Keine Kommentare... Warum!? Leute .______.
Die andere Seite
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In einem Moment änderte sich alles.
“Warum?”
Das Wort hallte in der unangenehmen Stille nach und brachte mit zwei Silben all die Verzweiflung und Fassungslosigkeit zum Ausdruck, die sich in Katsumi angestaut hatte. Er ballte die Hände zu Fäusten und fragte wieder, diesmal lauter: “Warum?”
Niemand sah ihn an. Die wie gesichtslos erscheinenden anderen Kinder eilten an ihm vorbei und warfen ihm keinen einzigen Blick zu, als ob er ihnen peinlich wäre.
“Wa-” Katsumis Stimme brach, und er wankte zu einem der hölzernen Tische, um sich an dessen Kante festzuhalten. Eine gähnende Leere schien sich in ihm aufzutun und sein Dasein zu verschlucken,. Es schien, als wäre sein Leben nur auf diesen einen Moment zugesteuert worden und würde mit ihm auch enden. Der Junge starrte an den Reihen der Bücherregale entlang und sah, dass zwei Ordensschwestern mit aufgesetzter Mitleidsmiene zu ihm herabschauten, doch seine Augen nahmen nichts davon wahr. Durch die hohen, schmalen Fenster des altehrwürdigen Gebäudes fielen Sonnenstrahlen in den holzgetäfelten Raum und zeichneten Streifen auf den Laminatboden. Der Geruch von Bohnerwachs, Staub und alten Büchern stieg Katsumi in die Nase, doch er fühlte nur das schwarze Loch in seinem Magen, das sich in seine Eingeweide zu fressen drohte. Nie hatte er gedacht, dass dieser Augenblick käme. Hatte gehofft, dass dieser Kelch an ihm vorbeigehe, darauf gezählt, dass ihm in diesem Leben wenigstens eins der schlimmsten Dinge entgehen würde, die er sich ausmalen konnte: Seinen engsten Freund zu verlieren. Für immer. Katsumi wiederholte die Worte stumm in seinen Gedanken, doch immer wieder tauchte nur eine Frage in ihnen auf: Warum?
Er hatte all die Widernisse, die ihm auf seinem Weg aufgelauert hatten, mit Sturheit und Trotz ertragen, hatte den Preis gezahlt, der für seinen nie erstickten Widerstand gefordert wurde, und hatte mit angesehen, wie alle, die ihm etwas wert gewesen waren, sich von ihm abgewandt hatten. Bis auf Takeru. Und nun…
“Nein…”, hauchte Katsumi und glitt neben dem Tisch zu Boden. Die rechte der nahebei stehenden Schwestern reichte ihm die Hand, wie um ihm wieder hochzuhelfen, aber er beachtete sie nicht.
“Steh auf, Tsumi”, sagte die junge Frau mit monotoner Stimme. Es machte ihn wütend, dass sie wie selbstverständlich seinen Spitznamen benutzte, und er würdigte sie keines Blickes.
“Du kannst nichts daran ändern. Takeru ist gegangen.”
“Sagt das nicht”, flüsterte Katsumi und merkte plötzlich, dass Tränen seine blicklosen Augen füllten. “Ich werde Euch nicht verzeihen.”
Der Raum leerte sich. Wahrscheinlich hatte die nächste Unterrichtsstunde bereits angefangen, doch Katsumi verschwendete keinen Gedanken daran, während er mit dem Rücken an dem Tischbein lehnte. Er kratzte mit seinen dreckgeschwärzten Fingernägeln am Holz des Laminatbodens, und riss sich die Nagelbetten auf. Unbeteiligt beobachtete er, wie ein kleiner Blutstrom an seinem Daumen herunterlief.
Etwas in ihm hatte sich aufgelöst, war zerbrochen. Er lauschte in der Stille auf seine Herzschläge und war überrascht, sie noch zu vernehmen.
Takeru…
“Wenn ich nur wüsste, was mit dir geschehen ist”, flüsterte Katsumi in die Leere und war überzeugt, dass ihn sein Freund, wo auch immer er war, hören konnte. “Warum? Es ist so sinnlos…” Er brach ab. Er war nicht einmal dagewesen.
Vor fünf Tagen hatte er einen letzten Fluchtversuch aus dem Kloster unternommen. Vielleicht würde er es nie wieder tun, denn er war kurz vor dem Ziel geschnappt worden. Dunkle Erinnerungen fluteten über ihn herein, und Katsumi schauderte. Die Mauern dieses Gefängnisses waren zu hoch für ihn.
Fünf Tage hatte er in einer der winzigen, vor Dreck und Unrat starrenden Zellen ausgeharrt, die man für Seinesgleichen eingerichtet hatte. Und als er wieder freikam, hatte man ihm diese Nachricht überbracht. Schwindsucht. Wie, verdammt noch mal, konnte Takeru an Schwindsucht sterben? Katsumi hätte es eher für glaubhaft gehalten, dass sein Freund bei einem Aufstand von den Hunden des Abtes zerfleischt wurde. “Warum…”, flüsterte er wieder, doch diesmal schien ihm sein Herz eine Antwort zu geben.
Katsumi holte tief Luft und spürte erneut die Verzweiflung, die ihm den Hals zuzuschnüren drohte. Hatten die Schwestern nicht mit Vergnügen beobachtet, wie ihn die grausame Wahrheit erreichte? War die von ihnen gereichte Hand nicht ein hinterhältiger Versuch gewesen, ihn in seinem schwächsten Augenblick auf ihre Seite zu ziehen?
Es war Zeit, hier herauszukommen. Der zusammengekauerte Junge wiegte hin und her und betrachtete seine rechte Hand, die mit Narben übersäht war. Jede davon stand für einen Versuch, sich der Fesseln dieses Ortes zu entledigen, und verpflichtete ihn auf diese Weise, seiner Gesinnung treu zu bleiben. ‘Takeru ist hinter den Schleier getreten’, dachte er grimmig, ‘doch ich würde ihn verraten, wenn ich meinen Widerstand aufgeben würde. Ich will die andere Seite dieser Mauern sehen, und nicht nur aus fernen Geschichten und einer mehr und mehr verblassenden Erinnerung davon träumen.’
Katsumi stand auf. Wieder betrachtete er die hässlichen weißen Streifen auf seinem Handrücken, und ihm wurde bewusst, dass Narben ein Anzeichen dafür waren, dass die Wunden verheilten. Nun wollte er die Risse in seiner Seele endgültig verschließen. Mit einem bitteren Geschmack im Mund dachte er an Takeru, der ein Jahr älter gewesen war als er und keine Gelegenheit ausgelassen hatte, den Schwestern zu zeigen, dass er nicht eine ihrer Marionetten war. ‘Ich folge ihm, doch nicht in den Tod’, schoss es Katsumi durch den Kopf, den eine eiserne Entschlossenheit gepackt hatte. ‘Alles, was er für mich getan hat - doch ich will nicht daran denken. Takeru hat sie nie gesehen, die Welt hinter diesen Mauern, und jetzt gibt es für mich kein Zurück mehr.’
Der letzte, endgültige Schritt wartete auf ihn.
Eine Stunde später hatte er all seine Habseligkeiten aus dem Schlafsaal mitgenommen und in seiner abgenutzten Tasche verstaut. Niemand war auf den Fluren zu sehen, es war Zeit für die Mittagsgebete. Man würde ihn sicher nicht vermissen, so selten, wie er sich dort freiwillig blicken ließ. Dennoch, das wichtigste war, dass sich der Abt nun ebenfalls dort befinden musste, weshalb sein Raum unbewacht sein würde.
Katsumi schlich durch die wohlbekannten Gänge, und spürte, dass es heute vielleicht das letzte Mal sein würde. Er war bereit, alles dafür zu geben. Vielleicht war er im Begriff, etwas unglaublich Dummes zu tun, doch nun, da Takeru tot war, hielt ihn nichts mehr hier. Der Gedanke versetzte seinem Herzen einen heftigen Stich.
Es war Zeit für ihn, die andere Seite zu sehen. Etwas zu hören und zu fühlen, das nicht durch die Ordensschwestern und ihr Credo vorgegeben war.
Der schön eingerichtete Raum war tatsächlich offen. Katsumi überlief eine Welle freudiger Erregung, die er nicht erwartet hatte, und er wich auf seinem Weg zum Nachttisch, in dem der Abt seinen eigenen Torschlüssel aufbewahrte, den anderen, ausladenden Möbelstücken aus. Wie ein Mensch, der so viel auf Enthaltsamkeit und Buße gab, in solchem Luxus leben konnte, war Katsumi schleierhaft. ‘Heuchler’, dachte er, ‘lässt die ihm Anvertrauten auf Strohbetten schlafen…’
Der Junge riss mit klopfendem Herzen die Schublade auf - und da waren sie, säuberlich aneinandergereiht. Er griff sich den Größten und verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Wissend, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, schlich Katsumi umsichtig durch die Gänge, die wie die Eingeweide eines Riesen völlig ausgestorben dalagen. Er blendete alle störenden Gedanken aus und konzentrierte sich auf das Geräusch der leise schlurfenden Füße der Mönche oder das Staksen der Nonnen, doch nichts war zu hören.
Allein, aus dem Gebäude zu kommen, war schwierig. Wie er schließlich noch das riesige Gelände unbemerkt überqueren sollte, war ihm ein Rätsel, doch er spürte, dass Takeru seinen Weg begleitete. Heute, wenn auch sonst niemals hatte er einen Schutzengel.
Und dann war der Moment gekommen. Katsumi stand in der winterlichen Kälte draußen vor dem hohen Eisentor, das hinaus auf die Welt führte. Der Schlüssel in seiner Hand zitterte, und der Junge wusste kaum, wie er atmen sollte. Die Mauer, die ihn sein ganzes Leben begleitet hatte, würde fallen. Entschlossen steckte er den kleinen Schatz in seiner Hand in das schwarze Schloss und drehte ihn um. Mit einem verräterischen Knirschen, das Katsumis Herz beinahe zum Stillstand brachte, schwang die Pforte auf. Was dahinter wartete? Er wusste es nicht.
Der eine Schritt hinaus auf den kiesgestreuten Weg, der von den altehrwürdigen Klostergebäuden wegführte, kostete ihn mehr Kraft als alles andere. Er spürte, dass er Takeru und seine gesamte Vergangenheit verließ.
Katsumi schob den Riemen seiner Umhängetasche höher und dachte: ‘Auch wenn ich dir nicht auf die andere Seite des Todesschleiers folgen kann, mein Freund, so werde ich die Erinnerung an dich hinaus in die Welt tragen.’
Es war dieser Moment, den er als einzigen in seinem bisherigen Leben nicht bereute.