Entgegen weitläufiger Meinungen hat Roxanne kein überproportionales Mundwerk, dafür aber eine ihrer Ansicht nach zu große Nase. Tatsächlich ist sie kein Fan von Lügen und Ausflüchten, wovon ein paar Narben auf ihrem Dickschädel zeugen, als sie nicht nur durch metaphorische Wände wollte. Die Koordinationsprobleme ihrer ehemals schlaksigen Arme und Beine hat sie mittlerweile beseitigen können, auch wenn das weniger den Anstrengung ihrerseits geschuldet ist als dem normalsterblichen Wachstum. Gerne hätte sie die Schrankbreite der Muskelprotze aus Pyritus oder die beeindruckenden Oberarme der Segler, die in Portraportus an Land gehen, aber da von nichts nichts kommt, blieben ihr diese Merkmale verwehrt.
Sie schiebt es gerne auf ihre zukünftigen Pläne, auf dem Rücken eines Libelldras die Welt zu bereisen und dass sie unnötigen körperlichen Ballast des Reiters vermeiden möchte, obwohl Roxanne im Hinterkopf genau weiß, dass das Drachenpokémon selbst noch mit drei Leuten auf seinem Rücken einem Sandsturm entkommen könnte. Stolz ist sie dafür auf ihre guten Augen, mit denen sie auch ohne Wüstenglas die karge Landschaft der Orre-Region navigieren kann, auch wenn sie die nicht weiter bemerkenswerte Farbe eben jenes Wüstensandes haben.
Ihre Kleidung hat angesichts des rauen Klimas vor allem funktional zu sein, was auch der Grund ist, warum sie schon bessere Tage gesehen hat. Für Mode hat Roxanne sich noch nie interessiert - nicht dass sie eine Wahl hätte, wenn sie sich die Teile entweder mühsam zusammengespart, auf der Straße aufgelesen oder aus dem örtlichen Fundbüro “geliehen” hat. Allerdings ist ihr der geradezu zufällig zusammengestellte Look mittlerweile so ans Herz gewachsen, dass sie selbst jetzt noch minimalistisch unterwegs ist und ihre Sachen, passend zum Lebensstil einer Nomadin, in eine Reisetasche passen.
Charakter
Name: Roxanne
Geschlecht: weiblich
Alter: 17 zum Zeitpunkt des ersten Treffens
Eigenschaften: Wenn man Roxanne bittet, etwas über sich selbst zu erzählen, weiß sie nie so recht, wo sie anfangen soll. Trotz ihres bewegten Leben in dem jungen Alter fallen ihre Erinnerungen größtenteils in zwei Kategorien:
1. Dinge, die ihre Zuhörer sowieso nur langweilen würden (wen schert es schon, wo sie sich an diesem Tag etwas zu Essen zusammengesucht hat oder in welcher dunklen Ecke sie ein wenig unruhigen Schlaf bekam)
2. Dinge, die andere absolut nichts angehen (so ziemlich der ganze Rest. Für ihr jetziges Leben ist es unerheblich, seit wann und warum ihre Familienmitglieder entweder tot oder absolut kein Zuhause sind, in das sie freiwillig zurückkehren würde. Meistens würde sie einen coolen Grund vorschieben, wie dass sie gehen kann, wohin sie will, oder dass sie ihre eigenen Regeln schreibt. Das klappt ganz gut bei den meisten - und die, die es durchschauen, stellen keine weiteren Fragen darüber, was schlimmer als Hunger, Kälte und Schutzlosigkeit sein musst).
Nicht dass Roxanne viel darauf gibt, was die Menschen von ihrer unwirschen Art und den direkten Antworten halten. Das Leben ist zu kurz, um sich damit aufzuhalten. Entweder, die Menschen respektieren sie, oder Roxanne gibt ihnen einen Grund, dies zu tun. Sie hat nie die meisten Muskeln gehabt, schon gar nicht verglichen mit den Jungs in ihrer Klasse, aber trotzdem sind alle vor ihr im Staub gelandet. Sie hat früh erkannt, wie wichtig es ist, für sich selbst sorgen zu können, und hat eine geradezu panische Angst davor, was wäre, wenn sie das nicht könnte. Ein paar Freunde hat sie in der Wüstenstadt für sich gewinnen können, hält aber trotzdem von ihnen Abstand, weil sie sich nicht sicher ist, wann sich die Gelegenheit bietet, ihr das Messer in den Rücken zu rammen.
Einen konkreten Plan für die Zukunft hat sie nicht (wenn man sich konstant fragt, wie man bis zum nächsten Tag überleben soll, wird man mit der Zeit ein wenig kurzsichtig dahingehend), aber seit sie Knacklion begegnet ist, hat sie immer mehr erkannt, dass das Leben im Untergrund der kargen Wüstenstadt so nicht das Wahre ist. Sie will mehr von der Welt sehen und träumt davon, dass es sie eines Tages auf Großmauls Rücken bis in die grünen Regionen von Emeritae und vielleicht sogar über das Meer fliegen kann.
Pokémon
Spitzname: Großmaul
Geschlecht: männlich
Level: 16
Attacken: Seine Lieblingsattacke ist Schaufler, die ihm in die Wiege gelegt wurde, und mit der es sich zum Schlafen im Sand verbuddelt und damals wohl zu tief gegraben hat, weshalb es in Orkus landete. Durch die Instabilität des trockenen Wüstensandes verursacht es dabei das ein oder andere Sandgrab, in dem es nicht nur Beute, sondern auch mal sich selbst einbuddelt. Durch seinen beeindruckenden Kiefer kann auch sein Biss sehr gefährlich werden, weshalb Roxanne lieber einen Schritt zurückgeht, wenn das Pokémon nach etwas schnappt.
Laut Roxanne beherrscht Großmaul ebenfalls die Attacke Geofissur, erwähnt aber im gleichen Atemzug, dass es dem Pokémon strengstens untersagt wurde, diese Tod-und-Verderben-bringende Attacke jemals einzusetzen (auf die ehrfürchtige Nachfrage, ob der Zugang zu Orkus deswegen verschlossen ist, weil Großmaul die Stadt in der Schlucht mit dieser Attacke wortwörtlich dem Erdboden gleichgemacht hat, schenkt Roxanne den Menschen nur ein wissendes Lächeln).
Fähigkeit: Rohe Gewalt. Knacklion braucht keinen Schnickschnack wie Zusatzeffekte, sondern baut ganz auf die Stärke seiner Attacken.
Eigenschaften: Knacklion ist sehr stolz und würde sein Territorium bis zum Tod verteidigen - wenn es sowas wie Konkurrenz geben würde. In Wahrheit ist die Landschaft selbst für Wüstenverhältnisse so leer, dass es die Woche, die diese Spezies ohne Nahrung aushalten kann, öfter erreichte, als ihm lieb war. Das tut seinem Aggressionsproblem - ähm, pardon, Temperament - keinen Abbruch, und wo auch immer er nach Streit sucht, findet er ihn auch. Da es sich seit jungen Jahren selbst behaupten muss, ist es für Knacklion wichtig, stets der Stärkere zu sein.
Von gelegentlicher Selbstüberschätzung zeugt die Narbe auf seinem Unterbauch, über die es seinem Trainer irgendwann mal erzählen wird, wie es sich diese zugezogen hat. Es trägt diese mit so viel Stolz, dass Roxanne auf ihren Reisen den Scherz macht, sie würden nur durch die Lande streichen, weil sie Rache nehmen wollen an dem, der Großmaul das angetan hat (In Wahrheit ist es Knacklion sehr peinlich, dass es am Ende des Kampfes auf einem Fels aufschlug und sein Gedächtnis an diesen Tag größtenteils verloren hat. Es möchte aber an dieser Stelle betonen, dass er nichts anderes als legendär gewesen sein kann!).
Wenn es seinen Durst nach metaphorischen Blut gestillt hat, ist es ein sehr genügsames Pokémon, das auch mal den halben Tag in der Sonne dösen kann, besonders nach einer ausladenden Mahlzeit. Wasser mag es gar nicht und hält sich, abgesehen vom Trinken, so weit wie möglich von allem Nass fern. Im Gegensatz zu seinem Trainer bevorzugt es ein ausgelassenes Sandbad - immer darauf bedacht, gut Acht auf das Halstuch zu geben, das Roxanne ihm für den Partnerlook geschenkt hat. Es erachtet dieses als seinen wertvollsten Besitz - und es ist ganz sicher kein Lätzchen, so wie manch einer gerne scherzt!
Herkunft/Geschichte der beiden:
“In Pyritus regieren die Halbstarken”
So lautet das ungeschriebene Gesetz der Stadt, den trotz der örtlichen Polizeiwache ist die Wüstenstadt so weit von einer friedlichen Umgebung entfernt wie davon, eine blühende Metropole zu werden. Die daraus resultierende Knappheit an Vegetation und Nahrung gepaart mit einer üppigen Dosis Neugier waren es, die das Knacklion in die dunklen Straßen des Untergrundes trieb. In Orkus, der Stadt unter der Stadt, deren neon-schillernde Existenz heute nur noch ein Mythos ist, sah es auch nicht besser aus als auf der Erdoberfläche - ganz im Gegenteil. Nichts als Metall und Beton und Glas waren hier zu sehen. Es konnte sich nicht einmal einbuddeln, egal wie sehr es mit seinen Beinchen auf dem harten Untergrund scharrte.
Im Flackern der Leuchtreklamen war Roxanne gerade auf der Pirsch, um sich im Hinterhof der Imbisse nach Leckereien umzusehen, als ihr ein metallenes Krachen fast einen Herzinfarkt bescherte. Ein vorsichtiges Heranpirschen enthüllte einen orangenen Körper, der neugierig schnüffelnd die umgefallene Mülltonne umkreise und nach einer kurzen Inspektion ohne zu zögern zuschlug.
Roxanne war darüber hochgradig irritiert. Nicht nur, weil sie sich ebenfalls einen kleinen Mitternachtssnack gönnen wollte, sondern vor allem, weil nicht nur die biologisch abbaubaren Überreste in Knacklions Mund verschwanden, sondern auch alle anderen entsorgten Gegenstände in der praktischen Verpackung des Müllbeutels - und als wäre das nicht genug, sollte sogar die metallene Mülltonne selbst den unendlichen Hunger stillen. Roxanne musste höllisch aufpassen, sich nicht die Hände blutig zu schneiden oder einen ganzen Arm zu verlieren, als sie dem Knacklion diese zu entreißen versuchte.
Diese Begegnung machte eines klar:
1. Das Pokémon kompensierte seine spärlich vorhandene Intelligenz mit geradezu absurder Kraft
2. Roxanne würde nie wieder ein Pokémon finden, das so perfekt zu ihr passte (oder überhaupt eines. Wilde Pokémon hatte es seit Roxannes Geburt in Orre nur so vereinzelt gegeben, dass ganze Arten als ausgestorben galten. Die Artenvielfalt, die Trainer mit sich herumtrugen, war ganz allein dem Importmarkt geschuldet, und wenn Roxanne sich überhaupt irgendetwas leisten könnte, dann wäre es erst mal ein vernünftiges Abendessen gewesen, von einem Pokémon ganz zu schweigen)
Dass die beiden sich auf Anhieb verstanden, war eine glatte Lüge, um Roxanne besser dastehen zu lassen. In Wahrheit hatte das Knacklion so wenig Menschenkontakt gehabt, dass weder ein simples Wort noch die wirre Gestikulation durch seinen Dickschädel drang. Der einzige Laut seines Namens wiederum gab Roxanne keinerlei Aufschlüsse darüber, was das Pokémon da genau von ihr wollte.
Roxanne war sowieso nicht mehr als eine Nebensache, sobald das Knacklion seinen Kopf in die Überreste der lädierten Mülltonne steckte und mit seinen Stummelbeinchen bis ans Ende kroch, in der Hoffnung, dass entgegen seiner Sinne doch noch irgendetwas Essbares darin zu finden sei.
Den nächsten Schritt füllte Roxanne immer ganz besonders detailgetreu aus. Immerhin musste man würdigen, dass sie sich der wilden Bestie unter Einsatz ihres Lebens gestellt hatte, und ein Moment der Unachtsamkeit ihr den Arm oder gleich ihr ganzes Leben hätte kosten können. In Wahrheit bedurfte es nichts weiter, als das obere Ende der Mülltonne zu greifen und sie wieder aufzustellen. Dadurch, dass das Knacklion diese nahezu perfekt ausgefüllte und sein Schwerpunkt wegen des massiven Kiefers unüberwindbar tief lag, konnte es nur mit seinen Beinchen strampeln und verstimmte Laute von sich geben.
Jetzt, wo sein Unterbauch frei lag, erkannte Roxanne im kläglichen Licht der surrenden und flackernden Straßenlaterne gerade so die dunklen Linien, die sich darüber zogen. Neugierig fuhr sie mit seiner Hand darüber und fragte sich, was für einen Kampf der kleine Racker ausgetragen hatte, wenn sein Gegner den harten Panzer hatte verletzen können. Sie war so von den eigenen Fantasien der mutigen Taten ihres neuen Partners ergriffen, dass sie nur langsam mitbekam, wie die Protestlaute komplett verstummt waren. Stattdessen hallte nun etwas aus dem Metallgefäß, das im ersten Moment nach einem bedrohlichen Knurren klang, aber nach weiteren Überlegungen eher Ähnlichkeit mit dem zufriedenen Schnurren einer Katze hatte - und wenn Roxanne eines gelernt hatte, dann dass man unter keinen Umständen damit aufhören durfte, diese zufriedenzustellen (Biker Mick hatte sie einmal sein Eneco streicheln lassen, um sicherzustellen, dass Roxanne niemals wieder darüber herzog, dass es eher was für Mädchen sei. Das abstrakte Kunstwerk, das die Krallen hinterlassen hatten, hätte man in einem Museum ausstellen können).
Es folgten so viele Streicheleinheiten, dass Roxanne vor Erschöpfung fast der Arm abzufallen drohte, und gerade als sie versuchte, ihn schnell genug herauszuziehen, schlossen die vier Beine sich so stark darum, dass das Pokémon mitkam. Probeweises Abschütteln brachte nichts, das Pokémon saß bombenfest. Nun, lieber mit seinen Beinen als mit seinem Kiefer um den Arm, dachte Roxanne sich. Und so kam es, dass sie ihren neuen Freund zu sich ins Versteck trug.
“Das Recht des Stärkeren ist Gesetz”
Während Roxanne sich gerade an das Leben mit ihrem neuen Freund gewöhnte, machte sich eine merkliche Unruhe in der Region breit. Zuerst waren es nur Gerüchte, die hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurden, doch wenn man wusste, wo man lauschen musste, blieb kein Geheimnis lange verborgen. Roxanne gab erst nicht viel auf die Spekulationen von extrem starken Pokémon, bis Biker Mick bei einem ihrer Trainingskämpfe einen neuen Pokéball auspackte. An diesem Tag war Knacklions Gegner ein Traunfugil, hinter dessen schelmische Blick sich noch etwas viel Dunkleres verbarg, was Roxanne nicht zuzuordnen wusste. Da sie aber noch nie einen Kampf abgelehnt hatte, folgte sie Knacklions gutem Beispiel, das schon in die Mitte des Kampffeldes hervor preschte, um dem Traunfugil zu zeigen, wo dessen Platz war.
Bisher waren die Kämpfe zwischen den beiden Trainern sehr ausgeglichen gewesen und Roxanne scherzte, dass nichts der Biss-Attacke von Knacklion standhalten konnte, doch das Geist-Pokémon zeigte sich wenig beeindruckt. Selbst als es sich kaum noch in der Luft halten konnte, griff es so unablässig an, dass Roxanne einen völlig neuen Blick in Knacklions Augen sah: Todesangst.
Zum ersten Mal in ihrem Leben brach Roxanne einen Kampf ab, erschüttert von der Stärke des neuen Pokémon. “Wo hast du das her?”, fragte sie Biker Mick, der nur wissend lächelte und von seinen letzten Kämpfen im Kolosseum erzählte. Davon, wie er mit seinem Zigzachs und dem Eneco keine Chance gehabt hatte und er zum Gespött der grölenden Menge geworden war (was Roxanne ihm auch vorher hätte sagen können, aber um ein guter Freund zu bleiben, hatte sie lieber ihre Klappe gehalten). Nicht einmal das neue Traunfugil hatte viel ausrichten können. Nach der dritten schmählichen Niederlage in der ersten Runde hatte ihn ein Typ mit Glatze und roter Veste angesprochen und ihn gefragt, ob er Interesse hätte, sein Pokémon “aufzuwerten”, und der Rest war Geschichte.
Roxanne schaute zu dem Knacklion, das schlaff in seinen Armen hing. Wenn selbst ihr kleiner Freund trotz seiner enormen Stärke so vernichtend geschlagen wurde, gab es keinen Zweifel: Auch sie würde alles daran setzen, ihren Partner stärker zu machen.
Der Mann war nicht einfach zu finden, doch Roxanne kannte die schäbigen Ecken hinter dem Kolosseum wie ihre Westentasche. Zuerst tat der Mann so, als hätte er keine Ahnung, wovon sie sprach, doch als Roxanne speziell das Traunfugil erwähnte, nickte er wissend. “Da kann ich was machen. Wir sind zwar noch in der Testphase, aber wenn du willst, gibt mir den Pokéball.”
Roxanne zögerte. Da wilde Pokémon rar waren, gab es nur eine Handvoll Läden, die Pokébälle überhaupt anboten, und so hatte Roxanne sich erst einmal damit abgefunden, Knacklion in Präsenz an ihrer Seite zu haben. Das taten die meisten Trainer auch. Niemand würde auf die Idee kommen, den Kampf mit einem Pokémon aufzunehmen, um es zu klauen, und Pokémon, die einem gehörten, konnte man sowieso nicht fangen. Da Roxanne dem Knacklion kurz nach ihrer Begegnung ein zu ihrem passendes, blaues Halstuch geschenkt hatte, war nie ein Zweifel darüber aufgekommen, dass es rechtmäßig ihres sein sollte.
Der Mann vor ihr schaute sie genauer an. “Na los, du kannst mir vertrauen.” Und als Roxanne sich gerade die Worte zurechtlegte, warum sie das auf keinen Fall tun würde, schnellte seine Hand hervor und umschloss ihren Gürtel, an dem der kleine Ball befestigt war, den sie als Attrappe mit sich herumtrug. Es war nicht mehr als eine mit Lack bemalte Kugel, und Roxanne konnte den genauen Moment erkennen, in dem dies ihrem Gegenüber klar wurde.
Er griff in seine eigene Tasche und holte einen schwarzen Pokéball hervor. Roxanne wollte wegrennen, was mit einem 15kg schweren Pokémon auf ihren Armen wahrlich kein leichtes Unterfangen war. Bevor sie sich versah, flog eine der Kapseln auf sie zu - jedoch nicht in ihre Hand, sondern auf das erschöpfte Pokémon in ihren Armen. Der Pokéball fiel zu Boden und wackelte nur ein Mal, bevor er reglos liegen blieb, als hätte das Pokémon in ihm jeglichen Lebenswillen verloren.
Wie in Trance hob Roxanne den Pokéball auf und kopierte die Bewegung, die sie so oft von anderen Trainern gesehen hatte.
Nichts passierte. Sie war nicht mehr Großmauls Besitzer.
Der Mann lächelte. “Sorry, Kleine. Das Pokémon gehört jetzt mir. Wir sehen uns - oder eher nicht.” Roxanne hechtete nach dem Pokéball, doch der Griff um seine Hand wurde mit Leichtigkeit abgeschüttelt.
Die darauffolgenden Wochen kamen ihr wie im Zeitraffer vor, manche davon quälend langsam vergehend, andere viel zu schnell. Sie hasste sich noch immer dafür, wie lange sie in Selbstmitleid gebadet hatte, selbst dann noch, als sie sich endlich auf die Suche nach ihrem Freund gemacht hatte.
Ohne einen fahrbaren Untersatz (Öffentliche Verkehrsmittel waren in Orre … praktisch nicht vorhanden und wer sich nicht selbst helfen konnte, dem wurde somit auch nicht geholfen) waren ihre Möglichkeiten auf die beiden örtlichen Kolosseum beschränkt, und sie konnte nichts weiter tun, als in der Menge zu stehen und den Kämpfen zuzuschauen, sehnsüchtig darauf wartend, eines Tages ihren alten Freund im Ring zu sehen. Zu den Zielen des Team Kralls, das immer mehr an Einfluss und Macht gewann, war wenig bekannt. Manche warfen die klischeehafte Weltherrschaft in den Raum, andere pochten auf Geldgier, was Roxanne weitaus plausibler fand, doch sie war auch der “Chaostheorie” nicht abgeneigt.
Das, was in den Arenen passierte, hatte nichts mehr mit den Pokémon-Kämpfen zu tun, die draußen auf dem Platz abgehalten wurden. Das hier ging bis aufs Mark, und die einst so sportlichen Wettkämpfe endeten manchmal nicht einmal dann, wenn das andere Pokémon sich nicht mehr vom Boden erheben konnte. Pyritus war ein Ort der Gewalt, aber selbst die schäbigsten Raufbolde hatten ihre Ehre gehabt.
Es dauerte viel zu lange, bis sie den vertrauten orangenen Panzer auf dem Kampfplatz sah, und selbst dann verschlug es ihr den Atem. Es war nicht mehr in der Obhut des Mannes, der sie betrogen hatte, sondern stand nun vor einem gleichaltrigen, weißhaarigen Trainer.
Wo die Stadt für ihre Gewalt bekannt war, hatte er einen sehr viel strategischen Ansatz. Als Knacklion wie wild auf das unmöglich zu erreichende Hoppspross zupreschte und die Anweisungen, sich zurückzuhalten, ignorierte, wies der Trainer sein Psiana an, es mit einer Psychokinese-Attacke wieder zu seiner Seite des Kampfplatzes zu holen, um es nicht unnötig in Gefahr zu bringen.
Roxanne nahm die Beine in die Hand. Wenn die ganze Stadt keinen Cent auf Fairness gab, warum sollte sie sich dann daran halten? Ihr doch egal, wem ihr Großmaul jetzt offiziell gehörte oder ob sein jetziger Trainer auch nur einen Deut besser war als die vorangegangenen. Das war immer noch ihr Pokémon, und wenn sie in all den Jahren etwas gelernt hatte, dann sich zu nehmen, was ihr zustand!
Sie fiel die Treppen mehr, als dass sie sie lief, und quetschte sich dann durch die Menschenansammlung, die direkt vor der Arena stand. Das Kolosseum von Pyritus war sogar noch schäbiger als das in Orkus, und als würde man darauf spekulieren, dass es jeden Moment über den Besuchern zusammenbrechen könnte, wurden nur notdürftige Reparaturen durchgeführt. Sicherheit war ein Fremdwort und so schützte nichts außer einer hüfthohen Mauer die Zuschauer von den Kämpfen - wenn sie sich nicht noch drüber lehnten, um näher an der Action zu sein.
Und so brauchte Roxanne nicht mehr überwinden als dieses kleine Hindernis, bevor sie über den staubigen Erdboden rollte, um den Fall abzufangen. Die beiden Trainer waren zu sehr in ihren Kampf vertieft, um sie zu bemerken, und einen Schiedsrichter hatte es hier schon lange nicht mehr gegeben.
Sie hatte genau den Moment erwischt, als Knacklion erneut einen wagemutigen Angriff startete. Diesmal kam der gegnerische Trainer ihm zuvor und kaum hatte Knacklion das zweite Pokémon, ein Taubsi, in Reichweite, schlug dieses so wild mit den Flügeln, dass sich vor ihm eine Windhose auftat und ihr Knacklion erfasste. Trotz seines Gewichtes wurde es in die Luft gewirbelt, wehrlos gefangen in dem Sog. Erst als Knacklion mehrere Meter über dem Boden schwebte, ebbte die Attacke soweit ab, dass die Schwerkraft wieder übernahm und das Großmaul in den freien Fall schickte.
Roxanne sprintete zum Landepunkt und streckte die Arme aus, um ihr Pokémon in Empfang zu nehmen. Danach würde sie die Beine in die Hand nehmen, um aus diesem Colosseum zu entkommen, vielleicht sogar der ganzen Stadt, und dann -
Weiter kam sie nicht, nur bis zum Boden, als sie unterschätze, welche Auswirkungen 15 rapide fallende Kilo auf den menschlichen Körper hatten. Naja, immerhin hatte sie, was sie wollte, und der höllische Schmerz an diversen Körperstellen würde sicher auch wieder abklingen. Probeweise streckte sie die Arme aus und hob Knacklion hoch, um sicherzugehen, dass es in Ordnung war - und schreckte zurück, als die Beißer haarscharf vor ihrem Gesicht zuschnappten.
“Psiana!” hörte sie es durch die Halle schreien und Knacklion wurde von einer unsichtbaren Hand nach hinten gezogen. Roxanne krallte sich mit aller Macht an ihm fest, doch als ein stechender Schmerz ihren Arm hinaufzog, lösten sich ihre Finger. “Übernimm du”, rief sein Trainer noch, und Roxanne schaute teils perplex, teils belustigt über die Absurdität dabei zu, wie Knacklion mit einem Leuchten in den Augen über das Kampffeld schwebte, das Maul weit aufgerissen, um seine panisch flappenden Gegner mit einem Biss aus der Luft zu holen.
“Was soll denn das?” fuhr er sie erbost an, und Roxannes Ton war ebenso barsch, als sie ihn anschrie, was er denn mit ihrem Pokémon machte und dass er es gefälligst zurückgeben sollte - eine recht schwierig durchzusetzende Forderung, wenn sie es nicht einmal gefangen hatte, und der mörderische Anschlag von vorhin wohl kaum von einer innigen Freundschaft sprach. Sie redete sich sogar so in Rage, dass sie erzählte, wie und warum man es ihr geklaut hatte, und merkte zu spät, wie an den Haaren herbeigezogen das doch eigentlich klang.
Noch absurder war nur, dass er ihr tatsächlich glaubte. Er half ihr sogar auf die Beine, während er einen Blick über seine Schulter warf und zufrieden feststellte, dass seine Pokémon auch ohne ihn kurzen Prozess gemacht hatten. Roxanne hatte keine Ahnung, wie lange er dieses Psiana schon hatte, aber es würde ohne Zweifel für ihn durch die Hölle gehen, von seiner erschreckenden Intelligenz ganz zu schweigen.
Er gab ihr die andere Seite der Geschichte, über Menschen, die das Herz der Pokémon verschlossen, und über sich und seine Begleiterin, die auf einer Reise waren, um sie einzufangen und zu erlösen.
Roxanne glaubte ihm genug, um Großmaul in seiner Obhut zu lassen, und wurde damit belohnt, dass Seth eines Tages breit lächelnd nach Pyritus zurückkehrte und ihr den ersten Pokéball überreichte, den sie je in der Hand gehalten hatte.
Als sich das Pokémon materialisierte, schaute sie ihn schief an. “Ähm, du hast den Ball verwechselt.” Wie auch immer das sein konnte. Gestreckter Körper, grüne kurze Flügel, lange Beine, gelbe Färbung und von mehr Intelligenz als Brot sprechende Glubschaugen … da passte ja gar nichts.
Doch dann hob das Pokémon seinen Kopf und öffnete sein Maul, als würde dort “hier Frühstück einwerfen” stehen, und gab einen Blick auf das blaue Halstuch frei, das darum festgebunden war.