Purgatorium III: Strafe
Damian schlug die Augen auf. Sein Herz raste so schnell als wolle es ihm jeden Moment aus der Brust springen und sein Kopf war merkwürdig benebelt, fast so als hätte er ein paar Gläser zu viel getrunken. Sein Körper war schwer und schläfrig wie nach einem langen Traum aus dem er endlich erwacht war. Alles war verschwommen als hätte sich Dunst vor seinem Gesicht abgesetzt und versperrte ihm die Sicht. Erst nachdem er sich ausgiebig die Augen gerieben hatte, kam die Klarheit zurück und es war ihm möglich seine Umgebung in Augenschein zu nehmen.
Langsam und verwirrt sah er sich um: Er befand sich in einem Raum der sich weit in alle Richtungen erstreckte, ähnlich einer gigantischen Blase im Gestein. Schwarze, von Diamanten gesäumte Wege führten zu der Erhöhung in der Mitte der Höhle, auf der er sich befand. Links von ihm lag ein finsterer See, dessen dunkle Wellen an schwarzen Sandstränden eine unheimliche Melodie spielten. Licht kam von einer kleinen Sphäre, die sich über ihnen positioniert hatte, fast wie eine Miniaturausgabe der Sonne. Ihr Glanz war golden, aber kühl und nicht so wie warm wie das Flackern eines Feuers. Er war wieder zurück in der Realität.
Neben ihm regten sich allmählich Marie und Laila, weiter entfernt erwachten gerade Kleopatra, Adrian und Elias aus ihrem langen Schlaf. Als er vorsichtig mit wackligen Beinen aufstand, da seine Knie nach der Illusion offenbar noch zu schwach waren, um ihn vollkommen sicher zu stützen, bemerkte er wogegen er die ganze Zeit gelehnt hatte: Die weiße Steintruhe, die den Schatz beinhaltete.
„Was … was ist passiert?“, fragte er sich, seine Stimme nach der langen Stille etwas heiser. Hatte er nicht gerade eben noch verloren? Er hatte doch aufgegeben, oder? Warum war er dann wieder hier und wieso fühlte er sich so merkwürdig? Bedächtig und darauf achtend nicht hinzufallen trottete er ein wenig um den Schatz herum, während er hinter sich das Stöhnen Adrians vernehmen konnte, es aber getrost ignorierte. Seine Auffassung war seltsam getrübt, seine Gedanken schleichend und nur schleppend alles verarbeitend. In einer Pfütze in der Nähe konnte er sein Spiegelbild erkennen. Da traf es ihn.
„Was?! Was soll das?!“
Er trug immer noch denselben affigen Aufzug, den er schon in Pieros verdammten Zirkus angehabt hatte. Kein Wunder, dass er sich die ganze Zeit so merkwürdig gefühlt hatte, in diesem Kostüm konnte einem ja auch nichts Anderes als unwohl sein. Mit einem Schlag war seine gesamte Energie wieder zurückgekehrt, sein Kopf wurde klarer und er spürte das große Verlangen jemanden mit weißer Schminke und orangeroten Augen ins dümmlich lächelnde Gesicht zu schlagen.
„Was brüllst du denn hier so rum?“, kam der schnippische Kommentar hinter ihm und Damian musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass er von Marie gekommen war. Offenbar war sie nun ebenfalls im Vollbesitz ihrer Kräfte, während man Adrian und Kleopatra noch weiter lamentieren hören konnte.
„Hast du mich mal angesehen?!“, fauchte der junge Mann aufgebracht und wirbelte auf dem Absatz herum, um dem Rotschopf beim Streiten wenigstens ins Gesicht sehen zu können. „Ich sehe aus wie ein …“ Doch er stoppte mitten im Satz.
Auch Marie sah nicht mehr so aus wie er sie in Erinnerung hatte. Statt ihres normalen, konservativen Kostüms trug sie etwas, was der junge Magier nicht in einmal in tausend Jahren an ihr erwartet hätte. Bekleidet war sie mit einer Kombination aus Rüstung und kurzem braunen Rock mit flachen Eisenschuhen, ihr bis zum Knie reichenden Beinscheinen, einem Plattenharnisch, der ihren Oberkörper schützte und wie Damian ungerne zugab sehr gut an ihr aussah, Metallhandschuhen und merkwürdigen, an Ringen unterhalb ihrer Schulter befestigten Kettenhemdärmeln. Insgesamt sah sie wie eine Kriegerkönigin aus, das rote Haar wild und ungeordnet ihr Gesicht umrahmend. Der junge Mann konnte nicht anders als sie für einen kurzen Moment ungläubig anzustarren. Sie wiederum beantwortete seinen Blick mit einem leicht verwirrten Gesichtsausdruck, als ob sie nicht genau wüsste, warum er denn auf einmal so verdattert dreinblickte.
„Was …?“
Doch bevor der Zauberlehrling die Frage, die ihm auf der Zunge brannte, stellen konnten, wurde ihm die Antwort auch schon von einer verträumten Stimme ins Ohr gehaucht: „Eine Illusion, der Realität entsprungen oder auch eine Realität, gewonnen aus Illusionen.“
Damian sprang einen halben Meter zur Seite, das Herz wollte ihm vor Schock fast durch die Rippen bersten, bevor er realisierte, wer da gerade gesprochen hatte und sich wütend umdrehte. Dort, vor ihm kopfüber in der Luft schwebend, hing Piero mit einem Lächeln auf den weißen Lippen als wäre nie etwas gewesen. Er sah so aus wie immer, die Kleidung feuerrot, die Haare rabenschwarz und die Narrenkrone immer noch stur der Gravitation trotzend. Hinter ihm stand Salomé, wie immer mit einem Gesichtsausdruck, als wäre sie nur rein zufällig hier.
Der junge Mann konnte es kaum fassen. Befand er sich immer noch in einer Illusion? Das würde seine Kleidung erklären. Aber warum waren Marie und die anderen dann hier? Waren sie ein Teil von Pieros Manipulationen oder hatte er beschlossen gegen alle auf einmal anzutreten. Wie dem auch sein mochte, Damian war bereit es mit dem Clown aufzunehmen. Automatisch griff er an seine Hüfte, wo er seinen goldenen Mönchsstab vermutete, spürte jedoch, dass jener nicht da war. Mit vor Zorn verengten Augen sah er wie der Narr mit dem kleinen, sichelartigen Gerät herumspielte und es dabei interessiert begutachtete.
Als jener Damians Blick aufgriff und sah, dass der Magier noch mehr auf Kampf getrimmt war als sonst, hob er beschwichtigend die Hände, wobei er seinem Gegenüber dessen Waffe zuwarf. „Keine Sorge, Damian-kun“, meinte der Narr ruhig, das träumerische Lächeln unbewegt auf seinem Gesicht. „Salomé und ich haben kein Interesse daran euch zu bekämpfen.“
„Ach, tatsächlich!“, knurrte der Braunhaarige den Blick immer noch feindselig auf das Zigeunerpaar gerichtet. „Und was ist dann mit deinem kleinen Mosaik oder wie auch immer du es bezeichnest hast? Was sollte das Ganze dann, hmm?“
„Damian, was ist hier los?“, fragte Marie besorgt, während sie einige Schritte näher trat, offenbar nicht genau wissend wie sie reagieren sollte.
„Die beiden da …“, spuckte der junge Mann verächtlich aus ohne den Blick auch nur eine Sekunde von den Illusionisten zu lassen, „… hätten euch beinahe alle …!“
„Es war ein Test“, unterbrach ihn Piero ohne mit der Wimper zu zucken, während er die beiden weiterhin anlächelte, als wäre er ein stolzer Lehrer und sie seine Schüler, die gerade einen Buchstabierwettbewerb gewonnen hatten.
„Ein Test?“, wiederholten Damian und Marie ungläubig gemeinsam, der Junge skeptisch eine Augenbraue hochgezogen, das Mädchen einen bösen Blick zur Bauchtänzerin werfend. Was meinte er damit? All dieser Aufwand für eine simple Prüfung?
„Ein Test, um zu sehen wie weit du bereit bist deine eigenen Interessen hinter die anderer zu stellen“, erklärte der Narr freundlich, sein interessierter, orangeroter Blick auf Damian ruhend. „Ich kann dir bereits jetzt sagen, dass du nicht allzu schlecht abgeschnitten hast.“
„Heißt das …“, überlegte der junge Magier laut und strich sich nachdenklich über das Kinn, bevor es ihm wie Schuppen vor die Augen fiel und sein Gesicht sich vor Freude und Aufregung aufhellte, „… dass wir jetzt rechtmäßige Besitzer des Schatzes sind?“
„Das bedeutet, dass wir Großmutters Gasthaus retten können!“, rief Marie außer sich vor Glück aus und ohne weiter darüber nachzudenken fiel sie dem leicht überraschten Damian vor Jubel um den Hals. Jener wusste nicht genau, wie er darauf nun reagieren sollte und beschloss nach kurzem Zögern den Rotschopf einfach zurück zu umarmen, wobei er ihr sinnloserweise etwas auf den metallenen Rückenpanzer klopfte. Doch auch er konnte es kaum fassen: Sie hatten endlich das erreicht, wofür sie gekämpft hatten. All die Kämpfe, all die Strapazen würden sich nun auszahlen. Er bekam einen Hinweis auf seine Vergangenheit und zu allem Überfluss konnten sie auch noch die Gaststätte vor der Pleite bewahren. Es war wie ein wahr gewordener Traum.
„Bedauerlicherweise …“, unterbrach Piero ruhig den Freudentaumel der beiden Jugendlichen, „… habt weder ihr, noch die drei merkwürdigen Gestalten da drüben …“, er deutete mit einem Kopfnicken hinter Damian und Marie auf den Grabstein, sodass die beiden sich umdrehten, um zu sehen, was die drei Adligen trieben. Kleo, Adrian und Elias waren gerade dabei gewesen klamm und heimlich zu versuchen die Steintruhe zu öffnen, hatten dabei allerdings keinen Erfolg gehabt und standen nun leicht schuldbewusst zu der kleinen Vierergruppe blickend wie die begossenen Pudel da.
Dem jungen Magier fiel bei näherer Betrachtung auf, dass sich auch die Kleidung der drei Adligen seit ihrer letzten Begegnung stark gewandelt hatte. Statt ihres zerfetzten, schwarzen Minikleids trug Kleopatra nun ein Kostüm, welches offenbar sehr von Salomé inspiriert worden war: Ein bauchfreies, sehr freizügig geschnittenes Oberteil, ein extrem langes Kleid aus fast schon durchscheinenden Stoff, alles gehalten in starken Rottönen und sehr hochhackige Schuhe, bei denen dem einen ein Absatz fehlte. Auch Elias und Adrian schienen offenbar radikal unter Pieros lebhafter Fantasie gelitten zu haben, denn beide hatte es sogar noch schlimmer getroffen als selbst Damian.
Der Silberhaarige war gekleidet in eine kurze, grüne Hose, welche kurz oberhalb seiner Knie endete, einem blauen, kurzärmligen Hemd mit silbernen Streifen und einer gigantischen, knallroten Fliege, von der Damian vermutete, dass sie größer war als seine Hand. Auf seinem Haupt thronte eine dunkelblaue Mütze, die einem enormen Wassertropfen verdächtig ähnlich sah, doch all das war noch nichts gegen die Schuhe. An die Stelle der normalen, dezenten Schuhe, die der junge Adlige sonst immer trug, waren nun tellergroße, gelbe Ungetüme gerückt, die zu allem Überfluss auch noch so geformt waren, dass sie aussahen wie die Füße einer Ente.
Adrian hatte es nicht viel besser erwischt, da es den Narren bei ihm wohl auf die sieben Weltmeere verschlagen hatte. Sein Schuhwerk war durch ein Paar hohe, schwarze Stiefel ersetzt worden, die enganliegende Hose hatte die Farbe von Narzissen angenommen. Der Mantel, den er über seinem weißen Rüschenhemd trug, war lang und leicht angerissen, schwarz mit goldenen Rändern und großen, reichaussehenden Knöpfen. Schräg platziert auf dem goldbraunen Wellenhaar des jungen Viscounts fand ein goldener Zweispitzhut seinen Platz, an dem eine gigantische, gelbe Feder befestigt worden war. Um den ganzen noch die Krone aufzusetzen, verdeckte eine goldene Augenklappe das rechte Auge des Adligen. Insgesamt gaben alle Drei einen sehr merkwürdigen Eindruck ab.
Während Damian und Marie das Trio immer noch anstarrten als handelte es sich bei ihnen um sehr seltene Tiergattungen, fuhr Piero ungestört fort, dass Lächeln immer noch omnipräsent: „… keiner von euch hat die Prüfung des Schatzes bestanden.“
„Was?!“, riefen der Zauberlehrling und der Rotschopf im Einklang aus und die zertrümmernde Enttäuschung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Wie konnte das sein, nach all dem, was sie durchgemacht hatten? Hieß dies etwa, dass sie es nun doch nicht schaffen würden, die Gaststätte zu retten? Der junge Mann konnte es kaum fassen, er wollte es aber auch nicht. Wie war das möglich, nach all dem, was sie hatten durchstehen müssen? War alles, alle Mühen, die sie in diesen Kampf um den Schatz, in diese Prüfung, investiert hatten, etwa vollkommen umsonst gewesen?
„Aber wie kann das sein?“, bohrte die Rothaarige halb verzweifelt halb frustriert nach, krampfhaft versuchend sich an einen letzten Hoffnungsfaden zu klammern. Das konnte nicht alles gewesen sein. „Du hast doch gesagt, dass wir die Prüfung bestanden haben!“
„Die Prüfung des Schatzes …“, erklärte Piero freundlich und ohne sich von niedergeschlagenen Gesichtern seiner Zuhörer aus der Ruhe bringen zu lassen, „… sieht vor, dass man innerhalb der Illusion siegt. Da aber beide Gruppen entweder verloren oder aufgegeben haben, steht keinem das Recht auf den Schatz zu. Allerdings …“, fügte er hinzu, bevor Damian und Marie überhaupt die Möglichkeit hatten, sich laut darüber zu beschweren, „… ist es mir schon seit einiger Zeit möglich auf das Innere der Truhe zurückzugreifen.“
„Heißt das …“, wunderte sich Damian, die Augen nachdenklich geschlossen und die Hand am Kinn, doch bevor er seine Frage vollständig stellen konnte, fiel ihm Marie aufgeregt ins Wort, in ihren azurblauen Augen wieder ein Hoffnungsschimmer glitzernd: „… dass du uns einen Teil des Schatzes abgeben wirst?“
Der Narr schenkte ihr sein typisches sanftes Lächeln und Damian sah aus dem Augenwinkel wie das Mädchen leicht errötete: „Ich sehe keinen Grund, weshalb ich ihn euch verwehren sollte.“ Mit diesen Worten trat Piero, nun wieder mit beiden Füßen fest auf dem Boden, einige Schritte nach vorne und an Damian und Marie vorbei auf die Steintruhe zu. Kleo, Adrian und Elias zuckten zurück, fast so als hätte der Schwarzhaarige ihnen einen seiner bösen Blicke zu geworfen, und blieben zitternd einige Meter von dem Rest der Gruppe entfernt stehen, einige von Verlangen geprägte Blicke der Steintruhe zuwerfend.
Der junge Mann und die Rothaarige folgten ihrem Wohltäter geschwind, wobei Damian sich niederkniete, um einer verwirrt dreinschauenden Laila auf die Füße zu helfen. Auch sie war nicht von einem Kostümwechsel verschont geblieben, jedoch hatte man bei ihr lediglich das Farbmuster geändert. So trug sie nun ein schneeweißes Kleid, mit einer braunen Strickjacke darüber und einem langen, roten Kapuzenmantel. „Interessante Farbkombination …“, war der gedankliche Kommentar des Jungen dazu, doch er behielt diese Beobachtung für sich. Kein Grund jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen.
Piero hatte sich inzwischen vor der weißen Steintruhe niedergekniet und berührte mit einer blassen, langfingrigen Hand sanft die Seite des Sarges, fast so als hätte er es mit einem scheuen Tier zu tun. Sofort leuchtete die eingravierte Schrift feuerrot auf und erfüllte die schwarze Höhle mit einem warmen Glanz. Die drei Adligen zuckten wie verschreckte Hühner zusammen, doch Damian achtete gar nicht darauf, er betrachtete fasziniert das Geschehen. Ganz langsam, so schleichend, dass man es kaum mitbekam, hob sich der schwere, steinerne Deckel und schwebte für ein paar Sekunden schwerelos in der Luft. Dann levitierte er zur Seite und enthüllte die lang ersehnten Reichtümer, welche wie ein goldener Schein aus der Kiste heraus strahlten.
Marie trat zögernd einige unsichere Schritte näher, fast als befürchtete sie, ihr Glück würde sich in Luft auflösen, wenn sie zu überschwänglich war, doch Damian dachte gar nicht daran sich in Zurückhaltung zu üben und war der Erste am Sarg, vor Vorfreude und Aufregung kaum noch an sich haltend. Nun konnte er endlich sehen, wofür sie gekämpft hatten, wofür sie diese Tortur überhaupt erst begonnen hatten.
Der Schatz war genauso wie er ihn sich vorgestellt hatte: Im Inneren der Truhe häuften sich vielerlei wertvoller Dinge an, der junge Mann erkannte einige reich verzierte Kronen, Diamantketten, Ohrringe, die verdächtigerweise so aussahen, als wären sie mit Blut beschmiert, Spiegel, edle Schatullen und eine ganze Menge Edelsteine, einzig wirkliches Geld fehlte. Das Licht der Feensphäre, welches von oben auf diese unermesslichen Reichtümer herab schien, brach sich in den vielen Kristallen, Rubinen und Saphiren und ließ das Innere der Truhe aussehen, als hätte man einen Regenbogen in ihr eingesperrt. Der junge Magier konnte all dies kaum fassen: All dieses Gold und Silber, all diese Perlen und Diamanten, es überrumpelte ihn in all seinem Glanz und seiner Pracht. So erschlagen war er von diesem Anblick, dass er weder seinen Partnern noch Piero einen Blick zu warf, als jener zu einer weiteren Erklärung ausholte, sondern wie gebannt das Gold bewunderte. „Dies ist der sogenannte Schatz der Geisterprinzessin oder auch der Reichtum der Toten, es hat viele Namen. Diese Kostbarkeiten sind über viele Jahrhunderte zusammengetragen worden, genommen von wahrlosen Generationen. Jeder Historiker würde hier sein Paradies auf Erden finden.“
„Unglaublich!“, flüsterte Marie und Damian konnte ihr nur all zu leicht zustimmen. Dieses Zeug war also schon mehrere Zeitalter alt, war vielleicht vor Hunderten von Jahren geschmiedet worden. Da war sogar die Möglichkeit, dass einige Dinge hier von magischer Natur waren. Wie stark die Flüche oder Sprüche, die so viel Zeit zum Reifen gehabt hatten, wohl waren? Sollte er es herausfinden? Neugierig genug war er. Doch etwas, er wusste nicht genau was, hielt ihn davon ab, einfach so in die Truhe hinein zu fassen und sich den erstbesten Gegenstand herauszunehmen. Er konnte nicht sagen wieso, aber irgendwie spürte er, dass das ein Fehler sein würde. Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend und seine Intuition belog ihn normalerweise nie. Aber dennoch die Gelegenheit war einfach so verlockend …
Während der Junge noch mit sich ring, übernahm Piero jedoch die Initiative und fischte mit einer flinken Handbewegung etwas aus den Untiefen der Kiste. „Hier!“, rief er fröhlich und warf dem Braunhaarigen den kleinen, runden Gegenstand zu. „Fang!“
Reflexartig hob Damian die Hand genau im richtigen Moment, um das Geschenk geschickt entgegen zu nehmen. Verwundert betrachtete er es: Es war ein silberner Ring, groß genug, um an seinen Ringfinger zu passen. Eingelassen in ihn war ein klobiger, tiefschwarzer Stein, so finster, dass man meinen konnte, er verschlucke das Licht selbst, ähnlich verhärteter Finsternis. Fasziniert begutachtete der junge Magier das Schmuckstück, fast schon hypnotisiert wirkte er, während er die eingravierten, sich weiß vom Dunkel des Steins abhebenden, Linien untersuchend, mit seinen Fingern fühlend sanft über sie strich. Sein Kopf war wie leer gefegt, er registrierte nichts Anderes, nur auf den Ring und das Muster fixiert. Wenn er es richtig erkannte, war dies eine weiße Schlange, den Mund geöffnet und die gespaltene Zunge ausgestreckt.
Nichts. Dunkelheit. Eine rote Finsternis, eine blutrote Finsternis. Das Gesicht eines Mannes, zu schnell wieder verschwunden, als das man es erkennen konnte. Schreie. Blut, welches alles bedeckte, welches die Sicht nahm. Wieder das Gesicht blutrot, nicht erkennbar, dann abermals verschwunden. Ein Zischen. Schnee. Rot. Blut.
„Meine dir versprochene Belohnung …“, begann Piero leise und sanft sprechend, doch Damian zuckte sofort zusammen. Er hatte den Ring angesehen und war kurz in Gedanken verloren gewesen, hatte für einen kurzen Moment vergessen wo er war. Dieser Stein war merkwürdig gewesen, hatte ihn geradezu eingesogen, doch nun, da er aus seiner Starre gerissen worden war, hatte er einen schlechten Geschmack im Mund. „Ein Hinweis auf das Vergessene, welches wir verloren wähnen und auf das, was die Zukunft bringt.“
Damian wusste nicht genau wie er antworten sollte, sein Kopf war seltsam neblig, ähnlich dem Gefühl, welches er zuvor schon in der Illusion gespürt hatte. Er wollte gerade ansetzen sich nörgelnd darüber zu beschweren und zu fragen, ob das alles gewesen war, weil er mit weniger kryptischen Hinweisen auf seine Vergangenheit gerechnet hatte, da er wurde jedoch unterbrochen. Ein dunkles, bedrohliches Grollen gefolgt von einem unglaublich starken Beben erschütterte die Höhle. Damian hatte große Mühen nicht hinzufallen, während Laila sich verzweifelt und verängstigt an Marie klammerte, sodass beide auf ihre Allerwertesten plumpsten. Einige Brocken stürzten von der Decke auf den Boden und zersprangen dort mit einem lauten Krachen, während Damian mit vor Entsetzen entgleisten Zügen feststellte, dass sich Risse im Boden auftaten. Der dunkle See schien ebenfalls in Aufruhe geraten zu sein, große, alles zerstörende Wallen krachten gegen die Steinwände, während die einst so ruhige Wasseroberfläche nun wild, fast als wäre sie erzürnt, blubberte und zischte.
Auch Piero war offensichtlich alles andere als begeistert über diese Entwicklung der Dinge, denn sein sonst ewig träumerischer Gesichtsausdruck verdüsterte sich zum ersten Mal wirklich und er drehte sich rasch um, um zu sehen, wer für dieses Chaos verantwortlich war. Kleo und Adrian hatten es gewagt sich unbemerkt über den Schatz her zu machen und hatten sich alle ihre Taschen mit den Ringen und Kelchen vollgestopft, während sie sich selbst mit Ketten und Kronen behangen und geschmückt hatten. Nun gaben sie nicht zum ersten Mal an diesem Tag den Eindruck ab als hätte man sie soeben mit einem gigantischen Hammer geplättet. Stärker zitternd als Espenlaub hingen sie aneinander und blickten von Angst und Schrecken erfüllt zu dem über ihnen schwebenden Narren empor. Damian konnte Pieros Gesichtsausdruck nicht sehen, da jener mit dem Rücken zu ihm stand, doch als er die vollkommen panischen Reaktionen der beiden Adligen sah, war er sich nicht mehr so sicher, ob er das auch unbedingt wollte. Dieser Narr konnte schon ganz schon einschüchternd sein.
„W-was geschieht hier?“, quiekte Laila hysterisch und der junge Magier konnte Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern sehen.
„Der Schutzmechanismus des Schatzes hat sich aktiviert“, erläuterte Piero düster, immer noch die Katastrophe um sich herum betrachtend. „Nur wer des Schatzes würdig ist, darf ihn berühren, andernfalls passiert dies.“
„Wir-wir sind jung und brauchen das Geld!“, brachte Adrian als schwache Verteidigung hervor, doch ein Blick von Piero brachte ihn zum Schweigen, sodass er sich quiekend hinter Kleo versteckte, die offenbar vergeblich versuchte, ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen, dabei aber kläglich scheiterte.
„Wie dem auch sei“, fuhr der Narr fort, ohne sich weiter mit den beiden bemitleidenswerten Figuren abzugeben. Nun wandte er sich wieder an Damian, Marie und Laila, die ihn allesamt erschrocken und geschockt anstarrten. Was sollten sie nun tun? Der Weg zurück war lang und wenn sie hierblieben würden sie von den Steinen begraben werden. Aber sie konnten es niemals rechtzeitig zum Ausgang schaffen, oder? Außerdem war da ja noch der Höllenhund, der sie angreifen würde und Damian war sich nicht sicher, ob der Narr es mit dem Ungetüm würde aufnehmen können. Alles war verloren, nichts konnte sie jetzt noch retten.
„Folgt mir!“, befahl Piero der Gruppe plötzlich und seine Stimme war zum ersten Mal befehlend, der sonstige, weiche, geduldige Ton war verschwunden. Seine orangeroten Augen blickten fordernd in die Runde und Damian konnte dem Blick keine Sekunde lang standhalten. Stattdessen tat er wie ihm geheißen und eilte hinter dem Schwarzhaarigen und Salomé her ohne auch nur daran zu denken sich zu beschweren. Ihr Schicksal lag nun in deren Händen. Damian wusste, dass er es sich gerade jetzt nicht leisten konnte, ungehorsam zu sein, vor allem, da er selbst keine Ideen hatte, die sie hier heil rausbringen würden. Der Clown schien sich in diesem Höhlensystem weitaus besser als er auszukennen und war demnach einer der sichersten Personen, denen er zurzeit folgen konnte.
So rannten sie alle hinter dem schwebenden, rotleuchtenden Narren und der freizügigen Zigeunerin hinterher, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden irgendetwas zu hinterfragen. Ganz vorne waren Piero und Salomé, hin und wieder den Weg blockierende Steinbrocken sprengend und den richtigen Pfad weisend. Hinter ihnen liefen zuerst Laila mit flatterndem Mantel, dann Marie und zum Ende hin Damian gefolgt von Elias, Kleopatra und als allerletztes Schlusslicht Adrian, der seine Probleme hatte hinterher zu kommen.
Das Beben wurde nun immer stärker, während mehr und mehr Teile der Decke ihren Weg auf den Boden fanden, sodass die kleine Gruppe sehr aufpassen musste, nicht getroffen und unter dem Geröll begraben zu werden. Schon bald war der Pfad hinter ihnen versperrt, was allerdings kein Problem war, da ohnehin keiner der Jugendlichen wahnsinnig genug gewesen wäre, umzudrehen und wieder zurück zu rennen. Den Nerven des jungen Mannes nicht zutragend waren die ganzen Risse, die sich nun in Wänden und an der Decke auftaten. Er hatte keine Lust in eine dieser Todesgruben hineinzutreten und er war sich sicher, dass jeder hier seine Wünsche teilte. Piero und Salomé führten sie nun in einen versteckten Gang, den Damian beim ersten Eintreten nicht bemerkt hatte, der aber offenbar eine Abkürzung durch den Tunnelkomplex war, da es schon bald sehr steil in die Höhe ging.
Hinter sich konnte er Adrian sich beschweren hören: „Warum muss ich eigentlich als Letzter laufen?“
„Weil du der langsamste bist, du Volltrottel!“, fauchte Kleo, die allerdings auch nicht wesentlich schneller war als ihr Cousin. Der eine abgebrochene Absatz machte ihr offenbar ganz schön zu schaffen, da sie eher humpelte als rannte und zusammen mit dem jungen Goldhall sehr weit zurückfiel. Damian begann bereits sich zu fragen, ob sie es überhaupt noch schaffen würden, da wurden seine dunklen Befürchtungen auch schon bewahrheitet.
Ein weiteres starkes Beben erschütterte den Tunnel und ließ die Gruppe zittern und schwanken. Vor der blonden Viscountess tat sich urplötzlich und unerwartet ein gewaltiger Spalt auf, in den sie beinahe hineingefallen wäre. Dieses Schicksal vermied sie zum Glück jedoch, da sie gerade noch rechtzeitig stehen blieb und entsetzt den kirschroten Mund weit aufriss. Adrian, der diese Hürde allerdings nicht wahrgenommen hatte, verpasste es rechtzeitig zu bremsen und krachte mit voller Wucht in den blonden Lockenkopf hinein, sodass beide für einen kurzen Moment taumelten, bevor sie mit einem markerschütternden Schrei in den Abgrund stürzten.
Damian riss entsetzt die Augen auf, kaum verarbeitend, was er gerade miterlebt hatte. Sein Herz schien für einen kurzen Moment stehen zu bleiben, doch ehe er irgendetwas Anderes tun konnte als mit vor Schock offenstehenden Mund auf den Abgrund zu starren, war ein silberner Schopf bereits an ihm vorbei gezischt. Der junge Magier wollte ihm eine Warnung hinterher rufen, doch da stürzte Elias sich bereits ebenfalls in die Leere, in einem verzweifelten Versuch seine Schwester zu retten. Damian konnte es kaum fassen.
„Elias!“, schrie jemand hinter ihm auf und der Braunhaarige wusste sofort, dass es sich dabei um Marie handelte. Instinktiv streckte er seine Arme aus, da er genau wusste, was seine Kindheitsfreundin versuchen würde, und hielt sie damit davon ab sich auch in die Tiefe fallen zu lassen. „Nein!“, brüllte er die Rothaarige über das Donnern und Grollen des einstürzenden Tunnels an und schüttelte sie leicht, fast als wollte er sie wieder zu Besinnung bringen. Sein Blick bohrte sich in ihren, angespannt und unnachgiebig. In ihren leuchtenden Augen glitzerten Tränen, immer geweitet vor Schock. „Du kannst nichts mehr tun! Los!“
Mit diesen Worten schubste er sie wieder in Richtung ihrer Schwester und den beiden Straßenkünstlern und gemeinsam beeilten sie sich den Anderen zu folgen, während hinter ihnen die Decke mit dem Boden kollidierte und den Weg zurück vollkommen versperrte. Sie waren gerade noch rechtzeitig davon gekommen.
Eine kurze Zeit später schlug ihnen nach all der modrigen, stickigen Luft der dunklen Höhle die frische Brise des Abends entgegen und schon bald stolperten alle Drei erschöpft und außer Atem, aber erleichtert unter den freien Sternenhimmel. Das Erste, was Damian tat, war sich ermattet auf den schwarzen Steinboden sinken zu lassen und dort die Augen geschlossen nach Luft zu ringen. Sein Herz raste tausend Mal schneller als er eben gerannt war und schlug unangenehm gegen seine Rippen, fast wie ein Vogel, der aus seinem Käfig gelassen werden wollte. Neben ihm ließen auch die zwei Mädchen zu Boden sinken, beide genauso am Ende wie er. Das Beben hatte inzwischen aufgehört.
„Das … war haarscharf!“, keuchte der junge Mann, konnte aber nicht umhin das breite, selbstgefällige Grinsen aufzusetzen, welches für ihn so typisch war. „Wer will nochmal?“ Als Antwort bekam er einen schwachen Hieb in die Seite, da Marie offenbar sogar zu kraftlos war, um ihn anständig zu vermöbeln. Zu seiner Freude sah er, dass auch sie ein schwaches Lächeln aufgesetzt hatte.
Piero indes starrte gedankenverloren auf den nun versperrten Höhleneingang, der, wie Damian erst jetzt bemerkte, in einen gigantischen, aus schwarzem Gestein bestehenden Berg hineinführte, der offenbar ein paar Meter in den Boden gesackt war. Sie befanden sich offensichtlich im Schwarzgebirge, welche den Norden und Osten der Stadt absperrte und zu den am weitreichendsten und vor allem schönsten Gebirgen Aqueas gehörte. War dieser Höhlenkomplex tatsächlich so weitreichend gewesen?
„Drei fehlen …“, murmelte der Narr, die Augen meditativ geschlossen, dass Gesicht nichtssagend. Damian wusste, dass er über Kleopatra, Adrian und Elias nachdachte. Mit einem Stich traf es ihn, dass alle Drei nun vermutlich tot und begraben irgendwo von Steinen zermalmt in den Untiefen des Tunnelsystems verschollen waren. Er hatte die Adligen, vor allem die zwei Jungs, zwar nicht sonderlich gemocht, aber dennoch hatte er ihnen nie so ein Schicksal gewünscht. Irgendwie tat es ihm ein wenig Leid um sie. Piero schien allerdings anderer Ansicht zu sein, denn er meinte mit einem Schulterzucken: „Gier wird Zuteil, was Gier gebührt.“
Nun wandte er sich abermals an die drei Jugendlichen, die sich offenbar langsam wieder zu erholen schienen und setzte sein übliches träumerisches Lächeln auf: „Einmal den sanften Händen des Todes zu entweichen, kann nur bedeuten, dass ihr es auch in Zukunft schaffen werdet.“ Salomé stand neben dem Narren und starrte gelangweilt Löcher in die Luft.
Damian, der mit diesen Worten herzlich wenig anfangen konnte, zog gereizt eine Augenbraue hoch, beließ es jedoch dabei, während Marie dabei war Laila auf die Füße zu helfen. Der junge Mann wollte sich gerade umdrehen, um, perfekter Ehrenmann, der er nun mal war, seine Freundin zu unterstützen, da spürte er auf einmal eine Hand auf seiner Schulter und er wurde sanft von Piero zur Seite gezogen. Der Narr schenkte ihm ein weiteres freundliches Lächeln, doch etwas in seinem Gesichtsausdruck war nun anders, merkwürdiger, falls das bei diesem komischen Kauz überhaupt noch möglich war. Damian vermied es ihm in die Augen zu sehen und spielte mit genervtem Gesicht an seinen neuen Klamotten rum. Sobald er wieder bei der Gaststätte war, würde er sich sofort umziehen!
„Noch eine persönliche Warnung an dich, Damian-kun“, flüsterte Piero und der Ton in seiner Stimme ließ auf nichts Ungewöhnliches schließen, doch der junge Magier spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Dann, ohne Vorwarnung, drückte der Narr ihm auf einmal die Karte mit dem Skorpion in die Hand. „Nimm dich in Acht. Der Skorpion will dir nichts Gutes.“
„Was?“, fragte Damian leicht verdattert, doch bevor er überhaupt irgendeine Frage, die ihm auf der Zunge lag, stellen konnte, zog ein markerschütternder Schrei seine Aufmerksamkeit auf sich. Sofort wirbelte er herum, bereit sich jedem Gegner zu stellen, doch er sah nur Marie und Laila, die beide weißer im Gesicht waren, als es Kreide je sein konnte. Zitternd und mit Tränen in den Augen starrten sie auf etwas, das außerhalb von Damians Sicht, hinter einem der Berge lag.
„Was ist passiert?“, rief er besorgt und eilte zu seinen Freunden hinüber, die Verwirrung stand ihm auf die Stirn geschrieben. Er hatte die beiden noch nie so außer sich erlebt, nicht einmal als sie in ihrer Kindheit eine tote Katze gefunden hatten. Was konnte es nur sein?
„Was …?“, hob er ein weiteres Mal die Stimme als er sie erreicht hatte, doch dann stockte er mitten im Satz. Sein entgeisterter Blick fiel auf das, was die beiden schon vor ihm bemerkt hatten. Schwarzstadt brannte.
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Letztes Kapitel, woohoo! Mit 4900 Wörtern das absolut Längste, was ich bisher geschrieben habe.