Professor Agasa hatte die Nacht über gut geschlafen. Ein paar Mal hatte er zwar die Glocken der Abteikirche wahrgenommen, aber weil die Kinder ihm erzählt hatten, dass die Mönche sich recht oft zu Gottesdiensten oder Gebeten versammelten, hatte er sich nicht darum gekümmert und einfach weiter geschlafen. Weil er sich gestern schon zur Zeit des Sonnenuntergangs ins Bett gelegt hatte, war er heute schon vergleichsweise früh aufgewacht, und auch die Detective Boys hatten in der für sie ungewohnten Umgebung nicht lange geschlafen. So kam es, dass sie um kurz nach acht alle versammelt waren, als Bruder Cadfael kurz an der Tür klopfte und dann in das Zimmer trat.
__„Guten Morgen“, begrüßte der Professor ihn. „Sie kommen aber früh hier vorbei. Wollten Sie uns wecken?“
__„Früh?“, antwortete der Mönch etwas überrascht. „Die Morgenmesse ist schon vorbei, und bevor ich noch etwas im Kräutergarten arbeite oder mich in meiner Werkstatt um die Heilmittel für den Winter kümmere, wollte ich einmal nachsehen, wie es Ihnen geht.“
__„Ich fühle mich schon besser als gestern Abend. Anscheinend hat es mir gut getan, einmal früh ins Bett zu gehen. Meinen Sie, dass ich heute auch noch im Bett bleiben sollte?“
__„Sie erwecken wirklich den Eindruck, als ob Sie sich schon gut erholt haben. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie trotzdem einmal untersuchen, dann wissen wir mehr.“
__Professor Agasa hatte nichts gegen eine Untersuchung einzuwenden, wandte sich aber vorher noch einmal an die Kinder: „Dann sollte vielleicht einer von euch zum Auto laufen und das Proviant holen.“ Er zögerte kurz und wandte sich dann noch einmal an den Mönch: „Oder gibt es für uns als Gäste die Möglichkeit, innerhalb des Klosters ein Frühstück zu bekommen?“
__„Die gibt es, aber das ist heute schon vorbei. Falls ihr mit Bruder Dennis nichts anders besprochen habt, könnt ihr normalerweise vor der Morgenmesse im Refektorium etwas bekommen.“
__„Also holen wir doch das Proviant aus dem Auto?“, fragte Genta einmal nach.
__„Wir sind hier in einem Kloster zu Gast“, gab Ai zu Bedenken. „Und wie Conan gestern gesagt hat, sollten wir versuchen, nicht mehr als nötig aufzufallen. Dazu gehört meiner Meinung auch, dass wir uns etwas an den Tagesablauf anpassen. Wenn wir das Frühstück verschlafen haben, können wir ruhig einmal fasten.“
__„Es gibt nach der Sexte, also nach dem Gebet zur Mittagsstunde, noch das Mittagsessen und nach der Vesper noch ein leichtes Abendessen“, fügte Bruder Cadfael noch hinzu.
__Danach begann er seine Untersuchung, und als er damit fertig war, verkündete er: „Ich denke, Sie brauchen heute nicht das Bett zu hüten. Aber Sie sollten Anstrengungen vermeiden.“
__„Heißt das, dass wir uns gleich auf den Nach-Hause-Weg machen können?“, freute sich Ai. „Das würde uns ganz gut passen, denn morgen müssen wir wieder zur Schule.“
__„Nein, ich denke, eine Reise wäre heute zu anstrengend.“ Er wandte sich erneut an den Professor: „Machen Sie es sich hier im Zimmer gemütlich oder ...“ Er zögerte etwas und sagte dann: „Falls Sie lieber nach draußen gehen und frische Luft genießen wollen, können Sie mit mir zum Kräutergarten kommen. Dann bin ich in der Nähe, falls Sie meine Hilfe brauchen.“
__„Das klingt sinnvoll. So werden wir es machen“, antwortete Professor Agasa, wobei er sich allerdings nicht sicher war, was er in der Zwischenzeit mit den Kindern machen sollte. Irgendwie war er ja für sie verantwortlich. Auch der Mönch schien irgend etwas auf der Zunge liegen zu haben.
__Aber bevor der Professor oder der Mönch irgend etwas sagen konnten, wandte sich Genta an die andern Kinder. „Was meint ihr, wollen wir in die Stadt gehen und uns dort etwas umsehen?“, schlug er vor.
__Mitsuhiko und Ayumi waren sofort einverstanden, aber Ai hatte einen Einwand: „Das ist keine gute Idee. Abgesehen davon, dass ihr euch dort nicht auskennt und vielleicht nicht wieder zurück zum Kloster findet, würdet ihr mit eurer Kleidung auffallen wie ein bunter Hund. Wir hatten doch entschieden, dass wir vermeiden wollen, mehr als nötig aufzufallen.“
__„Ich habe aber keine Lust, den ganzen Tag hier im Zimmer rum zu hocken, nur damit die Bewohner des Klosters und der Umgebung nichts von uns mit bekommen!“, maulte Genta.
__„Was meinen Sie, könnten wir vielleicht auch mit in den Kräutergarten kommen?“, wandte sich Conan an Cadfael. „Falls uns zu langweilig wird und die Gartenarbeit für Kinder nicht zu anstrengend ist, könnten wir Ihnen ja vielleicht bei Ihren Aufgaben dort helfen.“
__„Ich habe nichts dagegen“, antwortete der Mönch. „Wollt ihr jetzt gleich mitkommen oder nach der Hauptmesse nachkommen?“
__Tatsächlich war sich der Professor nicht sicher, was er hierauf antworten wollte. Wenn Ai sich nicht so eindeutig gegen diese Möglichkeit ausgesprochen hätte, wäre er gerne noch etwas im Gästehaus geblieben, um als Frühstück etwas von dem Proviant aus dem Auto zu essen. Statt dessen gleich in den Kräutergarten mit zu kommen, hielt er auch für unbefriedigend. Weil sich auch die Kinder anscheinend nicht ganz sicher waren, schwiegen alle Anwesenden eine Weile lang, bis Ai schließlich eine Entscheidung traf: „Ich denke, es ist besser wenn wir jetzt schon mitkommen als wenn wir hier herum sitzen und einige von uns dem entgangenen Frühstück nachtrauern.“
Also verließen der Mönch, der Professor und die Kinder gemeinsam das Gästehaus, überquerten den Mühlenbach und betraten den Kräutergarten. Hier ließ Bruder Cadfael es sich nicht nehmen, seine Gäste erst einmal herum zu führen und ihnen die vielen unterschiedlichen Kräuter zu zeigen, die er hier anbaute. Weil Professor Agasa sich nicht vorstellen konnte, dass es im europäischen Mittelalter schon eine solche Vielfalt an Kräutern gegeben hatte, fragte er nach einiger Zeit: „Sind das hier eigentlich alles heimische Kräuter?“
__„Nein“, antwortete der Mönch. „Bevor ich ins Kloster eingetreten bin, war ich auf dem Kreuzzug und als Seefahrer unterwegs und habe von fremden Ländern Samen für die dort anzutreffenden Kräuter mitgebracht.“
__Weil er nicht weiter auf seine Reisen oder auf die Kräuter einging, ergriff Ai das Wort: „Sind die Kräuter alle zum Würzen von Speisen da oder dienen einige von ihnen auch anderen Zwecken?“
__„Nur einen Teil der Kräuter verwenden wir tatsächlich zum Würzen. Andere Kräuter verwende ich, um daraus Heilmittel zu kochen.“
__Jetzt mischte sich Conan in das Gespräch ein: „Heilmittel wie zum Beispiel das Zeug, mit dem Sie gestern den Professor behandelt haben?“ Dabei warf er Ai einen kurzen Blick zu, so ob er sie damit darauf hinwisen wollte, dass sie daran auch gleich hätte denken können.
__„Ganz genau“, antwortete der Mönch ohne auf den kurzen Blickwechsel zwischen den beiden Kindern einzugehen.
__„Ich würde gerne einmal sehen, wie Sie aus den Kräutern ihre Heilmittel zusammenkochen“, bemerkte Ai.
__„Ich werde später noch ein paar Heilmittel für den Winter kochen. Wenn du willst, kannst du ja dann zusehen.“
__„Ayuni, Genta, Mitsuhiko!“, unterbrach Professor Agasa das Gespräch. „Was macht ihr da hinten?“ Die drei Angesprochenen hatten sich wohl nicht für das Gespräch interessiert und waren etwas voraus zu einer Stelle gelaufen, auf der die Kräuter mit etwas Weißem zugedeckt waren.
__„Warum sind denn die Kräuter hier so unordentlich unter einem Tuch verborgen?“, erkundigte sich Ayumi als Antwort auf die Frage des Professors.
__„Das Tuch gehört dort nicht hin“, antwortete Bruder Cadfael und begann etwas näher zu treten, um dieses aufzuheben.
__Sobald man die Form davon erkennen konnte und Professor Agasa es widererkannte, rief er: „Aber das ist doch mein Laborkittel! Wie kommt der denn hier hin?“
__Keiner der Anwesenden hatte eine Antwort auf diese Frage. Weil er seinen Kittel nicht die ganze Zeit in der Hand halten wollte, zog Professor Agasa den Kittel an. Danach wandte er sich an den Mönch: „Wollen wir dann mit der Arbeit anfangen?“
__„Von mir aus gerne“, antwortete Bruder Cadfael und zeigte seinen Hilfskräften, wo sie zwischen den Kräutern Unkraut ausrupfen konnten. Als es Zeit für die Hauptmesse war, wollten der Professor und die Kinder im Kräutergarten bleiben und noch etwas weiter arbeiten, aber Bruder Cadfael bestand darauf, dass sie auch an der Messe teilnahmen.
Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie nach der Messe wieder in den Kräutergarten zurück gekommen waren, tauchte ein junger, gut aussehender Mann im Kräutergarten auf und kam direkt auf die versammelte Gruppe zu. Sobald er den Professor genauer betrachten konnte, murmelte er: „Das gibt es doch nicht! So ein Zufall, dass ich den ungewöhnlichen weißer Umhang gerade hier entdecke!“
__Als der Mönch den Neuankömmling bemerkte, rief er: „Komm her Hugh. Ich habe zwar ein paar Gäste, die mir bei der Gartenarbeit helfen, aber wir können uns dennoch unterhalten.“ Danach stellte er den Fremden und die Gäste einander vor: „Das ist Hugh Beringar, der stellvertretende Sheriff von Shrewsbury und gleichzeitig ein ziemlich guter Freund von mir. Und das sind Professor Agasa und ein paar Kinder, die mit ihm zusammen in unsere Gegend gekommen sind und zur Zeit im Gästehaus wohnen, weil der Professor sich gesundheitlich etwas erholen muss.“
__„Darf ich Sie fragen, wo Sie gestern Abend waren? Sagen wir mal so in der Zeit zwischen der Vesper und dem Komplet.“
__„Ich habe im Bett gelegen und geschlafen“, antwortete der Professor.
__„Kann das jemand bezeugen?“
__„Ja, wir können das“, antwortete Conan, und die anderen Kinder stimmten zu. Trotzdem hatte Professor Agasa irgendwie das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Erst landete er zusammen mit den Kindern im Mittelalter und jetzt wurde er von dem stellvertretenden Sheriff nach einem Alibi gefragt. Versuchte hier irgend jemand ihm etwas anzuhängen? „Worum geht es überhaupt?“, fragte er deshalb einmal nach.
__„Der Sohn von einem anderen Gast der Abtei ist seit gestern Abend verschwunden, und einer der Stadttorwächter hat zwischen der Vesper und dem Komplet jemanden mit einem ungewöhnlichen weißen Umhang beobachtet, der etwas Großes in den Fluss geworfen hat.“
__„Was den Umhang angeht“, mischte sich Conan in das Gespräch ein, „kann es sich durchaus um den Kittel des Professors handeln. Allerdings hat ihn dann gestern Abend nicht der Professor getragen, sondern irgend jemand anderes.“
__„Das musst du mir etwas genauer erklären“, fragte Hugh Beringar nach.
__„Wir haben den Kittel - oder Umhang, wenn Ihnen das Wort geläufiger ist - heute früh hier im Kräutergarten gefunden. Ich vermute, dass ihn gestern Abend jemand während der Vesper entwendet hat, während der Professor schlief und wir Kinder uns die Vesper angesehen haben. Derjenige muss den Kittel als Tarnung benutzt haben, weil so ein Kleidungsstück hierzulande doch recht ungewöhnlich ist und die Aufmerksamkeit möglicher Beobachter so auf sich zieht. Diese achten dann nämlich nicht mehr so genau auf andere Eigenschaften der beobachteten Person - wie zum Beispiel Alter, Größe oder Haarfarbe.“
__„Dass wir den Umhang heute morgen hier im Kräutergarten gefunden haben, kann ich bezeugen“, pflichtete Bruder Cadfael dem bei.
__„Nach dem, was ihr mir erzählt habt, glaube ich euch“, bemerkte der stellvertretende Sheriff. „Aber so wie ich Gilbert Prestcotte kenne und nach dem Eindruck, den der Vater des Vermissten auf mich gemacht hat, denke ich nicht, dass die beiden euch die Geschichte abkaufen werden. Kinder zählen als Zeugen leider nicht, und den Umhang könnten Sie oder eines der Kinder auch selbst in den Kräutergarten gelegt haben.“
__„Warum überzeugen Sie die beiden dann nicht oder übernehmen selbst den Fall?“, fragte Professor Agasa.
__„Das geht leider nicht“, antwortete der Mönch. „Hughs Frau erwartet ein Kind, und um ihr den Trubel der Stadt zu ersparen, wohnt sie in seinem Landsitz im nördlichen Teil des Shire. Um näher bei ihr zu sein, wird Hugh demnächst Aufgaben im nördlichen Teil übernehmen.“ An Hugh gewandt fügte er noch hinzu: „Ich nehme an, du bist eigentlich her gekommen, um dich von mir zu verabschieden?“
__„Teilweise, ja. Offiziell habe ich mich bereit erklärt, im Kloster schon einmal nach möglichen Zeugen zu suchen, während der Sheriff sich mit de Somme - also mit dem Vater des Verschwundenen - unterhält.“
__Irgendwie war sich der Professor unsicher, was diese Aussagen zu bedeuten hatten. Um sich Klarheit zu verschaffen, fragte er: „Was heißt das jetzt? Werde ich jetzt verhört oder verhaftet? Oder soll ich den Kittel verstecken und erst wieder anziehen, wenn wir wieder in Tokio sind?“
__Während Hugh auf diese Frage schwieg und auch der Mönch nicht sofort antwortete, mischte sich Conan erneut ein: „Den Kittel zu verstecken, kann auch nach hinten losgehen. Du hast ihn doch in der Hauptmesse getragen und bist dort von nicht wenigen Leuten gesehen worden. Wenn der Sheriff davon erfährt, wirkt es doch erst recht so, als hätten wir uns das Alibi und die Tatsache, dass wir ihn im Kräutergarten gefunden haben, nur ausgedacht.“
__„Ich denke, da hast du Recht. Vielleicht ist es also besser, wenn ich mich freiwillig beim Sheriff melde und ihm die Geschichte von meinem Standpunkt aus beschreibe? Immerhin hat er ja nichts wirklich gegen mich in der Hand, und die Kinder sind Zeugen dafür, dass ich tatsächlich nicht derjenige bin, der gestern irgend etwas in den Fluss geworfen hat.“
__„Der Sheriff würde Sie höchstwahrscheinlich festnehmen“, entgegnete Bruder Cadfael. „Kinder zählen als Zeugen nicht, und Sie sehen nicht nach einem Edelmann aus, also wäre Ihre Aussage weniger wert als die von de Somme. Hinzu kommt, dass Gilbert Prestcotte dazu neigt, die erste glaubwürdig erscheinende Möglichkeit zu akzeptieren.“
__„Und was passiert mit mir, wenn ich verhaftet werde?“
__„Wenn der verschwundene Sohn nicht wieder auftaucht und de Somme Sie als sein Mörder bezeichnet, wird in einer Gerichtsverhandlung entschieden, ob Sie tatsächlich der Mörder sind oder nicht. Falls das Gericht sich der Meinung von de Somme anschließt droht Ihnen die Todesstrafe.“
__„Und Sie können sicher sein, dass das Gericht ebenfalls Kinder als minderwertige Zeugen und Edelleute als hochwertige Zeugen ansieht“, ergänzte Hugh Beringar.
__„Immerhin lässt sich unser Sheriff mit ordentlichen Argumenten und dazu passenden Beweisen überzeugen“, merkte der Mönch abschließend noch an. „Das Problem ist, dass wir selber nicht wissen was hier abläuft und erst recht keine Beweise haben.“
__Einige Zeit lang schwiegen die Anwesenden einander an, bevor Hugh schließlich doch noch das Wort ergriff: „Wenn euch einfach nur Zeit fehlt, um zu recherchieren und Beweise zu sammeln, gibt es vielleicht doch noch eine Möglichkeit.“ Danach beschrieb er kurz, was ihm gerade eingefallen war.