Gedankenverloren beobachtete Nagisa den Regen aus dem Küchenfenster. Wie die Regentropfen im Wind tanzten und sich vergeblichst dagegen zu wehren versuchten, auf der Erde zu landen. Doch die Regentropfen konnten nichts dagegen tun, es war ihr Schicksal, die Pflanzen mit ihrem kühlen Nass zu erfreuen, auch wenn es ihnen nicht zu gefallen schien. Leise seufzte Nagisa, als einige roteHaarsträhnen in ihre Augen fielen und somit die Sicht stark einschränkten. Achtlos steckte sie die Haarsträhnen hinter ihr rechtes Ohr, welche eigentlich in einem Zopf eingesperrt sein sollten. Plötzlich hörte die rothaarige ein leises quietschen, worauf lautes gepolter folgte. Ihr Vater schien nach Hause gekommen zu sein. Rasch wandte Nagisa ihren Blick von dem Regen ab und ging zur Spüle, wo ein paar Teller und Besteck standen, dass eigentlich schon längst hätte sauber und einsortiert in den Schränken liegen sollte. Gerade wollte sie die Teller in die Spüle legen, als ihr Vater schon die Küche betrat. Mist, fluchte das Mädchen leise. „Hallo Vater..“, wisperte Nagisa vorsichtig, da sie ahnte, dass der wütende Gesichtsausdruck ihres Vaters nichts Gutes heißen mag.
„Brauchst mich gar nicht grüßen“, stellte ihr Vater erbost fest und fing an, seine Tochter zu mustern. Wie sie da stand mit ihren dunkelroten Haaren, die ihr fast bis zum Po reichten, allerdings mit drei Zopfgummis zusammengehalten wurden und ihre hellblauen Augen, welche einen starken Kontrast zu den Haaren darstellte. Ansonsten hatte das Mädchen einen hellroten Schal um ihren Hals gewickelt und trug ein lila Kurzkleid, welches ihr nur ganz knapp über den Po reichte. Ihre Schienbeine deckte sie mit einem dunkel lilanen Kniestrümpfen, welche ab den Oberschenkeln von einer Netzstrumpfhose abgelöst wurde. Nagisa räusperte sich, woraufhin ihr Vater den Blick abwand. Jetzt ging sein Blick zu der Spüle, wo immer noch das schmutzige Geschirr stand und darauf wartete, abgewaschen zu werden.
„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das abwaschen?“, fragte ihr Vater sie mit einer wutgetränkten Stimme. Nagisa wich seinem fordernden Blick aus und sah betrübt auf den dunklen Holzfußboden.
„Ich, also…ähm“, stammelte Nagisa.
„Ich seh‘ schon..aus dir wird nie etwas“, seufzte ihr Vater.
„Du machst das jetzt noch fertig, haben wir uns da verstanden? Und danach darfst du den Tisch decken“, befahl er Nagisa und ging aus der Küche.
„Ich fühl mich geehrt“, murmelte diese leise, dann wandte sie ihre volle Aufmerksamkeit dem Geschirr zu.
Am späteren Abend hatte sich dann die ganze Familie um den Essenstisch gesetzt, welcher reichlich mit japanischen Gerichten wie Ramen und Sushi gedeckt war. Der Raum war gefüllt mit Gerüchen von diesen Gerichten, die einen das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Es wirkte wie eine ganz normale Familie, wie sie zu Abend aßen und sich an den Speisen ergötzten. Laut schmatzend erhob Nagisa’s Bruder die Stimme. Er hatte hellrote Haare und dunkelbraune Augen. Heute trug er auch sein Lieblings-Klamottenkombination. Ein komplett weißes T-Shirt und eine schwarze Hose. Um seine Hüfte war eine graue Sweatshirtjacke gebunden und an seinen Armen hingen viele, verschiedenfarbige Armbänder. Die rothaarige hatte ihn schon oft um diese Armbänder beneidet. „Heute war voll der schöne Tag“, berichtete er mit vollem Mund.
„Ich hab’s endlich geschafft, mein Schwert ganze fünf Minuten von mir wegzuhalten“, erzählte er stolz.Nagisa wusste, wie schwer das Schwert ihres Bruder Minoru war, weshalb sie nicht einen blöden Kommentar dazu abgab. Ihr Vater lächelte, so dass man ein Algenstückchen zwischen den Zähnen erkennen konnte, welches wohl hängen geblieben war.
„Gut gemacht, mein Sohn. Aus dir wird nochmal ein richtiger Ninja“, lobte er stolz und nahm sich noch eins der lecker aussehenden Sushiröllchen.
„Das weiß ich doch schon lange“, antwortete Minoru selbstbewusst.
„Übernimm dich bloß nicht“, gab Nagisa’s Mutter kleinlaut von sich. Die blauäugige räusperte sich. Auch in ihr regte sich schon seit langem der Wunsch ein Ninja zu werden. Komm schon, frag ihn, spornte Nagisa sich noch einmal selbst an.
„Ähm..Vater“, find Nagisa ihren Satz an. Ihr Vater seufzte, wandte dann aber doch seine Aufmerksamkeit Nagisa zu. Erleichtert darüber, dass er ihr überhaupt zuhören wollte, redete Nagisa weiter: „ Ich bin ja jetzt auch 12 und damit im richtigen Alter, um das Training als Kunoichi aufzunehmen“.
Das Mädchen holte kurz Luft. „Darf ich?“
Für einen kurzen Moment war alles ruhig. Niemand sagte etwas oder regte sich. Nur eine nervige Fliege zog ihre Runden um den Essenstisch und schien auf den richtigen Augenblick abzuwarten, wann sie denn erfolgreich und ohne ihr Leben zu riskieren sich ein Reiskorn schnappen konnte. Dann brachen Vater und Sohn gleichzeitig in schallendes Gelächter aus.
„Du?!“, fragte der Vater und zog damit die Frage seiner Tochter ins lächerliche. Schon allein die Vorstellung, Nagisa mit einem Schwert in der Hand zu sehen, führte bei ihm zu großer Belustigung. Als ob ich es nicht geahnt hätte, dachte Nagisa traurig.
„Auf gar keinen Fall! Du bist ja schon zu unfähig, abzuwaschen. Wie bitteschön in aller Welt willst du es schaffen, ein Ninja zu werden?“. Diese Worte kränkten Nagisa bis auf die Knochen. Ein einfaches „Nein, du darfst nicht“, hätte es doch auch getan, überlegte Nagisa. Doch dann schoss ihr ein ganz anderer Gedanke in den Kopf: Was ist, wenn ich von hier abhaue und woanders mein Glück versuche, fragte die rothaarige sich. Hier bin ich ja eh nur die Putzfrau, die nichts kann… Der Gedanke nahm immer mehr Gestalt an, so dass sie ihn nach einiger Zeit laut aussprach.
„Wenn..Wenn du mich nicht ein Ninja werden lässt, werde ich von hier abhauen!“, rief die rothaarige mit Tränen in ihren Augen. Sie hoffte so sehr, dass ihr Vater jetzt einsichtig wurde.
„Das glaubst du doch selber nicht“, antwortete der Vater knapp und nahm seine Holzstäbchen in die Hand. Nagisa schluchzte.
„Doch, das glaube ich. Und wie ich das glaube“, konterte Nagisa jetzt wesentlich entschlossener, befreite sich aus dem Schneidersitz und stand auf. Für einen kurzen Moment wirkte es so, als ob ihre Mutter sie von ihrem Vorhaben abbringen wollte, doch sie ließ es. Nagisa’s Mutter traute sich eh fast nie, etwas zu sagen, und wenn, dann nur sehr leise und schüchtern. Und schon gar nicht, wenn es darum ging, ihre einzige Tochter in den Schutz zu nehmen. Doch damit hatte Nagisa sich schon längst abgefunden. Das immer sie daran schuld ist, wenn etwas schief geht, war mittlerweile für das Mädchen eine Selbstverständlichkeit.
Fremdworterklärungen:
~ Ramen = Jap. Nudelsuppe
~ Sushi = Gericht aus, Reis, Fisch, rohe Meeresfrüchte, Ei und Seetang (wird zu einem Röllchen gerollt)
~ Kunoichi = Weiblicher Ninja
[1033 Wörter laut Microsoft Word)