen nicht verloren zu haben.
„Na super.“, brummte Caleb genervt, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Mission. Er konnte jetzt nicht zurückgehen und Tobi wusste ja ohnehin, was er in einem Fall wie diesem zu tun hatte.
Vorsichtig aber zügig schlichen die beiden weiter, immer darauf achtend, dass sie sich möglichst in Deckung bewegten, doch außer den vielen Windungen des Ganges gab es keine. So war es für den Lilahaarigen noch bedeutsamer, sich auf die deutlich besseren Sinne seines vierbeinigen Partners verlassen zu können.
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„Ich hab jetzt alles überprüft und du hattest Recht.“, erklang Domis Stimme aus Jess p-Pod. Die Diebin hatte das bereits erwartet und war wenig überrascht.
„Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig kommen wollen.“, meinte die Blondine konzentriert und starrte weiter auf die Uhr am Armaturenbrett. Die Beschäftigung schien sie ein wenig zu beruhigen.
„Wird schwer, aber ich habe den Vorteildass ich Galazir kenn. Zudem hast du ja gesehen, dass ich inzwischen, mit Cleos Hilfe, Übung darin hab, unbemerkt durch ein hochgesichertes Gebäude zu rennen und unser Hauptquartier ist deutlich besser gesichert, wie der Speer des Himmels. Die beiden Jungs müssen den Weg vorsichtig gehen. Ich hoffe also zumindest, dass ich sie einholen kann.“, antwortete Jess ihm angespannt.
„Ich sags nicht gern, aber du hast Recht, sobald du auf der Insel bist, wirst du rennen müssen und darauf vertrauen, dass dein diebisches Fellknäul die Situation im Griff hat und gleichzeitig die Spur der beiden aufnehmen kann. Wobei ich fürchte, das aufspüren wird schwer.“, brummte Domi. Wie die Diebin versuchte er das Gespräch am Laufen zu halten, um sich selbst ein wenig von seinen Sorgen abzulenken und vor allem der Frage, was wäre, wenn sie beide zu spät reagiert hatten.
„Wir müssen darauf vertrauen, dass Caleb die Karte richtig ansetzt und sich nicht verirrt.“, gab die Blonde zurück.
„Keine Sorge, wir reden hier über Caleb und nicht über dich. Er vertut sich zwar auch recht oft mit dem Weg, aber findet doch meistens irgendwie zum Ziel. An dich kommt er jedenfalls noch lange nicht heran. Die Frage ist nur, ob DU dich nicht verirrst.“, erinnerte sie der Computerexperte, aber ohne Scherz in der Stimme. Keinem von ihnen war nach albern zumute.
„Nachdem ich mich anderthalb Monate nur verlaufen hab, hats sich bei mir doch eingependelt.“, murrte Jess und trommelte mit den Fingern auf der Armlehne ihres Stuhls, „Und ich hatte insgesamt drei Monate dort. Ich werde mich schon zu Recht finden.“
„In Ordnung.“, meinte Domi und machte so deutlich, dass er keinen Streit wollte, „Wie wirst du zur Insel kommen?“
„Vermutlich mit Calebs Standarttaktik, das ist nun mal der schnellste Weg.“, antwortete sie ihm.
„Allerdings ist dein Lavados vor dem Nachthimmel deutlich auffälliger, wie ein Überschalldrache und ein schwarzer Vogel.“, erinnerte er sie zweifelnd.
„Darauf lass ichs ankommen.“, entgegnete die Diebin, „Was bleibt mir auch anderes übrig?“
„Hm… Hast wohl Recht.“, murmelte er und verstummte. Da Jess auch nicht mehr wusste, was sie sagen sollte, trommelte sie weiterhin nur nervös mit den Fingern und starrte nach vorn aus dem Fenster.
„Wegen der Daten, die auf meinem PC gefunden wurden…“, begann der Hacker zögernd.
„Ist doch ok, ich hab dir schon gesagt, dass ich dir glaube, wenn du sagst, die hat man dir unter geschoben.“, wehrte die Blonde ab.
„Aber nicht alle.“, kam es leise und schuldbewusst von Domi, „Einige sind leider wirklich von mir.“
Einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen in denen die Undercoveragentin nach Worten suchte.
„Du meinst das Programm, mit dem man mit der p-Pod-Technologie die DNS verändern kann?“, wollte Jess mit gefasster Stimme wissen. Das erschrockene Keuchen am anderen Ende war Bestätigung genug. „Du hast dieses Programm bei mir angewandt, als du die Identität von Jess erschaffen hast.“, vermutete die Diebin weiter.
„Woher…?“, kam es leise zurück.
„Man Domi, sei nicht blöd. Glaubst du ich bin blind und seh nicht, dass sich meine komplette Körperform verändert und sogar meine Fingerabdrücke unterschiedlich sind? Außer meine Augen gibt es keine körperliche Gemeinsamkeit zwischen meinem beiden Identitäten. Nur mit ‚Verkleidungen‘ und anderen Klamotten würde man das nie hinkriegen.“, erklärte sie ihm Kopfschüttelnd, „Caleb weiß es auch, er hatte erst die Idee meine Fingerabdrücke zu vergleichen. Und er ist immerhin auch schon meinen beiden Formen körperlich sehr nahe gekommen.“
Wieder war es einen kurzen Moment still. Bevor Domi sich wieder meldete: „Aber Caleb hat keinen Bezug zu dieser Datei erstellt.“ Seine Stimme wurde trocken. „Deshalb konnte ich auch im Verhör mich nicht dazu äußern. Hätte ich erklärt, wofür das Programm ist…“
„Weil du sonst Caleb und mich verraten hättest und damit wär meine Identität als Jess aufgedeckt gewesen.“, vollendete die Diebin den Satz.
„Genau an diesem Programm und an dem anderen, welches ich nicht abstreiten kann, hatte ich am Abend noch über meinen p-Pod gearbeitet. Darüber muss ich eingeschlafen sein, denn der Computer war nicht heruntergefahren. Deshalb konnte der Giftspinner auch überhaupt an diese Daten gelangen: Sie waren noch auf dem Desktop geöffnet und da ich auf der Krankenstation festhing, konnte ich auch nicht eingreifen, als er sich zu meinen Räumen Zutritt verschafft hat.“
„Mit anderen Worten, der in der Lage ist ein Schloss zu knacken, hätte dich in diesem Moment auffliegen lassen können.“, spann die Blonde den Gedanken weiter.
„Genau.“, stimmte ihr Domi leicht widerstrebend zu, „Zumindest hätte jeder diese Daten oder Programme sehen und dann gezielt danach suchen können, was schon deutlich kniffliger ist.“
Sie wollte eigentlich noch etwas sagen, aber der Braunhaarige ließ sie nicht dazu kommen indem er einwarf: „Egal, jetzt erst mal Caleb zurückholen. Danach kümmern wir uns um mich. Du solltest langsam übrigens aussteigen. Du bist fast da.“
Jess nickte, stimmte ihm dann aber noch einmal so zu, da sie wusste, dass er sie gerade nicht sehen konnte. So stand sie auf, nahm ihren p-Pod von der Ablage und trennte dessen Verbindung zum Jet, wonach sie diesen dematerialisierte.
Das vergleichsweise große Fluggefährt wurde durchsichtig und löste sich schließlich auf. Jess blondes, schulterlanges Haar tanzte wild um ihren Kopf, als sie aus dem Himmel fiel. Schnell breitete sie Arme und Beine aus, um ihren Fall zu kontrollieren und entließ Emanim aus seinem Ball. Fliegen und mit weit geöffneten Schwingen erschien der edle Feuervogel in ihrer Nähe. Mit einem raschen Blick zu seiner Menschenfreundin hatte er die Situation erfasst und legte die Flügel an den Körper und ging zum Sturzflug über. Auch die Diebin presste nun die Arme fest an die Seiten und ließ sich nach vorn kippen, sodass sie mit dem Kopf voraus auf die Wellen zuraste. Nim schwebte neben ihr und drehte sich spielerisch um sie. Seine Drehungen erfassten auch sie und gemeinsam schraubten sie sich wie eine Einheit in die Tiefe, als hätten beide das schon immer gemacht.
Pure, wilde Freude wallte in Jess auf und verdrängte mit einem Schlag ihre Sorgen an das, was vor ihnen lag. Der Rausch dieses Sturzes übermannte sie mit all seiner Kraft und sie gab sich ganz dem Spiel der Elemente hin. Alles, was sie gerade nicht in ihrem Kopf benötigte, trug der reißende Wind davon und ließ nur klare Gedanken, scharf wie Schwerter zurück. Ein Zittern der freudigen Erregung wallte durch ihren Körper und ließ ihr Herz vor Begeisterung schneller schlagen. Sie spürte, wie auch ihr geflügelter Freund diesen Fall genoss und ihr wurde mit einem Schlag klar, wie stark das Vertrauen zwischen ihnen beiden war. Eine Bindung, die man wohl nur mit seinem allerersten Pokémon eingehen kann und die nicht reißt, egal, wie weit man voneinander getrennt ist.
Die Haut an ihren Schultern pochte und schien in Flammen zu stehen, so sehr spannte sie sich und ein eigentümliches Kribbeln lief die beiden langen Narben auf ihrem Rücken entlang. Mit einem Mal waren da Empfindungen, wie kein menschliches Wesen je verspüren sollte.
Etwas in ihr drängte danach, auszubrechen. Es wehrte sich und drückte von innen gegen ihre Schultern. Die Haut an diesen spannte sich und schien kurz vor dem Zerreißen. Fast schien es, als wehrten sich riesige, unsichtbare Flügel gegen ihr sterbliches Gefängnis und lechzten danach, es zu durchstoßen. Der Wunsch nach Freiheit stieg in ihr empor und mit ihm eine traurige Sehnsucht, die der Blonden für einen Moment den Atem raubte.
Dies alles spielte sich in wenigen Sekundenbruchteilen ab. Schon stieß das Lavados einen leisen, singenden Ruf aus, der sie wieder in die Wirklichkeit brachte. Das Wasser war schon sehr nahe und Nim wandte ihn nun den Rücken zu. Wie selbstverständlich griff sie mit beiden Händen nach den Ansätzen seiner Flügel, zog sich im Fall an ihn und schlang dann die Arme von hinten um seine Brust. Emanim drehte sich im Fall etwas, spreizte die Flügel und nutzte den Schwung, den die Schwerkraft ihm verliehen hatte, um diese Geschwindigkeit mit in die Waagrechte zu nehmen und zischte so, kaum langsamer werdend knapp über den schämenden Wellen auf Galazir zu. Durch diese Aktion gab es für keinen von ihnen den typischen Aufprall, wenn ein Vogel sonst im Flug seinen Reiter auffängt.
Auf dem Rücken des Lavados zu reiten war ein unbeschreibliches Gefühl für Jess. Sicher, sie war auch schon auf Calebs Staraptor geflogen, aber das war kein Vergleich. Mit Nim bildete sie eine beinahe perfekte Einheit, als bräuchte es zwischen ihnen keine Worte. Außerdem war der Flug des Feuervogels gänzlich anders. Er musste weniger mit den lodernden Flügeln schlagen, um vorranzukommen und zudem schwang in jeder seiner Bewegungen das Wissen über seine Stärke mit. Eine Kraft, die nur den Legenden bekannt war und sie von normalen Pokémon unterschied.
„Das hätten wir schon lange machen sollen.“, rief der edle Vogel ihr übermütig zu, was ihr ein Lächelnd entlockte.
„So oft du willst, mein Freund, aber lass uns erst unsere Arbeit machen.“, rief sie zurück, in der Hoffnung, dass er sie gegen den Wind überhaupt verstehen konnte. Sein melodischer Schrei ließ das vermuten und beide wandten den Blick nach vorn, als dort aus den Wellen die schwarzen Zacken des steinernen Speeres auftauchten. Dunkel und abweisend hob er sich gegen den Nachthimmel und das aufgewühlte, teerschwarze Meer ab. Ein Schauer jagte Jess über die Arme und die Ausgelassenheit während des Absprungs war vorbei. Nun galt es, ihre beiden Freunde so schnell wie möglich zu finden und mit ihnen die Insel wieder zu verlassen. Wie sehr sich doch ihre Gefühle beim Anblick der auftauchenden Insel gewandelt hatten. Das erste Mal, als sie sie erblickt hatte, war sie gerade zur Undercoveragentin geworden und voller Nervosität, der Aufgabe gerecht werden zu können, so wie von einem leicht mulmigen Gefühl, aber auch Bewunderung erfüllt gewesen, als sie mit Nancy auf Galazir zugeflogen war. Später, als sie zusammen mit der Schwarzhaarigen und dem charmanten Anführer der Gangstertruppe auf Beutezüge gegangen war, war der Anblick der Felsspitze schnell zu etwas vertrautem geworden, als würde man nach Hause kommen und sie hatte verstanden, warum Matias und Nancy ihre lebensfeindliche Insel so sehr liebten. Es musste für die schwarze Witwe schwer sein nun von diesem Ort fliehen zu wollen, den sie zusammen mit dem Mann, den sie heimlich geliebt hatte, bewohnbar gemacht hatte. Doch es war längst nicht mehr nur ihre Insel. Das war mit Matias Tod vorbei gewesen.
Nun aber empfand Jess nur noch Ablehnung und ein tiefsitzendes, durch und durch mieses Gefühl, als sie und Nim auf den pechschwarzen Felsen zuhielten. Es war, als wäre er in gewisser Weise entweiht worden.
Der Flug war kraftvoll und eigentlich viel zu kurz, doch nun konnte sie sich kaum mehr daran erfreuen, die Anspannung war zurückgekehrt. Gemeinsam mit dem Feuervogel wand sie sich knapp über den Kämmen der Wellen um Hügel und Täler, um nicht von der Gischt durchnässt zu werden und um zu vermeiden, dass sie vorher schon entdeckt wurden. Emanim machte seine Sache wirklich gut und bereits nach wenigen Minuten, schraubte er sich den Felsen hinauf und landete auf einer der vielen kleinen Plattformen vor einem Eingang. An genau dem gleichen hatten, eine gute halbe Stunde früher, auch die beiden Jungen das Höhlensystem betreten. Der dunkle Stein fühlte sich vertraut und gleichzeitig fremd an, als die Füße des Mädchens nach den Monaten der Abwesenheit wieder den rauen Stein unter sich spürten. Ihr Begleiter mit den brennenden Federn schüttelte unwillig den Kopf und strich mit der linken Kralle über die Gebetskette, die an seinem rechten Bein hing.
„Was ist los?“, erkundigte sich seine Trainerin.
„Diese Höhlen gefallen mir nicht. Ich bin ein Geschöpf des Himmels, unter der Erde hab ich nichts verloren.“, meinte er und schüttelte den edlen Kopf, wobei er es aber nicht unterdrücken konnte, sich leicht aufzuplustern, „Du solltest dort nicht reingehen, dieser Ort ist böse, das sagt mir mein Instinkt.“
„Nicht der Ort ist böse mein Freund, sondern die Kreatur, die hier gewöhnlich lebt.“, widersprach sie angespannt.
„Eine Kreatur? Ein Abgesandter der alten Götter?“, wollte Nim entsetzt wissen und schlug aufgebracht mit den‚ Flügeln.
„Kein Abgesandter, sondern ein Dieb.“, gab das Mädchen zurück, „Aber er sollte heute nicht hier anzutreffen sein. Und selbst, wenn doch, meine Freunde brauchen mich.“
„Du spielst ein gefährliches Spiel. Die Mächte, mit denen du dich anlegst, sind gewaltig.“, merkte Emanim an, „Gib auf dich acht und möge das Morgenrot dir den Weg weisen, Gefährtin.“ Bei diesen Worten senkte er den Kopf tief und hob die Klaue mit der Kette an die Brust, wo vermutlich sein Herz lag. Ein leises Lächeln stahl sich auf die Lippen der Diebin und mit einer Hand strich sie dem legendären Vogel über den Kopf, bevor sie ihn in seinen Ball zurückrief. Ein zweiter Lichtblitz flammte auf, als sie dafür Cleo aus ihrer Kapsel entließ. Aufmerksam und freudig, endlich in Aktion treten zu können, trat das Donnerwesen an die Seite ihrer Trainerin.
„Dann wollen wir mal.“, murmelte diese und trat durch den tiefschwarzen Schlund in das Innere des Felsenspeers ein.