Die Geschichte eines Jungen, der einem Mädchen helfen soll, seinen Verstand wiederzufinden und dabei auf einen Uhrmacher trifft, der auch nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben scheint. Man wird auch hier erkennen, dass es wohl leider eher einem Prolog als einer abgeschlossenen Geschichte entspricht. Tatsächlich überlege ich, diese Geschichte mal weiterzuschreiben, damit meine Nichte sie lesen kann, wenn sie alt genug ist. Bis dahin ist aber noch Zeit, um weitere Ideen zu sammeln. Und vielleicht Kommentare zum Prolog abzuwarten.
Das Mädchen und der Uhrmacher
Eigentlich hatte Eric kaum einen wirklichen Grund, den Markt zu besuchen. Letzten Endes würden ein paar Süßigkeiten das einzige sein, was er mitnehmen würde und die hätte er sich schließlich auch woanders noch kaufen können. Nun gut, vielleicht nicht die gleichen Süßigkeiten. Aber ihm war es eigentlich auch egal, was er aß – Hauptsache, es schmeckte gut. Vielleicht war es einfach die Atmosphäre, die ihn anzog: Die Läden und Wagen, die Händler, die ihre verschiedenen Waren zum Teil sehr laut anpriesen und natürlich die zahlreichen Gerüche, die in der Luft lagen und von Käse, Fisch, Backwaren, Reibekuchen und Bratwurst stammten – all das hatte in Verbindung mit dem lebhaften Treiben der anderen Besucher einfach eine unvergleichliche Wirkung.
Als Eric an einem Stand mit Spargel und Erdbeeren vorbeiging, wusste er noch nicht, dass ihm gleich Ärger bevorstehen würde. Ihm fiel auch nicht das Mädchen in kurzen Hosen und T-Shirt auf, dass dafür verantwortlich sein würde. Nur unterbewusst drang der Ruf des Spargelverkäufers an Erics Ohren: „Ein Kilo Spargel für vier Euro!“
Er wäre einfach weitergegangen, doch das eben bereits erwähnte Mädchen hielt ihn plötzlich am Arm fest, wodurch es ihm überhaupt erst auffiel.
„Nein!“, sagte dieses ungläubig. „Hast du das gehört?“
„W-wie?“, fragte Eric verwirrt.
„Ein Kilo Spargel!“, wiederholte das Mädchen, als hätte es gerade das Schnäppchen des Jahres entdeckt. „Für vier Euro!“
„Hä?“, fragte Eric.
„Hast du es nicht gehört?“
„D-doch, aber…“
„Was?“
Nun löste sich Eric allmählich aus seiner Starre.
„Was interessiert mich das?“, fragte er und riss seinen Arm los.
„Nicht sehr erfolgreich, ihre Strategie“, meinte das Mädchen zum Verkäufer. „Der hier interessiert sich nicht für ihren Spargel.“
„Nein, ich meine…“, setzte Eric zu einer Erklärung an, doch der Verkäufer, der zunächst verdutzt gewirkt hatte, fand rasch seine Sprache wieder: „Dann verschwindet gefälligst. Ihr schreckt Kunden ab.“
„Also, wenn sie so mit ihren möglichen Kunden reden, wird das nie was“, schüttelte das Mädchen ihren Kopf, wobei ihr die langen braunen Haare ins Gesicht fielen. Sie strich sie wieder zur Seite und sah den Verkäufer mit wichtiger Miene an. Dieser schien nicht erfreut.
„Ich habe gesagt, ihr sollt…“
„Schon klar“, unterbrach das Mädchen ihn energisch. „Wir wollten sowieso gerade gehen.“
Sie packte Eric am Arm und bugsierte ihn weg auf einen nur wenige Meter entfernten Parkplatz, der aus irgendeinem Grund für Autos gesperrt war. Eric versuchte immer noch herauszufinden, was gerade passiert war und ließ es deshalb über sich ergehen.
„Der war ja unfreundlich“, sagte das Mädchen. „Gut, dass wir da weg sind.“
Eric sah sie irritiert an.
„Wer bist du überhaupt?“, platzte es aus ihm heraus.
„Mein Name ist gerade völlig egal“, sagte das Mädchen mit harter Stimme. „Magst du mich?“
„Was?“ Eric wurde rot. „Woher soll ich das wissen, ich kenne dich ja nicht mal fünf Minuten.“
„Puh, wie unfreundlich. Na, egal. Spielst du was mit mir?“
„Nein!“, erwiderte Eric genervt und wollte gehen. Doch nach wenigen Metern vernahm er wieder die Stimme des Mäddchens.
„Du heißt also Eric. Schöner Name eigentlich.“
Eric wirbelte herum.
„Woher…“
Doch er brach ab, als er sah, dass das Mädchen sein Portemonnaie in der Hand hielt und seinen Kinderausweis betrachtete. Sie musste es ihm gerade eben aus der Hosentasche gezogen haben.
„Gib das sofort wieder her!“, rief er und stürmte auf das Mädchen zu, doch dieses streckte ihm die Zunge heraus und rannte los. Natürlich folgte Eric ihr und so rannten Verfolger und Verfolgte über den Parkplatz auf den Bürgersteig der nahen Hauptstraße und noch weiter. Als Eric fast in zwei erwachsene Männer hineinlief, kam ihm eine Idee.
„Rufen Sie bitte die Polizei“, sagte er ernst und völlig außer Atem. „Dieses Mädchen da vorne hat mein Portemonnaie gestohlen.“
„Oh, aber natürlich“, sagte der eine Mann in einem Ton, der Eric direktdeutlich machte, dass er es nicht ernst meinte. „Das machen wir sofort. Spielt in der Zwischenzeit schön weiter.“
„Wir spielen doch gar nicht. Sie…“
„Hör zu, Kleiner“, sagte der andere Mann. „Nerv uns nicht mit deinen Kindereien, klar?“
Entrüstet sah Eric den beiden nach, als sie weggingen. Dann drehte er sich wieder in die Richtung, in die das Mädchen gelaufen war. Sie war gar nicht weggelaufen, obwohl sie reichlich Gelegenheit dazu gehabt hätte, sondern stand in einiger Entfernung und drehte Eric eine lange Nase. Da die Erwachsenen offenbar keine Hilfe waren, lief Eric selbst wieder los, woraufhin das Mädchen auch wieder anfing, wegzulaufen. Doch es schien tatsächlich so, als wollte sie ihm eine Chance geben, sie zu verfolgen. Immer wieder wartete sie vor Kurven und kleinen Seitengassen, in denen sie leicht hätte verschwinden können, bis Eric genau gesehen hatte, in welche Richtung sie jetzt rannte. Schließlich jedoch hielt sie nicht mehr an, sondern riss die Tür eines Hauses auf und verschwand darin. Eric blieb keuchend davor stehen. Erst jetzt realisierte er, wie weit sie gelaufen waren. Die Gegend, in der sie sich jetzt befanden, war ihm fremd. Das Straßenpflaster sowie die Häuser wirkten alt und teilweise erneuerungsbedürftig. Doch darüber konnte er sich jetzt keine Gedanken machen. Das Mädchen war in diesem Haus verschwunden, jedoch zögerte Eric, ihr zu folgen. Das konnte das Haus von irgendjemandem sein und wenn er bedachte, wie sich das Mädchen ihm gegenüber bis jetzt verhalten hatte, würde sie sicher auch so kaltblütig sein, ihn in ein Haus zu locken, nur um ihn dann vielleicht des Einbruchs bezichtigen zu können oder irgendetwas in der Art. Andererseits hatte sie ja sein Portemonnaie, also konnte er beweisen, dass er einen guten Grund hatte, ihr in das Haus zu folgen. Schlussendlich entschied er sich, genau das zu tun.
Für einen Moment erwartete er fast, dass das Mädchen die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, doch dem war nicht so. Außerdem fiel ihm ein, dass sie die Tür auch nicht aufgeschlossen hatte – sie musste also immer offen gewesen sein. Diese Erkenntnis sorgte bei Eric für leichtes Unbehagen, ebenso wie die Tatsache, dass die Fenster des Hauses mit Brettern vernagelt waren. Entsprechend war es drinnen komplett dunkel und düster, doch ertastete Eric neben der Tür einen Lichtschalter, den er sogleich betätigte. Flackernd leuchtete ein Kronleuchter an der Decke auf und warf sein Licht auf einen kleinen Raum, der wie eine winzige Eingangshalle wirkte. Eine Treppe führte zu einer Tür weiter oben im Haus, eine andere Tür stand offen und zeigte so hinter sich mehrere Stufen, die hinab in einen Keller führten. In dem Raum stand ein Schirmständer mit einem löchrigen Schirm und ein Garderobenständer, an dem ein schäbiger, mottenzerfressener Mantel hing. Daneben lag ein umgefallener Ledersessel mit zerschlissenem Sitzpolster, gegenüber dem sich eine große Standuhr befand, die stehen gebelieben war. Überall lag Staub und insgesamt schien es, als würde hier niemand wohnen, was Eric irgendwie beruhigte. Immerhin würde man dann nicht wirklich von einem Einbruch sprechen können, oder? Sicher war er sich dabei jedoch nicht und so zog er es vor, schleunigst das Mädchen zu finden. Wahrscheinlich war sie durch die offene Tür in den Keller des Hauses geflohen, doch vielleicht hatte sie sich auch oben verschanzt. Eric stieg daher zunächst die Stufen zur höher gelegenen Tür hinauf, doch fand er diese verschlossen vor. Also blieb nur der Weg in den Keller übrig, wenn er annahm, dass das Mädchen hier eigentlich auch nicht wohnte und daher keinen Schlüssel zu den Räumlichkeiten hatte.
Am oberen Ende der Treppe fand Eric ebenfalls einen Lichtschalter, welcher einige Lampen an der Decke des Treppengangs einschaltete, die ein fahles Licht zu verbreiten begannen.
Als Eric die Stufen hinunterstieg, vernahm er plötzlich eine Reihe seltsamer Geräusche. Es waren zahlreiche Laute, die sich wie ein Klicken oder Ticken anhörten, ähnlich dem Klang einer Uhr. Doch waren es so viele verschiedene Geräusche, dass mindestens hundert Uhren sie verursachen mussten.
Und tatsächlich erkannte Eric in der schwachen Beleuchtung gleich mehrere Uhren, die an den Wänden hingen, modern wirkende Uhren, aber auch altertümliche Kuckucksuhren sowie auch kleine Armband- und Taschenuhren, die einfach mit ihren Armbändern oder ihrer Kette an in die Wand geschlagenen Nägeln hingen. Erstaunt stellte Eric zudem fest, dass offenbar jede Uhr eine andere Zeit anzeigte und keine zwei Uhren übereinstimmten. Natürlich fragte er sich auch, was jemand für ein Interesse haben könnte, so viele Uhren aufzuhängen, die scheinbar alle nutzlos waren.
Doch darüber konnte er sich jetzt kaum den Kopf zerbrechen. Er hatte das Ende der Treppe erreicht und blickte auf einen kleinen Gang, der zu einer weiteren offenstehenden Tür führte. Viel konnte Eric nicht durch die offene Tür sehen, doch der Raum, zu dem sie führte, war anscheinend erleuchtet. Vielleicht war dieser Raum eine Sackgasse. Dann saß das Mädchen in der Falle. Oder aber der Raum war eine Falle für ihn selbst. Eric näherte sich vorsichtig der Tür. Auch in diesem Gang waren überall Uhren und ihr lautes Ticken übertönte seine Schritte bei weitem.
Bei der Tür angelangt, schob er sie vorsichtig weiter auf und blickte in einen gefliesten Raum voller Regale, in denen überall größere und kleinere Zahnräder lagen sowie andere Teile von Uhren, einschließlich Gehäusen, Pendeln und Armbändern sowie Ketten für Taschenuhren. Ein altes, staubiges Sofa stand an einer Wand und auch hier hingen an allen möglichen freien Stellen die verschiedensten Sorten von Uhren. Weiter vorne knickte der Raum ab, sodass Eric nicht sehen konnte, was dort tiefer lag.
Als Eric in den Raum trat, gab eine der Bodenfliesen plötzlich etwas nach und gleich darauf fiel krachend die Tür ins Schloss. Eric rüttelte sogleich an ihrer Türklinke, doch es tat sich nichts. Er war eingesperrt und sauer auf sich selbst. Das war wohl wirklich eine Falle gewesen, bestimmt hatte das Mädchen ihn jetzt eingesperrt. Er überlegte, was zu tun sei. Die Tür hatte ein Schlüsselloch, doch er hatte natürlich keinen Schlüssel. Vielleicht war aber in diesem Raum irgendwo einer vorhanden, doch kurz nachdem Eric diesen Gedanken gefasst hatte, musste er sich eingestehen, dass ihm das nicht viel nützen würde. Der Raum war ein einziges Chaos, soweit er es überblicken konnte, denn selbst auf dem Boden lagen Teile verstreut.
Eric beschloss, vorerst den ganzen Raum zu inspizieren und den Teil in Augenschein zu nehmen, den er von seiner Position aus nicht sehen konnte. Als er jedoch um die Ecke bog, erstarrte er. Dort, an einem Tisch, mit dem Rücken zu ihm, stand eine große, dürre Gestalt. Eric keuchte und wich einen Schritt zurück. Doch der Mann – Eric ging aufgrund der Statur davon aus, dass es ein Mann sein musste, auch wenn er das Gesicht nicht sehen konnte – drehte sich nicht um und reagierte auch sonst nicht. Er schien vielmehr in das vertieft zu sein, was er gerade tat. Seine Hände bewegten sich schnell, griffen nach kleinen Teilen auf dem Tisch und setzten sie irgendwie zusammen. Eric fiel auf, dass der Mann einen sehr alten und zum Teil kaputten Frack trug, der wohl einst purpurfarben gewesen war, sich aber ziemlich abgenutzt hatte. Dazu trug der Mann schwarze und dennoch fleckige Schuhe sowie eine waldgrüne Hose. Seinen Kopf zierte graues Haar, das wirr unter einer Melone hervorkam, welche ein seltsames Draht- und Zahnradgeschirr trug.
Eric kam der Mann mehr als nur merkwürdig vor, ohne dass er überhaupt einmal sein Gesicht gesehen hatte. Er war sich nicht sicher, ob er den Mann ansprechen sollte; einerseits machte er ihm Angst und schien außerdem beschäftigt zu sein, andererseits konnte Eric ja nicht durch die Tür hinaus und wenn dieser Mann beschloss, irgendetwas aus dem vorderen Teil des Raues zu holen, würde er ihn zwangsläufig entdecken.
Doch bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, drehte sich der Mann ruckartig zu ihm um.
Eric erstarrte. Das seltsame Gestell auf dem Hut des Mannes, dass er bisher nur von hinten gesehen hatte, verlief über die gesamte linke Gesichtshälfte des Mannes, wie eine bizarre, unvollständige Maske. Es klickte ein wenig und eine kleine Linse wurde über das linke Auge des Mannes geschoben. Eric hatte das Gefühl, intensiv gemustert zu werden. Er wäre am liebsten weggelaufen, doch einerseits war die Tür ja abgeschlossen und andererseits fühlten sich seine Beine an, als seien sie zu Stein erstarrt. Der alte Mann legte den Kopf schief und schien nachzudenken.
„Aha“, sagte er dann mit krächzender und hoher Stimme. Anschließend drehte er sich um und machte weiter mit was auch immer er die ganze Zeit getan hatte.
Eric blieb noch einen Moment atemlos stehen, dann jedoch rührte er sich und überlegte, was das alles zu bedeuten hatte. Der Mann schien jedenfalls nicht gefährlich zu sein, zumindest nicht im Moment.
Also nahm Eric all seinen Mut zusammen und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte hier nicht eindringen, aber ein Mädchen hat mir mein Portemonnaie gestohlen und ist in dieses Haus gelaufen, also habe ich sie verfolgt und bin dann in diesem Raum hier gelandet, aber die Tür ist ins Schloss gefallen und…“
Er brach ab, denn der Mann zeigte keine Reaktion und schein ihm gar nicht zuzuhören. War er vielleicht taub?
„Hallo?“ fragte Eric lauter, „können Sie mich hören?“
Doch es tat sich immer noch nicht. Eric trat vorsichtig an den Mann heran.
„Wenn sie vielleicht die Tür aufschließen könnten“, sagte er vorsichtig, „dann wäre ich sofort wieder weg und…“
Doch er brach ab, denn er stand jetzt ziemlich genau neben dem Mann vor dem Tisch konnte daher sehen, was dieser da exakt tat. Der alte Mann hatte die Zähne grimmig zusammengebissen, während seine knöchernen Hände viele kleine Einzelteile vom Tisch aufhoben und scheinbar wahllos in ein Gehäuse stopften, das offenbar zu einer Taschenuhr gehörte. Entsprechend waren viele der kleinen Teile Zahnräder, die zerbrechlich und empfindlich wirkten, doch genau wie der Mann unglaublich schnell zu Werke ging, so wirkte er dabei auch unglaublich geschickt, sodass Eric aus dem Staunen kaum herauskam.
„Was machen Sie denn da?“, fragte er neugierig.
„Eine Uhr“, sagte der Mann und Eric war froh, dass der Mann ihn offenbar doch hören konnte.
„Sie sind also Uhrmacher?“, fragte Eric und kam sich beim Stellen dieser Frage eigentlich ziemlich dämlich vor, denn eigentlich sprachen Tätigkeit und Räumlichkeit für sich.
„Ja“, sagte der Mann, „ich bin der Uhrmacher.“
Die Verwendung des bestimmten Artikels verwirrte Eric. Müsste es nicht „ein Uhrmacher“ heißen? Und wie der Mann es betont hatte, klang es überhaupt eher so, als sei er ein ganz besonderer Uhrmacher.
„Leben Sie denn hier?“, fragte Eric.
„Ja“, sagte der Mann kurz. Er war offenbar fertig mit der Uhr, denn er schloss das Gehäuse und legte es anschließend in eine Schachtel, die er beiseitestellte.
„Wenn Sie jetzt fertig sind, können sie dann vielleicht die Tür aufschließen, dass ich raus kann?“, fragte Eric.
„Ich bin nicht fertig“, sagte der Mann und griff nach dem Gehäuse einer Armbanduhr, welches er öffnete. Sogleich fing er wieder an, die Komponenten eines Uhrwerks dort einzusetzen.
„Und wann sind Sie fertig?“, fragte Eric höflich. Es würde ihm nichts ausmachen, dem Mann noch kurz bei der Arbeit zuzusehen, denn das war eigentlich ziemlich spannend.
„Nie“, sagte der Mann. „Ich mache Uhren – schließlich bin ich der Uhrmacher – und wenn ich irgendwann keine mehr machen würde, wäre ich ja kein Uhrmacher mehr. Also mache ich Uhren.“
Erics Stimmung sank sogleich wieder.
„Aber dann können Sie doch trotzdem kurz die Tür aufschließen?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Ich weiß nicht, wo der Schlüssel ist“, sagte der Uhrmacher, „und es ist mir auch egal. Ich mache Uhren, mehr nicht.“
„Aber wie komme ich dann hier heraus?“, fragte Eric.
„Weiß ich nicht. Du musst vielleicht nur den Schlüssel finden. Oder jemand anderes lässt dich raus.“
„Aber wer sollte das tun?“, fragte Eric verzweifelt. „Nur das Mädchen kann wissen, dass ich hier drin bin und da sie mich bestohlen hat, wird sie wohl kaum die Tür aufschließen und zulassen, dass ich sie wieder verfolge.“
„Sprichst du von Jenny?“, fragte der Uhrmacher und hielt kurz inne.
„Ich weiß es nicht“, sagte Eric, „wenn das Mädchen so heißt.“
„Du solltest bei ihr immer besonders aufpassen“, meinte der Uhrmacher und nahm seine Arbeit wieder auf. „Sie wirkt zwar nett, ist aber vollkommen verrückt, musst du wissen. Einmal ist sie hier reingekommen und hat alle Uhren verstellt.“
Eric sah sich noch einmal um. Die Uhren im Raum waren teilweise stehen geblieben und soweit er es überblicken konnte, zeigten auch hier keine zwei Uhren die gleiche Zeit an. Außerdem schienen einige Uhren schneller oder langsamer zu laufen als andere.
„Deswegen also zeigen die Uhren hier alle etwas Anderes an?“, fragte Eric.
„Nein, ich habe sie natürlich alle wieder richtig gestellt“, sagte der Uhrmacher.
Eric war sich nicht sicher, wie er das auffassen sollte. Dieser Mann hatte offenbar selbst nicht mehr alle Tassen im Schrank und wenn ein offenkundig Verrückter jemand anderen als verrückt bezeichnete, hieß das dann, dass dieser andere normal war oder aber, dass er noch viel verrückter war?
„Dann werde ich es wohl nach Möglichkeit vermeiden, dieser Jenny zu begegnen“, versprach Eric, „aber ich muss trotzdem hier wieder raus und außerdem würde ich doch ganz gerne mein Portemonnaie wiederhaben.“
Der Uhrmacher sagte nichts und arbeitet nur weiter. Dann jedoch merkte er plötzlich auf.
„Ach ja“, sagte er und ging vom Tisch zu einem Regal, aus dem er eine kleine Schachtel entnahm. „Das hier soll ich dir von ihr geben. Soll heißen, nicht dir spezifisch. Sie hat einfach gesagt, ich soll es dem Ersten geben, der vorbeikommt.“
Eric nahm die Schachtel entgegen und öffnete sie. Darin lag auf rotem Samt eine Armbanduhr. Das Armband war aus feinem schwarzen Leder und die Uhr selbst hatte einen matten goldenen Glanz. Eric wusste nicht, ob sie die richtige Zeit anzeigte. Als er sie aus der Schachtel nahm, um sie sich umzubinden, entdeckte er außerdem, dass unter dem Samt ein Schlüssel steckte. Eric wurde ganz aufgeregt, denn vielleicht war das ja der Schlüssel für die Tür.
„Sie hat die Uhr im Voraus bezahlt“, sagte der Uhrmacher und ging wieder an seine Arbeit. „Also kannst du sie einfach mitnehmen, das heißt…“
Er sah Eric an.
„Möchtest du eine Garantie haben? Das kostet aber extra.“
„Ich fürchte, die kann ich derzeit nicht bezahlen“, sagte Eric.
„Wer geht denn eine Uhr kaufen, ohne sie bezahlen zu können?“, meinte der Uhrmacher kopfschüttelnd und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
„Mein Geld wurde mir ja gestohlen“, verteidigte sich Eric, doch der Mann hörte ihm schon gar nicht mehr zu und schließlich war es Eric ja auch gleichgültig, was der Mann dachte.
Er ging also zur Tür und stellte fest, dass der Schlüssel passte. Quietschend schwang die Tür auf.
Als Eric dem Gang ein wenig gefolgt war, fiel plötzlich das Licht aus. Er fluchte und tastete sich an der Wand entlang, bis er die Treppenstufen erreichte. Vorsichtig stieg er sie empor, darauf bedacht, keinen fatalen Fehltritt zu machen. Erleichtert kam er unverletzt oben an, als ihm eine Idee kam. Er tastete nach dem Lichtschalter, der an der Wand zu finden war und drückte ihn. Das Licht ging wieder an.
„Also ist nicht die Sicherung rausgeflogen oder so, sondern jemand hat es ausgeschaltet“, murmelte Eric. Er trat wieder in die winzige Eingangshalle und stutzte, als er das Mädchen, das, wie er jetzt wusste, Jenny hieß, in dem alten Sessel sitzen sah, der vorher umgestürzt dort gelegen hatte.
„Und?“, fragte Jenny. „Wie gefällt dir die Uhr?“
Eric ignorierte die Frage. „Ich will mein Portemonnaie zurück“, sagte er zornig.
Sie schnaubte verächtlich, warf ihm dann aber sein Portemonnaie vor die Füße. Eric hob es auf und stellte zufrieden fest, dass der Inhalt vollständig war. Er wandte sich zum Gehen.
„Ich habe die Haustür abgeschlossen“, sagte Jenny ruhig.
„Dann schließ sie gefälligst auf!“, sagte Eric und ballte die Fäuste.
„Immer mit der Ruhe“, sagte das Mädchen gelassen und stand langsam auf. „Erst sagst du mir, ob dir die Uhr gefällt.“
„Ja, sie ist schön“, meinte Eric ungeduldig.
„Das freut mich. Sie war teuer, weißt du?“
„Ich habe dich ja nicht darum gebeten, sie mir zu kaufen. Du kannst sie auch gerne wiederhaben.“
Jenny schüttelte den Kopf.
„Ts, ts“, machte sie. „Geschenke ablehnen ist mehr als nur unhöflich.“
„Jemanden gegen seinen Willen festzuhalten auch.“
„Das stimmt natürlich.“
„Dann lass mich endlich gehen.“
„Das würde ich gerne, aber ich brauche deine Hilfe.“
„Wofür?“
„Ich suche etwas und kann es nicht finden, aber es ist vermutlich irgendwo hier in diesem Haus.“
„Und das wäre?“
„Meinen Verstand. Ich muss ihn hier irgendwo verloren haben.“
Eric war kurz sprachlos.
„Du hast sie doch nicht mehr alle“, sagte er abfällig.
„Ja, eben. Genau das ist ja mein Problem“, sagte Jenny. „Weißt du, ich hatte immer sehr viele Freunde und alles, aber vor ein paar Monaten habe ich zufällig dieses Haus hier betreten, als ich eine Katze verfolgte, die dann hier hineinlief. Und dabei habe ich irgendwann meinen Verstand verloren. Anschließend sagten mir alle, dass ich mich verändert hätte und viele wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Selbst meine Eltern wurden plötzlich ganz anders. Daher hätte ich meinen Verstand gerne wieder.“
Ihre kurze Erzählung klang sehr merkwürdig auf Eric, doch die Art, wie sie das erzählte, nämlich auf eine nüchterne Art, die keinesfalls den Eindruck erweckte, als sei ihr das im Grunde egal, sondern vielmehr als sei sie nicht in der Lage, wirkliche Trauer darüber auszudrücken – das löste bei ihm irgendwie doch ein wenig Mitleid und Sympathie aus.
„Aber warum“, fragte Eric verwirrt, „hast du mir diese Uhr geschenkt? Und warum so kompliziert?“
„Keine Ahnung“, sagte Jenny und zuckte die Achseln. „Ich hielt es irgendwie für eine gute Idee.“
„Aha. Nun, das spricht wohl für sich.“
„Scheint so.“
„Aber wie kann man denn so einfach seinen Verstand verlieren?“
„Ich weiß es nicht. Aber es muss wohl passiert sein, als ich in den oberen Räumen war. Als ich dem Uhrmacher zum ersten Mal begegnete und ihn verließ, hatte ich meinen Verstand noch, sonst hätte ich dich ja auch gar nicht zu ihm gelassen. Aber ich weiß nicht mehr, was danach passiert ist. Ich weiß nur, dass ich irgendwann in diesem Raum hier stand und dann meinen Verstand verloren hatte.“
„Wer ist dieser Uhrmacher überhaupt?“, fragte Eric.
„Ich weiß es nicht. Er redet nicht viel. Ich habe ihm auch gedroht, seine Uhren zu verstellen und habe das schließlich auch getan, aber das hat nichts bewirkt. Er redet eigentlich nur über seine Arbeit. Vielleicht hat er auch irgendwann seinen Verstand verloren und ihn nie wiedergefunden.“
Eric lief es ein wenig kalt den Rücken herunter, als er sich vorstellte, dass Jenny vielleicht mal zu einer Art Uhrmacherin werden könnte. Denn obwohl sie ihn genervt und bestohlen hatte: Eigentlich wirkte sie ziemlich nett, wenn auch immer noch etwas verschroben. Auf jeden Fall sollte sie nicht in einem düsteren Kellerraum enden.
„Und warst du schon einmal wieder in den oberen Räumen?“, fragte Eric.
„Ja, aber mir fällt dort nichts Besonderes auf. Es leben dort ein paar Menschen, aber die sagen auch nicht viel. Sie bezeichnen mich nur als verrückt und behaupten, sie wüssten nicht, wo mein Verstand liegt.“
„Du meinst, normale Leute? Oder welche, die selbst verrückt sind?“
„Mir kommen sie normal vor. Wobei das vielleicht das Problem ist. In vielem, was Anderen normal erscheint, sehe ich etwas Merkwürdiges und vieles, was ich merkwürdig finde, halten Andere für normal.“
„Okay…“
Eric war sich auch nicht sicher, ob er dem Urteil Jennys hier vertrauen konnte. Außerdem wollte er selbst nicht verrückt werden. Andererseits war sie ziemlich freundlich, wenn man sie vielleicht mal näher kannte.
„Was, wenn ich ablehne?“, fragte Eric.
„Dann täte es mir leid und ich wäre wohl auch traurig darüber. Vielleicht jedenfalls… Aber da ich nur vorhatte, dich so lange hier festzuhalten, bis du mich zu Ende angehört hattest, würde ich dich dann einfach gehen lassen. Ich kann ja niemanden dazu zwingen, mir zu helfen. Davon abgesehen“, sie grinste verschmitzt, „habe ich für die Haustür gar keinen Schlüssel, sondern nur einen für die obere Tür und zwei Schlüssel für den Kellerraum beziehungsweise hast du ja jetzt einen davon. Du könntest also jederzeit gehen, wenn du willst.“
Eric hatte das Gefühl, sich dafür ohrfeigen zu können, dass er nicht einmal versucht hatte, die Haustür zu öffnen. Gleichzeitig aber beruhigte ihn die Möglichkeit, jederzeit gehen zu können. Er wurde zu nichts gezwungen, die Entscheidung lag bei ihm.
„In Ordnung“, sagte er schließlich. „Ich helfe dir.“
Und ehe er noch mehr sagen konnte, stürmte Jenny auf ihn zu und umarmte ihn heftig.
„Danke!“, sagte sie übertrieben fröhlich.
„Äh, keine Ursache…“, sagte Eric langsam und befreite sich sanft aus ihrer Umklammerung.
Für einen Moment standen sie still da.
„Also“, sagte Eric, „wir müssen in die oberen Räume?“
„Das vermute ich jedenfalls“, sagte Jenny und nickte bekräftigend.
„Na, dann…“, sagte Eric und gemeinsam stiegen sie die Treppe zu der Tür empor, hinter der sie Jennys Verstand vermuteten.