„Verdammt. Verdammt! Verdammt!!“, fluchte das Mädchen unterdrückt, als es sich hastig die letzte Haarklemme ins aschblonde Haar schob, um so einigen, tapfer standhaltenden Strähnen Herr zu werden, die eigenwillig aus seinem mehr schlecht als recht gemachten Zopf abstanden. Ein Blick in den Spiegel verriet jedoch, das dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt war. So einfach würde ihr Kampfgeist nicht gebrochen werden, selbst wenn der Feind eine ganze Armee von Haarspangen war! Rae stieß genervt die Luft aus, beließ das Chaos aber in seiner zerzausten Natur. Sie hatte Wichtigeres zu tun, sie war in Eile! Die Arena lag nicht weit vom Pokémon-Center entfernt, in dem die Jugendliche seit gestern nächtigte. Mit etwas Glück schaffte sie es noch rechtzeitig zum Höhepunkt. Der Beginn des Treffens war für 10 Uhr angesetzt – also vor einer Viertelstunde. Sie musste sich sputen.
Was passiert war, dass Raelene im Zeitplan zurücklag? Na ja, sie hatte, in ganz typischer Manier, verschlafen. Eigentlich hätte Haku sie ja wecken sollen, doch statt dem Job nachzukommen, hatte das Dratini seine Chance genutzt und etwas für Rae schlichtweg Unverzeihliches getan.
Stets zu den unchristlichsten Stunden munter, hatte Haku das erst kürzlich entstandene, geheime Fach in ihrer Tasche gefunden und sich dessen Inhalt angenommen. Gut, dass sie Maßnahmen gegen den bodenlosen Krater, den Levy seinen Magen nannte, erheben musste, um nicht ihre Vorräte radikal schrumpfen zu sehen, war einleuchtend. Kapunos fressen nun mal viel, das scheint in ihrer Natur zu liegen. Aber das sie genau dasselbe für das so liebe, unschuldig wirkende Dratini tun musste. Nun, das war eine ganz andere Geschichte. Haku war nichts heilig, wenn es um Süßes ging. Aufgrunddessen sah sich Rae gezwungen, in stiller Stunde heimlich ein separates, gut verstecktes Fach für Beeren dieser Art anzulegen. Geholfen hatte das allerdings nichts, wie die Unordnung zu ihren Füßen bewies. Dementsprechend zufrieden und satt lag das Dratini nun schlafend in der Kapuze ihrer Jacke – ihr Stammplatz – und ließ sich auch nicht von den schwankenden Bewegungen seiner Trainerin stören, die hüpfend versuchte, ihren Stiefel anzuziehen und dabei fast das Gleichgewicht verlor. Rae fing sich knapp; las die verwüstete Tasche vom Boden auf und hastete wispernde Flüche ausstoßend zur Tür hinaus.
Sie polterte die Treppen runter, flog dabei fast erneut und verzog ihr Gesicht aus Misslaune nur umso mehr. Einzelne Personen, die ihren Weg kreuzten, wichen aufgeschreckt aus, sei es dem ungebremsten Tempo oder der grimmigen Mimik wegen – wen kümmerte das schon, Rae jedenfalls nicht. Ihre Gedanken kreisten um den Aufruf von Prof. Eich, der sie keinen Tag vorher durch's Radio erreicht hatte. Man suchte nach Dex-willigen Abenteurern und Sammlern. Es schienen fremde Pokémon in Kanto gesichtet worden zu sein. Seltene Pokémon. Drachenpokémon waren selten. Raelene liebte Drachenpokémon. Über alles. Ergo: Sie musste zu dieser Veranstaltung. Es bestand die Möglichkeit, ihr Team um ein paar schöne Exemplare zu erweitern. Dafür aber musste sie zur Arena fliegen, wenn sie noch eine Chance haben wollte.
Die Geschwindigkeit ging von rennend zu rasend, die Füße schalteten auf Automatik, aus der Kapuze erklang irritiertes, müdes Gequietsche.
Und dann geschah es.
Sie prallte gegen etwas Großes, Hartes. Gegen einen kräftigen Körper, wie der Schmerz ihrer Nase vermuten ließ. Den eines Mannes. Ihr Blick wurde kühler, der Ausdruck verschwand allerdings sofort wieder. Fast hätte sie ihn angefahren, was ihm einfalle, so achtlos im Weg zu stehen, besann sich dann aber eines Besseren. „Ah, desolée! Je n-“, sie brach abrupt ab, da ihr einfiel, dass sie ja gar nicht Zuhause in Kalos war, sondern in Kanto. Sie hätte sich für den Ausrutscher auf die Stirn schlagen können. „Ah, ich meine, tut mir Leid! Ich hab' Sie nicht gesehen! Ich war grad in Eile und-!“ Sie wusste nicht genau, was sie sagen sollte. Ihr war das ziemlich unangenehm. Sie atmete einmal tief ein und versuchte, eine ruhige Entschuldigung herauszubringen. Konnte ja mal passieren. War kein Ding, wirklich. „Je suis desolée!“ ...Sie musste wirklich an ihren Angewohnheiten arbeiten. Am besten abgewöhnen. Oder einfach den Mund halten. Ja, Mundhalten war eine gute Idee.
Dorians Morgen war bis zu dem Zeitunkt, in dem ein sichtlich verstörtes Mädchen in seiner Muttersprache Entschuldigungen ausrufend in ihn hineingerannt war, eigentlich überaus entspannt gewesen.
Bereits seit einigen Tagen war das Vertania City Pokémon-Center der Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. Auf der Suche nach seltenen Pflanzen hatte es Dorian bereits vor mehreren Monaten nach Kanto verschlagen, die lokale Sprache hatte er schon in der Schule rudimentär erlernt. Für seinen Aufenthalt in Vertania City gab es zwei Gründe: Zum Einen lag der Vertania Wald – eine der schönsten und artenreichsten Grünflächen Kantos – direkt vor den Toren der Stadt. Zum Anderen hatte Professor Eich junge Trainer um Hilfe bei einer wissenschaftlichen Fragestellung gebeten und zu diesem Zweck ein Treffen in der ortsansässigen Arena einberufen. Auf diesen Termin wartete Dorian nun schon seit Tagen sehnsüchtig.So fing der Morgen des jungen Trainers an wie immer. Gegen acht Uhr wurde er von Chandelle, seinem Lichtel, geweckt. Wie immer flog es direkt vor sein Gesicht, entzündete seine Flamme und versuchte so furchteinflößend wie möglich auszusehen. Dorian streckte sich gähnenderweise, vollkommen unbeeindruckt von dem sich um Gruseligkeit bemühenden Geist. „Bonjour, Chandelle.“ Noch bevor er seinen – mehr oder weniger – lebendigen Wecker zum Dank streicheln konnte, war das Pokémon verschwunden – übrigens genauso wie jeden Morgen. Chandelle blieb allerdings nicht lange verschwunden: Ebenso wie vor Dorian tauchte das Lichtel vor einem in der Ecke liegenden Skaraborn auf, einem weiteren Pokémon, das der Botaniker aus seiner Heimat Kalos mitgebracht hatte. Das Käferpokémon, das auf den Namen Coléo hörte, erschreckte sich furchtbar, sprang auf Dorians Bett und weckte mit diesem Tumult das dritte Pokémon seines Trainers: Das Bisaknosp namens Grénouille lag auf dem Bett, wo es jede Nacht neben Dorian schlief, öffnete leicht angesäuert ein Auge und knurrte ein diskret bedrohliches „Bisaa…“ aus der Kehle heraus seinen beiden Freunden zu. Chandelle untermalte aus dem Off mit einem nur als dreckig zu bezeichnenden Kichern.
Da Dorian dieses Spektakel bereits gewohnt war, stand er in der Zwischenzeit auf, öffnete die Jalousien und zog sich an. „Grénouille, Chandelle, Coléo! Lasst uns frühstücken und dann in den Vertania Wald gehen!“ Um seine drei kleinen Freunde und sich selbst an die Sprache der Allgemeinheit zu gewöhnen, versuchte Dorian sie bei jeder Gelegenheit zu benutzen. Nichtsdestotrotz war ein starker Kalos-Akzent zu hören. Zum Frühstück nahm er sein Lehrbuch „Die Sprache Kantos für Fortgeschrittene“ mit, aß ausgiebig, las ein paar Seiten, wiederholte Vokabeln und legte sich einen Plan für den Tag zurecht. Nach guter Kalos-Manier dauerte das petit-déjeuner geschlagene eineinhalb Stunden, es flossen mehrere Tassen Kaffee, wie sollte man sonst einen ganzen Tag überstehen? „Schlimm diese braune Suppe…“ Als stolzer Bürger von Illumina City hatte Dorian früher den Großteil seiner Freizeit – so er denn in seiner Heimatstadt war – in den vielen Cafés der Metropole verbracht. Pokémon-Center-Kaffee entsprach nun nicht gerade seinem Geschmack.
Nachdem Dorian mit seinen Pokémon in sein Zimmer zurückgekehrt war, nahm er die drei in ihre Pokébälle auf, packte seine Tasche und zog sich an. „Ungewöhnlich kalt heute… Ich hoffe der Frost hat mir ein paar Pflanzen übrig gelassen.“ Um etwas über den vollkommen unerwarteten Wintereinbruch zu erfahren, wollte er Schwester Joy auf dem Weg nach draußen etwas dazu ausquetschen. Doch dazu sollte es nicht kommen. „Entschuldigen Sie, Schwe…“ Gerade als er den Mund aufgemacht hatte, prallte etwas kleines, weibliches in ihn. Völlig verdutzt drehte Dorian sich zu ihr herum und reagierte prompt in seiner Muttersprache, da die plötzlich aufgetauchte ihn in eben dieser um Entschuldigung bat. „Eeeh, ça ne fait rien, mademoiselle.“ Etwas verlegen griff Dorian sich in den Bart. Direkt angesprochen zu werden, war nicht so sein Ding. Trotzdem wollte er nicht unhöflich sein. Aus demselben Grund wechselte er auch die Sprache, um vor Schwester Joy nicht geheimniskrämerisch zu sein. „Ich wusste garnicht, dass hier noch jemand aus Kalos ist. Warum die Eile?“
OT: Ich freue mich die erste Häfte des Gemeinschaftsposts von Fatalis und mir präsentieren zu dürfen! Der Rest wird sie posten.
Die französischen Einwürfe werden natürlich immer im OT übersetzt, auch wenn wir stets darauf achten, dass sie im Kontext verständlich sind und nicht zu oft vorkommen.
"Je suis désolée." = "Ich bin untröstlich." / "Das tut mir leid!"
"Ca ne fait rien, mademoiselle." - "Das macht nichts, Fräulein."
petit-déjeuner = Frühstück