Sie wanderten weiter die Straße entlang und lauschten, durch den gestrigen Beinahe-Überfall von Pionskora wachsam geworden, in die Stille hinein. Gelegentlich hörte Reptain das leise Flügelschlagen Noctuhs, ansonsten war nichts mehr zu hören.
Einmal kam ein kleines Rattfratz vorbeigeschlichen, aber sie kamen ohne weitere Pausen der Stadt Leon immer näher und sahen vor dem Morgengrauen noch die ersten, von Pokemon erbauten Häuser.
Das bedeutete, dass sie den Bedürfnissen der einzelnen genau entsprachen und für ein Schallelos auch schon einmal von Wassergräben durchzogen waren. Eine sehr originelle Behausung besaß ein Folipurba, welches das alte Steingemäuer mit Efeu und Orchideen überzogen hatte.
Reptain streifte durch die Straßen, eher ziellos auf der Suche nach seinen beiden Partnern, die er hier zurückgelassen hatte. Noctuh genoss den Ausflug sichtlich und machte Kommentare zu allen Häusern, an denen sie vorbeikamen.
Reptain hüpfte auf den Marktplatz und sah sich dort um, gerade in dem Moment, wo er bemerkte, dass Noctuh nicht wie gewohnt von oben plauderte.
Er schaute nach oben und entdeckte nichts als den warmen blauen Himmel und die inzwischen hoch stehende Sonne. Eigentlich hätte er sich keine Sorgen machen brauchen, denn schließlich schliefen Eulen tags; aber Noctuh war ein Fall für sich, jemand, den man besser nicht allein ließ.
Vielleicht hatte er irgendetwas Auffälliges entdeckt und wollte seiner Ahnung nur schnell nachgehen.
Hoffentlich.
Er lief schnell in die Gasse hinein, aus der sie gekommen waren, kam sogar bis auf die Straße vor das Tor, passierte wieder Folipurbas Haus und wandte sich dann nach links zu der großen Bibliothek, aber auch hier war Noctuh nicht.
Langsam und neugierig schritt Reptain auf das Tor zu, öffnete es und schlüpfte in die Stille dahinter hinein.
Regale, hoch wie die Wände, standen geordnet in Reihen in der großen Halle, bis zum letzten Brett gefüllt mit Büchern in Fußabdruckschrift.
Er sah Wälzer über Geographie und Geologie, über Anatomie und Legenden, über Geschichte und Geschichten, aber keine einsam herumflatternde Eule.
Bis in den hinteren Teil der Halle gehend, blickte Reptain sich um und spähte in jede Ecke, doch erst ganz hinten, dort, wo die Schreibpulte standen, hörte er ein lautes, erhitztes Gespräch, aus dem ganz deutlich Noctuhs Stimme herausklang.
Neugierig spähte er um die Ecke und sah die Eule auf dem Rand des Tisches sitzen und mit einem Nachtara diskutieren, das ihn weitestgehend ignorierte und nur dann und wann eine bissige Bemerkung einwarf.
“Was - hast - du - dir - dabei - gedacht?” knurrte die Eule und schlug mit den Flügeln.
“Halt die Klappe!” fauchte das Nachtara. “Es war nicht meine Absicht, Darkrai zu verärgern.”
Reptain heilt die Luft an und lauschte.
“Nein? Aber genau das hast du bewirkt, meine Liebe, nichts anderes. Und unser Dorf ist zerstört.”
“Auch ich habe dadurch meine Heimat verloren, vergiss das nicht, Freund.” Jetzt klang das Zischen ganz deutlich aus Nachtaras Stimme.
“Ja, vielleicht, aber du scheinst dich nicht im geringsten darum zu kümmern!”
“Tue ich das?” Nachtara klang wieder gelangweilt. “Falls du es noch nicht gemerkt hast, aber deine Argumentation dreht sich im Kreis.”
“Wir müssen ihn aufhalten! Und du sitzt hier seelenruhig herum und liest!” Noctuh konnte seinen Zorn nun nicht mehr verbergen.
“Hey, hey, nicht so laut, bitte.” Reptain trat hinter dem Bücherregal hervor und die beiden Streithähne fuhren ertappt herum. Noctuhs Augen blitzten. “Du! Was machst du hier? Misch dich nicht ein!”
“Ach, lass ihn doch ruhig.” sagte Nachtara noch gelangweilter.
“Reptain!” sagte Noctuh. “Erkläre bitte, dass das Verhalten von Nachtara unverantwortungslos gewesen ist!”
“Welches Verhalten?” fragte Reptain und tat so, als hätte er nicht gelauscht.
“Was? Äh… Nun ja, Nachtara wollte ein paar Legenden auf den Grund gehen und ist deshalb an Orte gereist, von denen man sagte, Darkrai hielte sich bisweilen an ihnen auf. Leider,” seine Augen funkelten weiter zornig, “Hat sie ihn auch gefunden, nämlich im Zeitlosen Wald am Fuße des Gebirges, das wir vor zwei Jahren im Winter selbst durchquert hatten. Leider hatte sie sich nie klar gemacht, was für eine Art Pokemon dieser Darkrai ist, und…”
“Stopp, stopp, stopp!” unterbrach Nachtara. “So ein Schwachsinn. Natürlich wusste ich, was auf mich zukam-”
“Das macht es nur noch schlimmer!” ereiferte sich Noctuh.
“Tut es nicht. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Ich weiß, dass ich nicht unbedingt klug gehandelt habe, aber es nützt nichts, mich im Nachhinein noch für die Folgen davon verantwortlich zu machen.”
“Nachtara hat Recht. Wir müssen handeln, nicht Schuld zuschieben. Was genau hat ihn veranlasst, dich zu verfolgen und das Dorf zerstören zu lassen?”
“Er wollte sein Geheimnis gewahrt wissen und befürchtete gleichzeitig doch, dass ich eine Bedrohung sein könnte, wenn er mich überleben ließe. Viele Pokemon fürchten Darkrai, und das zurecht- doch hat auch er Schwächen, und ich hätte sie ja ausplaudern können.” Nachtara lächelte gezwungen.
„Wie konntest du fliehen?“ sagte Noctuh jetzt leise und entschuldigend.
„Ich war gar nicht da, als es passierte. Ich sah den Überfall nur von weitem und habe mich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, einfach irgendwo verkrochen.“
Reptain schwieg und dachte nach. „Wie… Wie können wir ihn aufhalten?“
„Indem ich mich ausliefere.“ sagte Nachtara mit einem rauen Ton in der Stimme.
„Das kann ich nicht zulassen. Und er weiß doch gar nicht, dass du überlebt hast.“ erklärte Reptain sofort.
"Ich denke schon, leider. Ich spüre es. Keine Ahnung, warum, aber ich denke, dass er es vielleicht vermutet."
"Ich werde dich trotzdem nicht gehen lassen." Reptain blieb beharrlich. „Dann solltest du dir mal über eine Alternative Gedanken machen.“
„Wir gehen zu ihm. Und geben ihm unser Wort, dass nichts geschehen wird.“ schlug Reptain nach fünf Minuten vor, doch die anderen kamen nicht zu einer Antwort, denn hinter ihm ertönte ein Ruf.
„Reptain? Was zum Teufel… Panflam, komm hierher! Wir haben unseren Freund gefunden.“
Lohgock lief mit großen Schritten auf ihn zu und schüttelte ihn sanft. „Was haust du auch ab, he!?“
„Unnngh…“ machte Reptain und trat einen Schritt zurück, als auch noch Panflam auf ihn zugestürmt kam.
Noctuh und Nachtara musternd, sagte Lohgock: „Gibt’s ein Problem?“
„So… kann man es auch nennen, ja.“ Reptain erzählte ihnen alles, mit leiser Stimme, um nicht auch noch andere Lauscher zu bekommen, und die beiden Feuer-Pokemon waren ziemlich erschrocken.
„Ach du je.“ jammerte Panflam und hüpfte auf Lohgocks Schulter.
„Kommt es mir nur so vor, oder bringst du ständig schlechte Nachrichten?“ fragte dieser missmutig.
„Ich nehme das als Kompliment.“ sagte Reptain trocken.
„Also… irgendein Vorschlag, was wir als nächstes tun sollten?“ erkundigte sich Nachtara.
„Kommt mit, wir haben uns im Wald ein hübsches Plätzchen zurechtgemacht. Da können wir weiterreden und endlich was essen.“ sagte Lohgock.
Also verließen die fünf Leon und machten sich mit ihrem Führer auf zwischen die nahen Bäume.
Noctuh saß unterdessen auf Reptains Schulter und steckte den Kopf müde unter den Flügel, ganz so, als ob das schon sein angestammter Platz wäre.
Reptain seufzte und ließ ihn sitzen, schon ob des Gedankens an das Theater, das folgen würde, wenn er ihn wieder aufweckte.
Sie kamen zu einer behaglich eingerichteten Lichtung mit einem warmen Feuer in der Mitte und zwei Schlafplätzen aus Heu und altem Laub, die nicht weit entfernt des Waldsaumes lag.
Nachdem sie sich gesetzt und Reptain Noctuh von seiner Schulter auf einen Ast gestellt hatte, tauschten sie ihre Ideen aus.
„Es gibt sicher eine Möglichkeit. Es war schließlich keine Absicht.“ sagte Nachtara unsicher.
„Hoffen wir, dass Darkrai guter Laune ist.“ meinte Reptain düster.
„Gute Laune hat er garantiert nicht. Also müssen wir uns etwas einfallen lassen, damit er uns überhaupt zuhört.“ schlug Lohgock vor.
„Aber was? Darkrai ist ein Wesen der Finsternis, es verfolgt Pokemon in ihre Träume und lässt sie nie wieder aufwachen. Was er hervorruft, ist eine Art Koma, ein unendlich lange währender Schlaf. Denkt nur an Groudon und Kyogre, die er, um Frieden zu schaffen, eingeschläfert hat und die immer noch irgendwo unter der Erde leben.“ sagte Nachtara beunruhigt.
„Ich denke, er greift zu so einem Mittel nur im Notfall. Schließlich hast du ja auch schon geschlafen.“
"Er hat keine solche Macht über mich wie über andere Pokemon.“ antwortete Nachtara leise.
„Du sagtest etwas von seinen Schwächen. Ist das eine davon?“ erkundigte sich Reptain vorsichtig.
„Er hat keine Macht über Pokemon, die keine Angst vor ihm und der Dunkelheit haben. Furcht und Hass stärken ihn. Zeigt niemals, dass er euch beeindruckt!“ Nachtara lachte rau.
Eine Stunde verstrich, während sie von Lohgocks Vorräten aßen und sich untereinander austauschten.
Nachtara saß allein und starrte ins Feuer, jegliche Gedanken waren ihr unmöglich von der Stirn abzulesen. Noctuh schlief, Panflam und Lohgock redeten leise mit Reptain über dessen Wiedersehen mit Sandamer und den anderen.
„Du… bist unglaublich!“ lachte Lohgock, als er hörte, was Reptain zu Larvitar gesagt hatte. „Nicht, dass ich so etwas nicht schon gewohnt wäre, aber…“
Bald gesellte sich Reptain zu Nachtara und ließ die anderen am Feuer plaudern, denn ihm war nicht nach Witzen. Irgendwie mussten sie eine Lösung finden.
Er begann, im Kreis zu gehen und mit den Augen die Umgebung abzusuchen, nach irgendetwas, das ihm vielleicht helfen könnte. Aber im Moment noch schien es unmöglich, klar zu denken; zu schnell schoss das Blut noch durch seine Adern, er musste ruhig werden.
Reptain setzte sich wieder hin und musterte Nachtara, die ernst und irgendwie frustriert immer noch ins Feuer sah, die tanzenden Flammen beobachtete und keinen Muskel regte.
„Wir müssen wirklich zu ihm.“ sagte er schließlich. „Unsere einzige Hoffnung ist, dass wir ihn vielleicht besiegen können.“
Nachtara sah ihn aus großen Augen an. „Besiegen? Bist du sicher?“
„Schau mal.“ sagte Reptain. „Wir haben hier drei erstklassige Kämpfer und dazu noch ein ziemlich gerissenes, im Kampf nerviges Noctuh, das sich schon langweilt. Ich kann vielleicht gegen ein starkes Unlicht-Pokemon nicht viel ausrichten, aber ihr beiden… Lohgock ist im Kampf ziemlich beeindruckend.“
„Schön, aber… vergiss nicht, mit wem wir es zu tun haben.“ wandte Nachtara ein.
„Hast du es eben nicht selbst gesagt? Es ernährt sich von unserer Furcht. Wenn wir ohne Angst zu ihm gehen, haben wir eine Chance.“
„Weißt du, ich glaube, ich will Darkrai gar nicht besiegen. Jeder von uns hätte in seiner Situation vielleicht das gleiche getan.“ sagte Nachtara langsam.
„Zuerst können wir ja mit ihm reden.“ Reptain beobachtete ihre Reaktion, wurde aber enttäuscht: wieder war ihr keine Regung vom Gesicht abzulesen.
„Wenn wir alle dort hin gehen, wird es wütend. Ich meine, wenn einer das Geheimnis kennt, gut…“
„Du hast Recht.“ musste Reptain zugeben. „Viele Möglichkeiten haben wir nicht mehr.“
Die Sonne schien durch die Bäume und schläferte Reptain nach und nach ein. Das Feuer knisterte, als die Äste begannen, vor der Hitze aufzuspringen und Risse zu zeigen.
Er bemerkte, wie sich Nachtaras Miene verdüsterte und sie die Krallen in den Boden grub, und er versuchte kläglich, aufmunternd zu lächeln. Das hatte er noch nie gekonnt.
Müde ließ Reptain sich auf den Rücken sinken, spürte die Schatten der Blätter über sein Gesicht streichen und hoffte darauf, eins mit der Natur zu werden.
„Bis zur Nacht müssen wir uns entschieden haben.“ sagte Lohgock plötzlich, und er schrak auf. Tatsächlich wäre er beinahe eingeschlafen, doch nun war Reptain zu seinem Verdruss wieder hellwach und genauso übellaunig wie zuvor.
„Nein, hört mal, das ist Schwachsinn. Wenn wir nicht schlafen, können wir den Aufbruch vergessen. Legt euch hin und lasst euch von Noctuh wecken, der bemerkt es garantiert, wenn es dunkel wird. Wir können uns hier nicht stundenlang den Kopf zerbrechen.“
„Du bist aber grimmig drauf heute.“ sagte Lohgock mit einem Anflug von Häme.
Dennoch taten sie alle, wie Reptain ihnen geraten hatte, und schliefen unter der warmen Mittagssonne.
Tatsächlich wurden sie geweckt, und zwar von Noctuh, der aufgeregt umherflatterte, einem die Flügel ins Gesicht schlug und mit keifender Stimme schrie: „Wacht auf, wacht auf! Nachtara ist verschwunden!“
Trotz dieser bemerkenswerten Nachricht konnte man nicht behaupten, dass alle sofort wach gewesen wären, doch Reptain sprang auf und orientierte sich in der aufziehenden Dunkelheit erst einmal an Noctuhs reflektierenden, großen Augen, die unablässig im Kreis umherfuhren.
„Ich weiß, wohin sie gegangen ist.“ sagte er plötzlich müde. Lohgock und Panflam horchten aufmerksam, während er erläuterte: „Sie denkt, wenn sie sich selbst ausliefert, hört er auf, mit allen Mitteln zu suchen. Vielleicht lässt er die anderen Pokemon, die mit ihr zu tun hatten, dann in Ruhe.“
„Ja, worauf warten wir dann noch?“ fragte Panflam drängend. „Hinterher!“
„Das geht nicht.“ meinte Noctuh traurig, denn er hatte begriffen. „Nur sie weiß genau, wo Darkrais zuhause im Zeitlosen Wald ist.“
Stille trat ein, doch dann sagte Reptain kaum hörbar: „Ich denke, ich weiß, wo sie hin will. Ich kenne den Platz, wo Darkrai sich aufhalten könnte. Damals, bei meinem Besuch, hatte ich wohl Glück und ahnte nicht, WEM ich da entgangen war.“
„Wo ist das?“ fragte Noctuh aufgeregt und stellte nicht einmal eine seiner lästigen Fragen.
„Zu weit weg.“ seufzte Reptain.
„WAS?“
„Ja. Wir haben keine Chance, sie einzuholen. Niemals.“ er klang erschöpft und traurig, als hätte es ihn all seine Kraft gekostet, diese Tatsache auszusprechen.
„Woher willst du das wissen?“
„Selbst wenn wir schnell genug wären,“ fuhr Reptain fort, „kämen wir dennoch zu spät.“
„Warum?“ Noctuh klang wütend, und Reptain wurde klar, dass er der Eule sichtlich genug Grund dazu gab.
„Darkrai merkt es, wenn jemand eindringt. Und glaub mir, Nachtara ist schnell und wohl auch gleich nach unserem Einschlafen aufgebrochen.“
„Wir müssen es aber versuchen!“
„Verstehst du nicht?“ jetzt klang Reptain zornig. „Warum tut sie das? Um uns und die anderen, die noch übrig sind, zu schützen. Wie würden wir es ihr danken, wenn wir uns einfach direkt nach ihr in den Tod stürzen? Meint ihr, sie wollte das?“
Stille trat ein, während Noctuh zu Boden sank und die Augen schloss.
„Gut.“ sagte die Eule schließlich, „dann werde ich allein gehen. Wie ihr wollt.“ Und mit einem kräftigen Flügelschlag schwang er sich in die Luft.
„Halt!“ rief Reptain und rannte hinter ihm her. „Warte! Gut, ich komme auch mit. Aber ihr, Lohgock und Panflam, ihr bleibt. Ihr habt damit nichts zu tun.“
Panflam hatte Tränen in den Augen, doch wagte er es nicht, zu widersprechen, und Noctuh machte sich mit Reptain still auf den Weg.
Er rannte durch das dichte Unterholz, folgte seinen Sinnen, die ihm sagten, wohin Nachtara gelaufen sei, und vertraute sich ganz der Finsternis an, die ihn umgab. Sie löschte jeden Gedanken aus, der ihn vielleicht dazu bewogen hätte, auf der Stelle umzukehren.
Es kostete all seine Willenskraft, den Gedanken an den Zeitlosen Wald zu vertreiben, an die schrecklichen Fallen, die dort lauerten, und an Nachtara, gefangen in einem endlosen Schlaf, oder Nachtara, wie sie kraftlos zu Boden sank, Darkrai über ihr…
Reptain beschleunigte seine Schritte, horchte auf die leisen Flügelbewegungen Noctuhs und legte all seine noch vorhandene Energie in dieses Rennen gegen die Zeit, das er nur verlieren konnte.
Wie viele Stunden vergingen, konnte er nur schätzen, doch bald ging die Sonne wieder auf und er rannte weiter durch die Düsternis des Wäldchens dahin, versuchte sich zu erinnern, wo der Platz damals gewesen war, und folgte nichts als seiner Spur aus Vermutungen.
Bald sank Noctuh wie ein nasses Federbündel auf seine Schulter und schlief im Stehen, während Reptain so schnell es ging zwischen den Bäumen dahinraste, auf die Leere zu, die sich dahinter irgendwann öffnen würde…
Viele Stunden noch vergangen, bis sie endlich in den Zeitlosen Wald kamen, der nicht mehr so aussah wie in Reptains Erinnerungen: So still, als wehte kein Lüftchen in ihm, leblos, ohne irgendein Zeichen von Pokemon, doch nun sah Reptain die Fußabdrücke Nachtaras auf dem schlammigen Boden vor sich und musste feststellen, dass sie schon einige Stunden alt war; also beschleunigte er seine Schritte noch einmal und rannte keuchend den alten, ihm wohl vertrauten Pfad entlang.
Es kam ihm vor, als sehe er eine Welt wieder, die er fast schon vergessen hatte oder nur noch aus Erzählungen kannte; tatsächlich aber hatte er hier fünf Jahre nach seiner Geburt gelebt.
Das hier war sein Zuhause, doch die Leere und die Stille zwischen den Bäumen war ebenso neu für ihn wie der Gestank nach Tod und Feuchtigkeit, der vom Boden hinaufstieg.
Er war geflohen, als die Veränderungen begonnen hatten; als die Risse in der Erde tiefer, die Zerstörungen durch die Erdbeben stärker geworden waren, und nun sah er seine Heimat, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Reptain kämpfte gegen die Tränen und spurtete einen kargen Hügel hoch, stützte sich an den dürren Nadelbäumen ab und konnte nicht verstehen, was hier passiert war.
Das war keine natürliche Veränderung, wie es sie öfter gab und für die er es am Anfang auch gehalten hatte. Dies zeugte von dem bösartigen Willen, ein ganzes Land und seine Bewohner so gründlich zu vernichten, zu Boden zu zwingen, dass er froh war, geflohen zu sein.
Er hatte überlebt, wenn auch zu einem hohen Preis.
Aber das hier hätte er niemals verhindern können. Eine solche Macht besiegen zu können, war illusorisch. Was hatte sich Nachtara dabei gedacht? Konnte man sich von solch einem Wesen wirklich Gnade und Verständnis erhoffen?
Zwei Stunden später trat er auf eine Lichtung heraus, die Ähnlichkeit mit einer Halle hatte; denn die Äste der Bäume über ihm waren zu einem Dach zusammengewachsen.
Und in der Mitte dieser Halle schwebte, grausig und furchterregend, ein silbrig-schwarzer Schemen, der die Form eines Darkrai hatte. Noctuh schreckte auf und musterte die Umgebung mit angstvollen Augen.
„Ah! Schön, dass auch ihr noch gekommen seid!“ rief Darkrai ihnen mit einer hohlen Stimme zu.
„Ich frage mich,“ sagte der Schatten in vergnüglichem Ton, während er langsam auf die beiden zugeschwebt kam, „ob ich meine Adresse neuerdings schon an jede Ecke schreibe. Ihr habt genauso wenig Gnade zu erwarten wie das jämmerliche Nachtara von vorhin!“
„Was hast du mit ihr gemacht, Bastard?“ rief Reptain ihm kalt und verachtend entgegen.
„Ah!“ sagte das Darkrai wieder. „Ihr kennt euch? Das ist aber schade… Da hätte ich doch niemals…“
„Hör auf mit den Spielchen!“ rief er. „Komm her und beweis, dass du auch die Macht hast, mich zu besiegen!“ Kälte drohte sein Herz zu ersticken, doch sie erstickte auch die Furcht, die in ihm zu wachsen drohte.
Noctuh jammerte auf seiner Schulter: „Oh, halt du bloß die Klappe, das nimmt kein gutes Ende.“
„Soll es auch gar nicht!“ fauchte Reptain ihm zu, sodass die Eule erschrocken zurückzuckte.
„Was ich getan habe?“ sagte Darkrai langsam, an Reptain gerichtet, „ich habe Nachtara einmal gezeigt, was es heißt, um sein Leben zu flehen… Euch wird es nicht anders gehen!“ Es lachte.
„Ich habe längst akzeptiert, dass es mit jedem einmal zu Ende gehen wird. Du aber, du bist verdammt, bis zum letzten Tag hier auszuharren und all die dreckigen Verräter dieser elenden Welt zu bestrafen, solange, bis du in dir selbst nichts anderes mehr siehst als den Tod!
Vielleicht tut es dir dann Leid, wie lange du den Richter gespielt hast, wie lange du dir anmaßest, über Tod und Leben zu entscheiden! Du hast nicht die Macht, uns das Leben zu nehmen, denn du lebst schon längst nicht mehr! Du bist nichts als ein Geist, der sich hinter seiner eigenen Bösartigkeit versteckt, um nicht in sein Spiegelbild schauen zu müssen und erkennen zu müssen, wie klein die Bedeutung deiner MACHT noch ist, wenn alles vorbei ist! Wenn nichts mehr von der Welt existiert außer dir und der Leere, die du sorgfältig zu verbreiten pflegst! Du kannst mich nicht besiegen, denn ich bin anders als du, und deine Macht erstreckt sich nicht auf das Schicksal der Lebenden! Denen, die dich fürchten, kannst du Leid zufügen, aber vor denen, die die Angst vor dem Tod schon lange überwunden haben, denen kannst du nichts antun! Komm schon her und lass uns unsere Macht messen! Was ist wohl kostbarer? Leben oder Tod?“