Part 2: Der voreingenommene Mathepauker
Blau-, gelb- und rotgekleidete Schüler strömten von den unterschiedlichen Richtungen herbei, von wo ihre jeweiligen Häuser lagen, trafen sich am Schnittpunkt der Brücke und bildeten einen kunterbunten Schülerstrom, der genau in Richtung Schule floss. Mitten unter ihnen – Ray und Sonja.
Das Symbol Raikous schimmerte in dem Lichte der frühen Morgensonne an der Brust von Rays neuer Schuluniform, während sich er und Sonja, mitten unter etlichen ihrer Schul- und Klassenkameraden, unaufhaltsam dem lindgrünen Gebäudekomplex näherten.
„Wo warst du eigentlich gestern Abend?“, fragte Ray beiläufig, indessen das Schulgebäude näher und näher kam. „War gestern noch kurz auf dem Sprung und habe da erst mitbekommen, dass es in der Mensa kein Abendessen gibt, sondern bei uns im Schulhaus selbst. Hatte ich noch mal Glück gehabt, sonst wäre ich doch tatsächlich noch einmal Richtung Schule gestiefelt.“
„Das hättest du dir eigentlich denken können“, antwortete Sonja. „Andy hat es doch noch erwähnt, kurz bevor er dich allein gelassen hatte.“
„Meinst du nicht, ich hätte nichts Besseres zu tun, als Andy zuzuhören?“, feixte Ray. „Es erklärt aber immer noch nicht, warum du gestern nicht beim Abendessen warst ...“
„Ähm – nicht so wichtig ...“, entgegnete Sonja und wedelte durch Rays Frage scheinbar äußerst angespannt mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht herum, als würde sie versuchen, ein lästiges Insekt zu verscheuchen. „Oh, wir sind ja schon fast da. Das ging aber schnell. Staune immer wieder darüber, was das für ein riesiger Bunker ist.“
Ray linste verstohlen zu seiner Gehgefährtin hinüber. Sonja, ihren Kopf zur Seite gewendet, mied seinen Blick. Kam es ihm nur so vor, oder versuchte Sonja tatsächlich verbissen vom eigentlichen Thema abzulenken? Konnte tatsächlich die Möglichkeit bestehen, dass sie sogar aufgrund ihrer Schüchternheit freiwillig hungrig ins Bett gegangen war? Für Rays Vorstellungsvermögen absolut undenkbar. Je länger er seinen Blick auf die Gestalt zu seiner Linken richtete, desto weiter schien sich der Kopf mit der sonnenblumengelben Haarpracht von ihm zu entfernen. Bei ihr handelte es sich offensichtlich um einen schwierigen Fall, doch Ray fasste sich eine Entscheidung. Noch bevor dieses Schuljahr dem Ende neigen würde, würde er Sonja umgekrempelt haben; beginnend zu dieser Stunde. Von nun an stand sie unter strenger Beobachtung – seiner Beobachtung.
„Sag mal, was steht den heute eigentlich auf dem Plan? Hoffentlich was Interessantes, oder? Wobei – Schule und interessant? Passt irgendwie ja nicht so zusammen ...“, lenkte Ray schließlich vom Thema ab, worüber Sonja recht erleichtert zu sein schien. Als ob nie ein Sterbenswörtchen über ihr Fehlen beim gestrigen Abendessen gefallen wäre, schwenkte ihr Kopf schlagartig zu Ray hinüber.
„Wenn ich mich nicht täusche, eine Doppelstunde Mathe, dann ...“, Sonja ignorierte das überdeutliche Aufstöhnen ihres Freundes und fuhr fort, „... zwei Stunden Gemeinschaftskunde, zwei Stunden Arbeitsgemeinschaft – da müssen wir uns übrigens noch etwas raussuchen – und dann über den Mittag hinaus noch drei Stunden den Anfänger-Kurs für Pokémon-Training.“
„Pokémon-Training?“ Rays Kopf, noch vor einer Sekunde lustlos hinunter baumelnd, schwang schlagartig empor. „Echt, Pokémon-Training? Na, das ist doch mal was. Vielleicht bekommen wir ja heute schon unser Partner-Pokémon?!“
„Möglich, wobei ich glaube gehört zu haben, dass es erst morgen soweit sein soll“, antwortete Sonja schulterzuckend.
„Morgen erst?“, stöhnte Ray niedergeschlagen. „Na, besser spät als nie ...“
Unter der Führung Sonjas passierte Ray den munter plätschernden Springbrunnen vor dem Eingang des Schulgebäudes und fand sich bereits wenige Augenblicke später im Raum 314 wieder, wo der Mathematikunterricht abgehalten werden sollte. Die Tür zum Saal hatte bereits sperrangelweit offen gestanden, als die beiden Neuankömmlinge den Raum betraten. Rays Blick schweifte herum. Ein typischer Klassensaal: große Klapptafel, Lehrerpult, ein schneeweißes Waschbecken, etliche Schränke, die sicherlich vor langweiligem Lehrmaterial nur so überquollen, und jede Menge Dreierbänken mit den dafür vorgesehenen Sitzgelegenheiten, von denen bereits etwa die Hälfte in Beschlag genommen wurden. Ray stierte sofort begierig zu den Bänken in den hinteren Reihen, wo er die Stunde verschlafen könnte, so wie er es bereits seit jeher getan hatte. Sonja hatte hingegen jedoch andere Pläne.
„Ray, kommst du?“
„Wie – was?“
Leicht irritiert suchte Ray seine mittlerweile verloren gegangene Klassenkameradin und fand diese genau an dem Ort, den er bislang immer vehement gemieden hatte: am Fenster in der ersten Reihe, linker Hand zum Lehrerpult.
„Du willst doch nicht allen Ernstes ...“, stöhnte Ray und ließ seiner Unlust freien Lauf, indem er seinen ganzen Körper schlaff hängen ließ.
Sonja machte indessen mit ihrer Hand eine stumme, aber vielsagende Geste, mit der sie Ray gebot, zu ihr hinüber zu kommen. Dass er Opfer einbringen musste, um seine neue Freundin auf den „Pfad der Tugend“ zurückzuführen, hatte er geahnt, doch dass es in einer solchen Bestrafung ausarten würde, hatte er sich nicht einmal in seinen blühendsten und wildesten Fantasien ausgemalt. Aber was half es? Er musste wohl oder übel in den sauren Apfel beißen – Sonja zuliebe. Sein ganzer Körper schien wie aus Granit gemeißelt zu sein, als er missmutig zu dem Tisch seiner Freundin herüber schlurfte, seinen Rucksack vom Rücken gleiten und achtlos auf den Boden plumpsen ließ und schwerfällig neben Sonja Platz nahm. Seine Banknachbarin schien jedoch nicht im Geringsten im Klaren zu sein, welches Opfer sie unbeabsichtigt von Ray abverlangte. Nicht wissend, aber überglücklich schenkte sie ihm über seine getroffene Entscheidung, ihr Gesellschaft zu leisten, ein Lächeln.
Mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde füllte sich das Klassenzimmer mehr und mehr mit den Schülern aller drei Häuser. Rays Uhr machte seinem Besitzer inzwischen mehr als deutlich zu verstehen, dass nun bald Schluss mit lustig war. Nur noch wenige Minuten, bis der Unterricht beginnen würde. Wie es der Zufall wollte, betrat gerade, als Ray zum gefühlten zwanzigsten Mal gelangweilt auf die Zahlen seiner Digitaluhr starrte, der erste Erwachsene dieses Morgens den Raum und ließ die Tür unüberhörbar in ihre Angeln fallen, woraufhin schlagartig das noch vor wenigen Sekunden so lebhafte Geschwätz der Schüler verstummte. Seiner Autorität völlig bewusst, trat der adrett in einem grauen Nadelstreifenanzug und weißer Krawatte gekleidete Pauker wichtigtuerisch vor sein Pult und ließ dort seinen kohleschwarzen Aktenkoffer nieder. Die akkurat auf seiner Nase sitzende kreisförmige Brille und die scheinbar millimetergenau getrimmte Kurzhaarfrisur machten Ray unmissverständlich zu verstehen, dass der Spaß nun entgültig sein Ende gefunden hatte.
„Guten Morgen, Klasse“, sagte er mit öliger Stimme.
Nicht unbedingt chorreif – manch einer früher, manch einer später - entgegnete die Klasse den Gruß ihres Lehrers.
„Professor Finch“ hieß es, als der Pauker seinen Namen überdeutlich mit Großbuchstaben an die fleckenreine Tafel geschrieben hatte und am Pult Platz nahm. Sein Blick schweifte über die Runde. Mit wahrhaft schleppender und einschläfernder Stimme begann der Mathepauker das zu tun, weswegen Ray glaubte, die ersten Tage auch getrost aussetzen zu können: Anwesenheitskontrolle und das Konzept seines Lehrplans vorzustellen.
„Nacht ...“, murmelte Ray leise zu Sonja herüber, als Professor Finch gerade bei dem Namen Dinas Fabien angekommen war und diese mit einem knappen „hier“ ihre Anwesenheit verkündete.
„Ray, was tust du da?“, zischte Sonja über dessen Verhalten empört, der seine Arme überkreuzt auf dem Tisch ausbreitete und dort seinen Kopf zur Ruhe bettete.
„Nach was sieht’s denn aus? Ich verleg die Mittagspause vor“, gähnte Ray bereits im Halbschlaf versunken.
„Granger Malcom.“ – „Anwesend.“
Gerade als Ray nahezu gänzlich im Traumland versunken war, wurden seine bereits erschlafften Sinne noch einmal auf die Probe gestellt. Ohne jeglichen Zweifel erkannte er den Klang dieser Stimme wieder. Ray zwang seinen bleischweren Kopf noch einmal in die Höhe und warf einen Blick über die Schulter. Dort, am anderen Ende der zweiten Reihe, saß er und beanspruchte eine ganze Bank für sich allein – Eagle. Er schien also doch über so etwas wie einen eher geläufigeren Namen zu verfügen, was jedoch immer noch nicht erklärte, warum er der einzige Schüler war, der keine Schuluniform trug und stattdessen mit seiner Straßenkluft – dasselbe Outfit, das er bereits am gestrigen Tage getragen hatte, glänzte. Ein jeder im Raum schien dieses gar freche Auftreten des Raikouianers zu missbilligen und - sofern sich Ray nicht irrte - gespannt auf eine gehörige Standpauke des Lehrers ihm bezüglich zu warten. Doch Pustekuchen: Der Blick Professor Finchs ruhte einige Sekunden auf seinem Schüler, angriffslustig wie ein ausgehungertes Pokémon, das man um eine Mahlzeit betrogen hatte und jeden Moment zum Sprung ansetzen würde, schweifte dann aber urplötzlich wieder auf sein Blatt und fuhr mit „Gruice Beatrice“ fort. Eagle grinste und lehnte sich selbstzufrieden auf seinem Stuhl zurück und schien dabei das boshafte Geflüster unter seinen Klassenkameraden eher wie ihm gebührenden Applaus zu genießen. Ray verstand die Welt nicht mehr und auch Sonja konnte auf seinen verwirrten Blick in ihre Richtung nur die Schultern zucken.
„Ist bislang in jeder Anwesenheitskontrolle so gewesen; egal bei welchem Lehrer. Frag mich nicht ...“
Unter der einschläfernden Stimme Professor Finchs fand Ray schnell wieder Ruhe, unterließ es allerdings seiner Banknachbarin zuliebe, wieder mit dem Kopf auf dem Tisch in seiner eigenen Sabberpfütze zu schnorcheln und nutzte stattdessen die Gelegenheit, um sich mit den noch fremden Gesichtern in seiner Klasse etwas vertraut zu machen. Das zwischenzeitliche wütende Gesumme unter seinen Klassenkameraden bezüglich seines Zimmerkameraden war auch nach einigen wenigen, aber äußerst strengen Blicken seines Lehrers verstummt und so wartete man gelangweilt das Enden seines langwierigen Aufrufens ab. Mittlerweile stand in der deutlich durch Mädchen herausstechenden Klasse der Buchstabe „T“ auf dem Plan. Allzu lange konnte es also nicht mehr dauern.
„Townsend Sora.“ – „Hier.“
Ray suchte – so wie er es die ganze Zeit über getan hatte – die Klasse nach dem Gesicht ab, zu dem die Stimme gehörte, und wurde bei einem Mädchen fündig, die zwei Reihen hinter ihm an einer der vielen mädchenübervölkerten Bänke saß.
Die Blicke der beiden Schüler hatten sich noch keine Sekunde gekreuzt, als sich in Ray ein Taubheitsgefühl von der Brust bis hinunter zu seinen Füßen mit nachfolgenden Krämpfen in beiden Beinen breitmachte. Der Puls wurde schneller, der Herzschlag unregelmäßiger. Es kribbelte ihn überall, doch Kratzen vermochte den Juckreiz nicht zu hindern. Ihm war so kalt, dass ihm seine wenigen Haare an der armfreien Schuluniform zu Berge standen und gleichzeitig kochte sein Blut, als dass er glaubte, auf seiner Stirn müsste man inzwischen leicht Eier braten können. Raum und Zeit schienen aus ihren Fugen geraten zu sein. Ja, er schien sich förmlich in die Lüfte erhoben zu haben, zu schweben, während sein Blick weiterhin auf dem hinreizenden Gesicht zwei Reihen hinter ihm ruhte. Sie, wie auch ihre beiden links und rechts von ihr sitzenden Klassenkameradinnen, gehörte der knallroten Uniform zufolge dem Hause Entei an. Doch irgendetwas war an ihr anders. Sie war anders. So viele Mädchen gab es in ihren Reihen, aber Sora hatte etwas Besonderes an sich. Etwas, mit dem sie sich so sehr von den anderen ihres Geschlechts absonderte, dass sie für Ray beinahe nur Luft waren. Mit wallendem, ebenholzfarbenem Haar und einem Gesicht, so liebreizend, makellos, bezaubernd - einfach nur bildschön, wie man es wohl nur von einem dieser schnulzigen Liebesfilme her kannte, die Ray bislang doch so erpicht gemieden hatte. Und dann dieser Name – Sora – einfach nur anbetungswürdig ...
„Valentine Ray? Wo ist Valentine Ray?“
Ein anderes, viel schmerzhafteres Gefühl breitete sich schlagartig in Rays linker Seite aus und verdrängte die soeben erstmalig verspürten Gefühle gänzlich aus seinem Kopf und somit kehrte Ray wieder auf den harten Stuhl des Klassenzimmers zurück. Unsanft hatte ihm jemand seinen spitzen Ellenbogen in seinen Körper gerammt und ihn somit wieder zurück in die Realität befördert.
„Ray, psst!“, zischte die noch recht verschwommen und kilometerweit klingende Stimme Sonjas zu seiner Seite.
„Häh, was?“ Ray zwang seinen Blick erstmalig von Sora abzuwenden und drehte sich wieder in Richtung des Pultes um.
„Valentine Ray also nicht anwesend“, hörte er Professor Finch aus noch weiterer Entfernung sagen.
„Wie bitte? Ich bin doch hier“, rechtfertigte sich Ray lautstark.
Professor Finch hob seine Braue und musterte die Gestalt Rays scharf. „Schlafen Sie sich gefälligst zukünftig nachts aus, Valentine.“
„Wozu bin ich dann in den Unterricht gekommen, wenn nicht zum Schlafen?“ Ja, das war eigentlich die typische Antwort, die Ray in solchen Momenten parat hatte, um seinem Gegenüber Paroli zu bieten. Doch viel zu sehr kreisten sich noch seine Gedanken um das herzallerliebste weibliche Geschöpf, welches zu seinem Rücken saß. Konnte er es wagen, sich noch einmal umzudrehen? Sollte er sie vielleicht noch jetzt ansprechen; sich ihr vorstellen?
„Alle anwesend, wie ich feststellen muss. Ein seltenes Vergnügen ...“
Zu spät. Ausgerechnet jetzt hatte der liebe Herr Professor natürlich ausgequakt. Ray verteufelte schon jetzt die Gestalt in Anzug und Krawatte, die da so vor dem Lehrerpult hin und her hampelte und ihn daran hinderte, sich um wirklich wichtige Dinge im Leben zu widmen. Freunde, Spaß und die Schülerin in Rot, die auf den Namen Sora hörte, beispielsweise.
Professor Finch stellte der Klasse inzwischen seinen wohl ausgetüftelten Lehrplan vor; weiterhin mit schleppender, einschläfernder Stimme. Von seinem sinnlosen Gefasel schnappte Ray nur die Hälfte auf. Warum sollte es ihn überhaupt interessieren?
„ ... sicherlich alle bereits wissen, werden Sie bis zu drei Jahre an dieser Lehranstalt studieren können. Die wenigen Fähigen unter Ihnen, die das Privileg genießen, noch von mir in der Oberstufe unterrichtet zu werden und ein in den Schoß gelegtes Geschick im Umgang mit Zahlen, Variablen und Formeln besitzen, denen die Mathematik förmlich wie Blut durch die Venen fließt, dürfen schon jetzt den Tag herbeisehnen, wenn sich endlich die ‚Spreu vom Weizen trennt’ und wir gänzlich unter uns sind. Den anderen ...“, er klang plötzlich wie eines dieser Tohaido, die Ray einst in einem Pokémonaquarium gesehen hatte, und welches die Witterung seiner wehrlosen Beute aufgenommen hatte, „ ... denen an der Mathematik nichts liegt, sie diese hohe Kunst begreifen wollen und nur ein Quäntchen von dem begreifen, mit dem ich sie in der nächsten Zeit konfrontieren werde, werden wahrscheinlich zwei äußerst harte Jahre bevorstehen, die sie – wenn überhaupt - nur mit Fleiß und harter Arbeit bewältigen können.“
„Blah, blah, blah ...“, blaffte Ray leise und nahm - Sonjas Schnauben zum Trotz - wieder Schlafposition auf dem Tisch ein.
„Ich werde nun beginnen, Sie mit etwas Wiederholungsstoff zu konfrontieren. Wenn ich Ihren Namen aufrufe, erwarte ich eine korrekte und möglichst schnelle Antwort von Ihnen.“
Professor Finch stoppte kurz und studierte sorgfältig die Übersicht der Namen seiner neuen Klasse. „Vance Nicholas, drei mal neun?“ – „Siebenundzwanzig“, kam es wie aus der Pistole von einem Entei-angehörigem aus der letzten Reihe hervorgeschossen.
„Gut, nicht, dass ich etwas anderes erwartet hätte. Weiter im Text: Anderson Jenny, bilden Sie die Quersumme aus zweiundfünfzig!“ – „Sieben“, antwortete eine Enteischülerin sofort, die zur Linken Soras saß.
„Gut, weiter so“, lobte Professor Finch seine Schülerin und begann, erneut auf der Klassenliste nach seinem nächsten Opfer zu suchen.
Ray bemerkte, wie seine Aufmerksamkeit von Sekunde zu Sekunde immer weiter schwand. Eine Tortour, wie Ray fand. Wen kümmerte dieses alberne Mathematikgefasel überhaupt? Schließlich waren sie doch hier, um etwas über Pokémon zu lernen. Sollte er in seinem ersten Pokémonkampf etwa seinen Widersacher mit langweiligen Formeln und Berechnungen in den Schlaf sülzen?
„Blair Hannah, lösen Sie bitte folgende Gleichung nach C auf: C / C-X = 3“
Sogar Ray schreckte es aus seinem Wachschlaf auf und stutzte heftig bei dieser von seinem Lehrer gestellten Aufgabe; auch wenn sie nicht ihm galt. Bitte was für ein Ding? Er hatte nicht einmal die leiseste Idee, von was der Mann in Anzug und Krawatte gerade redete, geschweige denn, von ihm wollte. Was nach wo auflösen? Hannah, die er sofort an ihren heftigen Schweißbrüchen als ein Mädchen aus dem Hause Suicune erkannte, schien nicht weniger ratlos, als es Ray war.
„Ich weiß es nicht, Professor ...“, antwortete Hannah nach etwa einer halben Minute des Kopfzerbrechens.
„Sie wissen es nicht? Sehr schade, sehr schade ...“, antwortete Professor Finch und klang dabei allerdings nicht im Geringste, als dass er es bedauerte, keine Antwort von seiner Schülerin erhalten zu haben. Vielleicht täuschte sich Ray, doch glaubte er den Ansatz eines Grinsens auf den Lippen seines Lehrers erhascht zu haben. „Die Antwort wäre C = 3X / 2 gewesen, wie wahrscheinlich jeder andere von Ihnen weiß.“ Sein Blick schweifte durch die Runde. Hannah schwieg und ließ ihren Kopf von dieser Schlappe niedergeschlagen hängen.
„Nächste Frage, Lynn Sonja, lösen Sie bitte folgende Aufgabe: 5,5 * 0,12 / 0,1“
Rays Stirn lag inzwischen mit mehr Falten da, als ein Karpador Schuppen hatte. War diese Person denn noch ganz bei Trost, sie mit solchen Fragen zu löchern? Das musste ein Scherz sein ...
„Äh, 6,5?“, antwortete Sonja nach etwa einer Viertelminute des intensiven Grübelns, klang über ihre Antwort aber so verunsichert, dass Ray schon fast seinen heißgeliebten MP3-Player darauf verwettete hätte, dass ihre Antwort für den vornehmen Mathematiker nicht der Richtigkeit genug besaß.
Professor Finch linke Augenbraue machte eine steile Bergpfad und musterte nun Sonja besonders scharf, schürzte dann aber seine Lippen wieder zu einer leicht höhnischen Grimasse. „Fast“, sagte er. „Ein guter Ansatz, aber eine falsche Antwort bleibt eine falsche Antwort. Die korrekte Antwort wäre 6,6 gewesen.“
Der Falschheit dieser Antwort zum Trotz gab es für diese Leistung Sonjas von der Klasse anerkennendes Getuschel. Sonja steckte wohl dadurch diesen Rückschlag auch wesentlich besser weg, als Hannah.
Weiter ging es. Von einer weiteren Entei-Schülerin verlangte der Mathematiker erneut eine - Rays Meinung nach - recht einfache Frage ab. Von Conner Kathrin, einer Schülerin des Hauses Suicune aber abermals eine schier unlösbare Bruchrechenaufgabe. Täuschte er sich, oder stellte Professor Finch absichtlich den Häusern Suicune und Raikou äußerst knifflige Fragen, während sich die Enteiianer nur mit Grundschulaufgaben zufriedengeben mussten?
„Valentine Ray, von Ihnen möchte ich Folgendes wissen: Ziehen Sie bitte aus 1225 die Wurzel.“
Ja, das hatte er sich beinahe gedacht. Natürlich wurde er mit einer um nichts in der Welt lösbaren Aufgabe abgespeist. Nicht einmal im Traum dachte Ray daran, auch nur eine seiner grauen Zellen zu bemühen, um dieses eh zum Scheitern verurteilte Unterfangen zu bewältigen.
„Nun, Mr. Valentine?“, hakte Professor Finch nach etwa einer halben Minute nach.
„Da muss ich meinen Taschenrechner fragen, Professor“, antwortete Ray, unterdrückte hierbei nicht einmal seinen spöttischen Unterton und erntete hierfür von vielen seiner Klassenkameraden heiteres Gekicher, spürte jedoch gleichzeitig den erschütternd wirkenden Blick Sonjas auf sich ruhen. Auch seinem Professor war es überhaupt nicht zum Lachen zumute. Diesen Gesichtsausdruck – voll mit blanker Wut gegen ihn gerichtet - kannte Ray nur zu gut. Doch was kümmerte es ihn? Warum es noch länger hinauszögern. Lieber gleich mit offenen Karten spielen.
Professor Finch gebot seiner Klasse mit einer aussagekräftigen Handbewegung zum Stillschweigen, während er über seine kreisförmige Brille die Gestalt äußerst unlustig beäugte, von der er soeben diese gar freche Antwort erhalten hatte.
„Äußerst witzig, Valentine“, sagte Professor Finch, während seine Augen immer größere Proportionen annahmen, in denen sich Ray schon beinahe spiegeln konnte. „Versuchen wir es vielleicht einfach erneut ...“
Nachdem Ray seine übliche Palette an Mathematikwitzen ausgefahren hatte („7 x 7? Na, ganz feiner Sand natürlich“ ; „Wie oft ich von 130 die Zahl 9 abziehen kann und was am Ende übrig bleibt? Einfach, so oft wie man will und es bleiben immer 121 übrig.“), nahm Professor Finch wieder an seinem Pult Platz. Ray glaubte ihn nun bereits seit über eine Minute nicht mehr blinzeln gesehen zu haben, während der Blick seines Paukers weiterhin auf ihn haftete.
Den verbliebenen Rest der Doppelstunde durfte die Klasse in Stillarbeit einige - selbst für Ray doch recht leicht zu knackende - Aufgaben aus ihrem Mathematikbuch lösen. Zwischenzeitlich durfte sich Ray jedoch noch einige Male anhören, wie schändlich doch sein Einfluss auf die Klasse sein würde und er es sicher doch überlegen sollte, so schnell wie möglich wieder seinen Koffer zu packen. Ray jedoch blieb standhaft und nahm die leeren Worte seines Lehrers stillschweigend hin. Wegen dieses Typen die Segel hissen? Soweit würde es wohl noch kommen! Was interessierte ihn Mathe? Pokémon, deswegen war er hier. Die Zahlen und der ganze Algebraquatsch konnte ihm gestohlen bleiben, soviel war klar.
Schließlich und endlich – das lang ersehnte Läuten der Schulglocke. Die erste Hürde war geschafft. Die Frühstückspause stand bevor. Mit einem letzten Wort des Abschieds und einem vielsagenden, vernichtenden Blick in Richtung Rays verabschiedete sich Professor Finch von seiner Klasse und verließ als erster den Klassensaal. Ray gähnte schläfrig und sog die nun lehrerfreie Luft tief in seine beiden Nasenlöcher, als ob er in den letzten beiden Stunden nicht gewagt hätte, zu atmen. „Was für ein Idiot“, grollte er in Sonjas Richtung. „Ist dir aufgefallen, dass der uns – aus welchem Grund auch immer – die extra schweren Fragen gegeben hat?“
Sonja seufzte tief. „Dann ist es wohl wahr ...“ Sie neigte ihren Kopf leicht seitlich in die Richtung ihres Freundes. „Er ist der Hauslehrer von Entei und man sagt ihm nach, dass er die Schüler seines Hauses gerne den anderen vorzieht ...“
„Vorziehen? Parteiisch ist er, das trifft’s eher ...“, schnaubte Ray. „Ich hoffe, den muss ich in der Woche nicht allzu oft ertragen ...“
Sonja wirkte auf diesen Satz Rays äußerst bedrückt. „Äh, ich weiß nicht, wie ich dir es sagen soll, Ray, aber du wirst ihn wohl oder übel heute noch mal wiedersehen – in Pokémon-Training. Er ist unser Lehrer.“