Beiträge von Shimoto

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    Kapitel 52: Der Märtyrer


    Andrew wusste nicht so recht, wie er Ryans jüngste, persönliche Erfolge einstufen sollte. Neidisch war er definitiv, dass sich in so kurzer Zeit gleich zwei seiner Pokémon entwickelt hatten. Missgunst verspürte er aber keine. Wieso denn auch? Weil sie schon in der nächsten Runde seine Gegner sein könnten? Dieser Grund wäre lächerlich. Er hatte schon immer den Kampf gegen starke Widersacher gesucht. Von den Schwächeren lernte man nichts und er verspürte auch ganz einfach keinen Spaß. Andrew mochte Herausforderungen und noch lieber meisterte er sie. Psiana und Kangama hatten zudem weit mehr Erfahrung vorzuweisen, weswegen es keinen Grund gab, sich vor Guardevoir und Sumpex in die Hose zu machen.

    Was also nagte bezüglich seines Kumpels an ihm? Wäre es arg vermessen, wenn er das Gefühl hätte, Ryan würde ihm hier die Show stehlen? Ihm den Rang ablaufen? Das wäre eine Möglichkeit, die er sowohl seinem Wettkampfeifer als auch seinem Ego durchaus zutrauen würde. Und wenn das der Fall war, gab es glücklicherweise einen ganz einfachen Weg, das gerade zu rücken.

    Sein Gegner war diesmal zuerst aufgerufen worden und erwartete Andrew bereits, als er den Weg zu seinem vorgewiesenen Platz zurücklegte. Das tat er, Jamie Gregory, nicht gerade mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. Klar waren sie Konkurrenten, aber bei Arceus, der sah ihn an, als wolle er nicht gegen seine Pokémon kämpfen, sondern sie klauen. Er war abermals eine kräftige Gestalt, allerdings nicht so, wie Dan Hayes. Der war gebaut gewesen, wie ein Fitness Coach. Gregory dagegen wie jemand, der einen solchen ganz gut brauchen könnte. Traurigerweise musste er hierauf an einen der beiden Blindgänger denken, die auf ihrer Überfahrt nach Hoenn Zoff mit ihm und Ryan angefangen hatten. Ein wenig Unrecht tat er seinem Gegner damit dann doch, denn der strahlte unbestreitbar Konzentration und Scharfsinn aus und sein im Rival-Check eingesehenes Portfolio ließ vermuten, dass er wenigstens ein bisschen was von seinem Handwerk verstand. Er rückte eine knallrote Mütze aus dünner Wolle auf seinem Kopf zurecht, unter der einige dunkle Dreadlocks hervorlugten, während eine Brise den Saum seines grauen Sweatshirts auffing. Dieses zeigte eine Ansammlung verschiedener, recht böse dreinblickender Pokémon im Graffiti Design. An dunklen und sehr weiten Jeans hingen mehrere Ketten herab.

    „Wenn du schlau bist, drehst du dich wieder um“, hieß er Andrew willkommen und machte einen entschlossenen Schritt nach vorn, worauf jene Ketten mit einem Klimpern einstimmten. Erinnerte etwas an die Ringe, die Terry am Handgelenk trug. Das förderte die Sympathie genauso wenig, wie es seine Worte taten.

    „Sicher, dass du das willst? Du würdest mein charmantes Gesicht verpassen“, konterte Andrew und platzierte sich lässig in seiner auf dem Kampffeld markierten Zone. Gregory schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf. Auf ein verbales Gefecht schien er sich allerdings nicht einlassen zu wollen. In dem Fall musste man sich fragen, was er denn mit diesem Satz hatte bezwecken wollen. Hatte er echt gedacht, Andrew damit einschüchtern oder verunsichern zu können?

    „Hat´s dir schon die Sprache verschlagen?“

    Während Andrew seinerseits etwas stichelte – das tat er ohne böse Absichten oder ihn ernsthaft Schmähen zu wollen – holte sein Gegenüber bereits einen Pokéball hervor. Dabei spuckte er abfällig auf den Boden.

    „Ha-llo-o, hast du was an den Ohren?“, erkundigte sich Andrew weiter, der keine große Eile hatte, sich kampfbereit zu machen. Der gejagte, mürrische Blick von Gregory sowie dessen nette Begrüßung hatten den Wunsch geweckt, ihn etwas zu provozieren.

    „Oder liegt die Problemzone eher dazwischen?“

    Damit schien er ihn am Haken zu haben.

    „Du quatscht wirklich so viel und so dumm, wie die Leute behaupten.“

    Ganz klar, der Typ kannte Andrew bereits und war ihm nicht wohlgesonnen. Für seinen Geschmack nahm er das hier jetzt schon etwas zu ernst und verbissen. Welch Ironie hinter diesem Gedanken seitens Andrew steckte, für den es doch bei diesem Turnier um weit mehr ging als für die meisten anderen Teilnehmer. Gregory würde im Schlimmsten Fall eine Niederlage gegen einen der Toptrainer Johtos, der nie etwas getan hatte, das diese Abneigung rechtfertigte, zu verkraften haben. Es gab bestimmt frustrierende Möglichkeiten. Er selbst dagegen stünde womöglich noch einem erbitterten Rivalen oder sogar einer regelrecht verhassten Feindin einer kriminellen Organisation gegenüber. Und selbst unter diesen Umständen fand Andrew noch einen Weg, das Ereignis ein bisschen zu genießen. Tja, manche hatten Probleme...

    „Gleich geht´s los und ich kann euch sagen, ich bin angespannt wie ein Tauros. Gregory oder Warrener, wer gesellt sich unter die besten vier?“, gab Cay zum Besten, als Andrew endlich einen Pokéball aus seiner Umhängetasche fischte. Selbige wurde dann zu seiner Rechten einfach gen Boden fallen gelassen, da er den zweiten in verkleinerter Form bereits jetzt ganz unauffällig in die Jackentasche schob. Musste keiner wissen, dass die Wahl für beide Pokémon seinerseits schon feststand. Das Grinsen auf Andrews Wangen war von vorfreudiger Natur. Jetzt stand für ihn nämlich erst einmal eine weitere Prämiere bei diesem Turnier an.

    „Auf geht´s, Scherox!“

    Ryans Aufmerksamkeit erhöhte sich, als der Lichtblitz des Pokéballs ein insektenartiges, aufrechtstehendes Wesen preisgab, dessen gesamter Körper mit einer blutroten Metallpanzerung überzogen war. Vier große Käferflügel, schmale Gliedmaßen, die in wuchtigen Scheren endeten, für welche die Spezies weitreichend bekannt war. Ein durchstechender Blick zeugte von Kampfeslust und einer gewissen Skrupellosigkeit. Natürlich war Andrews Scherox nicht völlig brutal oder gnadenlos, aber es gab keinen Grund, den Gegner nicht in diesem Glauben zu lassen.

    Gregorys Pokémon war ein großer Geist von betongrauer Farbe. Auf dem Bauch zeichnete eine gelbe Musterung eine fiese Fratze. Der Kopf war unnatürlich schmal, kaum mehr als ein Docht auf dem ansonsten sehr massigen und breiten Geisterkörper. Dieser besaß, wie bei vielen Vertretern dieses Typs, keine Beine, sondern nur einen Geisterzipfel. Aus einer finsteren Höhle starrte ihn ein einzelnes, rot leuchtendes Auge an.

    „Zwirr-finst“, raunte das Wesen unheilvoll.

    Cay schien die Paarung sehr zu gefallen. Wie überraschend. Der würde vermutlich sogar einem Kampf zwischen Mirapla und Dummisel mit Euphorie entgegenfiebern.

    „Gregory tritt mit einem Zwirrfinst an. So eins hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Warrener schickt Scherox an den Start. Heißt, kein Typenvorteil, aber jede Menge Kampfkraft.“

    Wohl nicht das treffendste Wort. Beide konnten ordentlich austeilen, das stimmte, aber während Scherox mehr auf handfeste Gewalt setzte, würde sein Gegner den direkten Kontakt nicht allzu häufig suchen. Geister kämpften bevorzugt anders. Hinterlistiger und verwegener. Sicher stellte Zwirrfinst keine Ausnahme dar.

    „Beide Trainer bereit? Der Kampf beginnt.!“, eröffnete der Schiedsrichter und Gregory fackelte nicht lange, den ersten Zug zu machen.

    „Fang an mit Irrlicht.“

    Über den riesigen Händen entflammten drei blaue Fackeln, die Zwirrfinst zu umkreisen begannen. Dieses schien zu einem Wurf auszuholen. War diese Bewegung wirklich nötig?

    „Antworte mit Agilität.“

    Tatsächlich sausten die Flammenkugeln erst auf den Metallkäfer zu, als Zwirrfinst die Hände in dessen Richtung streckte. Genauso gut hätte Gregory versuchen können, eine Sternschnuppe zu treffen. Scherox war eine Sekunde lang für das menschliche Auge komplett verschwunden und tauchte in einigen Metern Entfernung wieder auf. Um den Gegner zu verwirren, ließ Andrew dies einige Male wiederholen, um bloß keine Angriffsfläche zu bieten. Sollten sie dennoch angreifen, würde der Poltergeist niemals imstande sein, als erster seinen Schlag auszuführen.

    „Jetzt Fluch!“, befahl Gregory dann plötzlich, was Andrews Theorie nichtig machte. Mit diesem Angriff konnte Zwirrfinst nicht verfehlen und er ihm auch nicht dazwischenfunken. Er richtete sich nämlich gegen den Anwender selbst. Aus dem Boden stieg ein dunkelvioletter Ring empor, der schwarzen Nebel absonderte und mit einigen kryptischen Runensymbol gezeichnet war. Zwirrfinst war direkt im Zentrum dieses Kreises. Und sogleich entluden sich mehrere Schattenblitze aus diesem Konstrukt direkt auf das Geistpokémon.

    „Oh, das ist fies. Falls ihr es nicht wusstet, das ist einer der Gründe, warum man den Burschen Märtyrer nennt. Der nimmt keine Rücksicht auf Verluste und Scherox wurde gleich zu Beginn mit einem Fluch belegt. Klingt verrückt, ist aber so.“

    Besten Dank für die Analyse, Cay. Andrew würde den Kampf nun unter Zeitdruck austragen. Sein Gegner hat sich durch den Einsatz von Fluch zwar selbst geschwächt, aber je länger Scherox nun kämpfte, desto mehr würden dafür seine Kräfte schwinden. Fragte sich, ob man einen Geist-Typen denn so flott ausnocken konnte. Hätte er mal Magnayen gewählt. Mit seiner erhöhten Geschwindigkeit würde er jedoch im Vorteil sein und auch die Schlagkraft dieser Gattung war nahezu unerreicht. Er musste nur ein einziges Mal nahe an Zwirrfinst herankommen.

    „Mach Tempo, Scherox und dann Metallklaue!“

    Noch einmal demonstrierte das Käfer- und Stahlpokémon seine Schnelligkeit, hastete von links nach rechts, hinter seinen Gegner und gar direkt vor dessen Nase, nur um den Abstand nach einem Wimpernschlag wieder zu vergrößern. Das Surren der Insektenflügel hörte man trotz des ständigen Verschwindens unablässig, ließ jedoch unmöglich den genauen Standort erahnen. Jamie Gregory zeigte sich wenig beeindruckt.

    „Wir bleiben ruhig. Doppelteam.“

    Just in dem Moment, als Scherox eine silbern aufblitzende Schere in seine Seite hatte schlagen wollen, duplizierte sich Zwirrfinst um ein Vielfaches. Das Trugbild verschwand, bestimmt zehn weitere verblieben und umzingelten Scherox.

    „Jetzt wieder Irrlicht!“

    Diesmal gab es kein Entrinnen. Andrew konnte nicht riskieren, den Kreis aus den Ebenbildern des Geistes einfach blind zu durchbrechen. Er würde Tür und Tor für einen weiteren, verheerenderen Angriff öffnen. Die blaue Flamme traf direkt auf die gepanzerte Brust. Für eine Sekunde ging sie auf den ganzen Körper über und brannte mit höllischer Erbarmungslosigkeit. Als wäre das nicht genug, erschien urplötzlich ein Ring um Scherox, der einen schwarzen Nebel absonderte und den Effekt von Fluch verdeutlichte. Violette Blitze schlugen in seinen Leib, ließen die Nerven unkontrolliert zucken und zerrten Scherox mit einer unsichtbaren Kraft gen Boden. Nur mit Mühe konnte er sich auf den dünnen Beinen halten. Es fühlte sich an, als würden seine Muskeln und Organe gequetscht und er zudem gleich ersticken. Nur in den schlimmsten Alpträumen würde man dieses Gefühl nachvollziehen können. Gnädiger Weise hielt es nur für einen Atemzug an, obwohl Scherox Wahrnehmung ihm etwas Anderes erzählte.

    Cay erläuterte Andrews missliche Lage für die weniger kundigen Zuschauer, während er nach einem Ausweg suchte. Natürlich wartete Gregory nicht geduldig ab, bis sich ein solcher fand und befahl Finsterfaust. Das kam nicht unerwartet. Fast jedes Pokémon des Typs Geist konnte diese Attacke erlernen und sie war äußerst zuverlässig. Man konnte ihr im Grunde unmöglich ausweichen, sie höchstens abblocken. Na, was ein Zufall, dass Stahlpokémon hierfür etwas in der Hinterhand besaßen.

    „Eisenabwehr!“

    Ein metallischer Glanz legte sich über das eigentlich matte Rot von Scherox Körper, während die wuchtigen Scheren vor der Brust gekreuzt wurden. Zwirrfinst hätte genauso gut auf einen Amboss einschlagen können. Die Schattenfäuste, sie sich von seinen eigenen lösten hatten nicht das Geringste bewirkt. Und für den Angriff hatte Gregory die Deckung durch Doppelteam aufgeben müssen. Der bemerkte nun seinen Fehler und schluckte.

    „Metallklaue, gib´s ihm!“, rief Andrew aufgepeitscht. Es fühlte sich immer befriedigend an, einen wendigen und tückischen Gegner endlich eins reindrücken zu können. Der erste Schlag wurde mittig auf dem Körper platziert, ehe die zweite Schere mit einem Sprung gegen die Schläfe geschmettert wurde. Zwirrfinst polterte über den sandigen Boden, während Scherox geschickt wie ein Athlet landete. Die beeindruckende Pose wurde jäh unterbrochen, als sein Körper ein weiteres Mal von einer blauen Flamme entzündet wurde und den Chitinpanzer ansengte. Der Schrei konnte diesmal unterdrückt werden, doch der Käfer sank auf ein Knie und keuchte ein paar Male schwer. Es war noch zu früh für eine Pause. Er musste den Schmerz ertragen, durfte nicht zulassen, dass er ihn lähmte. Ein violetter, runenverzierter Ring erschien urplötzlich, kaum dass Scherox sich unter Zähneknirschen aufgerichtet hatte und malträtierte ihn mit Schattenblitzen.

    „Warrener schlägt zurück und das mit Schmackes. Aber Irrlicht und Fluch zehren an Scherox. Er muss das hier schnell über die Bühne bringen, wenn er Runde eins gewinnen will.“

    Überflüssig, aber korrekt festgehalten. Andrew brauchte eine satte Schlagkombo, mit der er Zwirrfinst sofort Matt setzen konnte, oder er durfte bald einem Rückstand hinterherlaufen. So sicher er auch war, das Ding selbst in diesem Fall noch rumreißen zu können, würde er natürlich einen Teufel tun, sich so einfach kleinkriegen zu lassen. Wurde Zeit, dass Gregory lernte, was für ein Sturkopf ihm gegenüberstand.

    „Schwerttanz, los!“

    Scherox konnte schon im Normalzustand böse austeilen. Mit der Stärkung durch Schwerttanz wurde das Pokémon zu einem Abrisskommando. Erneut wurden die Scheren vor dem Körper gekreuzt und ein Kreis aus Lichtpunkten zeichnete sich sogleich auf dem Boden ab. Mehrere leuchtende Schwerter erhoben sich daraus und umkreisten ihn in zunehmendem Tempo. Der nächste Angriff musste nun verheerend für Zwirrfinst enden. Dieses schüttelte sich kurz und begab sich rasch wieder in die Schwebe.

    „Jetzt steig hoch.“

    Auf der Gegenseite wurden die Augen skeptisch verengt. Warrener musste doch klar sein, dass mit dem nächsten Effekt von Irrlicht und Fluch Scherox sicher abstürzen würde. Gerade letzterer bewirkte mit jedem Mal größere Schmerzen und in Bälde dürften sie gar für eine Ohnmacht sorgen. Er wollte wohl auf´s Ganze gehen und die erste Runde mit diesem Angriff entscheiden. Sollte er nur. Eben noch war Gregory zu unbeholfen gewesen, war zu überhastet in die Offensive gewechselt, ohne die Abwehrmechanismen des Gegners in Betracht zu ziehen. Jetzt aber musste er selbst nicht mal einen starken Treffer landen. Allein Scherox für ein paar Sekunden länger zu bedrängen, bis die Zeit die restliche Arbeit erledigte, wäre genug.

    „Zwirrfinst, nimm Schattenstoß!“

    Auch damit war zu rechnen gewesen. An sich war diese Pokémon Gattung nicht gerade schnell, doch Schattenstoß glich die natürliche Schwäche aus. Audrey hatte auf denselben Trumpf gesetzt, um Sandra in die Parade zu fahren. Der graue Geisterkörper versank im Boden, wo nur noch ein schwarzer Schatten die Position verriet. Diesen anzugreifen würde sich genauso aussichtsreich gestalten, wie den Wind einzufangen. Obwohl sich Scherox in der Höhe befand, würde einer schnellen Attacke wie dieser nicht zu entrinnen sein. Nur war es nicht in Andrew Sinne, wegzulaufen oder auszuweichen.

    Der Schatten löste sich vom Boden. Schneller als das Auge folgen konnte war er direkt vor Scherox und blähte sich zu der massigen Gestalt von Zwirrfinst auf, eine geballte Faust bereits im Anschlag.

    „Patronenhieb!“

    Scherox dagegen brauchte gar nicht erst ausholen. Seine natürlichen Primärwaffen verschwammen für das menschliche Auge fast völlig in diesem überwältigenden Hagel aus Schlägen, von denen sich jeder wie mit einem Morgenstern anfühlte. Zwirrfinst war überrumpelt worden. Patronenhieb war ebenfalls eine Technik, die blitzschnell angewandt werden konnte. Addiert mit der ohnehin wahnsinnigen Geschwindigkeit des Metallkäfers war dieser noch um eine Vielfaches schneller als sein Gegner, selbst wenn der Schattenstoß anwandte.

    „Geh über zu Metallklaue!“, schrie Andrew in den Himmel. Es musste aus dem Momentum alles rausholen, was ging. Jede Sekunde konnte Fluch ihn ausbremsen und Zwirrfinst eine Angriffschance bieten, was vermutlich gleichbedeutend mit Scherox´ K.O. wäre. Immer und immer wieder sauste er an dem zunehmend hilflosen Zwirrfinst vorbei und hieb mit seinen riesigen Scheren in die Seiten. Gregory versuchte Anweisungen zu geben, aber die schienen gar nicht anzukommen. Kein Ausweichmanöver, kein Gegenangriff. Es folgte ein gewaltiger Hieb direkt auf den dünnen Schädel, der das Geistpokémon gen Boden schmetterte. Von den Tribünen aus konnte man das mit bloßem Auge nicht bestätigen, aber der Klang ließ erahnen, dass der Einschlag einige Spalte in das Kampffeld gerissen hatte. Das war die perfekte Position. Andrew battle die Faust und deutete an, sie eigens auf Zwirrfinst niedergehen zu lassen.

    „Jetzt machen wir den Laden dicht. Kreuzschere!“

    Die tödlichen Klauen von Scherox kreuzten sich vor der Brust, doch dann entflammte der Körper auf einmal wieder mit hellblauem Feuer. Ein kurzer Aufschrei, dann war der Schmerz schon wieder vorbei. Aber Scherox taumelte bedenklich in der Luft, konnte sich kaum noch oben halten.

    „Oh, ganz bitter. Das hätte der entscheidende Schlag werden können, aber Irrlicht funkt Warrener dazwischen.“, beobachtete Cay aufmerksam. Ja, Irrlicht hatte Gregory einen Moment Luft verschafft. Nur reichte ihm dieser nicht ansatzweise aus, um den Kampf herumzureißen. Der nächste Effekt von Fluch ließ noch auf sich warten. So eine Scheiße.

    Zwirrfinst hörte zudem seine Kommandos kaum noch und konnte sich anscheinend nicht mehr in der Schwebe halten. Der wuchtige Körper zitterte noch immer am Boden und kam nicht hoch. Dann blieb ihm nur eine Option. Und mit dieser musste er sich sputen, denn Scherox war trotz der jüngsten Schwächung durch Irrlicht weiter im Anflug! Mit einem energischen Krampfgebrüll sowie einem anspornenden Ruf seines Trainers begleitet schickte sich das Insekt daran, die angeordnete Kreuzschere auszuführen.

    „Abgangsbund!“

    Zwirrfinst öffnete doch noch einmal das Auge, schlug die Hände ineinander und streckte sie mit einer weit ausholenden Bewegung von sich. An seiner Brust glimmte ein violetter Lichtpunkt auf und fast im selben Augenblick erschien ein zweiter direkt auf Scherox´ Körper. Wie ein flimmerndes Fernsehbild erschien eine Kette aus schwarzem Nebel, die beide miteinander verband. Später würde Andrew überlegen, ob es in diesem Moment besser gewesen wäre, abzubrechen, aber die Entscheidung war hinfällig, da der Einschlag erfolgte, noch ehe er hierfür Luft geholt hatte. Diesmal konnte man sicher sein, dass Zwirrfinst im wahrsten Sinne in den Boden gestampft worden war. Bis der gemeine Zuschauer sich dessen vergewissern konnte, musste man sich jedoch gedulden, bis die Wand aus dickem Staub sich legte. Cay hielt das Warten kaum aus. Er schwärmte von der Kraft dieser Kreuzschere sowie dem eisernen Durchsetzungsvermögen und sprang vermutlich in seiner Kabine auf und ab. Ein weiteres Mal zehrte der Effekt von Fluch an Scherox Kräften und ließ ihn mit einem Knie gar auf den Boden sinken. Er weigerte sich aber unbeugsam, hier zu fallen.

    Gregory stieß einen tiefen Atemzug aus und rümpfte die Nase. Er wusste selbst, wie das Resultat aussah.

    Zwirrfinst war tatsächlich in einen Spalt hinein geprügelt worden, der sich unter ihm aufgetan hatte. Die Arme und ein Stück vom Unterleib ragten noch daraus empor – allerdings regungslos, genau wie der restliche Körper. Als der Schiedsrichter dann gerade eine Fahne erhob, wurde urplötzlich das Nebelband wieder sichtbar, das Zwirrfinst eben noch mit Scherox verbunden hatte. Der Käfer sah verdutzt an sich herab.

    Für den Beobachter schien weiter gar nichts zu geschehen. Das Pokémon aber stieß einen fürchterlich erstickten Laut aus und warf den Kopf in den Nacken, als wolle es schreien. Die Arme verkrampften kurz, wurden dann sogleich taub und hingen lasch herunter. In den sonst so kühlen, scharfen Augen stand plötzlich ein Grad an Erschöpfung geschrieben, dem eigentlich nur noch die sofortige Ohnmacht oder gar Schlimmeres folgen konnte, da man längst alle Grenzen des Körpers und der Vernunft weit hinter sich gelassen hatte. Schließlich kippte Scherox zur Seite und blieb liegen, als sei sein Leben ausgehaucht. Kein Zucken, Kämpfen, Klagen oder Jammern. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man Scherox glatt für tot halten.

    So melodramatisch es auch aussah, so einfach war der Ausgang jedoch erklärt. Eben den machte der Unparteiische nun offiziell.

    „Zwirrfinst und Scherox können beide nicht mehr weiterkämpfen!“, rief er mit einem Wink beider Fahnen.

    „Wir haben ein doppeltes K.O.!“

    Damit hatte Cay, der die Situation für alle weniger Bewanderten im Publikum sogleich genauer erörterte, nur in Teilen Recht. Gregorys Pokémon war definitiv zuerst kampfunfähig gewesen. Abgangsbund nahm jedoch den Gegner gnadenlos mit sich, wenn der Anwender unmittelbar danach das Bewusstsein verlor. Wären dies die beiden letzten Pokémon gewesen, die den Trainern zur Verfügung standen, so würde Andrew nun als Sieger ausgerufen werden. So weit war man aber in diesem Match noch nicht.

    Andrew schnaufte mitgenommen und strich sie die Haare zurück, ehe er beide Hände in die Seite stemmte. Eigentlich hätte er auch damit rechnen sollen. Nach allem, was er im Rival-Check über Jamie Gregory gelesen hatte, war ob seiner Entscheidung, mit einem Geistpokémon anzutreten, der Einsatz von Abgangsbund von Anfang an nur eine Frage der Zeit gewesen. Eben bis zu dem Moment, als Scherox mit Kreuzschere angegriffen hatte. Das Blatt zu wenden hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt und somit hatte er sich entschieden, wenigstens ein Unentschieden rauszuholen. Taktisch clever. Aber offen gesagt stieß diese Taktik bei Andrew auf eine enorme Portion Missachtung. Klar lernten seine Pokémon Attacken wie diese oder auch Explosion und Finale von selbst und waren somit fester Bestandteil ihrer Natur. Aber unter Vorsatz darauf zu spielen, sie gezielt einzusetzen, sie zum Dreh- und Angelpunkt seiner Strategie zu machen, war ihnen gegenüber einfach bloß ungerecht und respektlos.

    Apropos Respekt – für seinen aufopferungsvollen Einsatz erhielt Zwirrfinst kein Wort des Lobes oder Dankes. An der Art, wie Gregory die Lippen schürzte, vermutete Andrew eher, dass er sich ein paar tadelnde Worte verkniff, als er seinen Partner zurückrief. Wohl, um sich vor seinem Gegner keine Blöße zu geben. Idiot. Für seinen lächerlichen Stolz sollte sich kein Trainer jemals zu schade sein, die Leistung seiner Pokémon angemessen zu würdigen. Andrew versuchte jedoch, sich nicht allzu lange mit Gregory zu beschäftigen. Seine Gedanken mussten klar und fokussiert bleiben.

    „Ein guter Kampf, Scherox. Gönn dir die Pause.“

    Er war mit dem, was er beobachtet hatte, sehr zufrieden. Größere Bedenken, Scherox könne dem Niveau des Summer Clash nicht gewachsen sein, hatte er zwar nicht gehabt, aber sein Anruf in die Heimat war doch arg kurzfristig gekommen. Nur eine kurze Einheit hatte er gestern mit Scherox trainieren können, um den Rost abzuschütteln. Von Null auf Hundert, sozusagen. Aber so eine kämpferische Natur lag selbst abseits seines Trainers nicht bloß auf der faulen Eisenhaut. Scherox konnte sehr wohl eigenständig trainieren und besaß zudem den ebenso eisernen Willen, sich stetig zu verbessern. Er hatte seinen Job hier gut gemacht. Den Rest konnte er Psiana überlassen. Sein Blick senkte sich in heißblütigem Tatendrang und Eifer. Auch in dieser Runde wollte er eine Kampansage an Bella senden.

    Andrew wartete nicht länger, die Prinzessin auf´s Kampffeld zu rufen. Dabei hätte er laut Regelwerk durchaus warten können, bis auch sein Gegner wieder einen Ball in den Händen hielt. So aber lud er diesen ein, eine möglichst vorteilhafte Wahl zu treffen.

    „Oho, ist das Selbstverstrauen, oder hat Warrener jetzt gepennt? Er hat sich sehr schnell für Psiana als zweites Pokémon entschieden.“

    Wenn hier gleich einer einpennt, dann du, Cay – so antwortete der Johtonese in Gedanken und stellte sich vor, wie er ihm sein Mikro auf den Kopf schlug. Gregory sollte mal hinne machen. In solchen Unterbrechungen war es schwieriger, den Stadionsprecher zu ignorieren.

    Dieser schmunzelte hämisch, als bedaure er den Idioten, der sich gerade ins eigene Fleisch geschnitten hatte. Er holte seinen nächsten Pokéball nur äußerst langsam hervor.

    „Bist ein ganz schöner Angeber, Warrener. Du weißt was, man über Hochmut sagt?“

    Wollte der jetzt mitten in ihrem Duell wieder ein verbales Gefecht beginnen? Oh, für sowas war Andrew wirklich jederzeit bereit.

    „Tu nicht so, als könnte jemand wie du mich belehren. Du weißt ja vermutlich nicht mal, wie man Wasser aufkocht.“

    Diese arrogante Antwort nahm Gregory als Bestätigung war.

    „Genau das meine ich.“

    Schade, dass sie beide sich nicht schon in den Katakomben über den Weg gelaufen waren. Hätte sicher Spaß gemacht.

    „Wenn´s dir nicht passt, dann mach was dagegen“, spottete Andrew und winkte ihn zu sich heran. Psiana schloss sich der Geste an und ging in eine tiefe Lauerstellung, die allerdings mehr Spieltrieb als Kampfeslust verdeutlichte. Eine eindeutige Geste, dass sie den Gegner nicht ernst nahm. Dass sie sich bestenfalls Unterhaltung von ihm erhoffte.

    „Der Fall wird für dich umso härter, je mehr du quatschst“, betonte Gregory noch, als er seinen Ball vergrößerte. Eine wütend herausspringende Ader an seinem Hals schenkte nun wiederum Andrew süße Bestätigung.

    „Bronzong, mach dich bereit!“

    Das Pokémon, das Jamie Gregory gewählt hatte, mutete wie eine große Glocke in verschiedenen Blautönen an. Es schwebte über dem Boden und ließ jedem Ton, jedem Ruf seines Namens einen langen Schall folgen, genau wie eine echte Glocke, wenn man sie läutete. Zwei Verlängerungen an den Seiten der Oberkante kam den Eindruck von Armen nahe und reichten hinab bis zu den leuchtend roten Augen.

    „Gregory schickt Bronzong ins Rennen. Dieses Viertelfinale wird also zwischen zwei Psychopokémon entschieden.“

    War dies also das Pokémon, das sich der Märtyrer stets bis zum Schluss aufhob, um eine Reihe an Unentschieden in einen Sieg zu lenken? Entsprach irgendwie nicht dem, was Andrew erwartet hatte. Aber er musste gestehen, dass die Wahl keineswegs eine schlechte war. Bronzong waren unglaublich zäh, wie fast alle Stahlpokémon und konnten sehr viel einstecken, besaßen aber auf der anderen Seite auch selbst eine enorme Feuerkraft. Hätte er jedoch einen Unlicht-Typen gegen Psiana in der Hinterhand gehabt, wäre seine überdeutliche Zuversicht weit nachvollziehbarer gewesen. Bronzongs Ausdauer war weit überlegen, während Psiana den Vorteil der Schnelligkeit besaß. Somit herrschten hier sehr ausgeglichene Grundverhältnisse, sodass Gregorys feistes Lächeln eine mahnende Skepsis hervorrief, die zur Vorsicht riet.

    Andrew biss sich entschlossen und voller Vorfreude leicht auf die Unterlippe. Vorsicht gewann keine Titel.

    „Bereit, meine Süße? Dem Typen ziehen wir die Locken glatt“, meinte er noch rasch, ehe die zweite Runde dieses Matches eröffnet wurde.

    „Bronzong, fang an mit Lichtkanone!“

    Es war etwas verwunderlich, dass Gregory mit einem primär defensiv orientierten Kämpfer die Initiative übernahm. Soweit Andrew das beurteilen konnte, hatte er während des bisherigen Turniers bevorzugt den Gegner zuerst kommen lassen. Die Schwerfälligkeit und das Gewicht – Bronzong wogen sicher an die 200 Kilo – sah man dem Pokémon in der Schwebe keineswegs an. In einer geradezu unnötig überschwänglichen, fließenden Bewegung hievte es den Körper hoch und rotierte einmal flott, richtete dann die Öffnung am unteren Ende direkt auf die Psychokatze. Das Schwarz darinnen wurde plötzlich mit weiß- silbrigem Licht erhellt und ein Energiestrahl abgefeuert, der die Zuschauer in den ersten Reihen blendete. Andrew wies an, einfach auszuweichen. Solch unkreative Angriffe wären ein Klacks für die flinke Prinzessin. Die erwartete den Einschlag in aller Gelassenheit, saß ruhig und entspannt an Ort und Stelle und ließ den Doppelschweif sanft hin und her peitschen. Erst im allerletzten Moment spreizte sie alle Pfoten und sprang geschickt über den Energiestrahl hinweg. Bronzong hielt ihn ein paar Sekunden Aufrecht und schwenkte zur Seite, doch Psiana entging einem Treffer spielend ein zweites und auch ein drittes Mal.

    „Der kleine Fellball ist echt auf Zack. Andrews Psiana hat keine Mühe, Bronzongs Lichtkanone auszuweichen“, beobachtete Cay, wies aber gleich darauf hin, dass Andrew auch mal selbst angreifen musste. Was ein Genie.

    „Brems Psiana aus. Erdanziehung!“, befahl Gregory dann und deutete mit einer flachen Hand gen Boden. Über Bronzong knisterte plötzlich eine lila Energiemasse, wie ein Kugelblitz, der nach wenigen Sekunden verebbte. Mit seinem Verschwinden wurde Psianas feliner Körper auf einmal schwer. Es war, als sog der Boden sie an, wie ein Magnet ein Stück Metall. Sie konnte kaum noch die Füße anheben.

    Andrews Augen verengte sich etwas. Manche Trainer setzten Erdanziehung gerne ein, um schwebende oder fliegende Pokémon auf den Boden zu zwingen, wo sie leichter zu schlagen waren. So leichtfüßige Geschöpfe wie Psiana wurden in ihrer Geschwindigkeit arg eingeschränkt, wodurch Bronzong einen natürlichen Nachteil ausgleichen konnte. Das Glocken-Pokémon wurde zwar ebenfalls gen Boden gesogen, schwebte nur noch sehr knapp über diesem, doch das brauchte Gregory wenig bis gar nicht zu kümmern. So lange keine wirksame Boden-Attacke zu erwarten war, gewann er durch den Einsatz von Erdanziehung deutlich mehr, als er einzubüßen hatte.

    „Jetzt Gyroball!“

    Bronzong begann, um die eigene Achse zu wirbeln. Die Arme wurden ausgestreckt und zeichneten einen Lichtring in die Luft. Eben mit diesem wurde nun nach Psiana gezielt, während es auf sie zuschoss. Durch Erdanziehung konnte es sich nur seicht vom Boden abheben, doch der blaue Stahlkörper pflügte unaufhaltsam durch den Sand, wiebelte ihn auf, riss Schlaglöcher in die Erde, wo die Unterkante sie streifte, ohne an Tempo zu verlieren. Von einem rollenden Felsen zerdrückt zu werden wäre vermutlich ein milderes Übel, als Bronzongs Gyroball zu spüren. Andrew hätte einfach mit Teleport das Weite suchen können, doch der Einsatz dieser Technik bedurfte jedes Mal viel Energie und einmal in Fahrt konnte so eine Gyroball-Attacke fast ununterbrochen fortgeführt werden. Weglaufen stellte also keine Option dar, mit der er einen Vorteil erreichen konnte. Naja, dann ging er eben gleich in die Offensive.

    „Psychokinese, los!“

    Die klugen Augen leuchteten bläulich auf, ehe eine gleichfarbige Auge Bronzong einhüllte. Gregory rümpfte spöttisch die Nase. Was dachte sich der Idiot denn dabei? Natürlich war Psychokinese in den meisten Fällen eine sehr starke Attacke, doch abgesehen von Unlichtpokémon, an denen sie überhaupt keinen Effekt zeigte, war sie gegen nichts so ineffizient, wie Stahlpokémon und eben anderen des Typs Psycho. Bronzong sollte von der Energie nicht einmal erfasst und fortgeschleudert werden und selbst wenn, würde sein robuster Körper das spielend wegstecken können. Tatsächlich geschah überhaupt nichts. Das eiserne Geschoss in Glockenform hielt unbeeindruckt auf Psiana zu und würde sie in wenigen Augenblicken aus dem Weg fegen, wie ein Tornado das gefallene Herbstlaub.

    „Jetzt!“, rief Andrew dann plötzlich, worauf die Prinzessin mit einem scharfen „Psi-“ antwortete. Bronzong neigte sich unerwartet zur Seite und geriet außer Kontrolle. Seine Balance ging vollkommen verloren, sodass der nächste Kontakt mit dem Boden es zunächst straucheln ließ, bevor es sich dann unmittelbar vor Psiana wild überschlug. Die vermochte trotz der erhöhten Schwerkraft einen raschen Schritt zur Seite zu machen und einer schwerwiegenden Kollision zu entgehen, während Bronzong unkontrolliert über das Kampffeld polterte, wie ein sich überschlagender PKW. Der dumpfe Lärm des Metallkörpers ließ einen bei jedem Aufschlag zusammenzucken. Oben in einer verglasten Kabine schlug ein gewisser Stadionsprecher gar eine Hand vor das Gesicht und wagte kaum, den Crash mit anzusehen.

    „Ooooh nein, das ging voll nach hinten los. Bronzong hat Psiana verfehlt und ist gestürzt.“

    „Was?“

    Gregory wirkte ungläubig und weigerte sich, die Realität zu akzeptieren. Psycho-Attacken waren fast wirkungslos gegen Bronzog. Wie stark war bitte dieses Psiana, dass ihre Psychokinese es dennoch aus der Bahn werfen konnte? Wenn er seinen Grips mal anstrengen würde, so war sich Andrew sicher, würde selbst er auf die Antwort kommen. Fakt war, dass die Psychokatze kaum einen Effekt hatte erreichen können, doch während des Einsatzes von Gyroball war es völlig ausreichend gewesen, Bronzongs Bewegung nur leicht anzuzwicken. Einen Sprinter in vollem Lauf brauchte man nicht mit einem wuchtigen Schulterstoß zu Fall zu bringen. Es genügte schon ein leichter Schubser oder das Stellen eines Beines. In so einer rasanten Bewegung war man einfach extrem anfällig für solche Nadelstiche.

    So böse der Sturz auch ausgesehen und vor allem geklungen hatte, konnte das Glocken-Pokémon solche Einschläge über den halben Tag verkraften. Gregory versuchte durchzuatmen, seinen Verstand zu klären und die Konzentration wiederzufinden. Alles war okay, es war praktisch nichts passiert und nichts verloren. Er war doch gar nicht gezwungen, proaktiv zu handeln. Es genügte, den Kampf in die Länge zu ziehen und Psiana ein einziges Mal kritisch zu treffen, sobald sie müde und langsam wurde. Auch das war eine Taktik des Märtyrers. Bronzong war ausdauernd genug. Psiana konnte von ihm aus den ganzen Tag drauf feuern.

    Eben Bronzong hob nun wieder vom Boden ab, aber nur für einen Moment, da die eigene Erdanziehung noch aktiv war. Die würde auch verhindern, dass Psiana die Distanz für einen schnellen zweiten Angriff aus nächster Nähe rechtzeitig überbrücken konnte. Einen solchen würde es schon brauchen, um mehr als nur Kratzer anzurichten. Zu Fuß brauchte Andrew es gar nicht erst versuchen. Hatte er aber auch nicht nötig.

    „Jetzt Teleport, geh direkt unter Bronzong“, ordnete er an. Er klang hämisch und aufgeregt, freute sich jetzt bereits diebisch auf das, was gleich passieren würde. Der blaue Stahlkörper senkte sich gerade wieder herab, sodass die Gestalt der lavendelfarbenen Katze nur für einen Moment unter ihm erschien, ehe sie bis auf die Beine gänzlich darunter verschwand. Bronzong merkte das zu spät. Ebenso wie Gregory Andrews Plan erkannte.

    „Spukball!“, schrie er mit geballter Faust. Unter Bronzong knisterte es bereits und Staub wurde aufgewirbelt. Als sich die von Psiana erschaffene Energiekugel gänzlich entlud, konnte man meinen, eine Landmine wäre hochgegangen. Das eigentlich so schwergewichtige Pokémon – 200 Kilo! – wurde in die Luft geschleudert, als sein es ein Pappbecher. Aus der unteren Öffnung rauchte es schwarz und violett. Zum zweiten Mal wirbelte Bronzong herum, überschlug sich, flog in einem hohen und weiten Bogen durch den halben Luftraum des Prime Stadiums.

    „Au Mann, oh Mann, was war denn das? Psiana hat die verwundbarste Stelle getroffen und Bronzong nen Freiflug beschert!“ johlte es aus den Stadionlautsprechern, wurde von überwältigten Aufschreien aus der Menge begleitet. Manch einer sah fast mit einem Hauch Entsetzen, was diese kleine Katze mit ihrem Gegner angestellt hatte. Gregory zählte definitiv zu ihnen. Augen und Mund waren weit aufgerissen und aus letzterem drang lediglich ein fassungsloses Jauchzen. Das sollte ein Spukball gewesen sein? Vielleicht von Darkrai, aber doch nicht von einem Psiana. Auch Cay schloss sich der Meinung an, dass diese Kraft ans Lächerliche grenzte. Nebenbei bemerkte er, dass dieser Verlauf eher an ein Match von Ryan Carparso erinnerte. Ein, zwei Mal geschickt ausgewichen, den Gegner aus dem Konzept gebracht, seinen Angriff abgelenkt und mit einer einzigen verheerenden Attacke genau dort getroffen, wo es richtig weh tat. Ja, das erinnerte mehr als nur ein bisschen an den Kampfstil seines besten Kumpels. Hoffentlich ritt der später nicht drauf rum.

    Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Bronzong endlich wieder mit dem Boden vereint war. Der Aufschlag war an jedem Ort des Stadions nicht nur deutlich zu hören, sondern auch zu spüren. Sein Trainer drehte sich, da es weit hinter ihm landete und zuckte fest zusammen, als habe er einen Stromschlag erlitten. Seine Beine zitterten. In seinem Kopf vibrierte alles. Ein dröhnender Gong lag in seinen Ohren und würde glatt seine eigenen Worte unhörbar machen. Die Arme wurde ob der aufgeschlagenen Erde schützend erhoben, wogen aber plötzlich dreimal so viel. Alle Fans, die Bronzongs Einschlagsort am nächsten waren, drücken rasch beide Hände auf die Hörorgane, aber das Schütteln und Vibrieren, dass diese Wellen noch selbst dahinter sowie in der Brust auslösten, mussten sie alle kompromisslos ertragen. Himmel, selbst die

    Technik protestierte empört mit einem hohen Fiepen und Ächzen, als habe Cay sein Mikrofon einfach fallen gelassen. Von all diesen Auswirkungen war selbst in den Katakomben noch etwas zu merken. Während Ryan und Sandra sie allerdings an sich abprallen ließen und gespannt das Resultat dieser Attacke erwarteten, war Terry zum ersten Mal baff über Andrews Fähigkeiten. Und diese Tatsache machte ihn fast sauer. Was hätte dieses Psiana bei ihrem ersten Treffen wohl mit seinem Maxax anrichten können, hätte er sie nur ein einziges Mal richtig zum Angriff kommen lassen? Was wäre geschehen, wenn Andrew ihn durch ihren raschen Sieg über Washakwil nicht unterschätzt hätte? Abseits dieser drei regierte Bella auf diese Kraft gar mit einem zufriedenen Grinsen und nahm wieder mal einen genüsslichen Schluck. Von beidem wollte sie mehr.

    Die Sicht wurde langsam wieder klar und das quälende Dröhnen ließ endlich nach. Der Einschlag hatte einen Krater in das Kampffeld geschmettert, in welchem sein Trainer sitzend komplett verbuddelt werden könnte. Sand war allerdings nachgelaufen, wodurch Bronzong tatsächlich diagonal mit dem oberen Körperviertel fest im Boden steckte. Der Schiedsrichter zögerte noch einige Sekunden und versuchte die Nachwirkungen in seinem Körper abzuschütteln, eilte sich dann aber schleunigst, Gregorys Pokémon für kampfunfähig zu erklären.

    „K.O. nach nur einer Attacke! Un-glaub-lich!“ grölte Cay überwältigt, fast ungläubig, kaum dass das Resultat verkündet worden war. Streng genommen war es ihr zweiter Angriff gewesen, aber so kleinlich musste man jetzt nicht sein. Der Lärm, der von den Rängen ertönte, war primär ehrfürchtigen und fassungslosen Ursprungs. Sie alle hatten heute bereits viele Attacken, Manöver und Spektakel beobachten können, denen das Wort beeindruckend noch nicht gerecht wurde. Doch ein solcher Knaller von so einem kleinen, unschuldig dreinblickende Geschöpf…

    Es war schwer, ein angemessenes Adjektiv auszuwählen. Aber Manche Dinge brauchten keine detaillierte Analyse. Hier brauchte es nur Beifall – in Massen.

    Andrew drehte sich einmal, forderte vom Publikum zunächst die Aufmerksamkeit und Anschließen den Applaus. Beides, so gestikulierte er deutlich, sollte in aller Großzügigkeit seinem Psiana gespendet werden, die sich entspannt die Pfote leckte. Er wusste allerdings ganz genau, dass ihr der Jubel gefiel, doch eine Prinzessin musste schließlich die Etikette wahren.

    Kapitel 51: Battle dance


    „Das war´s schon. Terry Fuller hat´s wieder kurz und schmerzlos gemacht. Wobei Sichlor und Kokowei das bestimmt anders sehen.“

    Nicht Cays bester Scherz. Aber Unwahrheiten hatte er das ganze Turnier über noch nicht erzählt. Allein Terrys Flampivian hatte problemlos ausgereicht, um beide von Mitch Morrows Pokémon zu schlagen. Man musste sich schon fragen, warum Morrow sich bewusst in eine benachteiligte Ausgangslage gebracht und nach Kokowei auch noch Sichlor gegen ein Feuerpokémon gewählt hatte. Ryan fiel lediglich die Option ein, dass es sich bei jenem um seinen stärksten Kämpfer handelte und er lieber anhand dessen anstatt des Typenverhältnisses entschieden hatte. Letztendlich war seine Wahl aber nicht von Bedeutung gewesen. Terry Fuller spielte einfach in einer anderen Liga. Egal, wen Morrow gegen ihn geschickt hätte, der Ausgang wäre derselbe gewesen.

    Für Ryan stand nun Ann Trevors auf dem Programm. Seine Recherchen hatten ergeben, dass sie von fast jedem Pokémontypen mindestens einen Vertreter besaß und keinen wirklich zu bevorzugen schien. Solch eine Vielseitigkeit hatte er beim Summer Clash selten beobachtet. Ein Großteil der Trainer und teilnehmenden Züchter hatte sich auf einen Typen spezialisiert. Vielleicht ein Zeichen, dass diese Trevors kein Fallobst war?

    „Alles gut?“

    Andrew lächelte recht zuversichtlich. Ryan war momentan echt gut drauf, wenn´s ums Kämpfen ging. Jener Umstand war gerade zum rechten Zeitpunkt eingetreten. Gar nicht mehr vergleichbar zu ihrer Ankunft in Hoenn oder den ersten Tagen danach, als er mit einem völlig blockierten Hydropi dagestanden hatte. Und dies wäre nur einer der Gründe, warum die Teilnahme hier zu diesem Zeitpunkt noch undenkbar für ihn gewesen war. Kaum zu glauben, wenn man ihn und Sumpex heute ansah. Der Blondschopf sah ihn nur kurz aus dem Augenwinkel an und rümpfte – allerdings mit einem ähnlichen Lächeln – die Nase.

    „Deine Sorge ist rührend“, spaßte er mit einem Klaps auf Andrews Schulter, ehe er sich auf den Weg machte.

    „Dauert nicht lange.“

    Diese Geste, obwohl etwas gespielt arrogant, war eigentlich nichts Besonderes. Als Ryan dann aber im Gang Richtung Tunnel verschwand, runzelte sich dennoch Andrews Stirn. Sandra vermutete eine böse Vorahnung.

    „Bei dir auch alles gut?“

    Für sie ging das schon als Witz durch. Oder zumindest eine Spitze. Sie wurde einfach übergangen.

    „Der wird jetzt direkt Terry in die Arme laufen.“

    Hierauf schürzte auch die Drachenmeisterin die Lippen. Hatte Ryan das einfach nur nicht bedacht oder hatte er es gar beabsichtigt? Konnte es denn irgendetwas geben, dass er seinen verhassten Rivalen unbedingt jetzt sagen musste? Spontan fiel keinem von beiden etwas ein.

    „Meinst du, die fetzen sich da hinten gleich?“

    Diesmal biss sie auf die Unterlippe. Nachdenklich und abwägend.

    „Wir werden´s wissen, sobald Feuer und Rauch aus dem Tunnel kommen.“

    Das war nun definitiv ein Witz gewesen. Nur etwas zu nah an der Realität für Andrews Geschmack.


    Wie in der vorherigen Runde schon hatte Ryan die Fäuste in den Taschen vergraben. Seine Schritte waren rasch, aber gleichmäßig. Zielstrebig, doch nicht hastig. Fast erklangen sie im gleichen Rhythmus wie drei metallene Handgelenkringe, deren Schellen und Klackern ihm Terry Fuller ankündigten. Der zuckte kaum mit der Wimper, musste für dieses Maß an Beherrschung jedoch alles aufbieten, was er hatte. So viel musste er Ryan zusprechen – er war immer für Überraschungen gut. Nur eben keine der angenehmen Art. Das sagte er sich zumindest, doch insgeheim musste er gestehen, dass seine bisherigen Auftritte durchaus Eindruck hinterlassen hatten. Was nicht bedeutete, dass er ihn als eine Gefahr einstufte. Im direkten Duell wäre Terry garantiert der Stärkere.

    Seine Augen verengte sich, als sie einander näherten. Erst hatte sich der Trainer aus Einall noch einige kurze Worte zurechtlegen wollen, verwarf aber schnell den Plan, es selbst zu ergreifen. Sollte Ryan allerdings wieder mal was Dummes zu sagen haben, würde er nicht imstande sehen, es unkommentiert zu lassen. Terry fixierte ihn mit kalter Mine. Seine Körpersprache war energisch und selbstbewusst. Er hatte keinen Grund, ihm gegenüber in irgendeiner anderen Form aufzutreten.

    Er... Ryan sah ihn gar nicht an. Würdigte ihn keines Blickes. Seine marineblauen Augen waren zielstrebig nach vorn gerichtet. Geradewegs an Terry vorbei. Wollte der ihn provozieren? Für wen hielt sich der Kerl? Ihn hier zu überrumpeln und dann einfach ignorieren? Der Champ könnte spucken und schreien vor Wut. Doch ihm blieb gar keine Zeit, Ryan zu bremsen und ihm diese Wut mitzuteilen. Schon passierten sie einander und just in diesem Moment war sich Terry Fuller absolut sicher, dass er doch hämisch aus dem Augenwinkel fixiert wurde. Nicht, dass Ryan ihn bewusst hatte ignorieren oder gar aufziehen wollen. Es fühlte sich eher an, als lenke er seinen Blick in allerletzter Sekunde doch zu Terry, um zu beobachten, wie er damit klar kam, nicht der Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu sein. Genaugenommen befand er sich so weit am Rand, dass er ihn fast nicht registriert hätte. Und auch dies war keinesfalls aufgesetzt, sondern Fakt.

    Terry stoppte. Sein Atem tat es für einige Herzschläge ebenfalls. Er drehte sich auf dem Absatz und sah Ryan Carparso hinterher. Schon jetzt hatte er arge Zweifel, ob der ihm wirklich einen Blick hatte zukommen hatten. Kam ihm vor, als habe er das geträumt. Ein Tagtraum? Aber wieso fühlte es sich dann so nah, so real an? Was war mit ihm los? Oder wichtiger – was war mit Ryan geschehen? Terry überkam eine willkürliche Skepsis, dass dies wirklich der Rivale war, den er nun so lange kannte und hasste.


    Ryan machte diesmal überhaupt keine Show für das Publikum. Das würde sich durch den kurzen Abstand zu seinem letzten Kampf schlich blödsinnig anfühlen. Stattdessen rollte er ein wenig die Schultern, schüttelte seine Arme aus, um die Muskeln zu lockern. Fast als habe er gleich vor, einen Marathon zu starten. Selbst den in manchen Situationen so anstrengenden Stadionsprecher blendete er – zudem völlig unbewusst – gänzlich aus. Ihm wurde mit einem Mal deutlich klar, wie es Sandra mit der Presse und den Paparazzi ging.

    Cays Stimme drang erst wieder zu Ryan durch, als er seine Position erreicht und den Blick erneut geradeaus, in die Richtung, aus der seine Gegnerin gerade erschien, richtete.

    „Bühne frei, Ann Trevors. Das ist deine große Chance, dir einen Namen zu machen.“

    Es näherte sich eine Frau um die zwanzig und somit älter als Ryan. Dank der Informationen vom Rival-Check wusste er, dass sie auch länger als er selbst im Trainergeschäft tätig, allerdings nicht mit demselben Talent gesegnet war.

    Zehn Prozent Talent. Neunzig Prozent harte Arbeit. Dies hatte er Kirlia und Moorabbel vor einiger Zeit gepredigt. Und er rief es sich in solchen Augenblicken immer wieder ins Gedächtnis. Das redete er sich bloß nicht ein. Er hatte einen Erheblichen Teil der Nächte in seinem Trainerleben schlaflos verbracht. Hatte keine Uhrzeit mehr gekannt, wenn der Eifer, sich selbst, seine Strategien und natürlich allen voran seine Pokémon zu verbessern, die Oberhand über die Vernunft gewonnen hatte. Es war eine harte Zeit gewesen. Dass der Erfolg so früh in seiner Karriere gekommen war, bedeutete nicht, dass er kein Lehrgeld gezahlt hatte. Doch all dies hatte ihn innerhalb von gerade mal zwei Jahren zu einem der ganz Großen gemacht. Und seine Partner hatten jüngst ebenfalls hart geschuftet. Hier und heute begutachteten sie alle die Früchte ihrer Arbeit.

    Trevors war eine sehr sportliche Erscheinung. Ein hautenges Shirt in perlweiß schmiegte sich an einen äußerst schlanken und trainierten Oberkörper. Man würde nicht ein Gramm Fett daran vermuten. Das Haar im krassen Kontrast war ein halblanger Stufenschnitt in Pechschwarz, wies aber im Licht der warmen Mittagssonne einen gewissen Glanz auf. Trotz eben dieser sommerlichen Temperatur trug sie einen dünnen Schal um ihren Hals, ähnlich wie Sheila. Nur war ihrer ebenfalls schwarz, genau wie die engen Halbhandschuhe. Ein schwarzer Gürtel hielt graue Slim Jeans, die über eleganten Schuhen mit Absatz endeten.

    „Ich habe eine Bitte.“

    Sie hatte ihren Kampfplatz noch nicht einmal erreicht. Scheinbar hatte sie es eilig, jene vorzutragen. Folglich musste sie sehr wichtig sein.

    „Schone mich nicht, wie diesen Biggs.“

    Ryan hob das Kinn und sog Luft ein, während sich seine Augen etwas verengten. Sie hatte es also erkannt. Dabei war er sicher gewesen, nebst den Zuschauern auch die meisten Trainer erfolgreich getäuscht zu haben. Scharfsinnig war sie also schon mal.

    Er antwortete nicht. Weder stimmte er zu, noch wies er das Anliegen zurück. Er verdeutlichte seine Intention auf anderem Wege. Seine Hand fuhr äußerst langsam an die Pokéballtasche an seinem Gürtel, öffnete diese jedoch sehr schnell und ruckartig. Kaum hatte er eine ballförmige Kapsel herausgefischt, war sie bereits vergrößert und er setzte, wie zuvor gegen Chester Rome einen Fuß vor. Ann Trevors schmunzelte motiviert und nickte kaum merklich.

    „Danke“, flüsterte sie, sodass nicht einmal Carparso es hörte. Sie würde wie ein echter Gegner behandelt werden. Genau wie gewünscht. Nun musste sie sich dieses Gefallens aber auch würdig erweisen.


    Verglichen mit den meisten Achtenfinal-Matches oder auch dem vorangegangenen zwischen Terry Fuller und Mitch Morrow war der Tanz zwischen Kirlia und Knogga, der bereits länger andauerte als eben der jüngst beendete Kampf, spürbar von anderer Natur. Keine kräftigen Schwergewichte, keine blitzschnellen Nadelstiche, kein Knallen und Krachen und keine Explosionen. Und dennoch hielt es die Leute auf den Rängen ausnahmslos in Atem. Das Knogga von Ann Trevors war mit seiner natürlichen Waffe so geschickt, wie ein Samurai mit einem Kampfstab. Er wirbelte den Knochen pausenlos umher, ging in schnelle und präzise Schlagkombinationen, oder warf ihn wie einen Bumerang. Für die Psychodame auf der anderen Seite war das Wort Tanz gar wortwörtlich gemeint. Die vielen Übungen, die sie mit Ryan und auch zu großen Teilen allein aus Eigeninitiative investiert hatte, zahlten sich nun aus. Elegante Schritte und Drehungen, Wechsel des Standbeines, Gleichgewicht und Körperbeherrschung bewahrten sie ein ums andere Mal vor einem Treffer. Melody gefiel diese Darbietung besonders, während Audrey die Arme verschränkt hielt und nur fassungslos den Kopf schütteln konnte. Kaum zu glauben, was die Kleine da abzog. Aber kreativ und anschaulich war es auf jeden Fall. Sie konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Es war Kirlias eigener Stil, aber Ryan hatte gar nicht erst daran gedacht, ihr einen Riegel vorzuschieben. Er war sogar überzeugt, damit so machen Gegner kalt erwischen und überfordern zu können. Diese Vermutung bestätigte sich gerade.

    „Sondersensor!“, wies Ryan an, als das maskierte Pokémon auf der Gegenseite seinen Knochen erneut auf Kirlia schleuderte. Die brauchte keine Anweisung, um dem auszuweichen. Das tat sie schon die ganze Zeit über mit ihrem Tanz von selbst. Sie drehte sich mehrfach auf einem Absatz, ging dabei in die Knie, wie eine Eiskunstläuferin und beugte sich in die Tiefe. Dadurch duckte sie sich unter dem Knochmerang hinweg, der jedoch sofort aus dem toten Winkel umkehrte und erneut nach ihr zielte. Aber das war schon zuvor misslungen. Wie üblich zielte der zweite Versuch auf die Beine, weshalb sie mit einem eleganten Sprung drüber hüpfte. Sie staunte selbst, welche Wunder es bewirkte, wenn man, wie von Ryan erdacht, den Gegner beobachtete, seinen Kampf las und war gleichzeitig beeindruckt über dessen Stumpfsinn, immer wieder dasselbe zu versuchen. Kein Wunder, dass ihr Trainer so große Stücke auf diese Tugend legte. Noch in der Luft änderte sich Kirlias gesamte Körpersprache. Ihre Gestalt glimmte weiß und purpurfarben auf, transferierte die Energie rasch zwischen ihre dünnen Ärmchen und erschuf eine kleine Lichtkugel. Als diese Zielgenau Richtung Knogga, das gerade seine Waffe aufzufangen gedachte, geworfen wurde, surrte und vibrierte die Luft hinter der Druckwelle, sodass sie eine verschwommene Schneise hinterließ. Obwohl nicht greifbar, fühlte sich der Einschlag an, wie der von einem physischen Körper. Es wäre sicher weniger schmerzhaft, von einem Tauros gerammt zu werden. Knogga war ein Leichtgewicht und wurde von dem Energiestoß hilflos durch die Luft geschleudert. Der Aufprall sah für das unerfahrene Auge sicher übel aus, doch die Trainer und auch Cay wussten, dass Trevors und ihr Partner gar Glück gehabt hatten, dass selbiger mit dem Schädel aufgeschlagen war. Der schützte nämlich vor solchen Krafteinwirkungen noch viel mehr, als man ohnehin vermuten würde.

    „Trevors und Knogga müssen sich langsam was einfallen lassen. Das Kirlia spielt unten quasi nur mit ihnen.“

    Sah das wirklich so aus? Wusste er das Psychopokémon wahrlich nur so halbgar zu honorieren? Hatte der Typ eigentlich eine Ahnung, wie hart es war und wie viel Konzentration es jeden Augenblick benötigte, diese Bewegungen so anwenden zu können? Und einen Kampf sinnlos in die Länge zu ziehen, nur um den Gegner bloßzustellen war beileibe auch nicht Ryans Ding. Wo bliebe denn da der Respekt für selbigen? Solch eine Arroganz verabscheute er.

    Besagter Gegner rappelte sich dennoch mühsam auf, suchte als allererstes nach seinem Knochen. Ohne diesen war er doch nur ein halbes Knogga. Er stemmte sich auf seine Waffe, um wieder auf die Beine zu kommen. Dieses Kirlia besaß deutlich mehr Kraft, als man vermuten konnte. Aber das war nicht untypisch für Psychopokémon. Bei denen trog der Schein noch viel häufiger als bei den meisten anderen Arten. Sie hatte ihn gar nicht mal oft erwischt. Das eben war erst der zweite Treffer gewesen, den er so richtig gespürt hatte. Dafür hatte er bislang nur Fehlversuche zu verbuchen.

    Trevors war weit weniger überrascht hiervon. Das war es schließlich, was die Datenbanken zu Ryan Caraprso gesagt und auch was sie selbst beobachtet hatte. Ihn und ein paar weitere – von denen ironischerweise noch alle im Turnier kämpften – hatte sie bereits gestern im Rival-Check nachgeschlagen. Carparsos Strategie war für gewöhnlich das Bollwerk. Zunächst Absichern und dann plötzlich Ausfallen, sobald der Gegner ungestüm wurde, Schwachstellen offenbarte. Bollwerk war in Kirlias Fall vielleicht nicht der passendste Begriff, aber stimmte seine Strategie auch mit ihr unterm Strich mit den Informationen überein. Was er jedoch nicht berücksichtigte, so hoffte sie zumindest, war die eine Attacke, die bei eigenem Misserfolg gar noch stärker wurde. Gern hätte sie noch etwas damit gewartet, aber der nächste Schlag könnte für Knogga schon der letzte sein.

    „Wir gehen jetzt auf´s Ganze!“, kündigte sie ihrem Kampfer an, was den von Ryan und auch ihn selbst in Alarmbereitschaft versetzte. Mal sehen, was sie sich ausgedacht hatte.

    „Los, Fruststampfer!“

    Scheiße.

    Das kleine Boden-Pokémon griff seinen Knochen wie eine Hellebarde und schlug das untere Ende auf den Sand. Es ging eine Erschütterung durch den Boden, die fast einem Erdbeben gleich kam. Das erreichte man mit Fruststampfer nur dann, wenn das volle Potential ausgeschöpft wurde. Kirlia verlor nicht nur das Gleichgewicht und ging gänzlich zu Boden, sie war an Ort und Stelle paralysiert. Unfähig, sich zu erheben oder vom Fleck zu bewegen. Die Vibrationen waren so stark, dass ihre Muskeln davon schmerzten und sie eine immense Last auf sich zu spüren glaubte, die sie gen Boden drückte.

    Die Erschütterungen hielt glücklicherweise nicht sehr lange an und als sie nachließ, gedachte Ryan Knogga mit Spukball auf Distanz zu halten, doch der antwortete schon mit Knochmerang. Den Arm hatte sie bereits ausgestreckt, doch wurde sie am Kopf getroffen, bevor sie die Energie hatte sammeln können. Melody schlug bei dem Anblick die Hände vor den Mund. Das hatte echt böse ausgesehen. Ein Mensch würde nach so einem Schlag mindestens eine mittelschwere Gehirnerschütterung davontragen. Für einen Moment war Kirlia hilf- und orientierungslos und ihr Gegner schon im Ansturm auf sie. Wenn er sie im Nahkampf erwischte, dann war sie erledigt.

    „Zauberschein, Kirlia!“

    Das grazile Geschöpf priorisierte den Angriff über das Aufstehen. Sie durfte keine Sekunde verlieren und mit dieser Technik reichte eine ungefähre Richtung. Über ihr blitzten winzige, weiße Sterne auf, die wie Diamanten in der Sonne funkelten. Binnen einer Sekunde stieß ihr Körper gleichfarbiges Licht ab und entsandte die Sternchen als scharfkantige Geschosse in Richtung Knogga. Dieses jedoch ließ seinen Knochen vor seinem Gesicht rotieren wie einen Propeller, um sich zu schützen. Zauberschein prallte tatsächlich zum Großteil ab. Einige Geschosse verfehlten das Ziel auch gänzlich, aber zumindest die Beine wurden getroffen sowie die Augen geblendet, was den Ansturm deutlich verlangsamte. Genug, sodass sie wieder aufstehen konnte. Ihre Haltung war deutlich schwerer und wackliger als zuvor.

    „Knogga ist nicht zu bremsen. Woher zum Geier kommt eigentlich dieser plötzliche Kraftschub?“, fragte sich Cay und ausnahmsweise stufte Ryan seine Frage als berechtigt ein. Er selbst würde jedoch nicht vor dem Ende des Kampfes darüber spekulieren.

    „Seher!“

    Die Augen der Psychodame leuchteten blau auf. So hell, dass sowohl die Pupillen als auch das Weiß gänzlich davon verschluckt wurden. Über ihr flimmerte die Luft für wenige Sekunden in einem schwachen, gleichfarbigen Schein. Weiter geschah nichts. Ab jetzt tickte die Uhr für Ann Trevors. Der Attacke Seher konnte man fast unmöglich entgehen und zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde sie vermutlich genügen, um ihren erschöpften Partner zwei Mal auf die Matte zu schicken. Sie musste die erste Runde zügig beenden.

    „Vorwärts, Knochenhatz!“

    „Gedankengut.“

    Gerade begann das Licht zu schwinden, da schlossen sich Kirlias Augen in aller Seelenruhe. Ihre Körpersprache zeugte ebenfalls von einer solchen, als stünde sie friedlich an einem entlegenen Küstenstrand, anstatt auf einem Schlachtfeld, um der Melodie von Wind und Meer zu lauschen. Irgendwo in ihrem Geiste fiel ein Tropfen auf einen See. So sanft und im Einklang, dass er nicht einmal Wellen schlug.

    Knogga setzte zum Sprung an und holte aus. Ein Schlag auf die Schädeldecke würde sie sofort in die Ohnmacht schicken. Der Erfolg blieb aus. Kirlia tänzelte auf Zehenspitzen zur Seite. Jede Bewegung plötzlich wieder so ruhig, so gekonnt und anmutig, dass jede Ballerina vor Neid erblassen würde.

    „Seh ich da richtig?“, fragte Cay nun. War diesmal vermutlich rhetorisch gemeint.

    „Kirlia weicht mit geschlossenen Augen aus, als könne sie noch immer sehen. Ich pack´s nicht, die Kleine steckt voller Überraschungen!“

    Weitestgehend meinte man, Jubel und Begeisterungsschreie haben für den Moment einer fassungslosen Ruhe Platz gemacht, die nur vereinzelt von verzücktem Raunen durchbrochen wurde. Aus der Zuschauerperspektive kam es einem vor, als wüsste Kirlia bereits im Voraus, wohin Knogga mit seiner Waffe zielte. Er schwang sie so schnell, wild und dennoch kontrolliert, dass es absurd erschien. Aber einen anderen Schluss ließ das, was man dort unten beobachtete, nicht zu. Er wuchtete den Knochen auf ihr Standbein, welches jedoch verlagert und außer Reichweite gezogen wurde. Die Arme sorgten für Balance, während der Kopf in den Nacken fiel. Knogga drehte sich, wirbelte sein Instrument, zu dessen Musik seine Gegnerin tanzte, um den eigenen Torso, um die Schulter, wechselte die Schlaghand, indem er es über den schmalen Nacken rollen ließ. Er sprang fast im Sekundentakt auf sie zu und über sie, machte Ausfallschritte, griff nie zwei Mal aus derselben Richtung an. Diese Technik sowie Körper- und Waffenbeherrschung hatte etwas Akrobatisches, doch dieser Ausdruck wurde dem Geschick Knoggas bei Weitem nicht gerecht. Allein, es fruchtete nicht. Kein Treffer wollte gelingen.

    Mitten in einer Drehung machte Kirlia ein unnatürliches Hohlkreuz, sodass der Knochen ins Leere sauste. Sie spreizte die Beine auseinander und duckte sich unter dem nächsten Schlag, zu dem das Boden-Pokémon gar gesprungen war, streckte sich wieder gerade und wandte dann sowohl Kopf als auch Unterleib in schnellen Bewegungen hin und her, um einem Hagel aus stoßartigen Angriffen zu entgehen. Jeder davon wurde mit einem Schritt beantwortet, der die entsprechende Körperausrichtung erlaubte, sowie von schnellen Atemstößen begleitet.

    „Ki-, Ki-, Ki-“, stieß sie bei jedem Ausweichschritt aus. Die Arme in rascher Folge mal vor der Brust angelegt, mal über den Kopf oder von sich gestreckt. Ryan hatte beim Training einmal gesagt, dass sie ihre Gegner regelrecht an der Nase herumführen könnte. Nun beherrschte sie dies sogar ohne einen eigenen Angriff. Dann fand Knogga jedoch eine absolut unerwartete Lücke. Er huschte einmal durch ihre Beine, befand sich urplötzlich hinter Kirlia und setzte zum Sprung an. Der Schlag auf den Hinterkopf schien unausweichlich.

    „Schutzschild!“

    Genau wie schon Sumpex in der vorherigen Runde, wurde sie rechtzeitig von einer grünen Lichtkuppen umschlossen, an welcher der Knochenhatz abprallte, als sei es ein Gummischläger. Erst jetzt wandte sich Kirlia wieder zu ihrem Gegner – die Augen erneut mit bläulichem Licht gefüllt. Das Match war entschieden.

    Trevors unternahm einen letzten Versuch. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte sie damit eine Wende erreichen können, doch nun war es zu spät. Auch wenn sie es noch nicht wusste.

    „Zerschlag den Schild mit Durchbruch!“

    Aus der unüberwindbaren Wand war auf einmal zerbrechliches Glas geworden. Es splitterte in tausend Teile und Knogga landete direkt vor Kirlia, die nun jeglichen Schutz verloren hatte. Sie benötigte keinen mehr. Gut, dass Ryan bis zur letzten Sekunde gewartet hatte, um diese Karte auszuspielen.

    Die Blicke beider Kämpfer trafen sich. Noch ehe eine weitere Knochenhatz folgen konnte, knisterten plötzlich kleine, hellblaue Blitze um und über Kirlia, die eine Pirouette vollführte. Nur einen Wimpernschlag später, mit dem ihre Augen ein mythisches Licht ausstrahlten, zuckte ein gewaltiger Blitz am wolkenlosen Himmel, umspielte eine gleichfarbige Lichtsäule, die über Knogga hereinbrach. Begleitet von weiteren Leuchtgeschossen regnete der Seher auf ihn nieder, und schlug tiefe Löcher in den Boden, wirbelte Staub auf, als würde er unter einem Steinhagel begraben. Ein solcher wäre ein vergleichsweise glimpfliches Aus gewesen. Seher war es nicht.

    „Der Seher ist rechtzeitig eingetroffen! Knogga hat die volle Breitseite von einer der tückischsten Attacken der Psychopokémon kassiert!“

    Die zudem mit Gedankengut verstärkt worden war. Es gab wohl kaum jemanden, dem nicht bewusst war, was das für den Ausgang bedeutete. Falls doch, wurde mit dem Lichten der Staubsäule jegliche Zweifel beseitigt. In dem Krater zuckten noch einige kinetische Blitze, ebenso wie um einen ermatteten, sandfarbenen Körper, der von einem knöchernen Schädel gekrönt wurde. Seine Trainerin seufzte geschlagen.

    „Knogga ist kampfunfähig. Runde eins geht an Kirlia!“, ließ der Schiedsrichter verlauten, worauf nun endlich der Beifall, den bislang keiner zu spenden gewagt hatte, eintrat. Melody sprang einmal auf und ballte beide Fäuste, ließ sich aber gleich wieder in den Sitz sinken. Ihr fiel wahrlich ein Stein vom Herzen. Audrey konnte über ihr eifriges Mitfiebern nur schmunzeln, aber es gefiel ihr absolut. Auch sie applaudierte Ryan und Kirlia.


    Ann Trevors wirkte durchaus etwas niedergeschlagen, doch zweifelte Ryan nicht an der immensen Dankbarkeit, die sie Knogga für seinen Einsatz zollte. Beinahe war ihnen noch die Wende gelungen, mit der wirklich niemand mehr gerechnet hätte. Immerhin hatte Kirlia trotz ihres Sieges ordentlich einstecken müssen, hatte auch durch ihre eigenen Attacken an Kraft eingebüßt und war nun beinahe am Ende. Jetzt musste sie einen raschen Sieg erzwingen, um gegen Carparsos zweites Pokémon ausgeglichene Verhältnisse zu schaffen. Die Vermutung lag nahe, dass er wieder Sumpex wählen würde. Da empfahl sich ein gewisses Pokémon ganz besonders.

    „Gib alles, meine Liebe“, hauchte sie ihrem Pokéball zu und warf ihn hoch in die Luft. Aus dem Lichtblitz materialisierte sich ein Wesen, das Ähnlichkeiten zu Meganie aufwies. Schwerer Körper mit vier kurzen Beinen, ein langer Hals mit kleinem Kopf und ganz offensichtlich ein Planzenpokémon, wie die riesigen Bananenblätter am Rücken verrieten. Die muteten etwas wie Flügel an und tatsächlich gehörte Tropius auch den Flug-Typen an.

    Gegen diesen Gegner hatte Kirlia gar eine Geheimwaffe in der Hinterhand, an der sie beide vor dem Turnier eifrig gearbeitet hatten. Sie hatte beim Training mit Sandras Drachen nämlich ein gewisses Interesse am Element des Feuers entwickelt, das ihr Trainer nur allzu gerne unterstützt hatte.

    Die Frage war nur, ob sie überhaupt noch in der Lage war, diesen Kampf zu bestreiten. Unmittelbar nachdem ihr Sieg über Knogga offiziell gemacht worden war, hatte sie sich auf die Knie sinken lassen und stützte den Oberkörper noch mit einem Arm, während der andere gegen die Schläfe gedrückt wurde. Beide zitterten vor Erschöpfung. Ihre Gattung war nun bestimmt nicht dafür gebaut, viele Treffer wegstecken zu können, weshalb die Schlussoffensive fast ihre Reserven aufgebraucht hatte. Sie keuchte schwer und hielt nur mit Mühe ein Auge geöffnet.

    „Trevors schickt Tropius ins Rennen. Fragt sich nur noch, ob es gegen Kirlia antritt oder Carparso ein anderes Pokémon an den Start schickt“, kommentierte Cay die Lage. Vernünftig wäre wohl letzteres, auch wenn dies ein 1 zu 1 bedeuteten würde. In diesem Zustand konnte das grazile Psychopokémon bestenfalls wenig ausrichten. Ein schneller K.O. würde zudem den Gegner neu motivieren und die entscheidende Runde gar erschweren.

    Sie sah über die Schulter, suchte den Blick ihres Trainers. In einer Minute würde sie sich schon gar nicht mehr erinnern, was sie darin gelesen hatte. Ihre Gedanken wurden jedoch in eine präzise Richtung gelenkt. Ob er es war, der besagte Richtung vorgab oder sie es unbewusst ganz allein tat, würde sie ebenfalls nicht mehr bestimmen können.

    Sie könnte hier und jetzt das Handtuch werfen. Könnte sich verdiente Ruhe gönnen und würde trotzdem für ihren Sieg und die erbrachte Leistung gelobt und respektiert werden – während der dusslige Lehmhüpfer, der bereits seine letzte Evolutionsstufe erreicht hatte, ihr den Rest abnahm.

    Was für ein erniedrigender Gedanke.

    Sie beugte sich vor, drückte sich nach oben und sammelte alle Kraft in ihren zittrigen Beinen. Sie klapperten wie dünne Äste im Wind und man vermutete, sie würden wie genau solche brechen. Sie bewies ihnen allen das Gegenteil. Einmal aufrecht, nahm sie aller Müdigkeit und dem Schwindel zum Trotz wieder ihre tänzerische Kampfposition ein und sang ihren Namen. Dann begann ihr ganzer Körper grell zu leuchten.


    „Seht ihr das, was ich sehe?!“, frönte es aus den Stadionlautsprechern. Einem anfänglichen, ehrfürchtigen Raunen folgte Jubel und Euphorie. Es geschah nur selten, dass sich ein Pokémon während eines Turnierkampfes weiterentwickelte. Bestimmt gab es einige unter den Zuschauern, die solch ein Schauspiel noch nie mit eigenen Augen gesehen hatten.

    Ryan grinste und breitete die Arme aus. Was ihm während seiner Vorbereitung nicht gelungen war, glückte noch während des laufenden Wettbewerbes. Spät, aber nicht zu spät. Das Potential zur Entwicklung hatte Kirlia schon in ihren ersten gemeinsamen Trainingseinheiten gezeigt. Und nun war sie endlich über ihren eigenen Schatten gesprungen, hatte den Willen gefasst, ihre eigenen Grenzen zu verschieben und hier und jetzt stärker zu sein, als sie je von sich selbst erwartet hätte. Ihre Gestalt blieb schmal und grazil, wuchs aber in die Höhe und die Beinchen schienen zu verschwinden. Dafür wurde die untere Körperhälfte etwas weiter. Schließlich wurde der Lichtschleier abgestoßen, und offenbarte das frisch entwickelte Psychopokémon.

    „Guardevoir“, säuselte es mit damenhafter Stimme.

    „Wie geil ist das bitte? Carparsos Kirlia hat sich vor unseren Augen zu Guardevoir entwickelt!“

    Cay hielt es kaum aus. Und auch die Mehrzahl im Publikum kam aus dem Staunen nicht heraus.

    Von der Größe abgesehen hatte sie sich äußerlich gar nicht mal stark verändert. Die Frisur war nun an der Seite getrimmt, hing ihr aber noch immer tief ins Gesicht. Ihre Augen lugten geradeso darunter hervor, leuchtend orange, wie auch der stumpfe Dorn in ihrer Brust. War außerdem üblicherweise blattgrün, doch in ihren besonderen Fall ozeanblau, genau wie die federleichten Arme, die sanft im Wind wogen. Der schneeweiße Körper war nun länger und mutete wie ein edles, langes Kleid an. Man übersah leicht, dass sie tatsächlich hauchdünn über dem Boden schwebte. Sie drehte sich einmal anmutig und hob mit beiden Händen den Schleier an ihrem Unterleib etwas an, vollführte einen hoheitlichen Hofknicks. Als Begrüßung für sie alle hier, deren Aufmerksamkeit ihr in diesem Augenblick galt.

    Ryan zückte schnell und möglichst unauffällig seinen Pokédex, der ihm das Bild in den natürlichen Farben der Spezies zeigte. Allgemeine Informationen zu Guardevoir brauchte er hier und jetzt allerdings keine. Er scannte nach ihren Attacken – und wurde angenehm überrascht.

    „Das Duell lautet Tropius gegen Guardevoir“, verkündete der Schiedsrichter nun und hob seine beiden Fahnen.

    „Beginnt!“

    Trevors ließ sich das nicht zweimal sagen und ergriff die Initiative. Auf ihren Befehl warf das Pflanzenpokémon die Schwingen nach vorn, wodurch sich je ein Luftschnitt aus jeder davon löste und auf Guardevoir zuhielt. Ryan gab keine Anweisung, also tat sie, was sich bereits bewährt hatte. Sie faltete die Arme über den Kopf und drehte sich aus der Flugbahn der ersten Luftklinge. Dann deutete sie eine Verbeugung an, um sich vor einer anderen zu ducken und ging über in eine rasche Folge aus zwei, drei Schritten, sodass auch die restlichen an ihr vorbeirauschten und feine Schneisen in den Boden schlugen. Cay sprach aus, was auch Ryan gerade dachte. Nämlich, dass ihre Bewegungen gar noch präziser, schneller und routinierter aussahen als zuvor. Der Gegenseite passte das natürlich gar nicht in den Kram. Dann musste sie eben mehr aufbieten.

    „Jetzt Blättersturm!“

    „Lichtschild.“

    Sie hob lediglich einen Arm, um die goldene Energiewand zu erschaffen, bewahrte aber eine tänzerische Pose. Es war, als versuche man mit einem Skalpell einen Felsen zu zerteilen. Die abertausenden Blattklingen prasselten unbarmherzig auf Guardevoir nieder, doch der Schild erlitt nicht mal einen Kratzer. Dabei waren sie so scharf, dass jedes einzelne, dass sie verfehlte, gar hochkant im Boden stecken blieb.

    Ann musste den Druck aufrecht erhalten, bis der Schutzschild raus war. Vorher bot Guardevoir wenig Angriffsfläche. Mit Samenbomben sollte es eigentlich funktionieren. Dieser Attacke konnte selbst diese Tänzerin nicht ausweichen. Die braunen und grünen Kügelchen, die Tropius ausspuckte, konnte man wirklich nur mit dem Wort Sperrfeuer beschreiben und Ryan war sich ziemlich sicher, mehr als das sollten sie auch gar nicht darstellen. Das Dauerfeuer, so hatte er nachgelesen, war Trevors bevorzugte Strategie. Es gab wohl kein treffenderes Wort. Und nun, da er das wusste, warum ihr nicht geben, was sie wollte?

    „Jetzt Schutzschild.“

    Ein wenig wünschte sich Guardevoir schon, ihre neuen Kräfte endlich testen zu können. Sie übte sich in Geduld. Ryan wusste am besten, wann der rechte Zeitpunkt gekommen war. So hüllte sie sich erneut in die grüne Energiekuppel und saß den Beschuss unbeschadet aus.

    War das der Moment, auf den Trevors gewartet hatte? Es machte den Anschein. Sie dirigierte Tropius direkt über Guardevoir und stürzte sich auf sie herab. Der Blick nach oben schmerzte der Psychodame in den Augen, als der Schild zusammenfiel. Sie sah direkt in die Sonne, wurde völlig geblendet und konnte unmöglich einen Gegner ausmachen. Jetzt bot sich die Chance auf einen Überraschungsangriff.

    „Los Tropius, Aero-Ass!“

    Dass ein so großes und schweres Pokémon diese Technik erlernt hatte, verdiente durchaus Respekt. Die Idee hinter der Angriffskette ebenfalls. Eine halbe Schraube wurde vollführt, ehe Tropius urplötzlich verschwand und nahe über dem Boden aus einer anderen Richtung auf das Ziel zuschoss. Aero-Ass war zu schnell zum Ausweichen und Guardevoir ohnehin geblendet. Außerdem konnte sie sich gerade mit keinem ihrer Schilde davor schützen. Musste sie allerdings auch nicht.

    „Zeit für Donnerblitz!“

    Trevors blieb das Wort im Hals stecken. Wieso Donnerblitz? Würde sie die Frage aussprechen, so könnte Ryan erklären, dass Kirlia schon bei ihrer ersten Begegnung imstande gewesen war, Ladestrahl einzusetzen. Beim Weiterentwickeln veränderten sich manchmal die natürlichen Instinkte einiger Gattungen, sodass sie eine Technik vergaßen, die dafür durch eine andere ersetzt wurde. Nicht selten eine stärkere. Wenn sich Dragonir beispielsweise zu Dragoran entwickelte, wurde aus Drachenwut mit einem Mal Flammenwurf und so ziemlich jedes Wasserpokémon vergaß Aquaknarre zugunsten von Hydropumpe. Guardevoirs Fall war aber zugegebenermaßen ein sehr glücklicher. Die Blendung veranlasste sie – so wie es geplant und trainiert worden war – eigenständig dazu, den Angriff so weit und großflächig anzuwenden, wie nur irgend möglich. So musste sie gar nicht genau zielen. Die Blitze zuckten und schlugen in alle erdenklichen Richtungen zwischen ihr und Trevors. Nur einer davon traf sein Ziel, was jedoch vollkommen ausreichte, um für einen schmerzhaften Absturz zu sorgen. Man hätte befürchten können, der Stromschlag würde ein Loch in ihrem Blattflügeln hinterlassen. Das war nicht eingetreten, aber war die getroffene Stelle schwarz angeschmort und rauchte, was im Aufgewirbelten Sand rasch unterging.

    „Woah, Carparso hat mal wieder was aus seinem Hut gezaubert und kaltschnäuzig zurückgeschossen“, hielt Cay aufgedreht fest. Der massige Körper rumpelte über das Kampffeld direkt auf das grazile Psychopokémon zu. Ein perfekter Moment für die zweite Geheimwaffe.


    Mach dich vorsichtig damit vertraut. Wenn du soweit bist, atme tief durch und konzentriere dich.“

    Ryan kniete neben dem von Hundemon rasch entzündeten Lagerfeuer. Er streckte Kirlia eine einladende, nicht auffordernde Hand entgegen. Dieses Element war nicht das ihre. Kein Instinkt würde sie bei der Handhabung der Flamme unterstützen. Das hier musste sie aus eigenem Willen und eigenem Geschick bewältigen. Beides war glücklicherweise in Massen vorhanden. Sie zögerte nicht einen Moment. Nahm sogar Ryans Hand fest an. Der hatte Mühe, die Verblüffung zurückzuhalten, sich selbst und somit auch sie nicht von der Aufgabe abzulenken. Das war die zutraulichste Geste, die er bislang von ihr empfangen hatte.

    Kirlia hockte sich nahe ran, stützte sich mit den Armen und beugte sich weit nach vorn. Sie wollte die Wärme auf ihrer Haut spüren. Das Knistern sollte tief in ihre Ohren vordringen können. Der verkohlte Geruch von ihren Nüstern aufgenommen werden. Sie ging so nahe, bis die Hitze auf der Haut brannte und rührte sich so lange nicht weiter, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, die schmalen Ärmchen ausgestreckt und sachte vom Körper gespreizt. Sie versuchte die Energie dieser Naturgewalt vorsichtig an sich heranzuführen, bis sie greifbar würde. Vielleicht würde es ähnlich funktionieren, wie bei Spukball. Diese dunklen Energien waren für sie weitaus leichter wahrzunehmen und zu steuern. Aber auch das Feuer..., ja, sie fühlte es. Nicht nur auf der Haut, sondern in ihrem Geiste. Es wärmte ihre Gedanken, befeuerte ihre Sinne. Die Augen wurden langsam geöffnet. Das Licht der Flamme spiegelte sich hell in ihnen. Aber nebst diesem erkannte Ryan noch etwas darin.

    Feuer zerstört, aber es ist nicht böse. Es ist unersättlich, aber nicht unaufhaltsam. Es lässt sich zähmen und bändigen.“

    Offen gesagt wusste er nicht, ob diese Worte auch nur im Geringsten hilfreich waren. Er fühlte lediglich, dass er aktiv zusehen sollte. Dass er für Kirlia da sein, dies hier mit ihr gemeinsam angehen und sie dies auch spürte lassen musste. Ihr Blick ließ nicht einen Moment von der Flamme ab. Gar ging sie noch ein Stück näher, sodass man befürchten musste, ihr Haar würde gleich Feuer fangen. Die Arme wurden vorsichtig, aber weder zaghaft noch zögerlich ausgebreitet und umfassten die Flamme schließlich von beiden Seiten, als wolle das Psychopokémon sie abschirmen. Nein, das war das falsche Wort. Die unsagbar langsame Annäherung verhieß eher, dass Kirlia sie in ihre Hände schöpfen wollte, wie Wasser aus einem Brunnen. Sie griffen in das offene Feuer. Ryan stand der Schweiß auf der Stirn. Er hatte den Atem angehalten. Seine Partnerin dagegen atmete völlig ruhig. Sie zitterte oder zuckte kein bisschen. Jede Bewegung war sanft und ruhig. Geführt von einem ausgeglichenen Geist in perfekter Balance. Sie sah sich im Dunkeln vor einer Quelle aus Licht. Orange und Rot luden sie ein. Sie streckte ihre Hand aus. Das Licht wurde heller, blendete, verscheuchte ganz plötzlich jeden Schatten. Es fühlte sich warm an. Kirlia blinzelte.

    Ki-Kirlia?“

    Sie sah sich um, als wüsste sie nicht, wo sie sich befinde. Noch ehe sie sich erinnerte, bemerkte sie, wie ihr Trainer zufrieden lächelte. Es war absurd, dass sie als letzte bemerkte, wie das Feuer über ihren ausgestreckten Händen tanzte.


    „Und jetzt Magieflamme!“, rief Ryan, wobei er eine Hand in die Höhe hievte. Guardevoir drehte sich einmal um die eigene Achse und beschrieb mit ihren Armen weite Kreise in der Luft. Ihnen folgten wie von Zauberhand erschienene Funken, sie sich vor ihrer Brust zu einer kleinen Flamme bündelten. Sie war unscheinbar und wenig beeindruckend. Die Feuerbrust, die sich mit einer simplen Bewegung des Handgelenks daraus entlud, schien absurd und niemals dieser Streichholzflamme entspringen zu können. Magie eben – wie sich nebst der natürlichen, gewohnten Farbe auch an dem schwachen Violett-Schimmer erahnen ließ. Magieflamme fegte Tropius geradewegs in die andere Richtung. Das Laubgefieder fing sofort Feuer und ließ Klagelaute folgen.

    Ryan befahl, dem mit Sondersensor ein Ende zu setzen. Zunächst war es dasselbe Spiel wie vorhin. Ein Aufglimmen des gesamten, schmalen Körpers in Weiß und Purpur. Dann ein Lichtpunkt in der Handfläche. Die daraus resultierende Energiewelle war allerdings mit dem Vorgänger nicht vergleichbar. Die verzerrte Luftströmung war nun höchstens für einen Blinden nicht mehr deutlich und war zudem im gleichen Maße mächtiger. Ein unsichtbares Rihornior schien über das Kampffeld zu wüten und den Boden vor sich umzugraben. Eine wüste Schneise arbeitete sich schnell und unaufhaltsam Richtung Tropius voran. Ann Trevors wusste das nicht zu stoppen, noch dem zu entrinnen. Der Sondersensor beförderte ihren Partner in einer perfekten horizontalen Flugbahn bis in die Begrenzungsmauer. Eine weitere Stelle, die heute von Rissen und Schlaglöchern gezeichnet wurde. Ihr Verursacher regte sich nicht weiter. Der uniformierte Mann an der Seitenlinie eilte heran, um das Resultat zu bestätigen, das ein jeder längst vermutete.

    „Tropius ist kampfunfähig, Guardevoir gewinnt. Ryan Carparso zieht in die nächste Runde!“

    „Das war das Aus für Tropius und Ann Trevors. Caraprso steht im Halbfinale!“

    Das siegreiche Pokémon ließ den Jubel diesmal fast gänzlich an sich abprallen. Sie starrte einen nicht existenten Punkt in der Ferne an, während sich vor ihrem inneren Auge das wiederholte, was gerade geschehen war. Und konnte kaum fassen, dass sie es gewesen war, die es vollbracht hatte. Dieses Gefühl, diese Kraft, diese Kontrolle, das Gleichgewicht. Was sie vor einigen Wochen noch höchstens zu träumen gewagt hatte, war nun Realität. Und es fühlte sich so simpel an. Als habe sie es schon tausendfach geübt. Tag für Tag, den ganzen Tag. Ein Instinkt war in ihr erwacht, der ihren Geist befreite, ihn klärte und zu einer Waffe machte.

    Sie blickte in ihre Handfläche. Das klang viel zu radikal und gewalttätig für diese Kraft. Sie vermochte zwar zu verwüsten, doch das war nicht ihr Zweck, nicht ihre Natur. So wollte Guardevoir sie auch nicht einsetzen. Wie sie es nun nennen wollte, konnte sie hier und jetzt nicht entscheiden, doch das war nicht tragisch. Sie hatte keine Eile damit. Dafür wusste sie sehr wohl, bei wem sie sich zu bedanken hatte.

    Schritte erklangen hinter ihr. Sie ließ die Hand sinken und atmete einmal tief aus, bevor sie sich zu ihrem Trainer wandte, zu dem sie plötzlich nicht mehr hochsehen musste. Wie viel Stolz konnte ein einziger Blick denn vermitteln? Hätte sie je eine Familie gehabt, so hätte sie gewünscht, von ihrem Vater so angesehen zu werden.

    Was dachte sie denn da? Sie hatte doch eine Familie. Ihr wichtigster Teil, ihre ganze Welt stand gerade hier vor ihr. Ryan straffte unerwartet die Haltung und streckte die Brust aus. Der eine Arm wurde auf den Rücken gelegt, der andere ihr mit einer weit ausholenden Bewegung angeboten, um die Hand zu ergreifen. Als fordere ein Edelmann eine Dame zum Tanz. So adrett und anmutig wie Guardevoir würde er niemals auftreten können, aber Ryan hoffte dennoch, dass die Geste ihr gefallen möge.

    Für einen kurzen Augenblick meinte er, noch ein letztes Mal Kirlia vor sich zu sehen, wie sie ihr mädchenhaftes Kichern hinter einer Hand noch zu verstecken versuchte und sich für den Misserfolg ein winziges Bisschen schämte, wie der Rotschimmer auf den Wangen verriet. Das Lächeln erwiderte sie jedoch offenherzig. Sie vollführte ein weiteres Mal einen edlen Knicks und legte ihre Hand in seine. Er leitete sie ein paar Schritte weit und hob dann ihren Arm zum Himmel. Der darauffolgende Applaus entsprang nicht nur allein der Begeisterung. Er zeugte von Hochachtung. Vor ihrem Können, vor allem aber ihrem Charakter und ihrer Persönlichkeit.

    Kapitel 50: Wild Eyes


    Andrew überlegte auf dem Rückweg durch den Tunnel noch, ob es nicht dumm und ungerecht gegenüber Kangama gewesen war, sie so brachial kämpfen zu lassen. Quasi dazu hinzuleiten. So leichtsinnig ihre Gesundheit als Rohstoff für seine Strategie zu verwenden. Das war eigentlich nie seine Art gewesen.

    Ja, der Gegenschlag hatte ihm das Match gewonnen, aber hätte es diesen und vor allem die Methoden, um ihn möglichst wirksam zu machen, unbedingt gebraucht? Sicher nicht. Und dieser Bella eine Botschaft zu senden, war nun wirklich kein plausibler Grund für solche Vorgehensweisen.

    Andrew merkte, dass er seine Gedanken von ihr fernhalten musste. Sie sorgte bei ihm unweigerlich für schlechte Laune und verleitete zu für ihn untypischen Entscheidungen. Umso mehr wollte er den gestrigen Abend ungeschehen machen. Nur war dies weder in diesem Fall möglich, noch war es das hinsichtlich des gerade gewonnenen Kampfes. Alles, was ihm blieb, war ein Versprechen an die Zukunft. Nämlich, sich nicht mehr von einer käuflichen Agentin, die für eine kriminelle Organisation ihn und seine Freunde bedrohte, beeinflussen zu lassen. Von niemandem sollte er das, aber besonders von ihr nicht.

    Schritte hallten ihm entgegen. Irrsinniger Weise vermutete Andrew sofort Bella als deren Quelle und schwor sich, entgegen seines eben beendeten Monologes, ihr eine zu verpassen. Vielleicht würde es sie gar so sehr überraschen, dass sie weder dem Schlag ausweichen noch ihn vergelten würde.

    Hätte er nur einen Moment aufmerksam nachgedacht, wäre Andrew gleich klar gewesen, dass diese Schritte nicht zu ihr gehören konnten. Es gab schließlich eine viel naheliegendere Möglichkeit. Ryan hatte beide behandschuhten Fäuste in den Hosentaschen und einige seiner blonden Haare direkt im Gesicht hängen, sodass die marineblauen Augen kaum herausstachen. Sein Anblick, seine Körperhaltung, sein starr geradeaus gerichteter Fokus ließen Andrew schmunzeln. Er hatte schon immer etwas an sich gehabt, wenn er motiviert war. Etwas Packendes, Mitreißendes, dem man sich nicht entziehen konnte.

    Ohne ein Wort zu sprechen und die Blicke direkt zu kreuzen, passierten die beiden Trainer einander. Nur ein kommentarloses Abklopfen mit dem Faustrücken wurde dem Vorbeigehenden gewidmet.

    Draußen wurde einmal mehr die Menge heiß gemacht und euphorisiert.

    „Seid ihr bereit für das letzte Achtelfinal-Match, meine Freunde? Seid ihr bereit für Ryan Carparso?“

    Cay war es definitiv, seiner Stimme nach zu urteilen. Und das Publikum schloss sich dem einstimmig an. Sowie mit Jubel und Applaus geantwortet wurde, ertönte die Musik und das Lichtspiel im Tunnel begann. Ryans Silhouette marschierte geradewegs, wie schon eben, als der Andrew abgelöst hatte und als hätte er den Zeitpunkt bewusst angepasst, trat er mit dem Höhepunkt der Lightshow ins Freie. Er breitete befreit die Arme aus, präsentierte sich. Er war bereit. Und sie alle sollten bereit für ihn sein, wie Cay es so treffend formuliert hatte. Ryan Carparso stand in den Startlöchern, lud sie ein, sich von ihm begeistern und berauschen zu lassen und tat für sich genau dasselbe. Über ihm skandierten einige Menschen frenetisch seinen Namen, was ihn dazu veranlasste, sich zu drehen und der Gruppe einen dankenden Wink zukommen zu lassen. Er ballte eine Faust in die Höhe und ging bereits einige Schritt rückwärts, trat den Weg an seinen Kampfplatz an. Weiter posierte er nicht für die Massen. Die paar Sekunden mussten genügen. Für sie und auch für ihn.

    Ryan schämte sich nicht dafür, diese Art der Aufmerksamkeit zu genießen. All diese Menschen bezeugten, dass er nicht irgendjemand war. Er war Ryan Carparso und dass hatte etwas zu bedeuten. Darauf wollte er immer stolz sein können. Das hatte er nebst ein paar anderen Dingen kürzlich auch seinem Vater versprochen. Wie sehr er doch daran glauben wollte, dass er ihm an solchen Tagen zusah. Es würde ihn nicht minder beflügeln als das Beisein Melodys und gewissermaßen auch all seiner Rivalen.

    Er hatte seine angestrebte Position gerade erreicht, als Cay bereits seinen Gegner ankündigte. Dieser verließ den Tunnel, ohne irgendwie für die Leute zu posieren. Er schüttelte und lockerte die Arme ein wenig und dehnte den Hals, was sein halblanges, moosgrün gefärbtes Haar erst nach links, dann nach recht fallen ließ. Sein schwarz-weiß kariertes Shirt war so weit, dass ein Windstoß es sicher genauso sehr flattern lassen würde, wie Sandras Cape. Wirkte für Ryans Geschmack außerdem sehr unpassend mit den Slim Jeans und Chucks an den Füßen. Eine markante Erscheinung stellte er auf jeden Fall dar.

    Ryan hatte einen Fuß vorgesetzt und den Körper halb zur Seite geneigt, als wolle er selbst kämpfen. Er machte mit dieser Haltung deutlich, dass er nicht nur bereit, sondern kaum zu zügeln war. An seinem Platz angekommen, schüttelte Chester Rome auch die dünnen Beine noch etwas, ehe er wortlos nach einem Pokéball griff. Passte Ryan ganz gut in den Kram. Er hatte selbst nichts zu sagen und förderte daher ebenfalls stumm eine Kapsel zutage. Lediglich Stadionsprecher und Schiedsrichter erhoben die Stimmen, um das Match zu eröffnen.

    Melody lehnte sich euphorisch nach vorn wie ein aufgeregtes Kind. Just bevor Ryan seinen ausgewählten Kämpfer befreite, schenkte er ihr einen letzten Seitenblick, begleitet von einem Zwinkern, ehe er sich endgültig auf den Kampf fokussierte und vor dessen Ende keine Ablenkung mehr zulassen würde. Sie schmunzelte fast verträumt und Audrey wurde neben ihr zu einer Ähnlichen Reaktion verleitet. Ryan hatte wirklich Glück mit der Kleinen.

    Ein weißer Lichtblitz entließ daraufhin Sumpex auf das Kampffeld, während Rome mit einer offen gesagt ziemlich hässlichen Vogel-Dame antrat. Die gesamte Körperhaltung war gekrümmt und das Federkleid mit verschiedenen Tönen aus braun und grau nicht mit anderen Flugpokémon wie Andrews Schwalboss vergleichbar. Selbst das Washakwil von Terry machte da einen ordentlicheren Eindruck. Der Kopf war zudem komplett federlos und besaß einen fiesen, gekrümmten Schnabel.

    „Das Duell lautet Sumpex gegen Grypheldis. Chester Rome wird sich in erster Linie vor Eishieb in Acht nehmen müssen, hat aber den Vorteil des Fliegens“, legte Cay ungewohnt analytisch die Fakten dar. Mit Sicherheit würde Grypheldis bevorzugt aus der Ferne angreifen. Der Nahkampf sah den Geier eindeutig im Nachteil.

    Dieses Pokémon gehörte zwar den Flug-, aber auch den Unlicht-Typen an, was sogar Hammerarm wieder attraktiv aussehen ließe. Dafür musste Sumpex allerdings einen Weg finden, die Distanz zum Gegner zu überbrücken, bevor dieser in die Höhe flüchtete. Oder aber, er machte es anders herum und lockte Grypheldis heran. Ryans marineblauen Augen huschten ein paar Mal zwischen den Pokémon hin und her. Der Blick verschärfte sich, in seinen grauen Zellen ratterten tüchtig die Zahnräder. Sein Matchplan stand mit dem Fahnensignal von der Seitenlinie aus fest.

    „Grypheldis, fang an mit Luftschnitt!“

    Es war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass Chester Rome etwas von sich gab. Seine Stimme klang jünger, als die Erscheinung hatte vermuten lassen. Er musste in etwa in Ryans Alter sein, reichte akustisch jedoch näher an Cody, als an ihn selbst.

    Der Greifvogel schwang sich mit strammen Flügelschlägen senkrecht in die Luft, wie ein Kletterer, der Leitersprossen hinauf hechtete. Dann wurden die übermäßig breiten Schwingen nach vorn geworfen und entsandten Windklingen in Sumpex´ Richtung.

    „Schutzschild.“

    Das Amphibium stemmte die Vorderläufe auf den Boden und erschuf eine smaragdgrüne, halbtransparente Lichtkugel um den eigenen Körper. Der Luftschnitt prallte daran ab, wie Zweige, die auf Gestein geschlagen wurden.

    Ryan befahl dann sofort, den Gegner mit Aquahaubitze vom Himmel zu holen. Es war der einzige Angriff, mit dem er Grypheldis in dieser Höhe würde erreichen können. Aquawelle war dagegen ein Flächenangriff, dem der Geier leicht entgehen konnte.

    Allerdings gelang auch mit Sumpex´ stärkster Attacke kein Treffer. Sie benötigte einige Sekunden der Konzentration, die dem Flugpokémon absolut genügten, um sich entsprechend vorzubereiten und im passenden Moment auszuweichen.

    „Wie erwartet hat Carparso Schwierigkeiten mit dem Höhenvorteil von Grypheldis“, hielt Cay fest, den Ryan ab hier zu ignorieren, nach Möglichkeit sogar auszublenden versuchte. Wenn er wirklich so viel Ahnung von den hier teilnehmenden Trainern sowie deren Taktiken hatte, sollte er eigentlich wissen, dass Ryan nicht so naiv war, sich von diesen halbgaren Angriffen einen Erfolg zu versprechen. Er arbeitete auf etwas hin.

    Rome hatte nun zwei seiner Schlüssel Techniken beobachten können. Ab hier konnte Ryan ihn mit etwas Glück manipulieren. Der war seinerseits aber nicht dumm und nutzte den Moment, den das Wasserpokémon auf der anderen Seite zum Verschnaufen brauchte – in dieser Hinsicht glich Aquahaubitze Attacken wie Hypertrahl oder Gigastoß – clever aus. Nicht um einen Treffer zu landen, sondern um Grypheldis zu stärken. Er befahl Ränkeschmied.

    Die Taktik war offensichtlich. Sumpex waren hart im Nehmen, aber vergleichsweise langsam in Reaktion und Bewegung. Auf das Geduldsspiel, es immer wieder aus der Ferne mit Nadelstichen zu bombardieren, hatte Rome jedoch keine Lust. Er konnte weiter die sichere Distanz wahren und den Gegner gleichzeitig deutlich schwerer treffen. Den nächsten würde er sicher nochmal mit Schutzschild blocken, doch der hielt nicht ewig. Genaugenommen konnte diese Technik überhaupt kein zweites Mal in kurzen Abständen funktionieren.

    „Nochmal Luftschnitt, los!“

    Der Ablauf glich, wie erwartet, dem ersten Zug dieses Matches. Die Attacke des Geiers prallte an einer schimmernden Lichtkugel ab und hinterließ ein verwundbares Sumpex.

    „Jetzt Finsteraura!“

    Dunkelviolette Energieranken schlangen sich um das triste Federkleid, hüllten Grypheldis fast bis zur vollkommenen Schwärze ein. Mit einem nach vorne werfen des kahlen Kopfes und einem schrillen Kreischen wurde jene Energie abgestoßen und fegte fast über das gesamte Kampffeld. Das Amphibium am Boden hatte keine Möglichkeit zur Flucht und auch nicht zur Abwehr. Jetzt schon wieder Schutzschild anzuordnen, wäre ein sinnloses Unterfangen.

    Ryan ließ die Attacke über Sumpex ergehen. Der senkte den Kopf und brummte verbissen. Diesen Angriff spürte er und das nicht zu knapp. Die verstärkte Finsteraura fühlte sich an, wie iene eiskalte Faust, die seine Lungen in sich einschloss und gleichzeitig seine Haut mit Gefrierbrand überzog. Sie konnte ihn gar fast in die Knie zwingen. Aber nur fast.

    Er hielt energisch dagegen, hütete sich zudem davor, Grypheldis aus den Augen zu lassen. Wenigstens eines hielt er stur offen. Die dunkle Energie, die ihn malträtierte, verhinderte eine klare Sicht, doch konnte er die Gestalt an Himmel dank des hellen Sonnenscheins am heutigen Tag deutlich ausmachen.

    „Nochmal Aquahaubitze!“, vernahm er Ryans Stimme. Ob es diesmal gelingen konnte, wenn Sumpex selbst für den Gegner kaum sichtbar war? Den Versuch war es bestimmt wert. Und was bliebe sonst schon für eine Alternative? Sumpex wusste jedenfalls keine, doch er dachte auch nicht allzu angestrengt darüber nach. Dafür fehlte es an Zeit und Notwendigkeit. Er überließ das seinem Trainer und vertraute seinem Urteil. Wenn Ryan befand, dass Aquahaubitze hier die richtige Antwort war, so war sie es auch.

    Den Kopf anzuheben und nach Grypheldis zu zielen war dann aber unter dieser Pein doch schwerer, als erwartet. Die blaue Kugel vor seinem geöffneten Maul hatte die erforderliche Größe erst erreicht, als die unnatürlich lange wütende Finsteraura endlich zu versiegen begann und sein azurblauer Körper zumindest teilweise wieder sichtbar wurde.

    Bei Chester Rome zuckten die Mundwinkel nach oben. Carparso schien nicht dazuzulernen. Versuchte so krampfhaft, seine stärkste Attacke auszuspielen, obwohl der erste Versuch bereits gescheitert war. Wobei er verstehen konnte, wenn sie seine einzige Option war. Naja, ihm sollte es recht sein. Dadurch konnte er seinen Trumpf gar früher als gedacht ausspielen. So er vermutlich nicht ausreichen würde, um einen schnellen Sieg zu erzwingen, würde er das Match sehr weit in seine Richtung lenken, sodass der Rest vergleichsweise einfach zu handeln sein sollte.

    „Grypheldis, Sturzflug!“

    Nun war es Ryan, dessen Mundwinkel nach oben zuckte.

    „Warte noch.“

    Warten? Worauf warten? Nein, halt. Das war der falsche Gedankengang. Nicht hinterfragen, einfach vertrauen. Zweifel oder übereifrige Eigeninitiative würden Sumpex das Match kosten. Und das kam überhaupt nicht in Frage. Er wollte siegen und dazu musste er vertrauen! Seine eigenen, orangefarbenen Augen mit den winzigen Pupillen zielten fest konzentriert auf Grypheldis. Es war exakt derselbe Ausdruck darin zu lesen, wie bei seinem Trainer. So verbissen er auch standzuhalten versuchte, funkelte darin eine unerschütterliche Konzentration auf, als stecke unter dieser dicken, azurblauen Haut kein Fleisch und Blut, sondern eine Maschine. Könnte man Sumpex nun aus der Nähe beobachten, würde man vermutlich meinen, er sei von Sinnen.

    Der Geier ging in einen weitläufigen Looping über, um an Schwung zu gewinnen. Grypheldis funkelte bereits mit einem unheilvollen Grinsen auf das Amphibium herab. Ebenso wie seinem Trainer war auch ihm klar, dass sie einem weiteren Geschoss dieser Sorte ohne Weiteres würden ausweichen können. Zurückbleiben würde ein Sumpex in seinem aller verwundbarsten Zustand, ohne jegliche Möglichkeit, ihrer stärksten Attacke zu entgehen.

    Als der Looping langsam endete und sich Grypheldis in eine tiefe Flugbahn begab, glimmte ihr Körper in einen äußerst dünnen Schleier aus himmelblauem Licht auf. Schon in der nächsten Sekunde entflammte es und schuf die Illusion eines brennenden Phönix, der sich auf sein Opfer stürzte. Das blaue Licht folgte nun als Schliere nach dem zum Geschoss umgewandelten Greifvogel, der auf seinen Gegner zuhielt und nur noch den Moment abpassen musste, in dem er mit einer Rolle auszuweichen hatte.

    Ryan konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. Das lief ja fast zu glatt.

    „Geh über zu Aquawelle!“

    Sumpex teilte das Gefühl nach dieser Anordnung. Das Blitzen in seinen Augen entflammte wie ein Funke, der auf vertrocknetem Gras landete. Und er setzte etwas in ihm frei.

    Die Wasserkugel wurde nicht abgefeuert, sondern auf den Boden geschmettert, worauf sich unnatürlich gewaltige Wassermassen daraus auftürmten und als Welle das Halbe Kampffeld überrollten. Die Hälfte vor Sumpex, wohl gemerkt. Und Grypheldis konnte in seinem Tempo nicht mal im Ansatz schnell genug reagieren und wieder nach oben ziehen, um dem zu entgehen. Rome wollte noch den Befehl genau hierzu geben, doch da war seine Partnerin schon von dem Blau verschlungen und fortgespült worden.

    „Oooohhh, Carparso hat Rome komplett hops genommen und den Spieß umgedreht!“, drang es von weiter oben dann doch an Ryans Ohr. Das Publikum johlte nicht minder überrascht und begeistert auf. Die Wende hatte wirklich keiner auf den Tribünen kommen sehen. Mit Ausnahme von Audrey vielleicht. In den Katakomben gab es zudem ein paar, welche die Taktik bereits zumindest im Groben erahnt hatten. Ryan hatte früh gezeigt, dass er sich mit Schutzschild verteidigen konnte und zudem simuliert, dass er fast gezwungen war, zur Aquahaubitze zu greifen. So hatte er Rome zu einem forschen Angriff verleitet, der bitterböse bestraft wurde. Ein bisschen hatte Ryan hier durchaus gepokert, aber es war Gemeinwissen, dass die meisten voll entwickelten Flugpokémon Sturzflug oder Himmelsfeger ihren Trumpf nannten. Und mit dem Einsatz von jenem hätte Chester Rome in diesem Fall unbedingt noch warten müssen, bis er weniger riskant ausgeführt werden konnte.

    Die Lehre würde ihm für´s nächste Mal nützen, aber heute nicht mehr. Ryan ordnete nun den von Grypheldis zu fürchtenden Eishieb an. Sumpex pflügte schneller durch das seichte Wasser, das noch vor ihm lag, als man erwarten würde. Der Geier hatte gerade erst wieder festen Boden unter sich gespürt und die Chance gesehen, sich aufzuraffen, da wurde schon ein Amphibium-großer Schatten über sie geworfen und eine Faust, an dessen Knöchel sich bereits Eiskristalle bildeten auf ihren Torso geschmettert. Das seichte Wasser wurde aufgeschlagen, als sei ein Wailmer gesprungen. Gleich darauf schien Arktos über das Kampffeld zu fliegen. Blinzelte man zufällig genau in diesem Moment, so war mit dem Öffnen der Augen plötzlich alles davon bis zum letzten Tropfen gefroren. In der Luft tanzten einige Schneeflocken Von oben erinnerte das Gebilde an eine Blume, die eben noch sommerlich erblüht und nun von einem eisigen Wintermantel umschlossen war. Im Zentrum hiervon stand Sumpex über Grypheldis, musste seinen Arm sowie seine Beine gar mit einem Ruck aus dem Eis befreien. Der Greifvogel kreischte panisch, würde das aus eigener Kraft nimmer schaffen.

    „Und Hammerarm!“

    Die riesigen Fäuste wurden über dem Kopf gefaltet. Nun gab es bloß ein einziges Wort, mit dem man die orangefarbenen Augen Sumpex' beschreiben konnte. Und zwar Entfesslung. Ein Biest war erwacht. Und es wollte, es musste zerstören. Rome vermochte ab hier nichts mehr zu tun. Das Geräusch des so rasch wieder zertrümmerten Eises war sicher noch außerhalb des Stadions zu hören. Das gesamte Gebilde aus gefrorenem Wasser erzitterte bis in die äußersten Spitzen und fiel in sich zusammen. So in etwa musste es aussehen, wenn sich ganze Klippen von Eisbergen lösten und ins Meer stürzten. Und Grypheldis hatte nun auch eine ungefähre Ahnung, wie es war, unter solchen begraben zu werden.


    Während alle anderen Zuschauer ausnahmslos ihre Begeisterung mittels Jubel, Pfeifen und Klatschen bekundeten, wollte Melody alles auf einmal tun. Tatsächlich tat sie aber nichts von alldem. Augen und Mund standen weit offen und sie machte fast den Eindruck, in einer Schockstarre festzusitzen. Audrey stimmte in den Applaus mit ein – wenn auch nicht so ausgefallen wie die Leute um sie herum, da sie keinen anderen Ausgang erwartet hatte – und gluckste amüsiert, als der Blick auf ihre Sitznachbarin fiel. Die fing ihn auf und suchte nach den richtigen Worten für ihre Verblüffung, als seien sie kaum zu finden. Dabei waren es doch sehr einfache.

    „Was war das denn?“, wählte sie letztendlich und schien noch nicht ganz verarbeitet zu haben, was Ryan und Sumpex gerade dargeboten hatten.

    „War da eben was Unbegreifliches dabei?“, neckte Audrey mit einem Achselzucken. Eigentlich hatte Ryan nicht wirklich anders gekämpft als am Vortag. Sie fasste dennoch zusammen, was genau gerade passiert war, da sie sich denken konnte, wie dieses Match auf jemanden, der mit Pokémonkämpfen wenig bis gar nicht vertraut war, gewirkt haben mochte.

    „Er hat seinen Gegner manipuliert und gelenkt, um einen verwundbaren Moment zu kreieren. Dann hat er durchschaut, wie er angreifen würde und – wortwörtlich – eiskalt gekontert. So einfach ist das.“

    Melodys Stirn runzelte sich, als habe Audrey in einer anderen Sprache erklärt.

    „Er hat nach so kurzer Zeit schon gewusst, was sein Gegner vorhat und ihn so einfach geködert?“

    Ihre Augen wanderten auf den siegreichen Trainer, der an Sumpex herangetreten war und zweifellos Lob aussprach. Ihm war klar, dass seinem Partner ob der zunächst stumpfsinnig wirkenden Befehle Zweifel gekommen sein mussten. Dennoch hatte er gehorcht und perfekt geschaltet, genau das umgesetzt, was er für sie beide vorgesehen hatte.

    „Was für eine Auffassungsgabe“, hielt Melody schließlich fest. Es war nicht nur dieser allein, aber doch primär ihr zu verdanken, dass er den Kampf so rasch für sich hatte entscheiden können. Natürlich war ihr diese schon gestern aufgefallen, als er die Schwächen und Lücken von Pandagro und Digdri erspäht und genutzt hatte. Aber in keinem dieser vorangegangenen Kämpfe hatten die Verhältnisse und Voraussetzungen so schlecht für ihn gestanden. Und dennoch hatte er gerade den kürzesten Kampf aller Achtelfinals bestritten. Ein Zeichen, dass er erst jetzt ernst machte?

    „In Johto kennt sie wirklich jeder, der was mit Pokémon am Hut hat.“

    Sie war auch Hintergrund des Spitznamens, unter dem Ryan vorwiegend in seiner Heimatregion bekannt war und passenderweise erläuterte Cay diesen sogleich, damit auch jeder in Graphitport und vielleicht bald schon ganz Hoenn, ihn ebenfalls erfuhr.

    „Das hab ich so echt nicht kommen sehen, aber dieser Typ sieht einfach Möglichkeiten, wo die meisten nur eine Wand sehen. Genau deshalb nennt man ihn auch Ryan mit dem göttlichen Auge.“

    Ganz offen gesagt war das kein Spitzname, der Ryan sonderlich gefiel. Er war zu lang, zu aufbauschend und ging nicht so flott von der Zunge, wie Eisenblut, Märtyrer oder der Rastlose – um mal die zu nennen, die er in diesem Turnier aufgeschnappt hatte. Aber letztendlich sorgte ein solcher Titel immer für Publizität und bekanntlich war die in jeder Form gut.

    „Mit dem göttlichen Auge“, wiederholte Melody murmelnd und begann dann breit zu lächeln.

    „Eigentlich ganz passend.“

    Streng genommen waren es beide Augen und nicht nur eines, das er von Lugia erhalten hatte. Sei es drum. Sie erhob sich nun endlich ebenfalls und stimmte mit Audreys Applaus ein. Ließ sogar ein lautes Pfeifen ertönen, indem sie zwei Finger in den Mund steckte.

    Ryan und Sumpex winkten nochmals rasch in alle Richtungen. In die von Audrey und Melody ganz zum Schluss, als habe er ihren Pfiff vernommen. Sie hielt kurz inne. Ihr Herz machte einen Satz, als er hier, in diesem Augenblick noch sie allein suchte – und fand. Und diese von Lugia geschenkten Augen waren hier und jetzt so stürmisch und leidenschaftlich. In ihnen lag die See. Sie wurde lebendig und schien motiviert, alle Landmassen des Planeten neu zu sortieren. Solch eine Kraft...

    Ihr Lächeln wurde noch einmal breiter. Dann hauchte sie ihm mit der Hand einen Kuss zu. Er machte eine Geste, als würde er ihn auffangen und erwiderte das Lächeln.


    Inzwischen war der Wartebereich des Stadions erheblich menschenleerer geworden. Fühlte sich jedes Mal komisch an, wenn es so plötzlich so viel mehr Platz gab. Es sorgte immer für noch mehr Anspannung und Knistern in der Luft. Spreu und Weizen waren getrennt und die potenziellen Gegner keine Unbekannten mehr. Jeder hatte mindestens ein paar Karten, wenn nicht sogar die ganze Hand auf dem Tisch. Und nur jene, die noch nicht alles gezeigt hatten, würden auch den Weg ins Halbfinale schaffen.

    Ryan wurde bei seiner Rückkehr in die Katakomben wenig überraschend von zwei strahlenden Gesichtern erwartet. Nebst jenen und seinem eigenen gab es nur noch fünf weitere, wobei er das von Bella glücklicherweise nirgends zu entdecken vermochte. Oder war das nicht eher ein schlechtes Omen? Wer wusste schon was sie in diesem Augenblick trieb? Solange sie hier war, wusste er darum wenigstens Bescheid.

    Sandra vertrieb die düsteren Gedanken und beteuerte rasch ihre Verblüffung. Auf dem Papier hatte wahrlich fast alles gegen ihn gesprochen, sodass dieser Sieg an sich schon beeindruckend war. Hinzu kam die Art und Weise, wie Ryan ihn erlangt hatte. Die Drachenmeisterin wirkte geradezu hingerissen. Andere Trainer – in diesem Fall Ryan und Andrew – im Kampf aufblühen zu sehen, hatte sie schon damals erheitert, als sie beide in ihrer Arena angetreten waren. Und die Jungen wiederum faszinierte es, wie sie sich am Erfolg anderer so erfreuen konnte. Das traf tatsächlich auf die Mehrzahl der Arenaleiter zu. Ryan zuckte nur mit den Achseln und lächelte, als wäre es töricht gewesen, etwas Anderes zu erwarten. Nicht einmal die Hände nahm er aus den Hosentaschen.

    Andrew sparte sich die Worte. Sie brauchten keine. Momente wie diese hatte sie mehrfach zuvor erlebt und er wollte sie auch nicht aussprechen, solange sie beide noch im Rennen waren – sprich, schon in der nächsten Runde gegeneinander antreten könnten.

    Eben auf die Bekanntgabe dieser und der drei anderen Paarungen wurde nun gewartet. Zuvor wurde den Zuschauern eine 30-minütige Pause gegönnt, um den Vorrat an Speisen und Getränken aufzustocken oder abzuwerfen. Gleichzeitig wurden die vorher nur sporadisch behobenen Schäden am Kampffeld so gründlich bereinigt, wie es in dieser Zeitspanne möglich war. Einige Matches hatten ihre Spuren definitiv zu weitreichend hinterlassen.

    Während der andauernden Pause hatte Ryan einen Abstecher zu Melody und Audrey erwägt. Doch selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ihre Plätze nicht verlassen hatte, entschied er sich dagegen. Er wollte nicht den Anschein erwecken, ständig Gesellschaft zu suchen, als habe er nichts, worauf er sich konzentrieren müsse. Stattdessen suchten er und Andrew einen Raum auf, der im Volksmund als Rival-Check bekannt war. Während großer Turniere und natürlich auch den regionalen Ligen wurden diverse, für Trainer zugängliche Terminals errichtet, mit denen man auf die Datenbank der PTG sowie auf einen Teleporter zugreifen konnte. Ein Pokémon auszuwechseln war jedoch nicht das Anliegen der beiden Johtonesen. Stattdessen würden sie in der Datenbank nach Informationen zu ihren Konkurrenten suchen.

    In prestigeträchtigen Wettbewerben, zu denen selbst kleinere als der Summer Clash noch gehörten, wurden stets alle Trainer, deren Pokémon, Kampfresultate und haufenweise Statistiken erhoben und festgehalten, die an solchen Terminals eingesehen werden konnten. Auch Arenakämpfe flossen hier mit ein. Der Raum war fast leer. Nur ein strubbeliger Kurzhaarschopf ragte über einen der Bildschirme hinaus. Konnte eigentlich nur dieser Morrow sein. Schon verwunderlich, dass sich sonst keiner die Zeit nahm. Jetzt, da das Teilnehmerfeld so übersichtlich geworden war, machte es durchaus Sinn, die Pausenzeit hierfür zu nutzen. Ryan und Andrew schenkten ihm allerdings keine Beachtung, sondern nahmen selbst Platz und begannen zu tippen. Keine offensichtliche zumindest, doch Ryan beschwor sich, aufmerksam für jeden Laut und jede Bewegung aus seiner Richtung zu sein. Diese Vorsicht war ihm mittlerweile fast in Fleisch und Blut übergegangen. Ungeachtet der blauhaarigen Attentäterin mit rubinroten Augen, die sich ein Stück weit entfernt an einer Ecke den Flur runter positioniert und ihn stets im Blick hatte.

    Jamie Gregory war der erste Name, der eingetippt wurde. Dieser hatte immerhin Andrew und Audrey in der Qualifikation hinter sich gelassen. Den sollte man auf dem Zettel haben.

    Unter einem Bild des Gesuchten wurden alle Teilnahmen bei Turnieren verzeichnet, die selbst einen Rival-Check boten. Zwei Liga-Teilnahmen in Hoenn, eine in Sinnoh. Jedes Mal mindestens unter die besten Sechzehn gekommen. Bei bestimmt zehn kleineren Turnieren angetreten, von denen er eines hatte gewinnen können und ansonsten fast immer bis ins Halbfinale vorgedrungen war. Spezialist für Pokémon, die Explosion, Finale oder Abgangsbund beherrschten, las man. So, so. Erklärte zumindest den Spitznamen ein Stück weit. Was wohl die Strategie dahinter sein mochte? Bestimmt sprengte der nicht einfach stumpfsinnig seine eigenen Pokémon in die Luft, um das des Gegners mit ins K.O. zu reißen. Zumindest ein einziges Mal musste er klar siegen, um am Ende triumphieren zu können. Wenn es bei einem offiziellen Kampf durch Explosion oder Finale zu einem Unentschieden kam, verlor der Trainer, der die Attacke angeordnet hatte, nämlich automatisch.

    Neben dieser Liste fand sich ein Dropdown-Menü der Pokémon, mit denen er angetreten war. Durch einen Klick auf das entsprechende wurden präzisere Daten mitgeteilt, wie das Geschlecht, die Anzahl offizieller Kämpfe, sowie die der gewonnenen und verlorenen. Zudem das Datum, an welchem das Pokémon zum ersten Mal an seiner Seite registriert wurde und eine Netzgrafik, die Schätzwerte zu Schnelligkeit, Ausdauer, Offensiv- und Defensivwerten zeigte.

    So wurden nach und nach die Konkurrenten durchgegangen und das neue Wissen mit dem aus den eigenen Beobachtungen zusammengeworfen. In Ryans Fall häufte sich da erheblich mehr an. Beim Rival-Check galt es allerdings immer zu beachten, dass Daten wie die Stärke der Pokémon keine sichere Handfestigkeit besaßen. Es handelte sich lediglich um Einschätzungen der Statistiker. Und Andrew betonte gerne, dass er keiner Statistik blind vertraute, die er nicht selbst gefälscht hatte. Zudem konnte es immer neue Pokémon im Team eines Trainers geben, die noch nicht erfasst waren. Für Ryan, der bislang ausschließlich mit Sumpex und Kirlia angetreten war, die hier ihre ersten offiziellen Matches bestritten, traf das schließlich selbst zu.

    Andrew erkundigte sich nach einiger Zeit, als die Liste der einzusehenden Trainer zuneige ging, ob Ryan denn Terrys Daten aufrufen wolle. Das verneinte der Blondschopf jedoch. Es war nicht vonnöten, kannte er dessen Pokémon doch in und auswendig. Er hatte öfter gegen Terry gekämpft als gegen Andrew und somit jeden anderen Pokémontrainer, der ihm einfiel. Und er wechselte sie niemals. Er besaß nur genau diese sechs. Hatte sie schon bei ihrem ersten Treffen mit sich geführt. Damals waren lediglich noch nicht alle voll entwickelt gewesen. Und um ihre Stärke wusste Ryan definitiv besser Bescheid als irgend so ein verbohrter Zahlenfanatiker.

    Aus einem Impuls heraus tippte er stattdessen Bella Déreaux ins Suchfeld ein. Keine Treffer. Was Anderes hatte man wohl nicht erwarten dürfen.


    Gerade lehnte sich Ryan etwas nachdenklich in seinem Stuhl zurück, da ertönte über die Stadionlautsprecher eine bekannte Schlachtenmusik, zu welcher sich die Stimme Cays dazugesellte.

    „So, da sind wir wieder, Freunde. Bitte Plätze wieder einnehmen und anschnallen. Wir starten in wenigen Minuten Richtung Viertelfinale durch!“

    Ryan und Andrew tauschten nur einen kurzen Blick und verließen die Rechner wortlos. Die andere Person von vorhin war bereits kurz nach ihrer Ankunft wieder gegangen.

    Die jungen Trainer fanden Sandra bei ihrer Rückkehr im Gespräch mit Audrey, die ihren Platz kurzweilig verlassen hatte. Was bedeutete, dass Mila ich gerade in ihrer Nähe aufhielt, damit sie auch ja nicht das Ziel eines Agenten werden konnte. Das hoffte Ryan zumindest. Eine andere, spezielle Agentin war nach wie vor hier im Wartebereich zugegen. Saß in der hintersten Ecke, lässig, geradezu träge und hielt sich unauffällig. Vielleicht nur, damit sie niemand erspähte, wenn sie an ihrem Flachmann nippte.

    „Wunschgegner ausgesucht?“, flachste sie mit einem schelmischen, stichelnden Blick. Ryan erinnerte gern an den gestrigen Abend zurück, an dem er bereits alle genannt hatte. Andrews Liste sah deutlich kürzer aus, bestand sie doch nur noch aus Bella. Zum gestrigen Zeitpunkt hatte das noch anders ausgesehen.

    „Das Leben ist kein Wunschkonzert. Ein Turnier schon gar nicht“, entgegnete er allerdings nur, um keine Verbissenheit auszustrahlen, die der Gruppe oder anderen Konkurrenten auffallen könnte.

    „Nun wieder so ernst?“

    Sandras Frage unterlag durchaus ein gewisser Tonfall, der etwas anzudeuten versuchte. Und der Gefragte verstand gleich. Er hatte sich kurz vor dem Summer Clash offen ihr gegenüber zu diesem Thema geäußert. Angesichts der Tatsache, dass es hier längst nicht mehr nur um Sieg und Niederlage oder gar den Spaß ging, sollte sie eigentlich selbst verstehen, warum in seinen Augen die Zeit für Scherze allmählich vorbei war. Er antwortete jedoch zwar mit demselben Unterton, aber nicht so offensichtlich, dass Audrey stutzig werden könnte. Sie sollte von allem hier am besten gar nichts erfahren. Es würde sie nur in Gefahr bringen.

    „So und nicht anders geh ich ein Match an.“

    Er schaffte sogar ein engagiertes Grinsen. Sollte er das Los gegen Bella ziehen, würde es sich von einem Ohr zum anderen strecken. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihr gegenüberstand.

    Cay lenkte schließlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die großen Bildschirme, die sogleich die Paarungen für das Viertelfinale anzeigen sollten. Der Turnierbaum und die entsprechenden Kästchen waren bereits eingeblendet. Nur wartete man nur noch darauf, dass die Gesichter der Teilnehmer in ihnen erschienen.

    Eben das passierte nur Sekunden später.

    „Mitch Morrow eröffnet diese Runde erneut. Und das ausgerechnet gegen den Champ von Johto, Terry Fuller. Anschließend folgen Ann Trevors und Ryan Carparso“, erörterte der Stadionsprecher. Diesmal war Ryan also früh dran. Und wieder war sein Gegner niemand Vertrautes. Seit einigen Minuten aber zumindest niemand völlig Fremdes mehr. Diese Ann hatte nicht nur hier in Hoenn, sondern auch in Kanto und Johto Orden gesammelt, war aber offensichtlich nicht an Sandra vorbeigekommen. Zwei Mal hatte sie in der Arena von Ebenholz verloren und somit nie an der Silberkonferenz teilnehmen können. Auf dem Indigo Plateau hatte sie immerhin das Achtelfinale erreicht. In der Hoenn Liga würde sie erst später in diesem Jahr das erste Mal antreten.

    „Es folgen Andrew Warrener und Jamie Gregory.“

    Andrew bekam es also mit diesem Märtyrer zu tun. Er würde es eher so formulieren, dass der es mit ihm zu tun bekommen würde. Wichtiger jedoch war, was das Ausschlussverfahren für das letzte Match offenließ.

    „Und zum Abschluss gibt´s noch einmal Frauenpower vom höchsten Kaliber. Drachenmeisterin Sandra trifft auf Bella Déreaux.“

    Alle Blicke richteten sich auf die Arenaleiterin, die nach wie vor den Bildschirm fixierte, als ginge die Auslosung noch weiter. Sie registrierte keinen von ihnen. Wüsste ohnehin nichts mit den unterschiedlichen Ausdrücken, die darin lagen, anzufangen. Auch außerhalb der Vierergruppe suchte ein Augenpaar nach ihr. Eines von der Farbe polierter Bernsteine. Dieses Los gefiel Bella sehr wohl. Obendrein durfte sie sich gute Chancen ausrechnen, in der nächsten Runde auf Ryan oder Andrew zu treffen. Dass die beiden das Halbfinale erreichen würden, war in ihren Augen nur eine Formsache. Dieser Fuller stand für sie ebenfalls schon als Sieger des kommenden Matches fest, war aber als Einziger für sie nicht von Interesse.

    Sie merkte, wie sich Sandras Kopf ein wenig senkte. Fast als seufze sie, erschlagen von ihrem Pech, welches sie in diesem Augenblick verfluchte. Gegen sie antreten zu müssen war scheinbar das Allerletzte gewesen, was sie wollte.

    Ein Trugschluss, wie sich herausstellte. Plötzlich und ruckartig wandte sie sich um, sodass Haar und Cape weit flatterten und blickte sie aus funkelnden Augen an. Sie waren zu Saphiren geworden – das Äquivalent zu Sheilas Rubinen. Und gar waren sie annähernd so kalt und wild, als wollten sie ihr Duell hier und jetzt beginnen. Als habe sie ihre Verstand zugunsten von Stärke geopfert und alles Andere aus ihrer Welt verbannt. Um sie herum war nur noch Schwarz. Und sie beide nicht mehr als Schatten, die in der Leere umeinander kreisten, um sie mit Kampfgebrüll zu zerfetzen. Saphir und Bernstein, verkörpert als zwei kollidierende Himmelskörper. Einer von Licht umhüllt, während der andere die Nacht beschwor. Sandra wollte jeden Schatten vertreiben, um Bellas wahres Ich vor der Welt offenzulegen, bevor sie sie zerstören würde.

    Kapitel 49: Überzeugung


    Ryan und Andrew hatten selten ihren Konkurrenten applaudiert. Spontan fiel den beiden nicht einmal ein konkreter Fall ein. Das machte ihren Beifall für Sandra und Audrey, die gemeinsam, Seite an Seite, in den Warteraum traten, umso aussagekräftiger. Beide hatte sich bereits die Hand geschüttelt und die Ausgeschiedene zudem aufrichtige Glückwünsche ausgesprochen. Von Enttäuschung oder Frust war keine Spur bei ihr. Sie strahlte und lachte. Warum auch nicht? Sie hatte gerade einen Mordsspaß gehabt. Auch hatte sie an Traunmagils Leistung nicht das Geringste auszusetzen, war viel mehr stolz auf sie und auch sich selbst, die stärkste Arenaleiterin Johtos auf Augenhöhe gefordert zu haben.

    „Ihr Schleimer“, kommentierte die den gar nicht mal unerwünschten Applaus der beiden Jungen keck und streckte ihnen die Zunge raus. Sie verzichteten auf eine Bekundung, dass sie die Geste absolut angebracht war – und zwar für sie beide – und klatschten wie Teamkollegen mit den Mädels ab.

    „Ganz ehrlich, ich wollte, dass ihr beide weiterkommt“, beteuerte Andrew. Er ließ, enttäuscht darüber, dass dies unmöglich war, die Schultern etwas hängen und blickte ein bisschen wehleidig. Nur das begeisterte Lächeln störte diese Haltung. Ryan würde diesen Vorschlag nicht ablehnen, wollte sich aber nach etwas Anderem erkundigen.

    „Ich hätte euch den ganzen Tag zusehen können. Wann hat sich Traunfugil denn entwickelt?“

    „Vor zwei Monaten.“

    Während sich Sandra auf die Sitzbank fallen ließ, die Beine übereinander schlug und sich lässig auf einen Arm stützte, blieb Audrey stehen und stemmte nun doch in einem leichten Anflug von Ernüchterung die Hände in die Seiten.

    „Ich bin echt stolz auf sie. Ich verlass mich mittlerweile fast so oft auf sie, wie auf Vulnona.“

    Es wäre schwer, unter Audreys Pokémon eines zu benennen, das in Kraft und Können den anderen überlegen sein sollte, aber Fakt war, dass sie mit niemandem so oft kämpfte, wie der Fuchsdame. Gegen Sandras Drachen wäre sie aber von vornherein eine schlechte Wahl gewesen. Gegen viele Gegner konnte sie trotz Typennachteil gewinnen, aber sich gegen einen von diesem Format selbst in eine benachteiligte Ausgangslage zu manövrieren, konnte sie sich niemals leisten.

    „Aber wie man sieht, haben wir noch einiges an Arbeit vor uns“, ergänzte Audrey und zog eine ihrer Sonnenbrillen auf die Nase. Ihre Jacke, die sie während des Kampfes abgelegt hatte, hing über ihrer linken Schulter.

    „Wir müssen jetzt nicht nochmal dieselben Lektionen runter rasseln, wie bei Cody, oder?“, feixte Andrew in Ryans Richtung und vergaß dabei scheinbar, dass die Trainerin zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zur Runde dazugestoßen war. Wäre trotzdem möglich, dass sie die Unterhaltung bereits mitbekommen hatte. Ryan verpasste seinem Kumpel nur einen Stoß in die Seite.

    „Andrew will sagen, dass ihr klasse wart. Und außerdem war´s ja nur ein eins-gegen-eins.“

    Solche Duelle hatten unter Trainern meist nicht sehr viel Gewicht, da niemand in der Szene weit kam, der nur einen fähigen Kämpfer trainierte. In einem Match mit drei oder gar sechs Pokémon hätte alles anders ausgehen können.

    Hätte, hätte, Fahrradkette, musste man auf der anderen Seite jedoch einwerfen. Audrey sah das auf jeden Fall so. Sie war eine knallharte Realistin. Und nebenbei noch nie auf die Worte und Meinungen anderer angewiesen gewesen. Auch nicht die von Freunden, obgleich das eigentlich viel zu zynisch für sie klang. Sie wusste, wo sie stand. Im Leben und im Können.

    Traunmagil war klasse“, korrigierte die Trainerin die Anrede und wollte das Thema zügig sein lassen. Der Kampf war vorbei, das Ergebnis eindeutig und der Shake Hand vorüber. Sie war raus. Natürlich war es schade, dass es so früh passiert war, aber diesen Preis zahlte sie gerne, da sie das Vergnügen gehabt hatte, gegen ein Idol aus ihrer Jugend zu kämpfen. Und sowohl aus neutraler Perspektive als auch ihrer eigenen war es ein erstklassiges Match gewesen. Aus dieser Tatsache würde sie schöpfen, wenn oder eher sobald sie sich in den nächsten Stunden das ein oder andere Mal wünschte, noch mitwirken zu können.


    Die Gruppe quatschte noch eine Zeit lang, verfolgten dadurch die folgenden Kämpfe nur mit begrenzter Aufmerksamkeit. Für die sechste Runde entschuldigte sich Audrey allerdings und eilte auf die Tribünen. Wie sich herausstellte, kannte sie diese Amy Valentine, die nun antrat, flüchtig und wollte ihr gerne von der Tribüne aus zusehen. Außerdem würde sie sich gern mit dieser Melody bekanntmachen.

    „Und diese Déreaux will ich mir auch nochmal genauer anschauen.“

    Sie wartete keine Reaktion der Gruppe ab. Sie wäre auch überraschend still, dafür aber mit sehr bitteren und feindseligen Minen ausgefallen. An und für sich wäre die Idee, Bella aus der Nähe zu beobachten gar nicht mal eine dumme. Aber das Risiko war zu hoch, von ihr erspäht zu werden. Damit ging natürlich keine Gefahr einher, aber die Genugtuung, diese gesonderte Aufmerksamkeit zu erhalten, die sie womöglich amüsierte, wollte ihr ganz gewiss niemand verschaffen.

    „Sie war besser.“

    Sandras Stimme ertönte unerwartet. Klang fast ein bisschen abwesend. Sie sah noch in die Richtung, in welche Audrey gerade abgezogen war und lächelte schwach, aber sehr zufrieden. Ryan und Andrew folgten ihrem Blick für einen Moment als könnten sie die Trainerin aus Rosalia dort noch vorfinden. Ohne es auszusprechen, waren ihrer beider Gedanken bereits längst bei Bella gewesen, weshalb sie eine Sekunde benötigten, um zu realisieren, dass Sandra mit den ihren noch nicht weiter geeilt war, so wie die zwei Trainer.

    „Sie war in allen Belangen besser als ich“, konkretisierte sie die Aussage und kehrte die Unterhaltung doch noch einmal um, zu ihrem anfänglichen Thema.

    „Sie hatte die bessere Strategie, die klügeren Konter, die kreativeren Angriffsmuster, hat das Tempo bestimmt…“

    Die jungen Männer sagten zunächst nichts. Fast wollten sie widersprechen, da es regelrecht erniedrigend für die Drachenmeisterin klang, dass sie in so vielen Aspekten unterlegen gewesen sein soll. Doch sie taten es nicht. Aus dem einfachen Grund, da Sandra nichts Unwahres aussprach.

    „Gewonnen ist gewonnen. Es war fair und sicher nicht geschenkt“, resümierte Ryan stattdessen. Auch dies war unumstößlich. Das waren die Fakten, die mehr als alle Nebenstatistiken zählten. Zumindest für Beobachter von außerhalb. Trainer hatten weit mehr und Wichtigeres als das Endresultat aus einem Kampf mitzunehmen.

    „Dragonir und ich haben lediglich den ein oder anderen Lucky Punch gelandet. Und die Kombination aus Nassschweif und Drachenwut haben wir noch lange nicht ausgiebig genug trainiert. Die Chancen standen höher, dass die Aktion misslingt.“

    Womit sie sagen wollte, dass Audrey es in ihren Augen mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr verdient hätte, im Viertelfinale zu stehen. Sollte es Audrey jemals wieder nach Ebenholz verschlagen und sie zu einem Arenakampf fordern, wäre die Drachenmeisterin bei solch einem Ausgang gar gewillt, ihr trotz der Niederlage den Orden zu überreichen. Natürlich müsste man dafür einige Regelungen und Richtlinien brechen. Auf der anderen Seite konnte sie sich nicht vorstellen, dass Audrey dies akzeptieren würde.

    „Lust auf einen abgedroschenen Spruch?“, lenkte Andrew die Aufmerksamkeit auf sich. Beide Augenpaare legten sich auf ihn.

    „Man sieht sich immer zweimal im Leben.“

    Reichte das gewählte Adjektiv wirklich aus, um diesen Spruch ausreichend zu definieren?

    „Ich bin sicher, Audrey wird dich irgendwann zu einem aussagekräftigen Kampf fordern. Einem, nach dem kein Raum mehr für Zweifel und Spekulationen bleibt.“

    Davon war die Arenaleiterin ebenso überzeugt. Es wäre ein herrliches Szenario, würde Audrey um ihren Orden kämpfen – nicht, um an der Johto Liga teilzunehmen, sondern um ein Erinnerungsstück an ihr Match zu erkämpfen.

    Doch wenn sie eben diese Überzeugung hatte, so gab es auch keinen Grund, weiter zurückzublicken. Mehr sollte sie sich auf ein Wiedersehen freuen. Zu anderer Zeit, wenn kein Krieg zwischen den Menschen und einer Pokémon-Gattung auszubrechen drohte. Und allem voran sollte sie ihre Gesellschaft genießen, solange sie noch andauerte.

    Schon komisch, wie gut die beiden Frauen miteinander auskamen, obwohl sie sich noch nicht einmal zwei Tage kannten.


    Es geschah selten, dass ein Pokémon bei so einem offiziellen Kampf unmittelbar nach eben diesem von einem Ärzteteam ins – glücklicherweise direkt anliegende – Pokémoncenter transportiert werden musste. Einerseits, weil ab der inzwischen angebrochenen K.O. Phase für gewöhnlich nicht so enorme Kräfteunterschiede existierten. Und selbst wenn so ein Fall einmal eintrat, ging der Überlegene normalerweise nie so skrupellos und brutal vor.

    Bella musste ihrem Absol vor dem Match eingetrichtert haben, dass es ein Zeichen zu setzen galt. Eine Botschaft an die Konkurrenz. Speziell an einen blonden Trainer aus Johto, in dessen Fall die verbale Warnung vom Vortag nicht ausreichend schien. Vielleicht hatte sie aber auch bloß entschieden, dass es Zeit war, die Samthandschuhe abzulegen.

    In jedem Fall hatte sie dem Staraptor nicht nur die Federn gerupft, sondern vermutlich sämtliche Knochen gebrochen. Wer ihre vorherigen Matches schon für brutal gehalten hatte, wäre hier wohl in Ohnmacht gefallen. Wenn man Audreys Urteil vertraute, so war es eines der ältesten und stärksten Pokémon, das sie aufbieten konnte, doch Bella war sie mindestens zwei Klassen unterlegen. Sie waren überhaupt nicht zum Zug gekommen. Ob aus der Distanz oder im Nahkampf – Absol hatte mit seinem Gegner gemacht, was es wollte. Und war dabei überaus gnadenlos vorgegangen. Audrey und Melody – die ausgeschiedene Trainerin hatte mit viel Glück einen Platz direkt neben ihr ergattern können, da sie sich mit der Kleinen besser bekannt machen wollte – hatten das Ganze mit einer Spur Entsetzen verfolgt und stetig den Schiedsrichter beobachtet, um zu sehen, ob er ihrem unausgesprochenen Wunsch, das Match zu beenden, nachkommen würde. Viel zu spät hatte er sich dazu entschieden. Als er sich daran schickte, Bella zur Siegerin zu erklären, hatte die ihre Schattenkatze gar einmal zurückgepfiffen und davon abgehalten, das am Boden liegende Staraptor weiter zu malträtieren. Die Mehrzahl der Zuschauer und auch Stadionsprecher Cay mussten hier wohl von einem – wenn auch verspäteten – Akt der Gnade ausgegangen sein, doch die wenigen, die um Bellas wahre Identität wussten, vermuteten eher, dass sie lediglich einer Strafe durch die Turnierleitung entgehen wollte. Sie war bereits gestern einmal negativ aufgefallen, als ihr Ninjask ein Morlord übel zugerichtet und das Schlusssignal des Unparteiischen nicht gleich respektiert hatte. Da sie nun jedoch mit Fug und Recht behaupten konnte, die Gesundheit des Gegners geschützt zu haben, indem sie Absol gestoppt hatte, würde dieser brutale Kampf wohl als Unfall ausgelegt werden. So etwas konnte schließlich schon mal passieren, wenn der Kräfteunterschied zwischen zwei Kontrahenten zu groß war.

    Andrew wollte am liebsten den Gin von gestern Abend hochwürgen und ihr ins Gesicht spucken. Und mit ihr hatte er noch zusammengesessen. Hatte eine Seite an ihr gefunden, mit der er sehr gut hätte auskommen können, wenn Team Rocket und Rayquaza nicht dazwischenständen. Oder hatte das zumindest geglaubt. War das wirklich dieselbe Balla, mit der er in der Bar geredet hatte?

    „Alles klar?“

    Ryan klapste mit dem Handrücken gegen seinen Oberarm und unterbrach seine Gedankengänge. Fast hätte man seinen Zustand schon als Trance betiteln können und Andrew realisierte erst jetzt, dass er so versunken gewesen war. Es war sehr unüblich für ihn, sich minutenlang in negativen Gedanken zu verirren, war er doch grundsätzlich eine sehr positiv eingestellte Person. Klar hatte er auf seinen Reisen schon einige miese Exemplare von Trainern, oder generell Menschen, getroffen, denen er bis ans Ende seiner Tage nichts Gutes wünschen konnte. Aber das hier…

    Andrew fühlte sich verhöhnt und verarscht, da er mit Bella noch Worte gewechselt hatte, die wenn überhaupt, kaum feindseliger Natur gewesen waren. Jetzt hätte er ihr so einiges mehr, dafür weniger Nettes zu sagen. Sein Zorn vernebelte sein Urteilsvermögen glücklicherweise nicht allzu sehr, sodass er zu dem Schluss kam, dass es keine gute Idee wäre, sie tatsächlich nochmals anzusprechen. Für einen kleinen Augenblick zog er in Erwägung, ebenfalls einen sehr dominanten, aber natürlich weit weniger skrupellosen Kampf zu zeigen. Aber er befand, dass dies die falsche Botschaft sei. Einen überzeugenden Kampf wollte er stattdessen liefern, der aufzeigte, dass Bella mit solch einer Show bei ihm keinen Eindruck hinterließ und er sich nicht auf sie einlassen würde. Dass sie machen konnte, was auch immer sie wollte – es war ihm völlig egal. Dann war sie halt stark. Dessen waren sie sich schon lange bewusst. Dann war sie halt gnadenlos. Was juckte es ihn? Genau dies galt es zu vermitteln.

    „Logisch, was sollte sein?“, entgegnete er Ryan nur und zuckte mit den Achseln. Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte Andrew mit lockeren, aber zielstrebigen Schritten von dannen, obwohl Cay sein Match noch gar nicht aufgerufen hatte. Dann würde er halt eine Minute länger im Tunnel stehen und auf die Eröffnung warten. Aber er wollte schnellstens so nah wie möglich an das Kampffeld. Läge es im Rahmen des Möglichen, würde er jetzt schon draufstürmen.

    Ryan sah ihm erst etwas verdutzt hinterher. Sandra, die hinter ihm stand und von Skepsis erfüllt war, registrierte aber die Bewegung auf seinen Wangen. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.

    „Und bei dir? Auch alles klar?“, fragte sie vorsichtig, als könnte sie es mit einem Wahnsinnigen zu tun haben. Der blonde Trainer beschwichtigte sich rasch und sah über die Schulter, versicherte mit seinen Augen, dass sie sich keine Sorgen machen müsse.

    „Jetzt hat er richtig Bock.“


    „Zwei Achtenfinal-Kämpfe haben wir noch, Leute. Und ich lehne mich mal weit aus dem Fester, indem ich sage, die werden geil!“, begann Cay die nächste Ankündigung. Audrey hatte ihre Bekannte Amy auf dem Weg nach draußen nochmals sehen wollen. Oder hatte eher nach ihr sehen wollen. Natürlich gab es wenig, dass sie für das Pokémon einer anderen Trainerin tun konnte, aber sie jetzt einfach so davonziehen zu lassen, wäre in Audreys Augen nicht richtig. Selbstverständlich war sie bedacht gewesen, ihr nicht zu viel Zeit zu stehlen. Glücklicherweise hatte sie die Verletzungen Staraptors zumindest so weit mit Fassung getragen, wie man es von einem gewissenhaften Trainer erwarten durfte. Ein gebrauchter Tag war es für sie bestimmt, aber Amy Valentine war kein Mauerblümchen. Morgen würde sie wieder lächeln können und das beruhigte Audrey.

    Diese kehrte gerade wieder an ihren Sitzplatz zurück. Sie hatte mit viel Glück einen direkt neben Melody ergattern können und folgte ihrem Blick hoch zur Anzeigetafel. Die Bilder der beiden Kontrahenten waren bereits eingeblendet, aber noch verdunkelt. Mit dem Aufruf ihrer Namen würden sie in grellen Farben aufleuchten.

    Audrey war offen gesagt ein wenig erleichtert, dass der energetische Stadionsprecher die Ansagen von Runde zu Runde kürzer gestaltete. So gut er seinen Job unterm Strich auch machte und das Publikum angeheizt hielt, empfand sie es mit der Zeit auch als ermüdend, ihn immer wieder Applaus fordern zu hören.

    „…und hier ist der Mann, den man auch Eisenblut nennt. Hier ist Dan Hayes!“´

    Derselbe bekannte Ablauf. Grelles Licht, viele Farben, laute Musik. Ein Aufschrei in der Menge, die dem Auftritt des jungen Mannes entgegenfieberte. Er war von großer und kräftiger Statur, hattes das dunkle Haar kurz geschoren und trug ein graues Muskelshirt. Darüber spannten sich lederne Hosenträger, die eine schwere Arbeiterhose hielten. Sah ein bisschen aus, wie ein Bergarbeiter, allerdings in frischer Kleidung. Wäre auch unangebracht gewesen, hier verschmutzt wie ein solcher aufzuschlagen. Aber eine imposante Gestalt stellte er durchaus dar. Schwere Schuhe trugen ihn zu seinem vorgewiesenen Platz. Er beachtete die Menge gar nicht, sondern befand sich viel mehr noch immer in einem Tunnel. Einem mentalen. Hayes starrte nur geradeaus, grinste dabei aber sehr euphorisch. Er gab das Bild eines Mannes, der unbedingt überschüssige Energie loswerden wollte. Das Muskelspiel in den Schultern und Oberarmen war echt beeindruckend. Gut, dass hier die Pokémon kämpften, denn gegen den Typen wollte man lieber nicht die Fäuste auspacken müssen.

    Der Trainer auf der anderen Seite sollte eine ähnliche Aura ausstrahlen. Als das Licht im gegenüberliegenden Tunnel Andrews Silhouette preisgab, hüpfte der auf der Stelle, wie ein Boxer, der die Muskeln lockerte.

    „Sein Gegner ist dafür als der Rastlose bekannt und drüben in Johto einer der Großen. Bühne frei für Andrew Warrener!“

    Kaum war sein Name gefallen, kam besagter schon ins Freie. Er sprintete regelrecht hinaus, stoppte aber rasch ab und sah sich um, als sehe er dieses Stadion zum ersten Mal. In gewisser Weise traf das nach seiner Auffassung auch zu. Die Fans machten das Stadion aus. Die Stimmen, die Atmosphäre, das Bild tausender Menschen, die ihn mit ihrem Lärm voranpeitschten. Und der Lärm gefiel ihm.

    Er sah nach links, nach rechts. Sog die Energie der Masse auf. Dann blieben seine braunen Augen an dem Mann auf dem Kampffeld hängen, fast als sei er überrascht, ihn dort vorzufinden. Seine Mundwinkel wanderten sehr langsam nach oben. Seine Füße bewegten sich gar fast in Zeitlupe. Zumindest, während er die ersten Schritte tat, doch dann wurden sie sehr plötzlich rasch und ungeduldig. Als lenkten sie ihn mit der Intention, dem Mann einen Dampfhammer zu verpassen. Im übertragenen Sinne war das auch tatsächlich sein Plan.

    „Beide Kontrahenten bereit?“, erkundigte sich ein sehr schmächtiger Schiedsrichter und prüfte, ob jeder einen Pokéball gewählt hatte. Die Regelung, dass beide Trainer ihre ersten Kämpfer zeitgleich präsentierten, würde sich auch bis zum Finale nicht ändern.

    „Bereit geboren“, bestätigte der junge Trainer aus Johto. Hayes gefiel die Kampfeslust in seinen Augen und nickte sehr deutlich. Bedeutete ihm, dass er endlich hinne machen sollte.

    „Lass uns nicht warten, du Stift.“

    Hatte der Mann an der Seitenlinie das jetzt als Beleidigung aufzufassen? Den Typen merkte er sich mal vor. Mehr respektlose Kandidaten wie diese Bella Déreaux brauchte der Summer Clash sicher nicht. Er überging die Anspielung vorerst und gab das Zeichen zum Beginn.

    Es schien, als wollten die beiden herausfinden, wer diese Kapsel höher schleudern konnte. Die weißen Lichtblitze gaben zwei aufrecht gehende Wesen von massiger Statur und ähnlicher Körpergröße frei.


    Offensichtlich hatte Andrew einen Anruf nach Hause getätigt. Ryan wollte pfeifen. Die Lippen hatte er dafür bereits gespitzt. Jedoch unterließ er es, um vor der Konkurrenz nicht den Eindruck von Ehrfurcht zu vermitteln. Etwas in der Richtung hätte dieses Pokémon durchaus verdient, aber er hatte sein Gesicht vor dem enger werdenden Teilnehmerfeld zu wahren. Die meisten wussten zwar, dass er mit Andrew befreundet war, doch spielte das im Wettkampf keine Rolle. Hier waren sie zunächst Rivalen und erst danach Freunde.

    Aber der Anblick des echsenartigen Wesens in Beige und Kastanienbraun mit dem markanten Beutel am Bauch weckte fast etwas Mitleid für Hayes Kämpfer. Dieser stellte einen großen Maulwurf mit breiten Klingen an den Vorderpfoten sowie am Kopf dar. Er kannte nur den Typen der Spezies, und zwei oder drei Attacken, die es sicher beherrschte, kam aber ansonsten nicht einmal auf den Namen, da er mit den Pokémon aus Einall wenig vertraut war. Lediglich die von Terry kannte er in und auswendig.

    Vor den anderen Teilnehmern konnte er sich auch die Blöße, seinen Pokédex hervorzuholen, nicht geben. Aber Cay würde die gewünschten Informationen sicher noch erörtern.

    Es dauerte nur Sekunden, bis er damit anfing.

    „Da unten sehen wir Warreners Kangama. Eines seiner bekanntesten Pokémon! Oh yes, das wird ´ne heiße Nummer, ganz sicher. Hayes tritt hier mit Stalobor an. Ein sehr seltener Gast in Hoenn.“

    Ebenso wie Psiana war jedem, der die Trainerszene in Johto verfolgte, dieses Kangama wohl bekannt. Eine schuppige Abrissbirne auf zwei Beinen, wurde es während eines kleineren Turniers in Viola City einmal getauft. Unter der ledrigen Haut konnte man ein Muskelspiel beobachten, das Dan Hayes auf der anderen Seite wie ein Mogelbaum aussehen ließ. Man konnte es mit einem Reptil verwechseln, doch in Wahrheit waren Kangama Säugetiere. Dieses hier obendrein ein Weibchen, das jedoch kein Junges in seinem Beutel trug. Wenn sie das täte, wäre Andrew sicher nicht so bescheuert, sie in einen Kampf zu schicken. Obgleich diese Pokémon den Ruf hatten, fast unbesiegbar zu sein, wenn der mütterliche Beschützerinstinkt einsetzte.

    „Eines vorweg, Bursche“, wandte sich Hayes plötzlich an Andrew. Die Betitelung wollte ihm nicht gerade gefallen, obwohl der gewählte Ton kein herablassender oder geringschätziger war. Er wusste bestens, wer sein Gegner war und auch, was dieser konnte. Er unterschätzte den jüngeren Kontrahenten keineswegs.

    „Wir kämpfen mit offenem Visier von Angesicht zu Angesicht. Kein Verstecken und kein Weglaufen. Kein Grund also, sich zurückzuhalten. Gib alles, was du hast, Bursche.“

    Dazu brauchte er nun wirklich nicht seine Erlaubnis. Aber diese kühne Art und mutige Grundeinstellung gefiel ihm besonders in diesem Moment sehr gut.

    „Der Bursche wird gleich mit dir Schlitten fahren.“

    Auch er wählte keinen feindseligen Ton. Sie beide sollten diesen Kampf ohne Hohn genießen können, aber ein paar Sticheleien gehörten doch irgendwie dazu. Andrew hatte keine Zweifel, dass Hayes ehrlich gesprochen hatte und ihn nicht in falscher Sicherheit wiegen wollte. Der Kerl war einfach von der gröberen und simpleren Sorte Mensch. Und auch dies dachte er ohne jeglichen Spott.

    „Genau das wollte ich hören.“

    Womit wohl alles gesagt wäre. Der Schiedsrichter gab das Fahnensignal und Cay wie immer seinen Senf dazu.

    „Scheint alles bereit zu sein. Dann mal los, lasst es krachen!“

    Der Kampf sollte von Stalobor eröffnet werden. Und zwar mit Schlitzer. Allerdings war die Ausführung dieser normalerweise recht simplen Attacke eine ganz andere, als erwartet. Der Maulwurf hechtete nach vorn und ging mit dem ganzen Körper in eine Drehbewegung über, wie ein Bohrkopf. Mit ähnlichen Bewegungen grub er sich vermutlich auch durch den Boden, wenn er Schaufler einsetzte. Andrew war zugegebenermaßen unsicher, ob und wie er darauf reagieren sollte, da der Angriff so deutlich schwieriger zu durschauen, sprich nicht zu erahnen war, von welcher Seite der Schlag ausgehen würde. Erwartungsgemäß würde Stalobor aber auch nicht einfach stumpf geradeaus rennen. Sowie Kangama dann in Reichweite war, spreizte er die Arme plötzlich wieder von sich und holte weit aus. Andrew ließ seine Partnerin eigenmächtig reagieren, da die Zeitspanne für einen Befehl zu eng war. Die rührte sich nicht von der Stelle, beugte sich aber weit zurück und etwas zur Seite, sodass der Maulwurf glatt an ihr vorbei hechtete. Er schlitterte über den Sand und blickte über die Schulter. Kangama tat dasselbe, doch war ihr Blick deutlich schärfer, die Augen leicht verengt. Sie hatte sich entschieden, nicht als erste Maßnahme die Flucht, sprich einen Ausweichschritt zu wählen und so einen Kratzer an der Wange in Kauf genommen. Dieser Gegner war deutlich flinker, als das Äußerliche vermuten ließ.

    „Wir sind dran“, kündigte Andrew an. Das schuppige Muskelpaket teilte die Ansicht.

    „Schlag zurück mit Kometenhieb!“

    Stalobor verfügte hier nicht als einziger über ungeahnte Agilität. Von einem Kangama würde man sicher erwarten, die Distanz wie eine wütende Dampfwalze mit einigen Schritten zu überbrücken. Aus der Drehung heraus sprang sie dann unverhofft in die Luft und holte mit dem rechten Arm aus, um von oben auf den Gegner einzudreschen. Der wurde von einer gelblichen Aura eingehüllt, wie ein herabfallender Himmelskörper.

    „Metallklaue!“

    Wieder setzte Stalobor seine natürlichen Primärwaffen ein. Vermutlich würde es kaum einen Angriff ausführen, ohne diese in irgendeiner Form zu benutzen. Nicht nur sein Kampf-, sondern der ganze natürliche Lebensstil hing an diesen schaufelartigen Klauen.

    Diese blitzten grell auf, als sie nach Kangama schlugen und mit dessen verhärteten Unterarm kollidierten. Der Maulwurf spürte rasch den Erfolg, den schuppigen Panzer durchbrochen zu haben, doch im selben Moment wurde er von der schieren Kraft überwältigt und gen Boden gedrückt. Ein gnadenloser Stoß ging durch seinen Rumpf und der Sand wurde zu allen Seiten fortgewirbelt. Er brach regelrecht unter diesem Dampfhammer zusammen, obgleich der Gegner nur ledrige Haut und nicht etwa Klauen oder Ähnliches besaß – schon gar nicht aus Metall, so wie Stalobor. Selbige wart von der Metallklaue ebenfalls verletzt worden. Na und? Eine blutende Wunde dieser lächerlichen Größe brachte Kangama höchstens zum Schmunzeln.

    „Wow, den Schlag hab ich hier oben noch gespürt“, bemerkte Cay und in der Tat war die Erschütterung allgegenwärtig zu vernehmen gewesen. Das war heute zwar nicht zum ersten Mal passiert, aber zuvor nie durch einen simplen Schlag mit dem Unterarm. Trotz der stärkeren Waffen war Stalobor auf dem Rückzug. Umgangssprachlich natürlich, da Hayes versprochen hatte, einen solchen niemals anzutreten und sein Pokémon sich ohnehin bereits auf dem Rücken befand. Von dieser Kraft schien er durchaus positiv beeindruckt.

    „Sehr gut, Bursche. Weiter so.“

    Hielt sich der Typ für seinen Coach? Er würde sich noch wünschen, die Klappe gehalten zu haben.

    Andrew ordnete Feuerschlag an, um dem Stahltypen mit einer seiner natürlichen Schwächen den Zahn zu ziehen. Bevor die entflammte Faust jedoch ihr Ziel traf, hallte von der anderen Seite der Befehl „Felsgrab“ über das Kampffeld. Mannshohe Felsbrocken schossen direkt neben Stalobor aus der Erde, ummantelten ihn und blockten den Angriff. Ein wenig zumindest, da das Gestein erschüttert wurde und Sprünge bekam, schon einen Moment später gar zusammenzufallen drohte. Zumindest von den Flammen blieb Stalobor verschont.

    „Jetzt Steinhagel!“

    Das Geröll wurde wie von Geisterhand lebendig. Als würde es mit Psychokinese bewegt und in einem Wirbel emporgehoben. Hierbei ließ er sich auch von Kangamas Standhaftigkeit nicht ausbremsen und schlug ihr vehement in die Seite, traf einmal sogar die Schläfe. Hiervor wich sie dann doch zurück, womit sie genau das getan hatte, was Hayes gehofft hatte.

    „Jetzt lass sie auf Kangama regnen und setz mit Schlagbohrer nach!“

    Wieder ging der Maulwurf in diese rotierende Bewegung mit dem zusammengeführten Klauen sowie der gleichförmigen Klinge am Kopf über. Zunächst war Kangama dazu gezwungen, sich mit dem Steinhagel auseinanderzusetzen, was Andrew ihr erneut eigenständig überließ. Sein Eingreifen brauchte es hierzu tatsächlich nicht. Sie ballte die Fäuste und zertrümmerte jeden einzelnen Brocken mit bloßen Händen.

    Das kam für Hayes nicht unerwartet, doch das primäre Ziel war es ohnehin gewesen, den Gegner abzulenken und mit Schlagbohrer zu treffen.

    „Stemm dich dagegen!“

    Hatte er diesen Warrener da gerade richtig verstanden? Dagegenstemmen? Ohne eine eigene Attacke zu wählen? Und wie er das hatte. Die Arme wurden vor der Brust gekreuzt und der Einschlag ohne weitere Gegenmaßnahme erwartet. Das Geräusch dieses eisernen Bohrkopfes, der die Krallen und die lederne Panzerung malträtierte, sandte einem einen Schauer über den Rücken.

    „Warrener reagiert bislang ziemlich passiv auf Stalobors Angriffe. Das geht sicher nicht lange gut aus“, merkte Cay an und damit hatte er nicht ganz Unrecht. Dieser Maulwurf war durchaus erfahren und kampferprobt, wie das routinierte Auge schnell erkannte. Die Wucht, mit der er herangerauscht kam, hielt seinen Körper sekundenlang in der Luft…, obwohl er keinen Zentimeter vorankam. Am Handrücken war die Haut Kangamas mitunter am dicksten und die Muskelpartien darunter machten ein Durchdringen überaus schwierig. Zu behaupten, es sei nahezu unmöglich, wäre dann zu viel des Guten. Stalobor allerdings schien an der Aufgabe zu scheitern. Sein Trainer staunte, wollte zunächst nicht glauben, dass der Gegner wirklich robust genug war, den Schlagbohrer auszuharren. Doch gleichzeitig lächelte er mit weit aufgerissenen Augen. Der Junge gefiel ihm mehr und mehr.

    „Jetzt nicht nachlassen, gib alles!“

    Er wollte wohl die körperliche sowie die Willenskraft und den Ehrgeiz beider Pokémon auf die Goldwaage legen. Wollte sich gern selbst beweisen, dass sein Partner der Überlegene war. Aber nach weiteren Sekunden, in denen es kein Vorankommen gab, verlangsamten sich die Drehbewegungen schließlich und Stalobor musste sich mit den Füßen wieder auf den Boden begeben. Genau auf diesen Augenblick hatte Andrew gewartet.

    „Vorwärts, Risikotackle!“

    Die schmalen Hinterläufe hatten den Boden noch nicht ganz berührt, da preschte Kangama plötzlich wie eine Wahnsinnige voran, rammte die Schädeldecke in Stalobors Torso und riss ihn gnadenlos mit sich. Ein wenig sah das aus wie Ryans Despotar im Übungskampf gegen Sandra und Shardrago. Stalobor konnte sich nicht losreißen und selbst wenn, würde dies bedeuten, vom massigeren Gegner zertrampelt zu werden. Um diese Möglichkeit völlig auszuschließen, schlossen sich die Arme Kangamas um seinen Rumpf, während sie, eine wüste Staubwolke hinter sich herziehend, immer weiter geradeaus hielt. Für Hayes fühlte es sich wie eine ganze Minute an – es waren tatsächlich nur wenige Sekunden gewesen – bis Kangama ihren Gegner in die Betonmauer rammte. Dabei nahm sie keine Rücksicht auf die eigene Gesundheit, ging mit maximalem Körpereinsatz in die Vollen. Die Wand bebte. Ein paar Sprünge und risse zogen sich rasch durch die Oberfläche und kleinere Brocken lösten sich gar. Nicht ganz der Impact, den man von Sandra und Dragonir noch hatte beobachten können, aber doch im wahrsten Sinne erschütternd, wie ein gewisser Stadionsprecher befand.

    „Boah, die versuchen heute echt das Stadion einzureißen! Das sah aus als wäre Stalobor von einem Zug erfasst wurden!“

    Und besagter Zug war mitten in Beton gerauscht. Nur wollte Andrew es keineswegs hierbei belassen.

    „Wutanfall!“

    Für einen kurzen Moment ließ Kangama von ihrem Gegner ab. Der sah schon fast geschlagen aus, krümmte sich zusammen und zitterte vor Schmerz. Das Zurückweichen der Furie erlaubte ihm einen wohltuenden Atemzug. Dann aber glimmte der Körper eben dieser in Orange und Gelb auf. Fast schien er zu glühen und zu dampfen. Gleichfarbige, kaum sichtbare Energiewellen, die wie Flammen flackerten, gingen von ihr aus und sorgten für schwimmende Luftspiegelungen, wie die Hitze in einer Wüste. Und als Stalobor zäh ein Auge auf mühte, war in denen von Kangama plötzlich keine Iris mehr zu sehen. Sie leuchtete orange-rot.

    Die folgenden Sekunden fühlten sich für Stalobor an, als würde nicht ein einzelnes, sondern mindestens fünf Kangama auf ihn einprügeln. Die Fäuste regneten so fest und so schnell auf ihn nieder, dass der Schmerz noch gar nicht eingesetzt hatte, ehe der nächste Schlag ihn traf. Weiteres Geröll löste sich aus dem Beton und Staub wurde aufgeschlagen, der bald den Zuschauern die Sicht verdeckte – und der ein oder andere war dafür fast dankbar. Dann packte das wütende Säugetier den Maulwurf unverhofft am Hinterlauf und schleuderte ihn quer über den Sand, fast in die Mitte des Kampffeldes zurück. Er war noch nicht zum Stillstand gekommen, da war Kangama bereits wieder bei ihm, stampfte ihn nieder, schlug weiter mit Schweif und Fäusten. Zum Schluss gruben eben diese sich unter Stalobor und wuchteten es in die Luft, wobei ein finaler Stoß der leuchtenden Energie von ihrem Körper ausging, der ihm einen Freiflug bis vor die Füße seines Trainers bescherte.

    „Au weia, Kangama ist echt nicht zu bremsen. Die vermöbelt Stalobor als habe es sein Kind geschlagen.“

    Cays Umschreibung war unzureichend, wie Andrew wusste. Dieser wilde Angriff hatte nichts mit dem Charakter oder der Natur seiner Partnerin zu tun. Ein Angriff auf ein Jungtier dagegen würde ausschließlich durch solche Emotionen befeuert und daher viel herber ausfallen.

    Sie wütete sogar noch ein wenig herum, obwohl sie Stalobor selbst außer Reichweite befördert hatte. Allerdings wurden die Bewegungen nun schwerer und langsamer. Gleiches galt für ihrem Atem, der bald zu einem müden Keuchen wurde.

    Wutanfall versetzte den Anwender in einen regelrechten Rausch, den selbst das Wort des eigenen Trainers nicht zu bremsen vermochte. Diese Rage hielt an, bis das Pokémon erschöpft war oder sich gar selbst verletzte. Letzteres war diesmal ausgeblieben, doch für Andrews Strategie war das gar nicht mal als Glücksfall einzustufen. Die stumpfen Abwehrmethoden vom Anfang, der Risikotackle mitten in die Mauer, den Kangama sicherlich mehr gespürt hatte, als alles, was Stalobor ihr entgegengeworfen – alles kalkulierte, nein, bewusst herbeigeführte Kollateralschäden.

    Mit denen auf der Gegenseite waren die allerdings nicht zu vergleichen. Zugegeben, die Fäuste und Unterarme sahen aus, als habe sie stundenlang auf scharfkantigen Granit eingeschlagen. Stalobor wirkte dagegen, als wäre er genauso lang unter ihm begraben gewesen.

    Hayes war fast zu einem verstummten Trainer verkommen, der seine Niederlage bereits akzeptiert hatte. Tatsache war, dass er mit Kämpfen dieser hohen Intensität kaum Erfahrung hatte und seine Pokémon aus solch einer Bredouille einfach nicht zu befreien wusste. Dennoch wirkte er weder deprimiert, noch konsterniert. Ihm tat es nur um Stalobor leid, der seinen Mangel an Ideen ausbaden musste. Das hatte er nun aber lange genug getan.

    Der Schiedsrichter runzelte skeptisch die Stirn, während er Hayes Pokémon beobachtete. Konnte dieses sich noch einmal aufraffen? Und selbst wenn, sollte er das Fortführen des Matches überhaupt erlauben? Es schien eindeutig, wer hier der Stärkere war. Von hier an konnte es sich fast nur noch ernsthaft verletzen.

    Als habe er diese Gedanken erahnt, pflichtete Cay dem über die Lautsprecher bei.

    „Stalobor sieht total fertig aus. Geht da noch was? Ich trau mich nicht, hier optimistisch zu sein.“

    Ob das überhaupt einer wagen würde? Selbst sein Trainer wollte nicht darauf wetten. Seine Verantwortung lag allerdings auch woanders. Sie lag darin, das Handtuch zu werfen, wenn der Kampf aussichtslos war.

    Stalobor fauchte, als weise er eine dumme Idee zurück. Als fühle er sich durch sie gekränkt. Und unter starkem Zittern und Zucken stemmte er dann eine Klaue in den Boden, um sich ein letztes Mal aufzukämpfen und seinen Trainer aus scharfen Augen mahnend anzufunkeln. Der hob das Kinn etwas, wägte ab, ob er sich hier von seinem Pokémon übergehen lassen wollte. Stalobor war zäh und unvernünftig, aber auch stolz und unbeugsam.

    Der Maulwurf wankte, taumelte. Aber er hielt sich aufrecht. Mit erhobenem Haupt wollte er diesen Kampf beenden. Nicht am Boden winselnd, während sein Trainer kapitulierte.

    Ryan rümpfte die Nase, als er dies über die Monitore beobachtete. Aber gleichzeitig schmunzelte er auch. Fast könnte man meinen, Dan Hayes war in Wahrheit Cody aus der Zukunft.

    „Ich hab nichts gesagt, Leute. Stalobor steht echt wieder“, hielt Cay beeindruckt fest. Selbiges wandte sich um und fokussierte wieder Kangama. Die wartete geduldig ab, hatte keine Eile, den Kampf zum Ende zu führen. Ihr Gegner sollte alles aufbieten, was er hatte.

    Sie selbst war nicht mehr das, was man unversehrt nennen konnte. Andrew schätzte dennoch, dass es reichte, um seine Trumpfkarte auszuspielen, die Stalobor mit dem nächsten Schlag K.O. setzen würde.

    „Letzte Chance, Danny. Wenn du noch was im Ärmel hast, wird´s Zeit es rauszuschütteln“, spottete Andrew dezent und winkte ihn zu sich heran, forderte ihn zur Offensive. Der überging diese leichte Verunglimpfung seines Vornamens und grinste wieder breit. Fest entschlossen, mit diesem letzten Zug, den er ausspielen konnte, alles zu geben und auf sein Glück sowie den Kampfgeist seines Partners zu vertrauen. Wenn beides es gut mit ihm meinte, so konnte er das Ding noch herumreißen.

    „Kannst du haben, Bursche.“

    Etwas hatte er tatsächlich noch im Ärmel. Und ja, es war ein Ass. Aber eines mit hohem Risiko.

    „Stalobor, Hornbohrer!“

    Das eiserne Haupt des Maulwurfs glänzte erneut auf, das Silber schimmerte sogar und begann, sich zu verformen. Zu vergrößern. Die Klinge wuchs in die Länge, während Stalobor sich in eine Position, ähnlich der eines Sprinters beim Start begab.

    Andrew atmete einmal rasch und tief durch. Damit hatte Hayes wahrlich noch einen echten Trumpf. Doch er würde das packen. Kangama würde das packen.

    „Mach dich bereit.“

    Sicher wusste sie, was er vorhatte. Sie war nicht zum ersten Mal so halsbrecherisch von ihm dirigiert worden und meist endete diese Strategie mit demselben Manöver. Sie spreizte ihre Beine, streckte einen Arm voraus, während der andere mit geballter Faust an die Seite geführt wurde. Bereit, binnen eines Augenblickes zuzuschlagen.

    Beide Kontrahenten hielten inne. Es trat eine Atmosphäre ein, die an das Duell in einem Western erinnerte und wie in einem solchen, blies der Wind den Sand über das Kampffeld. Es fühlte sich an, als stoppte der Atem eines jeden im Prime Stadium, ausgenommen natürlich Stadionsprecher. Doch selbst an Cay ging dieser Moment nicht gänzlich vorbei.

    „Oh, oh. Es ist zwölf Uhr, Freunde. Beide wollen jetzt auf´s Ganze gehen. Alles oder nichts.“

    Stalobor verharrte in seiner Position, hatte die Augen verengt und hielt die Konzentration so gut es nur irgendwie ging. Die Muskeln pochten, ebenso wie seine Brust und sein Schädel. Er ignorierte es. Alles ausblenden. Alles vergessen. Nur noch auf dieses einen Angriff konzentrieren.

    Dagegen war Kangama völlig ruhig. Selbst ein Tornado vermochte nicht, ihre Haltung ins Wanken zu bringen oder ihren Fokus zu stören.

    Es zwar zwölf Uhr. Zeit für die Entscheidung. Und Hayes zog zuerst.

    Gib´s ihm, Stalobor!“, brüllte er aus voller Lunge. Erwartungsgemäß besaß er eine sehr starke und voluminöse. Sprich der Schrei war überwältigend. Der seines Kämpfers konnte da nicht mehr mithalten, was jedoch nicht an mangelnder Entschlossenheit lag. Die war so hart, wie der Stahl an seinen Klauen. Diese schaufelten sich mit jedem Schritt in die Erde, während er voran stürmte und katapultierten ihn so stark und so rasch nach vorn, wie möglich.

    Auf der anderen Seite des Kampffeldes rührte sich nichts. Die Atmung von Trainer und Pokémon war ruhig. Nicht gelassen, sondern kontrolliert. Muskeln und Körperhaltung nicht angespannt, sondern stramm und bedacht. Ein tiefer Atemzug, den sie beide wie aus einer Brust machten.

    „Gegenschlag“, lautete der Befehl – wie erwartet. Um Kangama herum entstand ein dumpfer Luftwirbel und man meinte, ein kleines, aber sehr helles Licht in seiner Körpermitte aufleuchten zu sehen. In den nächsten Sekunden würde sich keiner mehr so sicher sein, ob es jemals so ein Licht gegeben oder man es sich nur eingebildet hat.

    Es erlosch. Stalobor war in Schlagdistanz, sprang vom Boden ab und zielte auf Kangamas Hals. Die Arme diesmal an die Seiten gelegt, als der ganze Körper in die Drehbewegung ging. Die Faust im Anschlag zeigte Andrews Partnerin doch eine unerwartete Reaktion. Die rechte Körperhälfte wurde nach vorn gewuchtet, aber kein Schlag ausgeführt. Stattdessen drehte sie sich aus der Bahn Stalobors, sodass dieser ins Leere rauschte. Nein, er kollidierte sehr wohl mit Kangama. Korrekt wäre wohl, dass er von ihrem linken Arm, den sie mit aller Kraft nachzog und aus einer tiefen Position heraus direkt auf sein Kinn platzierte, getroffen wurde.

    Stalobors Bewegung stoppte augenblicklich. Es war als wäre man in vollem Sprint gegen einen unnachgiebigen Ast eines hundert Jahre alten Baumes gerannt. Ein muskulöser Baum, der dem Versuch des Widersachers mit aller Gewalt und Präzision Einhalt gebot. Stalobor überschlug sich in rückwärtiger Bewegung noch in der Luft, ehe es über den staubigen Boden rollte. Die Ohnmacht hatte da bereits eingesetzt.

    Cay war der Allererste, der zu sprechen wagte, brauchte dafür nicht einmal lange. Genau in dem Moment, als Hayes Pokémon unterlegen und geschlagen zu Halt kam, frönte er in sein Mikrofon.

    „Und das war´s! Andrew Warrener und Kangama gewinnen!“

    Sogar dem Schiedsrichter war er diesmal zuvorgekommen, der genau dies jedoch gleich offiziell bestätigte. Andrew stand im Viertelfinale.


    „Au“, rutschte es dem siegreichen Trainer heraus, als der kräftige Hüne, der eben noch sein Gegner gewesen war, ihm fast schon stolz auf den Rücken schlug. Als lobe er seinen Schüler, der ihn endlich übertroffen hatte.

    „Sehr gut, Junge. Genau so hab ich das von einem wie dir erwartet.“

    Andrew dehnte die Schulter ein bisschen, mühte sich aber, den Schmerz runter zu schlucken. Was fraß der Typ eigentlich? Der war ja noch viel kräftiger, als er aussah.

    „Danke, Mann“, murrte er ehrlich. Ein bisschen musste er sich schon zu der Höflichkeit zwingen. Junge gefiel Andrew an sich nur geringfügig besser als Bursche. Aber sei´s drum. Er fühlte sich irgendwie anders betrachtet als vor und während des Matches. Auch, da Hayes die neue Anrede anders, respektvoller betonte. Dennoch überließ er das Reden fast ausschließlich ihm.

    „Du hast Kangama bewusst mit den eigenen Attacken geschunden, um mit Gegenschlag alles klar zu machen, was? Mutig, Junge. Und Kühn. Das gefällt mir.“

    Das hatte er richtig erkannt. Gegenschlag wurde wirksamer, je geschwächter der Anwender war und eine Technik der Kampf-Typen war gegen ein Stahlpokémon zudem immer eine gute Wahl. Das Potential hatte er sicher nicht in Gänze ausgeschöpft, aber es hatte gereicht, um einen eindrucksvollen und überzeugenden Kampf zu liefern. Einen, der allen voran Kangamas Stärke, aber auch ihre Willenskraft, ihr Geschick und ihr Gespür für den Kampf offen gezeigt hatte. Der es Dan Hayes, den übrigen Teilnehmern, dem Publikum und vor allem Bella gezeigt hatte. Genau das hatte er angestrebt. Und er hoffte wirklich, dass Bella gut aufgepasst hatte.

    Grüße, Rusalka


    Ob mor die Kämpfe so sehr liegen, würde ich zumindest nicht gedankenlos unterschreiben. Auch wenn ich mit dem Endresultat in diesem sowie anderen Fällen sehr zufrieden bin, bedarf es dafür oft zermürbender Akribik und Geduld/Sturheit an der Tastatur. Das sieht der Leser natürlich nicht. 😅


    Umso mehr freut mich dein Lob. Genau das habe ich zu erreichen versucht und ich hoffe, dass ich nicht schon vor dem Finale mein Pulver verschossen haben werde. 😁

    Kapitel 48: Mädchensachen


    Die Erde wurde direkt unter Machomeis Füßen aufgebrochen und ein karminroter Gavial mit tigerähnlichem Streifenmuster schnappte mit seinem länglichen Maul nach einem der vier Arme. Eigentlich vermochte er es sehr gut verkraften, diesen einen kurzweilig nicht bewegen zu können. Der Gegner begab sich für dieses Manöver nämlich in die unmittelbare Reichweite von gleich drei weiteren, die nur mit Freuden den Angriff sowie die Schmerzen quittieren würden. Nur war der Gegner, obwohl ein ganzes Stück kürzer geraten, einfach viel kräftiger als er – eines der stärksten Kampfpokemon. Rabigator riss ihn herum und schleuderte ihn über den Sand, der durch einige Einsätze von Schaufler bereits gezeichnet war. Anschließend hallte das Wort Erdbeben über das Kampffeld, welches nach einem satten Aufstampfen der Sandechse erschüttert wurde. Machomei hatte sich gerade abfangen können und versuchte sich rasch aufzurichten, da sackte sein muskulöser Körper plötzlich nach unten ab, als der Boden unter ihm einbrach. Das war mehr als nur ein simples Zittern. Spalten taten sich auf, Gruben wurden ausgehoben, während gleich daneben plötzlich mannshohe Brocken gen Himmel schlugen, wie ein Tohaido, dass die Wasseroberfläche durchstieß. Noch bevor sein Herz wieder in seine natürliche Position zurückgekehrt war, schlug ihm das Gestein plötzlich entgegen, prügelte regelrecht auf seine Beine, seinen Körper. Einen Schlag erlitt das Kampfpokémon sogar direkt gegen das Kinn, worauf es zurücktaumelte, nur um von einem weiteren Felsklumpen, der sich von Boden löste, in den Rücken gestoßen zu werden. Der Treffer presste glatt all seine Luft aus den Lungen und raubte ihm das letzte Bisschen an Gleichgewicht, dass er hatte wahren können. Schon eine Sekunde später fand er sich in einer der Felsspalten wieder. Wie ein Spielzeug des Elements, das zum Leben erweckt schien und ihn zermürben wollte. Machomei saß fest und wurde fast völlig unter Schutt und Geröll begraben. Sand wurde aufgewirbelt, aus dem Untergrund, den Rabigator vor einer Minute noch durchpflügt hatte, um diesem Angriff vorzubereiten.

    „Alter Falter, ich hab selten so ein zerstörerisches Erdbeben gesehen!“

    Cay wankte ein bisschen zwischen Bewunderung und Entsetzen. Kaum zu glauben, dass da unten, wo sich hunderte Tonnen and Gestein überschlugen wie die tosende See in einem Hurrikan, noch zwei Pokémon standen. Naja, stehen tat nach diesem gewaltigen Schauspiel nur noch eines. Machomei hatte diverse Schläge am Kopf erlitten und das Bewusstsein verloren. Bella wäre ob dieser Brutalität stolz auf den Trainer Rabigators gewesen, doch es war schließlich nicht das erste Mal, dass er derart rücksichtslos mit einem Gegner umgesprungen war. Andrew hatte dies bereits am eigenen Leib erfahren.

    „Machomei ist kampfunfähig. Der Sieg geht an Terry Fuller und Rabigator!“, ließ der Schiedsrichter verlauten, worauf das Publikum den Beifall startete. Erstaunt, beeindruckt, aber auch einen Funken verängstigt durch das Beben, welches das Stadion bis in seine Grundfesten gespürt haben musste.

    „Hab ich zu viel versprochen? Ich sag´s doch, Fuller hat ordentlich Dampf im Kessel. Helen Crowfords Machomei hat überhaupt kein Land gesehen – und das trotz Typenvorteil.“

    Terry schien fast am laufenden Band unter benachteiligten Verhältnissen zu kämpfen, doch ein unwissender hätte das niemals bemerkt. Bislang herrschte stets mehr als nur eine Klasse Unterschied zwischen ihm und seinen Gegnern. Das traf selbst auf seine jüngste Gegnerin zu, die sich immerhin in die K.O. Runden des Summer Clash geschlagen hatte und daher zumindest ein Stück weit wissen musste, was sie tat.

    Selbige gestalteten sich aus ständig wechselnden Formaten, beginnend mit einem letzten, simplen eins-gegen-eins, gefolgt von einem Kampf mit jeweils zwei Pokémon, bei dem nicht gewechselt werden durfte. Das Halbfinale sah einen Doppelkampf vor und im Finale wurde schließlich drei-gegen-drei gekämpft, jedoch würde es da erlaubt sein, die Pokémon auszutauschen.

    Während Terry beiläufig einigen Fans zuwinkte und sich mehr formell als dankbar für den Applaus erkenntlich zeigte, konnten es innerhalb der Räumlichkeiten des Prime Stadiums zwei junge Frauen kaum erwarten, die Bühne zu betreten. Audrey beschrie den Fernsehbildschirm innerlich, der Penner möge mal hinne machen. Dank der Erdbeben Attacke hatte Terry ihre Wartezeit ohnehin schon verlängert, da das Kampffeld erst einmal aufgeräumt werden musste. Zum Glück war man hier auf solche Fälle vorbereitet und konnte schnell reagieren. Sandra dachte an Kämpfe zurück, in denen ihre Arena ähnlich verwüstet worden war. Nicht selten hatte es sich dann für den Rest des Tages mit den Herausforderungen erledigt, hatte sie doch maximal zwei Angestellte dafür. Und die hatten auch noch andere Aufgaben. In einigen Arenen gab es gar niemanden für den Job und es blieb am Leiter selbst hängen, das Kampffeld aufzuräumen.

    Die beiden Frauen hielten aus reinem Wettkampfgeist etwas Abstand zueinander, wollten sich in den letzten Minuten wie Rivalen anstelle von Freundinnen begegnen. Den Raum gänzlich zu verlassen hatte niemand von ihnen in Betracht gezogen. Verfeindet waren sie schließlich nicht und würden es auch nach dem Match nicht sein. Hin und wieder wechselte mal ein Blick rüber zur Konkurrentin, der von beiden Parteien stets bemerkt und dennoch bewusst nicht erwidert wurde. Sie waren heiß. Sie wollten loslegen.

    Audrey führte sich immer wieder verschiedene Szenarien vor Augen, wie der Kampf ausgehen könnte. Natürlich sah sie sich in jedem davon siegreich. Nicht, weil sie felsenfest von ihrem Triumph überzeugt war, sondern, um überhaupt eine Chance darauf zu besitzen. Sie hatte bestimmt ein Dutzend davon im Geiste durchgespielt, ehe Cays Stimme durch die leicht kratzigen Lautsprecher des Innenraumes die nächste Runde ankündigte.

    „Das eben war schon wild, aber das bislang heißeste Achtelfinale wird reine Mädchensache, Freunde.“

    Den Jubel der Menge hörte man bereits von hier. Ganz eindeutig war sie mindestens genauso gespannt auf das kommende Duell. Und der Lärm veranlasste die beiden nun doch, sich einen Moment lang fest in die Augen zu sehen. Sie erhoben sich zeitgleich und gingen fast synchron den Flur hinunter Richtung Tunnel. Die Augen nun wieder stur geradeaus, hielten sich Gleichschritt, bis sich ihr Weg gabelte, um eine von ihnen zum Ost- und die andere zum Westeingang zu führen. Genau in diesem Moment schenkte Audrey ihrer Gegnerin noch einen lässigen Wink mit ihrer Hand. Sandra schmunzelte hierauf bloß, stellte aber fest, dass sie sich lange nicht so sehr auf einen Kampf gefreut hatte. Und das, obwohl sie diese junge Frau erst seit gestern kannte und lediglich bei ihren Kämpfen zugesehen hatte. Sie musste ja ´nen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen haben.


    „Okay, das Feld ist wieder sauber. Zumindest einigermaßen…“

    Cays Betonung ließ erahnen, dass es ihm komplett wurscht war, auf welchem Terrain dieses Match stattfinden würde. Es sollte nur schleunigst starten, da er die Anspannung nicht aushielt.

    „Wir sind somit bereit für Runde drei. Und jetzt will ich ´nen ordentlichen Willkommensgruß für diese Trainerinnen. Lasst was hören für Audrey Miller!“

    Der bislang völlig dunkle Tunnel, aus dem besagte Trainerin erwartet wurde, erhellte sich wie auf Kommando übermäßig grell mit goldenem Licht. Es strahlte die bereitstehende Audrey nur vom Rücken an, wodurch das Gegenlicht sie bloß als dunkle Silhouette erscheinen ließ, die sich gemächlichen Schrittes näherte. Und so wie sie ihn erreichte, wurde es ein weiteres Mal finster, nur um mit ihrem Heraustreten im Inneren und auch durch einige Scheinwerfer direkt über dem Ausgang ein Lichtermeer aus allerlei bunten Farben zu entzünden. Gleichzeitig ertönte eine heroische Schlachtenmusik, wie man sie tags zuvor – und natürlich in den ersten Achtelfinals – gehört hatte. Audrey spielte ein bisschen mit, posierte für die Menge. Sie schob gerade eine ihrer beiden Sonnenbrillen von der Nase hoch auf die Stirn und ließ ihre Jacke lässig an einer Schulter herunterhängen. Auf ihrem Weg zum Kampffeld forderte sie das ohnehin euphorische Publikum zu mehr und lauterem Beifall auf. Mit dem Erreichen ihrer vorgesehenen Position ließ sie die Jacke dann achtlos hinter sich herabgleiten und zu Boden fallen. Erst jetzt sah man, dass die Ärmel ihres Hemdes abgeschnitten waren und nun lediglich ein paar modische Armbänder ihre Handgelenke bekleideten. Sie zog ihre Krawatte etwas lockerer stemmte beide Hände auf die Knie, während der Tunnel direkt vor ihr ins Visier genommen wurde.

    Komm schon raus Sandra. Es war höchste Zeit. Und Audrey des Wartens überdrüssig. Sämtliche Geduld war aufgebraucht. Da ging es einem gewissen Stadionsprecher ähnlich.

    „Oh Leute, ich glaube Miller ist echt heiß. Aber ihr Gegner hat es in sich und das wissen wir nicht erst seit der Qualifikationsrunde. Und hier kommt sie: Drachenmeisterin Sandra, Arenaleiterin von Ebenholz City!“

    Diesmal schnitt die Musik gar noch in die zweite Hälfte von Cays Satz hinein, sodass er dagegen anschreien musste, was er natürlich überaus passioniert tat. Wieder dasselbe Muster beim Lichtspiel, doch wirkte Sandras Silhouette durch den Umhang deutlich weiter und statischer. Umso beeindruckender war ihr Auftreten, als sie den Innenraum erreichte und ein Windstoß eben diesen Umhang auffing, mit ihm sowie mit ihrem himmelblauen Haar spielte. Sie machte keine Show für die Massen. Das war nicht ihr Ding. Sie fokussierte sich auf das Wesentliche – Audrey und den bevorstehenden Kampf. Sie stoppte einen Moment lang, nachdem sie ins Freie getreten war und ließ den Beifall unberührt an sich abprallen. Ein ehrgeiziger und leicht gesenkter Blick suchte nach Audrey und schien erfreut, sie mit einem sehr ähnlichen Gesichtsausdruck vorzufinden. Die Schritte, mit denen sie den Weg zu ihrem Kampfplatz schließlich bewältigte, waren rasch und fest, zeugten von Eifer und Entschlossenheit. Schon komisch, wie ernst und doch tief im Inneren frei und unbehelligt sie hier auftraten, ging es doch zwischen ihnen eigentlich um nichts. Außer der Frage nach Sieg oder Ausscheiden. Demzufolge ging es um alles. Audrey richtete sich wieder auf und machte eine Geste, als wolle sie Sandra zu sich winken. Sie war das Warten Leid.

    „Komm schon, machen wir Mädchensachen.“

    Nichts lieber als das. Der Schiedsrichter vergewisserte sich der Bereitschaft beider Trainerinnen, wurde aber nicht wirklich wahrgenommen. Doch da beide bereits einen Pokéball in den Händen hielten, genügte ihm das wohl und er gab die Begegnung frei.

    Sandra setzte für diese Gegnerin auf einen sehr vertrauten Partner, für den sie und ihre Arena in der ganzen Region bekannt war. Eine blau- weiße Drachenschlange mit einer glänzenden Kristallkugel and Hals und spitzem Horn auf dem Kopf materialisierte sich aus dem grellen Licht und reizte die Zuschauer zu einem euphorischen Aufschrei. Jeder freute sich über eine Chance, ihr Dragonir in Aktion zu sehen.

    Auf der anderen Seite schwebte ein violetter Geist der ein wenig aussah, als trage er ein Hexengewand. Die voluminöse Kopfform erinnerte an einen spitzen Hut mit breiter Krempe und auf der Brust prangten drei purpurfarbene Edelsteine. Ein bisschen erinnerte die Erscheinung an eine Hexe. Wie viele seiner Artgenossen trug auch Traunmagil ein makabres Grinsen im Gesicht, das von Schalk und Hinterlist zeugte.

    „Oho, jetzt bin ich gespannt“, meldete sich Cay.

    „Sandras Dragonir kennen wir sicher alle, aber dieses Traunmagil ist für uns noch eine Wundertüte. Miller würde es jedenfalls sicher nicht auswählen, wenn es der Aufgabe nicht gewachsen wäre.“

    „Was hältst du davon?“

    Andrew fragte nicht grundlos. Ihm war nicht entgangen, dass Ryans Brauen hochgezuckt waren, als er Audreys Kämpfer erblickte hatte. Wenn sie dieses bis hierhin aufgehoben und jetzt für das Match gegen Sandra gewählt hatte, war Traunmagil sicher eines ihrer stärksten.

    „Hab nicht gewusst, dass sich ihr Traunfugil mittlerweile entwickelt hat. Ich seh die Gattung zum ersten Mal.“

    Ryan spulte in seinem Gedächtnis zu einem seiner Kämpfe gegen Audrey. In seinen Zügen war sehr deutlich abzulesen, was für ein heißer Tanz das gewesen sein musste.

    „Hat Audrey ´ne Chance?“, konkretisierte Andrew sich, woraufhin Ryan trocken auflachte.

    „Davon ausgehend, dass Traunmagil jetzt um einiges stärker ist, als vor der Entwicklung, frag ich mich eher, ob Sandra eine hat.“


    Die ersten Minuten verliefen trotz aller Kampfeslust Sandras und Audreys noch verhältnismäßig unspektakulär. Zumindest aus Sicht der erfahrenen und routinierten Trainer im Teilnehmerfeld. Beide tasteten sich ein wenig ab. Loteten den Kräfteunterschied aus, indem sie ihre Attacken immer wieder aufeinanderprallen ließen und schließlich versuchten, schnelle Nadelstiche hinterher zu setzen. Das Publikum jedoch hielt es kaum auf den Sitzen. Der heimtückische Geist sandte gerade einige Unheilböen über das gesamte Kampffeld. Sandras Cape und Haar flatterte wild, obwohl sie nur einen Bruchteil der Kraft am eigenen Leib spürte. Dessen ungeachtet stand sie fest und erhaben, als könne selbst ein Orkan sie nicht ins Wanken bringen. Und ihr Dragonir wirkte ebenso unbeeindruckt, schoss wie ein Pfeil durch den Angriff hindurch und blieb ständig in Bewegung, um nicht doch noch erfasst zu werden.

    „Geh so nah wie möglich ran und dann Drachenwut!“

    Die Drachenschlange war binnen einer Sekunde urplötzlich direkt vor Traunmagil, wozu unter diesen widrigen Umständen vermutlich kaum ein Pokémon imstande gewesen wäre. Sie spie blaue Flammen, hüllte ihren Gegner regelrecht darin ein. Dessen eigene Attacke verebbte sofort. Schlimmer noch, Traunmagil zappelte in der Luft und versuchte mit mäßigem Erfolg die Flammen loszuwerden, sodass Sandra unbehelligt nachsetzen konnte.

    „Jetzt Drachenpuls!“

    Ein blau-violetter Energiestrahl zielte nach dem Geist und nahm auf halbem Weg eine abstrakte Drachengestalt an, die gierig das Maul öffnete. Doch sie wich völlig unerwartet spielerisch aus und tänzelte in der Luft, als habe sie nur Spaß gemacht. Das feiste Grinsen Audreys war aus der Position des Beobachters recht ansteckend. Man musste sich über das kleine Theater einfach amüsieren. Sie ordnete gleich einen Psystrahl an, dem Dragonir aber in einer Spiralbewegung direkt auf Traunmagil zu, ebenfalls ausweichen konnte.

    „Die beiden sind absolut auf Augenhöhe. Verdammt, das ist das reinste Blitzgewitter da unten“, meinte Cay und lachte beinahe wie ein Schuljunge, der nur deswegen nicht wie verrückt auf und ab sprang, weil er niemals auch nur eine Sekunde des Spektakels zu verpassen durfte.

    Beide bombardierten sich regelrecht mit Angriffen. Mit gleißenden Lichtstrahlen, Blitzen und Flammen, Schattengeschossen und dunklen Energiewellen. Doch ein Erfolg gelang nur selten, verfehlte oft nur um Haaresbreite, wobei gerade Traunmagil gar den Eindruck erweckte, nicht mehr zu tun als unbedingt nötig. Geradezu typisch für Geisterpokémon genoss sie dieses waghalsige Spiel. Sie hechteten einander in der Luft hinterher, vollführten einen flotten, gefährlichen Tanz im Kreuzfeuer, bei dem nur ein einziger Fehltritt schlimmer enden würde, als mit einem verstauchten Knöchel.

    Und es schien glatt, als würde Sandra diesen Fehltritt begehen.

    „Hyperstrahl!“

    An Dragonirs Horn wuchs ein goldener Energieball heran, den es unter normalen Umständen zu fürchten galt. Doch Ryan und Andrew waren beinahe schon entsetzt über diesen groben Fehler der Drachenmeisterin. Hyperstrahl war keine Attacke, die man so willkürlich und ohne Weiteres einsetzen sollte. Wenn schon die bisherigen Versuche fehlschlugen, konnte man gegen eine Gegnerin wie Audrey nicht so übermotiviert vorgehen. So ließ sich kein Sieg erzwingen.

    Eben die bewies diese Theorie nun, indem sie Erstauner anordnete. Binnen eines Wimpernschlages war Traunmagil plötzlich nur noch eine Handbreite von Dragonirs Gesicht entfernt. Allein dies würde die meisten schon erschrecken lassen, doch sie zeigte sich gar noch in einer boshaften Illusion, in der ihre Gestalt für einen kurzen Augenblick um ein Vielfaches anwuchs und ein tiefer, bis ins Knochenmark dringender, dumpfer Schrei eine Druckwelle durch den ganzen Körper jagte. Ihr Gesicht wurde dabei zu einer dunklen Fratze, die man sich höchstens in einem Alptraum ausdenken konnte. Der Drachenschlange war für einen Moment, als drücke man ihr das Herz und den Hals zusammen und sie schnappte nach Luft. Der Energieball verpuffte wirkungslos in helle Funken.

    Erstauner war kein besonders starker Angriff, aber äußerst nützlich, um den Gegner kalt zu erwischen und eine Lücke in seine agile Verteidigung zu schlagen. Das wirkte allerdings nicht, wenn besagter Gegner ein solches Manöver bereits erwartet und sich daher auf eine schnelle Reaktion vorbereitet hatte. Sandra grinste verschmitzt.

    „Nassschweif, jetzt!“

    Und hier offenbarte sich, dass es Audrey war, die den Fehltritt begangen hatte. Sie durfte unter gar keinen Umständen so nah an Dragonir heran. Auf kurze Distanz machte die Drachenschlange kurzen Prozess mit Traunmagil. Aus den blauen Kristallkugeln am Schweifende trat rasch Wasser aus, das selbigen in einem Wirbel einhüllte und peitschenartig zuschlug. Obwohl es bei diesem Leichtgewicht eher wie eine Keule anmutete. Traunmagil wurde einfach beiseite gefegt und flog fast waagerecht in die Betonmauer. Die Zuschauer in der ersten Reihe sprangen auf und lugten hinunter, während Cay seine Stimme wiederfand, nachdem es ihm ob dieses heftigen und vor allem unerwarteten Schlages glatt für eine Sekunde die Sprache verschlagen hatte.

    „Wow, Miller war zu voreilig und Traunmagil muss übel einstecken! Clever gemacht. Ich weiß nicht, was mehr weh getan haben muss. Der Schlag mit Nassschweif oder die Kollision mit der... ey wartet, Traumagil ist putzmunter!“

    Tatsächlich löste sich der violette Geist und begab sich wieder in die Schwebe, als habe er kaum etwas gespürt. Hatte der Stadionsprecher etwa gedacht, hier einen vorentscheidenden oder gar finalen Schlag gesehen zu haben? Da kannte er Audrey aber schlecht. Diese schmunzelte keck, als sei sie sehr zufrieden mit der im wahrsten Sinne schlagfertigen Antwort der Drachenmeisterin. Sie hatte sie mit Hyperstrahl lediglich locken wollen, um dann zuzuschlagen, wenn Traunmagil sich überlegen wähnte. Hatte sie sich da von Ryan inspirieren lassen?

    Sei es drum. Wenn sie mit seinen Techniken zu gewinnen versuchte, spielte ihr das nur in die Karten. Audrey wusste gut, wie man gegen ihn antreten musste.

    „Konfustrahl.“

    Es war nicht wirklich ein Strahl, den Traunmagil vor ihrer Brust aufglimmen ließ und gen Dragonir schleuderte. Es sah eher aus wie ein Volbeat in der Nacht. Ein unscheinbares, gelbes Licht, das sich schwebend auf die Drachenschlange zubewegte. Sandra hatte selbstverständlich nicht vor, Audrey damit gewähren zu lassen.

    „Dragonir, steig hoch und dann Drachenpuls.“

    Mit dem Höhenvorteil galt es lediglich ein paar Sekunden zu gewinnen, bevor der Konfustrahl das Drachenpokémon erreichte. Selbst wenn der eigene Angriff fehlschlagen sollte, würde Traunmagil doch zumindest die Konzentration verlieren und die Attacke abbrechen müssen. Dragonir öffnete das Maul, dessen Inneres blau- violett aufleuchtete. Man konnte meinen im unmittelbaren Umfeld dieser Drachenenergie surrte die Luft ehrfürchtig vor dieser Kraft.

    „Jetzt Tiefschlag!“

    Sandra war schon wieder aufgelaufen – und diesmal nicht mit Absicht. Tiefschlag war eine wahnsinnig schnelle Technik, die man fast unmöglich zu kontern vermochte, wenn man offensiv agierte. Noch bevor Dragonir die nötige Energie gesammelt hatte, schlugen zwei dunkelviolette Geisterfäuste nach ihrem Kinn und schließlich in den Unterbauch.

    Audrey befahl nun wieder, Unheilböen einzusetzen. Allerdings mit voller Kraft. Schon da sie dies extra betonte, schwante Ryan Böses und er presste vor dem Bildschirm die Lippen aufeinander. Die geisterhaften Windschlieren schienen diesmal die Luft zum Beben zu bringen. Pfeifender Lärm und ein tiefes Surren lagen so stark darin, dass man das eigene Wort kaum verstehen konnte. Die Stimme von Cay ging trotz der Stadionlautsprecher völlig unter. Der Drachenschlange war, als zerre man von allen Seiten gleichzeitig an ihrem Körper, während sich das Gewicht eines Stahlos auf sie legte und gen Boden zu drücken versuchte. Ihr Körper wurde in den peitschenden Winden rasch taub. Das würde sie keine Minute aushalten!

    „Bo…yga…“

    Da war eine Stimme. Energisch und unverkennbar. Eine leitende Hand in der Dunkelheit. Wie konnte in diesem tosenden Sturm aus Geisterenergie überhaupt noch ein Wort zu ihr durchdringen?

    „Lo…, Bo...ygard!“

    Ein berauschendes Kribbeln löste die Taubheit in ihrem Leib ab. Dragonir riss die Augen auf und tatsächlich schimmerten sie in einem sachten, azurblauen Licht. Es übertrug sich auf den gesamten Körper und verschluckte das Rauschen, das Zerren, Reißen und Toben. Sie hüllte sich in einen Schutzschleier.

    Audrey konnte selbst kaum sehen, was in den Unheilböen vor sich ging. Normalerweise müsste die Drachenschlange so langsam, am Ende sein, wenn sie keinen Ausweg fand. Doch solange Traunmagil die Attacke aufrecht hielt, sah sie ihren Gegner noch nicht am Boden. Und hinter dem erbarmungslosen Sturm aus Schwarz und Violett erhellte sich plötzlich eine schmale, längliche Gestalt. Ihr Angriff schien dem Wesen auszuweichen wie ein Fluss einem Felsen. Hatte Sandra also doch ein Mittel gefunden. War das eben ihre Stimme, die da zu ihr durchdrang?

    Welches Wort hatte sie gerufen? …per…sahl? … strahl – Hyperstrahl!

    Audreys Augen wurden groß, als plötzlich ein goldener Energiestrahl die Böen durchschlug und zerfetzte, so wie der kräftigste Sonnenstrahl einen dünnen Wolkenteppich zerteilte. Weder ihr noch Traunmagil blieb die Zeit für eine Reaktion. Es war als habe sich das Licht der Sonne zu einem Geschoss gebündelt und mit der Geschwindigkeit von eben jenem den Geist davon gefegt. Diesmal konnte man glatt davon ausgehen, die Mauer hinter Audrey würde durchschlagen und durchlöchert werden. Und was dann mit Traunmagil geschehen würde, wollte man sich eigentlich kaum vorstellen. Die Zuschauer oberhalb des Einschlagortes waren diesmal deutlich weniger neugierig und schaulustig. Einige erschraken gar und schlugen die Arme vor´s Gesicht – und sei es nur, um die Augen von Schutt und Staub oder bloß dem Lichtschein zu schützen.

    „Ach du sch… und ich hab Sandra schon fast abgeschrieben. Das sah fast nach Schachmatt aus und dann pflügt Dragonir da einfach mal durch alles und jeden durch. Dieser Hyperstrahl war unglaublich!“, ertönte es nun wieder hörbar aus den Lautsprechern. Cay wirkte beinahe schon entsetzt ob dieser gewaltigen Kraft. Das übertraf ja sogar Terry Fullers Aufritt von vorhin.

    Ein Loch war Dragonir mit diesem Hyperstrahl zwar nicht gelungen, aber eine tiefe Mulde sowie einige lange Risse. Und im Zentrum der zerstörerischen Spuren hing ein violetter Geist, mit Schrammen und Brandwunden übersät, zitternd und jauchzend. Man konnte im Sand sogar deutlich sehen, wo genau der Hyperstrahl entlang gewütet hatte. Die Druckwelle hatte eine Schneise, so breit wie ein Wailmer, in den Staub geschlagen und in dessen Zentrum glühte tatsächlich ein schmaler Streifen Erde.

    Das Zucken, das Aufbäumen der Nerven ließ den Körper Traunamgils sich von der Mauer lösen. Er glitt sachte und langsam gen Boden, wie ein Blatt, das von einem Baum fiel. Audrey hatte den Blick gesenkt, sodass ihre Augen unter ihrem Haar verschwanden. Dem Großteil der Zuschauer stockte der Atem, während Cay bereits Luft holte, um das Urteil auszusprechen, dass die Trainerin aus Rosalia City geschlagen sei. Hätte sie von dieser Intention seinerseits gewusst, würde sie ihm dafür nach dem Kampf dermaßen eine kleben, sodass er den Rest des Tages rückwärts laufen müsste.

    Nur Zentimeter über dem Boden raffte sich Traunmagil unverhofft auf, als habe eine Windböe sie hochgewirbelt. Sie sog tief Luft ein und rief laut ihren Namen aus, was ein Raunen durch´s Publikum sandte.

    „Ich pack´s nicht, Mann. Die Kiste ist noch nicht durch!“

    Und der Stadionsprecher schien keineswegs traurig darüber. Gäbe es da nicht noch so viele andere Trainer, auf die er sich schon seit gestern freute, könnte er diesen beiden Frauen den ganzen Tag zusehen.

    Ein freches Schmunzeln zierte Audreys Visage und Sandra, die nun wieder offen vor ihr stand, spreizte die Beine etwas, als habe sie vor, selbst handfest in den Kampf einzugreifen. Sie hatte es geschafft, eine Bresche durch die Dauerangriffe Traunmagils zu schlagen, war aber daran gescheitert, das volle Potential aus der Gelegenheit zu schöpfen. Was bedeutete, nun würde sie mit dem stärksten Gegenschlag rechnen müssen, den Audrey noch zu bieten hatte, denn diesen weiter aufzuheben stand nicht länger zur Debatte. Ihr Pokémon war den Grenzen der Erschöpfung nahe und konnte in fortschreitender Zeit keinen Verbündeten mehr finden. Sie ging entweder jetzt auf´s Ganze oder warf das Handtuch. Ihr Grinsen verriet, dass sie letzteres nicht in Erwägung zog.

    „Traunmagil“, erhob sich ihre Stimme, welcher der Drachenmeisterin gespannt lauschte, und sich für verschiedene Szenarien in Gedanken bereits einen Konter zurechtlegte.

    „Leidteiler.“

    Sandra blinzelte baff. Ihr Kiefer spannte sich an. Wie um alles in der Welt sollte sie das denn auskontern?

    Eine schwarze, leicht transparente Ranke stieß aus Traunmagils Brust und verband sie rasch mit Dragonir. Es wäre sinnlos, davor zu flüchten oder eine eigene Attacke dagegen einzusetzen. Diese Energie ließ sich nicht abwehren und nach dem Hyperstrahl waren ihre Optionen zudem stark eingeschränkt. Sie schlang sich einmal um das Drachenpokémon und schon im nächsten Moment zuckten dunkelviolette Blitze um den Körper, ließen ihn erstarren, verkrampfen und entlockten markerschütternde Schmerzensschreie. Gleichfarbige Lichtpunkte wanderten indessen durch die schwarze Energie von Dragonir aus zu Traunmagil.

    Während Cay total perplex über das Ass war, welches Audrey hervorgezaubert hatte, beschäftigte Sandra etwas viel Wichtigeres. Den meisten auf den Tribünen war es vermutlich entgangen, doch die Arenaleiterin sowie Ryan, Andrew, Terry und zweifellos auch Bella, hatten genau in diesem Moment erkannt, dass Audrey von Anfang an hierauf hingearbeitet hatte. Warum den Gegner selbst in einem langen, aufreibenden Kampf zermürben, wenn der die Arbeit auch selbst machen konnte? Mit Hyperstrahl hatte Dragonir ihr schwerstes Geschütz aufgefahren. Nun war ihr Pulver weitestgehend verschossen, denn so ausgelaugt und ermattet, wie sie nun in der Luft hing und erbärmlich keuchte, würde sie diese Attacke keinesfalls noch einmal zustande bringen. Und selbst wenn, so konnte Audrey noch immer mit Tiefschlag kontern.

    Das wusste auch Sandra, weshalb sie diesen Plan sogleich verwarf.

    „Alle Achtung. Du übertriffst meine Erwartungen, Audrey“, murmelte sie nachdenklich. Sie musste etwas Anderes probieren. Musste die nötige Kraft sammeln, um es trotz Traunmagils Regeneration mit dem nächsten Schlag beenden zu können.

    „Dragonir. Drachentanz, los!“

    Das könnte ihr so passen. Sandra war sicher nicht so naiv, zu glauben, Audrey würde sie einfach so gewähren lassen. Wenn sie der Drachenschlange erlaubte, sich noch einmal zu stärken, könnte ein einziger Treffer das Match plötzlich wieder herumreißen, gar entscheiden. Mit Tiefschlag konnte sie allerdings nicht dazwischengehen, was sicher auch der Hintergedanke der Arenaleiterin war. Nur hatte sich Audrey auch noch eine Technik aufbewahrt.

    „Schattenstoß!“

    Noch so eine schnelle Attacke. Audrey hatte Traunmagil scheinbar echt alles beigebracht, was im Bereich des Möglichen war. Eine Eigenart, die zumindest in Teilen von Ryan an sie angefärbt war.

    Der Geist – nach dem Leidteiler nun deutlich munterer und flinker – machte einen Bogen in der Luft und verschwand schließlich im Boden, wo er als schwarzer Schatten zwar sicht- aber nicht greifbar blieb. Ryan erinnerte sich, dass Milas Zwirrlicht die Attacke bei ihrem Wettbewerbsauftritt ebenfalls genutzt hatte, wenn auch in etwas anderer Form.

    Binnen eines Wimpernschlages war der Schatten plötzlich direkt unter Dragonir. Sandra fiel in diesem Moment nichts Besseres ein, als ein taktischer Rückzug. Und zwar in die Höhe. Dragonir stieg gen Himmel, um der Reichweite Traunmagils zu entgehen. Gut, so dachte sich Audrey. Dann eben anders.

    „Phantomkraft!“

    Das hexenartige Pokémon tauchte aus der schwarzen Lache aus, nur um direkt darauf in einen violetten Nebel zu verschwinden, der direkt über ihr aufgetaucht und ebenso schnell wieder verschwunden war. Von Traunmagil fehlte plötzlich jede Spur.

    Phantomkraft. Der Schaufler der Geister, wie Sandra es gerne nannte. Sie wusste genau, sobald sie nun irgendeinen Befehl gab, würde der Angriff aus dem toten Winkel Dragonirs erfolgen und den Kampf vermutlich beenden. Sie musste sich irgendwie von allen Seiten schützen. Einer ihrer Mundwinkel zuckte nach oben.

    „Benutze Windhose als Schild!“

    Die Erschöpfung ließ einen Großteil der Anmut einbüßen, doch Dragonir schaffte es noch, mit einigen spiralförmigen Flugbewegungen einen Wirbelwind um sich zu erzeugen, in dessen Auge sie völlig unberührt und vor allem sicher vor Angriffen blieb. Cay hielt es kaum noch aus. Wie lange würde Sandra so noch davonkommen, ehe Audrey eine Lücke in der Verteidigung fand?

    „Jetzt wird´s spannend, Freunde. Sandra ist auf dem Rückzug, aber das hatte vorhin schon mal so ausgesehen. Kann sie jetzt nochmal zurückschlagen?“

    Eine sehr gute Frage. Die Drachenmeisterin wüsste sie selbst gern beantwortet. Doch ihr wurde nicht gerade viel Bedenkzeit geschenkt.

    „Greif von oben an, Traunmagil!“

    Alle Blicke wurden empor zu Dragonir gerissen und die tat dasselbe. Genau über ihr erschien plötzlich wieder derselbe lilafarbene Nebel. Diesmal zeichnete sich das dämonische Grinsen einer zerfurchten Teufelsfratze daraus ab, aus deren Maul Traunmagil, von violetter Geisterenergie eingehüllt, direkt auf ihren Rücken herabstürzte. Trotz ihres wendigen Körpers antwortete ihre Wirbelsäule auf den Schlag mit einem lauten Knacken und Dragonir selbst mit einem röchelnden Stöhnen. Dann wurde es kurios.

    In der Kollision war Dragonirs Schweifspitze aus dem Auge der eigenen Windhose getreten und von selbiger erfasst worden. Ihr Körper wurde herumgewirbelt wie ein Blatt im Wind und sie riss Traunmagil glatt mit sich.

    „Oha, das lief nicht nach Millers Plan, schätze ich. Die beiden Pokémon haben sich in der Luft verkeilt. Wenn das mal nicht ins Auge geht.“

    Weder Sandra noch Audrey schenkte dem überflüssigen Kommentar Gehör. Sie mussten irgendwie ihre Pokémon aus dieser gleichseitigen Bredouille bekommen und das am besten, ohne dem Gegner großartige Chancen zu eröffnen. Und Audrey entschied sich für den rustikalen Weg.

    „Spukball, jetzt!“

    Der Geist brauchte gar nicht zielen. Der Gegner war im wahrsten Sinne direkt vor ihrer Nase. Die schattenhafte Energiekugel detonierte noch direkt vor ihrer Brust und zerfetzte endlich die Windhose. Violetter Rauch hüllte die beiden ein, aus dem Traunmagil jedoch schon einen Moment später heraus tauchte. Sie hatte sich mit diesem Manöver selbst ordentlich eine verpasst, aber das war verkraftbar. Die Drachenschlange sollte so langsam genug haben. Nur noch ein gezielter Treffer und dieses Match wäre vorbei.

    Das wusste auch Sandra. Und genau das war der Punkt, der sie zu der folgenden Entscheidung führte. Es war ein riskanter Schachzug, aber von hier an gab es nicht mehr viel zu verlieren. Jetzt oder nie!

    „Nassschweif, Dragonir! Bring Traunmagil auf Abstand!“

    Der Nebel hatte sich noch nicht ganz gelichtet da wurde er von einer blau- weiß geschuppten Schwanzspitze mit zwei tiefblauen Kristallen daran durchpflügt und entzwei geteilt. Eine Peitsche aus Wasser schlug nach dem Geist-Pokémon, das sich jedoch einfach ein Stück fallen ließ und somit schon durch eine leichte Neigung des Oberkörpers ausweichen konnte. Mehr hatte die Drachenmeisterin gar nicht zu erreichen versucht.

    „Jetzt als Wasserrad!“

    Mit dem Kommando wusste weder der gemeine Zuschauer noch unter der Konkurrenz jemand etwas anzufangen. Selbst Cay blieb das Wort im Hals stecken.

    Dragonir formte mit ihrem Körper ein Rad, den Schweif nach außen abstehend und begann wie ein solches zu rotieren. Das Wasser, das weiter aus dem Schweifende austrat, legte sich somit über ihren gesamten Rücken und sie wurde zu einem schmalen, rotierenden Geschoss, das nach Traunmagil zielte. Das Tempo und die damit einhergehende Wucht waren sehr gut daran auszumachen, wie stark das Wasser vom Körper der Drachenschlange peitschte. Es gelang gar ein Treffer direkt auf Traunmagils Schädeldecke. Sie musste sich kurz schütteln. Ein kurzer Moment, der alles entscheiden könnte, bot sich an.

    „Und nun Drachenwut!“, befahl Sandra lauthals, vollführte dabei eine wegwischende Handbewegung. Dragonir sang ihren Namen so stark und so erhaben, wie es ihr gebeutelter Zustand noch erlaubte und spie wieder die bläulichen Flammen, wie vorhin schon. Sie brauchte gar keine Kraft in den Angriff zu stecken. Durch die fortwährenden Bewegungen fing ihr Körper das Drachenfeuer von selbst auf. Manch einer mochte sich wohl wundern, wie es denn ohne Weiteres mit dem Wasser in Kontakt kommen konnte, ohne zu erlöschen, doch erfahrene Trainer wussten natürlich, dass Drachenfeuer bei weitem nicht so leicht erlosch, wie gewöhnliche Flammen. Cay schien dieses Wissen entweder vorauszusetzen oder selbst nicht zu besitzen. Jedenfalls versäumte er, die Erklärung zu liefern. Vielleicht war er aber auch einfach zu gefesselt und gespannt, wie dieser, womöglich letzte Angriff dieses Matches ausgehen würde.

    „Seht euch das an! Die Drachenwut legt sich wie ein zweiter Mantel um Dragonir. Alter, was für eine Power dahinterstecken muss…!“

    Eine gewaltige. Ryan bemerkte, wie er den Atem anhielt. Er selbst hatte schon Verbindungen zwischen Wasser und Drachenfeuer beobachtet. Er hatte sogar mal solch blaue Flammen auf der Oberfläche eines Sees tanzten sehen. Aber das im Kampf so einzusetzen und diese Energien zu entfesseln – das war… beachtlich. Linde gesagt.

    Andrew sah das ganz ähnlich und zog beeindruckt beide Brauen hoch. Terry, der etwas abseits der beiden die Monitore beobachtete, beließ es bei einer. Und dann war da noch Bella, die weit im Hintergrund blieb, um unbemerkt an ihrem Flachmann zu nippen. Die schmunzelte verspielt und verschmitzt. Es gefiel ihr sehr, was ihre Feinde so aus dem Hut zaubern konnten. Selbst Audrey konnte über dieses Schauspiel nur staunen. Fast – aber wirklich nur fast – wäre es zu überwältigend, um etwas entgegenzusetzen. Das musste sie allerdings tun, wenn sie nicht verlieren wollte. Nur was?

    Schließlich was es alles zu schnell gegangen. Traunmagil hatte gar nicht erst versucht, eigens auszuweichen, da das Feuer zu weit gestreut wurde. Und egal, was sie Dragonir entgegengesetzt hätte, es wären vergebene Mühen gewesen. Mit so einer vermengten Zerstörungskraft zweier Elemente konnte sie nicht mithalten.

    Von Flammen verzehrt. Von Fluten ertränkt. Eine Naturgewalt, die lebte, atmete, verzehrte, um weiter zerstören zu können. Und eine, die Leben gleichermaßen erschuf, wie vernichtete und die Kraft besaß, Kontinente zu bewegen. In deren Angesicht war die zierliche Gestalt Traunmagils weniger als ein Kieselstein, den man unbedacht aus dem Weg trat. Dragonirs Angriff grub eine tiefe Furche in den Boden, sodass man ein Onix darin hätte vergraben können. Funken und Flammenfäuste stoben zu allen Seiten und regneten sanft auf den Sand nieder, der Sekunden später von einem zarten Sprühregen durchtränkt wurde. Im Zentrum dieses Kraters wütete dagegen blanke Zerstörung. Ein Meteor war im Prime Stadium eingeschlagen und weigerte sich, zu erlöschen, zu bremsen, sich von dem Erdball stoppen zu lassen. Sandra und Audrey wurden so stark geblendet, dass die Augen schmerzten. Sie rissen schützend die Arme hoch und stemmten sich gegen die Druckwelle, die sie hinwegzufegen drohte. Die Drachenschlange trieb ihr Rad so lange und so weit, wie es ihr nur irgendwie möglich war, in den Boden. Der Körper war längst taub. Die Muskelkraft gänzlich erloschen – im Gegensatz zur ihrer Drachenwut. Allein die Rotationsenergie, angetrieben durch eben diese sowie den Nassschweif hielt den Angriff weiter aufrecht.

    Und ganz plötzlich kapitulierte der Meteor dann doch. Die Flammen erloschen. Das Wasser versiegte. Der Lärm erstarb. Nur Dragonir erschien für einen Atemzug dort, wo eben noch das Zentrum all dieses Wütens gewesen war. Wie eine Feder sank sie völlig erschöpft gen Boden – oder eher in den von ihr geschaffenen Krater. Ein überdimensionales Grab für eine Kämpferin, die ehrenhaft gefochten, alles gegeben und am Ende gesiegt hatte…

    Sieger gingen nicht zu Boden!

    Sandra zog einmal scharf Luft ein. Als hätte ihre Partnerin es gehört, spannte sie ein letztes Mal ihre zitternden, brennenden, protestierenden Muskeln an und hielt sich geradeso über dem bewegungslosen Körper eines violetten Geistes. Keine Rufe und keine Stimme mehr. Doch hievte sie ihr stolzes Haupt hinauf zum Himmel.

    „Traunmagil ist kampfunfähig. Dragonir gewinnt“, ertönte die Stimme eines in Uniform gekleideten Mannes, den man während eines solchen Spektakels so leicht und häufig vergaß, obwohl es doch sein Urteil war, auf das stets alle warteten. Er reckte die Fahne in seiner Linken und zeigte dann in Richtung der Drachenmeisterin.

    „Das Match geht an Arenaleiterin Sandra!“

    Kapitel 47: Auffällig unauffällig


    Die Atmosphäre im Prime Stadium war mit dem Vortag in keinster Weise zu vergleichen. Die Ränge waren scheinbar restlos gefüllt und Stadionsprecher Cay hatte Schwierigkeiten, gegen ihre gesammelte Stimmgewalt überhaupt Gehör zu finden.

    Auch zwischen den Teilnehmern des Achtelfinals wehte nun spürbar ein anderer Wind. Die hatten sich, wie schon bei der Eröffnung, vor der Haupttribüne aufgereiht und warteten auf die Bekanntgabe der Begegnungen, die von hier an jede Runde auf´s Neue per Zufall ausgelost und über die Videoleinwand mitgeteilt wurde. Die wenigsten strahlten Gelassenheit aus. Fast jeder schien sich gedanklich mindestens mit einem der benachbarten potentiellen Gegner zu beschäftigen. Sandra, Ryan, Terry und auch Andrew – keiner dieser vier konnte ein Wunschgegner der übrigen Trainer sein. Mit einer Ausnahme natürlich.

    „Oh yes, gleich sind wir soweit. Und sieh sich einer nur die Qualität an, die da unten auf dem Feld steht“, frönte Cay, wobei man nicht den Eindruck gewann, der mache hier bloß seinen Job und versuche die Menge mit seiner Euphorie anzustecken. Der Mann war wirklich heiß auf die kommenden Kämpfe.

    Die Qualifizierten waren von links nach rechts ihrem Rang entsprechend von Nummer 16 bis Nummer 1 aufgereiht. Was bedeutete, dass Bella sich an zweiter Stelle direkt neben Sandra als Führende und dem drittplatzierten Ryan wiederfand. Und gerade letzteren beäugte sie unentwegt mit verspielter Gier. Andrew hätte gerne einen Versuch unternommen, ihrem Blick zu trotzen, sollte er mal auf ihn fallen, aber der stand leider ein bisschen zu weit abseits. Ryan allerdings konnte ihren bernsteinfarbenen Augen nicht entkommen und es amüsierte sie, dass er stur geradeaus zu sehen versuchte. Er hielt sich wacker, war aber definitiv angesäuert.

    „Arenaleiterin Sandra aus Johto hat den Vorrunden echt ihren Stempel aufgedrückt und sich die Pole Position geholt.“

    Was dieser Rang am Ende wert sein sollte, blieb abzuwarten. Ob man sich auf diesem oder auf dem letztmöglichen qualifizierte, war fast einerlei, da im Achtelfinale theoretisch jeder auf jeden treffen konnte. Damit es aber einen Anreiz gab, wurde zumindest für´s Achtelfinale nicht mit huntertprozentigem Zufallsverfahren ausgelost. Je höher man platziert war, desto größer war die rechnerische Chance, auf einen Gegner der unteren Regionen zu treffen. Nur eine erhöhte Prozentchance. Letztendlich gab es keine Garantie.

    „Dahinter eine Newcomerin, die für richtig Wirbel gesorgt hat. Bella Déreaux steht hier bei ihrem allerersten offiziellen Turnier in der Spitzengruppe. Und das bei dieser Konkurrenz! Auf die Wunderkiste freu ich mich besonders. Ich meine, wer liebt so eine Story nicht?“

    Ryan würde hierauf zumindest in diesem speziellen Fall gerne die Hand heben.

    „Den Jungen daneben kennen da schon mehr, aber Carparso hat bislang ausschließlich auf neue Pokémon gesetzt. Kaum zu glauben, dass er seit der Silberkonferenz mehrere Neulinge soweit herantrainiert hat, um hier so eindrucksvoll mitwirken zu können. Ich bin gespannt, ob wir dennoch ein paar seiner bekannten Pokémon sehen werden.“

    In Gedanken beantwortete er das bereits, aber dann drifteten selbige für ein paar Sekunden, in denen Cay sich daran schickte, auch Trainer wie Andrew, Audrey und natürlich Terry sowie deren bisherige Duelle hervorzuheben, ein wenig ab. Grund dafür war der süße Rotschopf, der es durch stundenlanges Anstehen geschafft hatte, diesmal einen Platz in der ersten Reihe zu finden. Nun konnte Ryan sie immer finden, wenn er auf dem Feld stand und das gab ihm einen zusätzlichen Schub an Kraft und Motivation. Für sie – und zu einem geringen Teil auch für das gesamte Event an sich – hatte er wieder seine Kleidung von ihrem Rendezvous, bestehend aus Tribal Shirt und Sommerweste gewählt. Ja, er müsste schon lügen, wenn er behaupten wollte, sie hätte hier keinerlei Einfluss auf ihn.

    Einige Momente später war es endlich soweit. Sechzehn leere Felder, davon immer zwei paarweise nebeneinander, erschienen auf dem Bildschirm über ihrer aller Köpfe und selbst Bella riss ihren Blick kurzzeitig von Ryan los.

    „Jetzt alle mal kurz die Luft anhalten“, scherzte Cay, während die Felder aufblinkten und ein simuliertes Herzklopfen über die Stadionlautsprecher gespielt wurde. Zu lange spannte man sie aber nicht auf die Folter.

    Begleitet von einer lautstarken Kundgebung des Stadionsprechers erschienen die Gesichter der der Trainer in den Kästen. An den Reaktionen der meisten erkannte man aus dem Augenwinkel, wer nicht gerade ein Wunschlos gezogen hatte. Manche einer schlug die Hände über den Kopf oder eine Hand vor den Mund. Ryan und Andrew aber entschieden, die Paarungen gemeinsam mit Cay durchzugehen. Denn natürlich las er alle einzeln vor.

    „In der ersten Runde sehen wir die Feuer-Trainerin Tina Fergison und außerdem Mitch Morrow, der die komplette Quali mit seinem Sichlor bestritten hat. Danach kommt Terry Fuller. Der amtierende Johto Champion tritt gegen Helen Crowford an, die sich geradeso auf Rang 16 geschoben hat.“

    Womit bestätigt war, dass eine erhöhte Chance keine Garantie bot. Die Aussicht, dass dieses Duell stattfinden würde, war sehr gering gewesen, was die Trainerin ziemlich frustrieren dürfte. Und auch die nächste Partie war keine, mit der man unbedingt hätte rechnen können.

    „Oho, auf Runde drei freu ich mich jetzt schon. Die Spitzenreiterin Sandra bekommt es mit dem Temperament der energiegeladenen Audrey Miller zu tun!“

    Diese Kundgebung wurde gar von einem leichten, euphorischen Aufschrei der Zuschauerschaft begleitet. Und auch die beiden Akteure selbst freuten sich ungemein über das Los. Besonders Audrey grinste heiß, als wolle sie das Bild Sandras auf der Leinwand verführen. Den Blick rüber zum Original ließ sie aber bleiben. Die Drachenmeisterin gönnte sich wenigstens einen Seitenblick, begleitet von einem Schmunzeln, das schwieriger einzuordnen war.

    Die anderen beiden Trainer aus Johto mussten länger auf ihre eigenen Namen warten. Die nächsten Duelle bekleidete keine bekannten Namen, obwohl Cay besonders einen gewissen Jamie Gregory hervorhob und zudem eröffnete, dass der Typ den Spitznamen „Märtyrer“ trug. Durch seine Pokémon oder Strategien war er aber nicht weiter aufgefallen. Durchaus aber mit dem Erreichen des vierten Platzes in der Qualifikation, womit er sowohl Audrey als auch Andrew hinter sich gelassen hatte.

    Danach folgte jedoch ein weiterer, der für Hellhörigkeit sorgte. Bei einigen gewissen Teilnehmern gar noch mehr als bei der Allgemeinheit.

    „Im sechsten Durchgang muss Amy Valentine gegen die gnadenlose Bella Déreaux ran.“

    Die Lobeshymnen auf die Agentin blendete Ryan aus. Stattdessen wagte er nun doch, sie aus dem Augenwinkel anzusehen. Die junge Frau hatte nach wie vor den Bildschirm im Visier und fing – sehr bewusst – erst nach mehreren Sekunden den Blick ihres Konkurrenten und Feindes auf. Dass Pete allein durch sie letzte Nacht seinen Tagesumsatz erzielt hatte, sah man ihr kein bisschen an. Wie viel Alkohol passte in die eigentlich rein?

    Ihr Lächeln wurde ein bisschen weiter, aber eine Drohung vermochte Ryan dahinter nicht zu erkennen. Die sparte sie sich wohl für den rechten Moment, wenn sie sich einander gegenüberstanden.

    Andrew trat in der siebten Runde gegen Dan Hayes an, der sich auf Stahlpokemon spezialisierte. Es blieb abzuwarten, wen er hier ins Rennen schicken würde. Auf dem Papier hätten nämlich alle vier Pokémon, die er momentan bei sich führte, eher schlechte Karten.

    „Und den Abschluss aus den besten sechzehn machen somit Ryan Carparso und Chester Rome. Das wird ein weiteres Duell zwischen Veteran und Rookie.“

    Tatsächlich stand Rome, wie manch anderer hier, ebenfalls noch in der Frühphase seiner Karriere und hatte Rang 15 belegt. Damit hatte Ryan zumindest auf dem Papier einen ähnlich ungefährlichen Gegner gezogen, wie Terry. Aber gerade aufgrund von dessen Platzierung mahnte er sich, selbigen zu unterschätzen. Er meinte sich zu erinnern, wenigstens einen seiner Kämpfe gemeinsam mit Melody verfolgt zu haben und zur Laufkundschaft zählte er sicher nicht. Ein stärkerer Gegner wäre Ryan auch tatsächlich lieber, denn nachdem er mit Justin und Cody bereits zwei krassen Underdogs gegenübergestanden war, hatte er keinen Bock mehr auf die haushohe Favoritenrolle. Nur leider gab es bei diesem Turnier lediglich eine Handvoll Trainer, bei denen man ihm eine solche nicht sofort zusprechen würde. Ironischerweise handelte es sich dabei ausschließlich um die Wunschgegner, die er Sandra gestern Abend noch genannt hatte.

    „Die Karten liegen auf dem Tisch, Freunde“, hielt Cay fest und baute seine Ansprache für das erste Match auf.

    „Fergison und Morrow – an eure Kampfplätze, wenn ich bitten darf. Und der Rest räumt das Feld, denn auf dem knallt´s gleich!“

    Die geforderten Kontrahenten sowie der Schiedsrichter nahmen ihre Plätze ein, während sich die übrigen Trainer wieder in die Katakomben verzogen. Ryan war der letzte, der sich zum Gehen wandte. Er wollte den Blickkontakt zu Melody so lange wie möglich halten und wusste hinterher selbst nicht den Grund dafür. Vielleicht, weil er zuletzt häufiger Bellas Gesicht als ihres zumindest vor seinem inneren Auge gehabt hatte? Oder in seinen Gedanken? Er versuchte sich einzureden, dass er dies nur tat, damit er möglichst bald wieder ausschließlich an Melody denken und sie sehen konnte. Nicht dass dies gelogen wäre, aber dennoch bereitete ihm der Gedanke an die nahe Zukunft Sorgen. Schon morgen, wenn der Summer Clash zu Ende wäre, könnte wer weiß schon was passieren. Team Rocket könnte sie erneut angreifen oder gar andere Drachenpokémon sich ihm entgegenstellen. Bei dem Gedanken war Ryan heilfroh, bisher keine auf der Seite anderer Trainer gesehen zu haben. Er trug schließlich nach wie vor den Drachensplitter bei sich und sollte ein Vertreter dieser Gattung aus heiterem Himmel ihn anstatt seines unmittelbaren Gegners angreifen, stünde ihm eine Menge Ärger ins Haus.

    In seinen Gedanken versunken, bemerkte Ryan seinen Kindheitsfreund fast gar nicht, als der ihn anstieß und geradeaus, direkt auf die vorausgehende Bella deutete.

    „Hat sie was gesagt?“

    Als das verneint wurde, schürzte Andrew feindselig die Lippen. Gestern noch hatte es einen winzigen Teil in ihm gegeben, der überzeugt war, sie könnten unter anderen Umständen gut mit der Agentin auskommen, ja sogar Freunde werden. Heute könnte er sich für den Gedanken selbst eine reinhauen. Dass Bellas Augen schon den ganzen Morgen ständig an ihnen beiden hafteten, ohne einen Ton zu sprechen, zerrte zudem an Andrews Nerven.

    „Die Tussi macht mich irre. Das Mindeste was sie tun könnte, wäre versuchen, uns zu provozieren.“

    Das wäre auch Ryan zumindest lieber, als die schweigenden Blicke, die er nicht zu interpretieren wusste. Andrew hatte sehr präzise erzählt, welche Worte zwischen ihm und ihr am Vorabend gefallen waren und das Einzige, dessen sie sich gewiss sein konnten, war ihre Vorfreude auf ein paar gute Kämpfe. Es war nicht einmal völlig ausgeschlossen, dass dies allein der Grund für ihre Teilnahme war. Jedoch glaubte keiner der beiden Trainer aus Johto daran. Das wäre selbst für sie zu leichtsinnig.


    Melody hatte das Kinn auf die Unterarme gestützt, die wiederum auf der Mauer ruhten. Etwa zweieinhalb Meter darunter war schon der Sand des Kampffeldes, obgleich natürlich noch einige Meter Distanz zu den fein gezogenen Markierungen war. Ganz so dicht durften die Zuschauer eben doch nicht an das Geschehen heran. Auch aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit.

    Das Mädchen seufzte und blies nachdenklich die Backen auf. Ähnlich wie Ryan war sie so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie die sich nähernde Frau direkt neben ihr auf der Treppe, erst wahrnahm, als sie eine Hand auf ihre Schulter legte und Melody gar etwas erschrak.

    „Angespannt?“, fragte Mila nachsichtig und schenkte ihr ein gelassenes Lächeln. Solange die Drachenpriesterin vermochte, nur an den Wettkampf, anstatt an den Krieg zu denken, musste sie es nicht einmal falsch aufsetzen. Leider waren diese Momente derzeit selten und nur von sehr kurzer Dauer.

    „Auch.“

    Melody versuchte sich an einem ähnlichen Lächeln, aber jemanden wie Mila konnte sie damit ganz sicher nicht täuschen.

    „Ich hab den ganzen Morgen über uns nachgedacht.“

    Es war schon seltsam, dass die beiden Frauen hier mitten in der Öffentlichkeit ein so persönliches Gespräch beginnen konnten, ohne sich um die Menschenmassen im Umfeld Gedanken machen zu müssen. Die waren ausnahmslos viel zu eingenommen von den Pokémon, die gerade das Kampffeld betraten. Keiner käme auf die Idee, ihnen auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken, wenn nun endlich der wahre Summer Clash startete.

    „Ich hatte Ryan versprochen, dass ich bei ihm bleibe. Und das will ich auch, aber…“

    Sie hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worten zu finden. Ihre Gedanken rund um die Beziehung, die sie sich mit Ryan wünschte, waren noch nicht gänzlich sortiert.

    „Ihr fühlt euch ihm noch sehr fern, nicht?“, wagte Mila zu raten. In der Tat konnte Melody nicht behaupten, dass sie beide – besonders aber sie selbst – bereit waren. Aus diversen Gründen, wie man betonen musste.

    „Versteh mich nicht falsch, Mila. Ich verlange nicht von Ryan, dass er das Kämpfen aufgibt. Im Gegenteil, ich finde es toll, ihn da unten zu sehen und will ihn dabei unterstützen. Aber ich wünsche mir einfach mehr Zeit mit ihm. Unbeschwerte Zeit.“

    Mit Sicherheit wünschte Ryan sich diese ebenfalls. All das hier, die Situation, in der sie sich befanden, alles was gerade passierte, konnte nie und nimmer wünschenswert sein.

    „So sehr hab ich mich nach ihm gesehnt und jetzt sehe ich ihn fast nur von Rand des Kampfplatzes aus. Oder schlimmer, auf einem regelrechten Schlachtfeld.“

    Ihm bei seinen Matches nur aus der Ferne beobachten zu können war logisch und nicht weiter tragisch für Melody. Einen Teil von ihr erfüllte es sogar mit Glück und Stolz. Nur hatte sie immer im Hinterkopf, dass ein Feind anwesend war, der ihm wieder nach dem Leben trachten könnte. Und dieser war nicht einmal das eigentliche Problem.

    Mila sah auf das Kampffeld, als würde Ryan gerade dort stehen. Vor ihrem inneren Auge tat er das sogar. Sie wollte ihn dort sehen. Euphorisch, leidenschaftlich und hungrig auf den Sieg, weil es im Augenblick nichts anderes gab, das seine Aufmerksamkeit verdiente. Am liebsten würde die Drachenpriesterin Ruby an seiner Seite sehen, die in dieser Partnerschaft ihr Glück gefunden hatte und mit Herz und Seele gemeinsam an seiner Seite kämpfte, anstatt gegen ihn.

    Die Mehrzahl dieser Wünsche, beziehungsweise Teile davon, blieben für den Moment nichts als eben solche.

    Melody ließ sich etwas in ihre Sitzschale sinken und verschränkte die Arme.

    „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum er überhaupt noch hier teilnimmt. Ein Plan ist da sicher nicht mehr dahinter.“

    Sicher nicht. So richtig hatte eigentlich nie einer existiert, der den Summer Clash miteinbezog. Doch solange kein triftiger Grund gegeben war, ihn abzusagen, hatte Mila den jungen Trainern das Turnier einfach nicht wegnehmen wollen. Aber existierte da nicht ein solcher Grund? In Form einer gewissen Konkurrentin?

    „Eines Mannes Glück ist neben seiner Liebe auch mit Triumph und Ehre verbunden. Beides reicht nur so weit, wie sein Ehrgeiz. Besonders gilt dies für das Glück eines Mannes, der für den Kampf lebt. Das ist sein Privileg.“

    Das verstand Melody vollkommen, auch wenn sie es in diesem speziellen Fall für unangebracht hielt. Vielleicht sogar gefährlich. Dass sie Ryan sowieso nicht hätte umstimmen können, verstand sich von selbst. Es beschäftigte sie somit nur eine Frage.

    „Aber wie soll ich damit umgehen?“

    Mila hatte selbst nie geliebt. Nicht in dieser Form. Nur Mirjana und Sheila hatte je ihre Liebe genossen – wenn auch eine andere Art davon. Daher sah sie sich weder berechtigt noch befähigt, Ratschläge diesbezüglich zu erteilen. Doch sie wollte Melodys Herz erleichtern. Und die Aussicht auf die Zukunft nicht durch weitere Wolken verdunkeln. Hell sollte sie scheinen, sodass sie dort bessere, glückliche Zeiten erblicken könne.

    „Indem du es sowohl respektierst als auch ihm vorhältst. Wenn er nicht einsieht, dass du das Recht dazu besitzt, verwehre ihm deine Lippen und er wird bald auf die Knie fallen“, erklärte sie mit einem verschmitzten Seitenblick. Der passte irgendwie nicht zu ihr. So ungewohnt.

    „Er liebt dich viel zu sehr, um sich lange von dir abzuwenden.“

    Hier machte Melodys Herz einen plötzlichen Satz. Ihr war selbst sehr bewusst, was sie für Ryan fühlte und hatte sich bislang aus reiner Berücksichtigung der Situation und dessen, was ihnen bevorstand, vermieden, darüber zu sprechen. Und das, obwohl sie unbedingt mit ihm darüber reden wollte. Es ihm sagen wollte. Ungeachtet der Tatsache, dass er es mit Sicherheit schon erkannt hatte.

    War irgendwie komisch, ausgerechnet mit Mila hierüber zu sprechen. Einerseits fühlte es sich gerade durch sie besonders an. Andererseits war es ihr unangenehm, eine so wichtige Person mit ihrer Gefühlswelt zu belästigen. Und hier stand sie und teilte ihr mit geöffneten Ohren und Herzen ihren Rat mit.

    „Vertraue stets darauf und auf das Band zwischen euch. Ein solches Band weht nicht ununterbrochen lose im Wind. Es wird auch gespannt werden und zu zerreißen drohen. Eine Partnerschaft ist ungerecht, doch sie ist es abwechselnd für beide. Freue dich auf die Zeit, in der sie dich begünstigt.“

    Vertrauen. Das ihre besaß Ryan absolut bedingungslos und unbegrenzt. Nur war es nicht Ryan selbst, der Melody Sorge bereitete. Oder doch? Lugia würde sie schließlich nicht ohne Grund vor ihm und seinen künftigen Taten warnen. Dennoch tat dieses legendäre Pokémon eben das, was Melody soeben geraten wurde. Nämlich Ryan vertrauen. Auf ihn zu vertrauen!

    Mila war bloß ein Mensch. Eine einfache Frau – in eine alles andere als einfache Pflicht hineingeboren, die ihr ganzes Leben unglaublich und geradezu fantastisch gestaltet hatte. Wenn auch nicht ganz und gar fröhlich. Überhaupt nicht. Trotzdem schätzte Melody den Rat der Drachenpriesterin fast im selben Maße, was sie dazu veranlasste, mit einem seichten Lächeln und ebenso sachtem Nicken zuzustimmen. Eine verbale Antwort ließ sie allerdings bewusst aus. Melody hatte registriert, wie sehr Mila um ihren Seelenfrieden bemüht war und befand, dass sie nebst all ihrer Probleme nicht zu einem weiteren werden sollte, dessen sie sich annehmen musste. Die Frau hatte mehr als genug Sorgen für mehrere Leben.

    Die Drachenpriesterin hätte gerne gar noch mehr für sie gesagt oder getan, sah sich hier aber machtlos und wusste auch um keinen besseren Rat. Daher erwiderte sie einfach die Geste und wand sich zum Gehen. Gerade als sie kehrt machte, um die Stufen Richtung Mundloch zu erklimmen, spürte Melody dann doch noch das Verlangen, zumindest ein bestimmtes Wort zu sagen.

    „Danke.“

    Sie hielt kurz inne und neigte den Kopf in ihre Richtung, entschied aber, dies Gespräch nicht zu verlängern. Doch ihr eigenes Lächeln war nun auf dem Weg nach oben noch etwas breiter und friedlicher geworden.


    „Wo willst du hin?“

    Ryan wollte sich eben zu Sandra und Audrey gesellen, die sich wieder auf einer gepolsterten Bank in den Katakomben niedergelassen hatten. Dass sie nun schon wieder unbehelligt miteinander tratschten, als stünde ihnen eben nicht ein direktes Aufeinandertreffen bevor, war fast etwas unheimlich, wenn man die brodelnde Kampfeslust bedachte, die noch vor zwei Minuten in ihren Augen entflammt war.

    Sein langjähriger Kumpel allerdings hatte sich auf den Weg gemacht, die Räume zu verlassen, war sogar schon fast am Flur angelangt, der zu dem allgemeinen Zuschauerbereich führte.

    „Hab Lust auf´n Smoothie.“

    Etwa so große, dass ihm die Duelle der Konkurrenz egal wurden?

    „Du schaust dir die Kämpfe nicht an?“, vergewisserte sich Ryan, der fast enttäuscht schien.

    „Vom Zusehen werd ich jetzt auch nicht stärker“, meinte Andrew bloß schulterzuckend.

    „Aber schlauer.“

    Den Einwand hatte er erwartet, doch das Beobachten lag ebenfalls nicht in seiner Natur. Das ging Ryan ganz anders, wie er wusste. Der hatte schon immer wirklich alles an Informationen aufgesogen, was er kriegen konnte. Es hatte schon Momente gegeben, in denen Andrew vermutete, dass genau dieser Punkt den Unterschied zwischen ihnen beiden machte und der Hauptgrund war, warum ihm bislang immer noch ein bisschen fehlte, um an Ryans Erfolg heranreichen zu können. In einem direkten Duell würde er sich bestimmt nicht als den Schwächeren betiteln, aber Tatsache war, dass er noch nicht eine Finalteilnahme bei einem großen Turnier vorzuweisen hatte und sein bester Freund gleich zwei. Von denen er eines gar hatte gewinnen können.

    Er war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass es nichts bringen würde, jemandes Stil zu kopieren. Auch nicht, wenn Ryan dieser Jemand war. Er hatte seinen eigenen Weg gefunden, stark und auch clever zu werden, um auf seine Weise Siege zu erringen. Wenn er diesen weiter verfolgte und hart genug arbeitete, würde dieser erhoffte Erfolg kommen. Tief in seinem Inneren wusste Andrew aber, dass ein weiterer, nicht unwesentlicher Grund der war, dass er eben nicht Ryans Beobachtungsgabe besaß. Fraglich, ob das überhaupt jemand tat.


    Sheila hielt sich nicht gerne unter Menschenmassen auf. Aber immerhin konnte sie sich in dem labyrinthischen System aus Gängen und Treppen, Fluren und Korridoren des Prime Stadiums immer in einer dunklen Ecke verstecken, anstatt sich unter die Leute zu mischen. Dabei blieb sie nicht ständig an Ort und Stelle. Vielleicht eine Minute inspizierte sie die Lage in Ryans Umfeld, verschwand dann für äußerst kurze Zeit, um Andrew ebenfalls im Auge zu behalten. So lautete zumindest Milas Befehl an sie, denn aus eigenem Entschluss hätte sie über eben diesen Trottel sicher nicht gewacht. Es würde ihren Nerven gut tun, wenn ein getarnter Rocket ihn zur Strecke brächte. Doch wie immer galt das Wort ihrer Gebieterin.

    Nachdem Sheila auch ihn für eine Minute beobachtet hatte und in seiner Nähe keine verdächtigen Personen gewesen waren, wechselte sie wieder rüber zu Ryan. Dabei ging sie immer über einen anderen Weg und niemals genau denselben wieder zurück. Ihre Bewegungsmuster sollten unvorhersehbar sein. Dazu hatte sie sich vergangene Nacht, als sich alle zu Pete begeben hatten, hier eingeschlichen und sich ein präzises Bild von nahezu jedem Teil des Stadions gemacht. Es hatte Stunden gedauert, alle Winkel und Wege in ihr Gedächtnis einzubrennen. Eine Herausforderung, an der selbst unter gestandenen Dieben, Spionen und Agenten die allermeisten kläglich gescheitert wären.

    Das war definitiv besser, als in der Masse unterzutauchen. Man konnte ohnehin nicht gerade behaupten, dass sie sich gut einfügte. Die untere Gesichtshälfte wie immer durch ihren Schal verhüllt und fast akribisch mit den rubinroten Augen die Leute zu inspizieren, ohne sich nur einmal an einen der Stände oder gar auf die Tribünen zu begeben – so wäre sie wahrlich jedem stümperhaften Handtaschendieb im Team Rocket aufgefallen.

    Selbst so jedoch hasste die Assassine es, Leibwache zu sein. Ein, zwei Mal hatte Mila ihr so etwas schon aufgetragen und natürlich hatte sie den Befehl ausgeführt. Überaus erfolgreich verstand sich. Nur war es nun mal nicht das, was sie ihr Leben lang trainiert und perfektioniert hatte. Das war nicht sie. Keine Beschützerin, sondern eine Attentäterin.

    Sei es drum. Sie gehorchte und blickte unentwegt unter den Zuschauern hin und her, in die leeren Gänge, in die dunklen Ecken. Kein noch so kleines, verräterisches Zeichen würde ihr entgehen. Sheilas Blick wandert aufmerksam und scharfsinnig durch Menge und Flure. In einem davon regte sich jemand. Gerade eben hatte er sich von der Wand, an der er so unscheinbar lehnte, lösen und vermutlich Ryan ansteuern wollen, was er quasi im Moment von Sheilas Auftauchen unterbrochen hatte. Sie war nicht entdeckt worden. Dennoch starrte er kurz weiter zu dem jungen Trainer, schielte nur mal kurz rüber zu ihr. Der Narr war lediglich ein Amateur, der sich überhastet vor dem perfekten Moment gerührt hatte, um dann zu bemerken, dass er einen besseren Zeitpunkt abwarten musste. Nun täuschte er vor, etwas auf seinem Handy nachzusehen. Gelassen und unbekümmert konnte er sich allerdings nicht geben. Schwarzer Hoodie, schwarze Jeans und eine Mütze aus dünner Wolle, tief ins Gesicht gezogen, sodass die Augen fast verdeckt wurden. Die von Sheila verengten sich sofort.


    Wie hatte er nur so leicht auffliegen können? Er hatte kaum eine Sekunde den Augenkontakt zu ihr gehalten und doch hatte er sich damit sofort zur Zielscheibe gemacht. Während der vergangenen Minuten hatte sie ihn bestimmt durch das halbe Stadion gehetzt. Dabei schien sie es gar nicht so darauf anzulegen, ihn einzuholen. Oft, wenn er über die Schulter geblickt hatte, war sie bloß gemächlich hinter ihm her gegangen. Wie der Mörder in einem Horrorstreifen. Aber das hier war kein billiger Film. Das hier war nicht gescriptet. Und doch fühlte es sich so an und sie – dieses Mädchen, das angeblich schon ein ganzes Versteck im Alleingang angeräuchert hatte –, war ganz offensichtlich Autorin dieses Skripts. Es war ihm unbegreiflich, wie sie in diesem Tempo mit ihm mithalten konnte. Als könne sie sich teleportieren oder wüsste immer eine Abkürzung.

    Gerade stolperte der Mann durch einen der oberen Flure in der Nordkurve des Stadions. Diese war lediglich durch das Sonnenlicht spärlich erhellt, das durch die Fenster schien. Diese waren eher klein und ließen diverse Ecken und Winkel unerleuchtet. Von den Zuschauern hatte sich niemand hierher verirrt, da es weder Stände noch Buden gab und der Bereich für Gäste auch sonst nichts bot. Hier oben gab es vielleicht ein paar Büros oder Technikräume. Und allesamt derzeit verlassen. Wieder wagte er, nach hinten zu spähen und seine Augen weiteten sich überrascht. Sie war weg. Hatte er sie doch endlich abgehängt? Kaum zu fassen. Da wurde er bis hierhin gejagt, an die Grenze seiner Belastbarkeit, wie der Schweiß auf seiner Stirn und das laute Keuchen bezeugten. Und plötzlich keine Spur mehr von ihr.

    Er wagte nun sogar, gänzlich zu stoppen und sich vollständig umzuwenden, lugte dabei in jeden trügerischen Gang, aus dem sie vielleicht doch noch hervorkommen könnte, um, wer wusste schon was, mit ihm zu tun. Der Mann atmete tief ein, wischte sich mit dem Ärmel ein paar Schweißperlen vom Kinn und versuchte, zu Atem zu kommen. Sein Herz schlug noch immer bis zum Hals. Es war absolut still. Selbst wenn sie ihn noch verfolgen würde, müssten ihre hallenden Schritte sie weit im Voraus verraten. Er erlaubte sich ein schwaches, erleichtertes Grinsen und setzte seinen Weg fort. Wenn er noch ein bisschen weiter rannte und eine einzelne Treppe nach unten nahm, würde er wieder auf Menschenmassen stoßen, in denen er untertauchen konnte. Dann war die Mission zwar noch immer unerledigt, aber er selbst wenigstens unversehrt. Es würde sich eine andere, eine bessere Chance auftun. Zuversichtlich beschleunigte er nochmals seine Schritte und bog um eine Ecke. Hinter ihr war es so finster, dass er lediglich die aufblitzende Klinge erkannte, die das wenige an Sonnenlicht, das bis hier hinten vordrang, reflektierte. Doch auch die bemerkte er erst, als sie ihr tödliches Werk bereits vollendet hatte. Ein Spritzer Blut landete an der Wand, zog bis auf ein paar Tropfen fast eine saubere Linie.

    Für einen Moment realisierte er gar nicht, was passiert war. Es wurde ihm erst gewahr, als die Muskeln in seinen Beinen versagten. Sonderbarerweise fing seine Mörderin ihn sogar auf. Jedoch nur, um seinen Kopf sofort in ihre Richtung zu drehen, sodass er ihr in die Augen sah.

    „Wie viele von euch sind noch hier? Sprich und ich erleichtere dir deinen Abschied.“

    Die Wunde war nicht gänzlich tödlich. Wenn er schnell genug in ein Krankenhaus käme, hätte er gar eine Chance, zu überleben. Das war allerdings nicht in Sheilas Interesse. Sie hatte ihn am Hals geschnitten, sodass es zu schmerzhaft wäre, nach Hilfe zu schreien. Sie hoffte aber, dass er wenigstens noch ein paar Worte rausbekommen möge. Ihre eigene Wunde, die durch eine Schusswaffe seiner Kameraden beigebracht worden war, zwickte widerlich hierbei, doch sie ertrug es. Selbst in den frühen Zeiten ihrer Ausbildung hatte sie schon Schlimmeres gespürt.

    Der Rocket röchelte und zitterte. Der Blutverlust ließ seinen Körper erkalten. Gleichzeitig benetzte die warme Flüssigkeit seine Haut, durchtränkte seine Kleidung, rann durch seine Hände, die er an seinen Hals presste. Er musste es stoppen, musste auf die Wunde drücken. Er durfte nicht noch mehr Blut verlieren. Seine Gedanken rasten nur um sich selbst, seinen Gesundheitszustand. Das konnte nicht das Ende sein. Nicht so, nicht jetzt.

    Erst als das Mädchen ihn am Schopf griff und so nahe an sein Gesicht kam, dass er nichts anderes als ihre Augen sah, rissen eben diese ihn fort von seinen Gedanken. Treue oder Ergebenheit waren sicher nicht die Gründe, warum der Mann die Antwort verweigerte. Er war ein Niemand in dieser Organisation. Eine wandelnde, austauschbare Uniform ohne Wert. Aber selbst so einer würde seiner Mörderin nicht einfach so, wie ein geprügeltes Hunduster Informationen geben, bloß damit sie ihn von seinem Leid erlöste. Dieses Miststück konnte ihn mal kreuzweise.

    „Fahr zur Hölle.“

    Das würde sie früh genug. Schließlich gab es keinen anderen Ort, an den eine Attentäterin gehen konnte, wenn sie mit diesem Leben fertig war. Nur würde sie keine Angst davor haben. Er hingegen – das sah sie sofort – hatte panische Furcht, vor seinen Schöpfer zu treten. Gab sich im Rahmen seiner erbärmlichen Möglichkeiten Mühe, trotzig zu wirken. Er machte sich selbst was vor.

    „Mach deine letzten Momente nicht noch jämmerlicher.“ Wenn er schon nicht antwortete, sollte er seine letzten Worte wenigstens weise wählen. Der Narr konnte noch nicht mal das.

    „Schlampe!“

    Sheila schüttelte fast mitleidig den Kopf. Er glaubte wohl, auf diese Weise dem Tod ins Gesicht zu lachen und seinen sogenannten Stolz wahren zu können. Wie töricht.

    „Du bist miserabel im Sterben.“

    Er wollte noch etwas sagen. Ihren Untergang prophezeien oder ihr wenigstens sein Blut ins Gesicht spucken. Er schaffte es nicht. Sie ließ ihn einfach fallen und es zu Ende gehen. Er wollte ihr wenigstens in die Augen sehen. So furchterregend und mörderisch sie auch waren, er musste sicherstellen, dass sein Blick sie verfolgte. Seine Wunde geheilt zu wünschen, erschien aussichtsreicher. Er sah das Mädchen nicht einmal mehr. Vor ihm verschwamm alles, wurde erst blass, dann dunkel und schließlich völlig schwarz. Und jeder dieser Schritte fühle sich wie eine Stunde. Hätte er doch einfach geantwortet. Das war sein letzter Gedanke, bevor Dunkelheit ihn umhüllte.

    Kapitel 46: A night out


    Gerne hätte Ryan noch ein letztes Wort mit Cody gewechselt. Hätte sein durchaus respektables Ergebnis gewürdigt und ihm zum Abschied auf die Schulter geklopft. Doch nach der Bekanntgabe der Achtelfinalisten war er nicht mehr auffindbar gewesen. Ironischerweise war Ryan nun, ein paar Stunden später, gar nicht mal mehr unglücklich über diese Tatsache. Sonst würde er sich jetzt wie ein Heuchler vorkommen, da er jemanden für seinen 18. Platz gelobt hätte, während er noch vor ein paar Monaten einen zweiten Rang und viel stärkerer Konkurrenz als wertlos erachtet hatte. Und ein bisschen tat er das noch immer. Der zweite war der erste Verlierer – so hatte er selbst es stets angesehen. Vielleicht zu lange, um es nochmal zu ändern. Was er ändern konnte, geändert hatte, war die Art, wie er mit einem zweiten Platz umgehen würde.

    Ryan verzettelte sich in vielerlei Gedankengängen, sodass er sich irgendwann kaum noch erinnern konnte, wie er zu ihnen gelangt war. Gedanken über sich selbst, seine vergangenen Turniere, das momentane, seine mentale Einstellung zu verschiedenen Dingen oder auch seine Begegnungen mit anderen Trainern. Cody war da zugegebenermaßen nicht von solcher Tragweite wie Audrey oder Terry, aber dennoch trug der Blonde den Wunsch in sich, eines Tages wieder gegen ihn zu kämpfen. Wenn er die Gelegenheit hatte, Erfahrung zu sammeln und stark zu werden.

    „Du bist ziemlich still.“

    Melody stellte dies sehr leise fest, wollte eigentlich gar keinen Grund erfahren, warum Ryan das war. Sie machte sich lediglich Sorgen, dass er sich in negativen Gedanken verirrte. Sie – Ryan, Melody, Andrew und Sandra – saßen in der verqualmten Kneipe von Pete. Der hatte nicht schlecht zu tun mit seiner Besucherschaft, obwohl es nicht sonderlich viele waren. Nur viel Durst hatten sie. Und er kümmerte sich um seine Sondergäste nicht mehr oder weniger aufmerksam, als um den Rest.

    „Ich denk an morgen“, tat er die Anspielung ab. Damit log er nur ein bisschen, denn teilweise führten ihn seine Gedankengänge wirklich an den zweiten Turniertag. Oder eher an mögliche Verläufe und Gegner.

    Sie hatten sich nicht aus einem bestimmten Grund bei Pete eingefunden. Mila und Sheila waren nicht einmal hier. Es hatte die vier ganz einfach wenig gereizt, den Abend im Pokémoncenter zu verbringen. Jene unter ihren Partnern, die heute gekämpft hatten, unterzogen sich gerade einigen Routinechecks, aber mit irgendwelchen Hiobsbotschaften war eigentlich nicht zu rechnen.

    „Deine Vorgehensweise war eine andere, als noch in meiner Arena“, begann Sandra und unternahm damit einen Versuch, seiner Schweigsamkeit entgegenzuwirken. So wollte sie ihn nicht sehen müssen und er tat sich auch selbst keinen Gefallen, wenn er pausenlos grübelte. Während ihrer Trainingstage im Wald außerhalb von Graphitport hatte er doch selbst erlebt, wie man sich selbst unter mentalem Druck zugrunde richten konnte. Er sollte sich selbigem nicht auch noch hier aussetzen.

    „Ich bin´s eigentlich gewohnt, den Gegner zu steuern und auflaufen zu lassen. Das hab ich mich aber in den wenigsten Arenen getraut“, erklärte er schulterzuckend. Schon ironisch, dass gerade die Person mit der wenigsten Erfahrung von der Materie hier Ratschläge geben wollte. Und dann nicht mal besonders clevere.

    „Never change a running system, Ryan. Noch nie gehört den Spruch?“

    So einfach war´s dann nun auch wieder nicht. Es gehörte schon mehr zum Gewinnen, als ein einziges, gutes Rezept zu finden und immer zu wiederholen. Man musste sich unaufhörlich weiterentwickeln.

    „Na, na, bisschen anpassungsfähig muss man schon sein.“

    Die beiden stichelten und neckten sich fast ununterbrochen, wenn Melody ihn denn mal aus seinen geistigen Monologen zu entführen vermochte. Die waren ganz schön verknallt. Ein kurzer Augenkontakt verriet, dass sowohl Andrew als auch Sandra diesen Gedanken teilten.

    „Ich sag´s nicht allzu gerne, aber der Erfolg gibt Ryan schon Recht“, merkte Andrew an und lehnte sich zurück. Der zuckte mit den Schultern.

    „Wollte einfach nicht zu vorsichtig sein und dem Gegner das Feld überlassen, verstehst du? Gegen die meisten Trainer kann ich mir das erlauben, aber in der besten Arena Johtos kann man doch nicht so passiv auftreten.“

    Das fasste die Drachenmeisterin durchaus als Lob auf. Egal, ob Ryan es beiläufig oder sehr bewusst aussprach, diese Worte von ihm zu hören machte sie stolz. Gerade nach den letzten Tagen und Wochen schätzte sie sowohl seine Fähigkeiten als auch seinen Charakter immens. Das ließ sie ihn wissen, indem sie ihr Glas in seine Richtung erhob.

    Nach einem nicht allzu tiefen Schluck fiel ihr etwas anderes ein, das sie ihn und auch Andrew schon längst hatte fragen wollen.

    „Wenn ihr beide die Wahl hättet, gegen wen würdet ihr morgen gerne antreten?“

    „Terry.“

    Die Arenaleiterin hatte kaum ausgeredet, ehe die Antwort gefallen war. Ryan hatte nicht einmal überlegt. Es war eine unbewusste Reflexreaktion, auf solche Fragen den Namen seines Erzrivalen zu nennen. Genau wie auf die Frage, wen er am liebsten in einem See voller Garados versenken wollte.

    Andrew lachte trocken über die Antwort. Darauf hätte er sein letztes Hemd verwettet. Weniger sicher wäre die Frage nach der Wahl seiner Pokémon, sollte dieser Fall eintreffen. Stellen wollte er diese Frage aber nicht. Die Überraschung wollte er sich beibehalten.

    Worüber Ryan dann wiederum nachdachte, war die restliche Liste seiner Wunschgegner. Und diese auszusprechen, ließ ihn dann doch geradezu provokant schmunzeln.

    „Und Audrey. Und natürlich euch beide.“

    Er zählte langsam auf. Als plane er den Verlauf nach seinem Willen im Kopf. Damit stichelte er quasi gegen alle seine Freunde und potenziellen Gegner. Was ihn zum letzten Namen auf der Liste brachte, welcher den Frohsinn gleich wieder aus seiner Mimik verbannte. Gar wirkte er gleich noch ernster und energischer.

    „Und Bella.“

    Ryan wünschte noch im selben Moment, er hätte sich diesen letzten Namen verkniffen. Ihn auszusprechen war von keinem Nutzen, ließ lediglich die Stimmung ins Negative kippen. Allerdings sollte das schon Sekunden später eh hinfällig sein.

    Mit einem leisen Quietschen kündigte die aufgestoßene Eingangstür einen neuen Gast an. Leise und überlegene Schritte führten selbigen an den ersten Tischen vorbei und vor die Bar. Auf dem kurzen Weg dahin sah fast jeder Mann ihr hinterher, wollte den eleganten Hüftschwung, die schlanke Figur oder das Nachtschwarze Haar so lange wie möglich bestaunen.

    Andrew war von allen am Tisch wohl am wenigsten abergläubig, doch das hier fühlte sich wirklich so an, als habe Ryan sie heraufbeschworen.

    „Leck mich doch“, stammelte er leise und ungläubig über den Anblick. Sie hatte ihn unmöglich hören können, doch die Bernsteinfarbenen Augen huschten zur Gruppe herüber, als hätte sie es doch getan.

    Bella schenke ihnen ein verschmitztes Lächeln, aber mehr auch nicht. Sie ging nicht auf sie zu, sprach sie auch nicht an. Wenn es sich nicht um eben die Agentin des Schwarzen Lotus handeln würde, wäre keiner auf die Idee gekommen, sie würde ihnen sonderlich Beachtung schenken. Aber dass sie sich unter allen Bars in Graphitport ausgerechnet diese aussuchte, konnte kein Zufall sein.

    „Ist das…“

    Melody vollendete die Frage nicht. Die Blicke waren Antwort genug. Es war die Turnierteilehmerin, von der ihr erst vorhin erzählt worden war und die im Dienst von Team Rocket stand. Was in Arceus verfluchtem Namen wollte die hier? Diese Frage wiederum sprach keiner aus, da sie ohnehin jeder dachte. Ryan überkamen sogleich diverse böse Vermutungen. Er begann sich unter den anderen Gästen umzusehen.

    „Sind hier noch mehr…?“, überlegte er. Keiner verhielt sich auffällig. Weder erkannte der junge Trainer irgendwelche verräterischen Signale, noch schien sich jemand von ihrer Ankunft geradezu verdächtig unbeeinflusst zu stellen. Sandra war in dieser Frage schon einen Schritt weiter.

    „Sicher nicht. Die sind zu betrunken oder haben sie zu lüstern gemustert. Außer uns kennt sie keiner hier.“

    In der Tat würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Partner oder Untergebener der Agentin sich weder volllaufen lassen, noch ihr so eifrig hinterherstarren. Bella entging die sofort angestiegene Wachsamkeit der Gruppe natürlich nicht. So sie sich auch arglos und unbehelligt gab, hatt sie immer ein Auge auf sie. Doch scheren tat sie sich scheinbar auch nicht darum. Sie amüsierte sich nur einen Moment daran, ehe sie sich einen Barhocker schnappte und darauf niederließ. Ihre Augen wanderten anschließend regelrecht verträumt durch die Regale, die sich an der Wand vor ihr ausbreiteten. Schnäpse, Wodka, Rum, Sake, Weine und Liköre der besten Sorten. Selbst sie würde es wohl nicht schaffen, sich durch alle durchzuprobieren, nach denen ihr gelüstete. Hier lagerte wahrlich alles, was ihr Herz oder eher ihre Leber begehrte. Was ihr Herz anging, so würde aller Alkohol dieser Welt nicht jedes ihrer Verlangen Stillen können.

    Ein recht adretter Barkeeper schien sich fast genötigt, sie aus ihrem verträumten Zustand zu reißen, indem er keck mit ausgebreiteten Armen die Handflächen auf die Theke klopfte. Allerdings nicht zu fest oder aggressiv.

    „Was darf´s sein, Lady?“, fragte Pete charmant. Ryan war äußerst neugierig, wie er der Agentin gegenübertrat und beobachtete ihn sehr genau. Sein Pokerface war absolut tadellos. Wüsste er es nicht besser, wäre er davon ausgegangen, er habe nicht die geringste Ahnung, wen er vor sich hatte. Natürlich wusste er das allzu gut.

    „Die Auswahl ist üppig“, seufzte sie sehr zufrieden und ließ sich mit der Entscheidung Zeit. Sie musste wohl überlegt sein. Währenddessen kreiste ihr Zeigefinger verspielt auf dem Tresen.

    „Ich denke, ich fang mit einem Gin an.“

    „Ein bisschen konkreter werden sie schon sein müssen, Lady.“

    Wie von allem anderen auch hatte Pete hiervon mehr als eine Sorte auf Lager. Bella schien diese Neuigkeit sehr zu gefallen. Ihr süffisantes Lächeln hätte wohl die meisten Männerherzen zum Schmelzen gebracht. Es gab einem das Gefühl, gejagt zu werden – mit dem Unterschied, dass man nichts Böses zu befürchten hatte, wenn man erwischt wurde. Eher durfte man das Gegenteil erhoffen.

    „Dann hab ich die richtige Bar ausgesucht.“

    Er ließ sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Und es machte Bella durchaus Spaß, ihn bei seinem Schauspiel zuzusehen. Selbstverständlich hatte auch sie seine Visage nicht vergessen. Obwohl er in den Wäldern bei ihrem Hinterhalt nur eine Randfigur gewesen war.

    „Gib mir, was du trinken würdest, Pete.“

    Sie hatte nicht auf sein Namensschild geschaut und das war ihm auch absolut klar. Dennoch konnte er allein durch die Tatsache, dass er es ausnahmsweise mal trug, so tun, als wäre es doch der Fall und die Scharade bedenkenlos fortsetzen. Die Genugtuung würde er ihr nicht verschaffen, als der Freund ihrer Feinde aufzutreten, der er war.

    „Und nenn mich Bella“, warf sie noch ein, als Pete sich gerade umdrehen wollte. Dabei lehnte sie sich aufdringlich nach vorn, sodass er ihre Worte selbst im Flüsterton noch genau hören konnte. Nebenbei wäre hier wohl so ziemlich jedem Mitglied des männlichen Geschlechts der Blick in Richtung ihres Dekolletés entwischt. Nicht so bei Pete. Diese Schauspielkunst verdiente einen Preis.

    „Ich bin so einiges, aber sicher keine Lady.“

    Er setzte weder das charmante Lächeln auf und neigte das Haupt ein wenig, als würde er ihren Wünschen nur allzu gerne nachkommen und ihren Small Talk obendrein sehr genießen. Tatsache war, dass er ihr das gewünschte Getränk gerne in Verbindung mit einem Feuerzeug überbringen würde.

    Nur wenige Meter weiter hatte man die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum Bella hier war, inzwischen aufgegeben. Es stand mittlerweile eine andere im Raum, die sich allerdings als ähnlicher Brocken entpuppte.

    „Was machen wir jetzt?“

    Dass ausgerechnet Ryan jene Frage aussprach, förderte nicht gerade die Zuversicht. Er war der einzige hier, der mit ihr schon einmal Kontakt gehabt hatte. Gerade Melody spürte die Nervosität in sich aufsteigen und hätte nichts lieber getan, als augenblicklich das Feld zu räumen. Doch selbst sie befand, dass dies eine schlechte Entscheidung wäre. Sie durften sich Bella gegenüber nicht so schwach und ängstlich zeigen. Schon gar nicht, wenn sie nicht einmal Drohungen vermittelte.

    Ryan hatte bei seinem kurzen Gespräch mit ihr während des Turniers nicht das Gefühl gehabt, dass sie damit ein konkretes Ziel hatte verfolgen wollen. Es hatte kein Sinn oder Anlass darin bestanden. Er schätzte, dass sie den Kontakt aus eigenem Interesse gesucht hatte. Konnte gut sein, dass ihr diese Spielchen lediglich Vergnügen bereiteten und ihr das schon reichte.

    „Ihr könnt gern weiter überlegen“, stellte Andrew unerwartet klar und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er wünschte gerade, er hätte das Zeug nicht mit Cola gemischt. Die Verdünnung behinderte sein Ziel, sich Mut anzutrinken.

    „Aber ich geh zu ihr rüber.“

    Er eilte sich, aus der Reichweite von Sandra und Ryan zu entkommen, um nicht von ihnen aufgehalten zu werden. Mit Gewissheit würden sie das tun und wäre er an ihrer Stelle, würde er das ebenfalls. Um es klar zu sagen, Andrew hielt es selbst für eine schlechte Idee und wusste selbst nicht, warum er sich dazu entschied. Doch er hatte durch die Begegnung in den Wäldern sowie den Erzählungen von Ryan und Mila eine vage Vermutung, wie diese Frau tickte und wenn er wenigstens halbwegs richtig lag, würde sie heute Abend keinen Angriff wagen. Er vermutete stark, dass sie auf so einen nicht einmal aus war, selbst wenn sich die Gelegenheit bot. Schon gar nicht auf ihn. Wer war er denn schon in all diesem Zirkus? Verglichen mit Ryan oder Mila war er ein Niemand. Und darüber war er gar nicht mal unglücklich.

    Tatsächlich wurde nicht einmal versucht, Andrew aufzuhalten. Bis alle sichergestellt hatten, sich nicht verhört zu haben, war diese Option bereits dahin und er zog den Barhocker direkt neben Bella zu sich.

    „Ist der frei?“

    Für einen Augenblick verlor Pete sein von Ryan still gepriesenes Pokerface. Zu seinem Glück war die Agentin ebenfalls zu überrascht und abgelenkt durch den jungen Trainer. Sie zog eine Braue hoch und sah keineswegs abgeneigt, ja geradezu verspielt zu ihm hoch. Wenn es auch nur ein Seitenblick war. Ihr Glas roch bereits auf die Entfernung viel zu stark für ihn, aber er ignorierte das Stechen in seinem Geruchsorgan. Andrew blickte sehr nüchtern in ihre bernsteinfarbenen Augen. Schenkte ihr weder ein Lächeln noch einen kleinen Funken Höflichkeit – abgesehen von der Tatsache, dass er gefragt hatte, anstatt sich einfach zu setzen.

    „Jetzt nicht mehr, wie´s aussieht“, schmunzelte sie und leerte ihr Glas in einem Zug. Wie stellte sie das an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?

    „Sehr gut. Gib uns zwei davon“, orderte sie, ohne Pete anzusehen. Vielleicht würde der Abend doch noch mehr außer Getränken zu bieten haben. Der Barkeeper zögerte eine Sekunde, befand aber, dass er Andrew nicht derart bloßstellen konnte, dies auszuschlagen. Widerwillig und mit einem scharfen, warnenden Blick in Richtung des Jungen fischte er nach einem zweiten Glas und füllte zu einem Drittel auf. Zumindest beim ersten. Das zweite, wurde ganz voll gemacht, da Bella mit der Hand nachlangte und die Flasche geneigt hielt, bis sie zufrieden war. Auch hierbei hafteten ihre Augen eisern an Andrew. Ein Teil von ihm befürchtete fast, sie würde ihm das volle Glas reichen, doch schob sie ihm jenes zu, das mit weniger giftigen Mengen gefüllt war. Die Hand, mit der sie das tat, war um den Knöchel und die Kante bandagiert. Zweifellos das Andenken an Sheilas Klinge.

    „Geht auf mich.“

    Er bedankte sich nicht. Einen Moment überlegte er sogar, ob er überhaupt trinken sollte. Er hatte genau ein Mal hochprozentigen Alkohol getrunken und war minder begeistert gewesen. Obendrein war er streng genommen noch ein paar Monate zu jung, um dies legal tun zu dürfen, doch hier und jetzt konnte das natürlich keine Rolle spielen. Hatte es beim ersten Probieren schließlich auch nicht.

    Andrew setzte sich zur Bar gerichtet und vermied es, Bella direkt anzusehen. Dass sie ihn zum Anstoßen aufforderte, war allerdings unmöglich zu ignorieren. Und dieses süffisante Lächeln, mit dem sie das tat. Es war echt zum Kotzen. Jedoch würde es wohl wenig bringen, ihr kontinuierlich die kalte Schulter zu zeigen. Im besten Fall würde ihr dieses Spiel dann im Nu langweilig und er könnte sich genauso gut wieder verziehen. Im schlimmsten Fall bereitete er ihr damit noch mehr Amüsement.

    Selber anstoßen wollte er dennoch nicht, aber er gestattete der Agentin, es bei ihm zu tun. Andrew fackelte nicht lange und stürzte den Großteil von seinem Gin flott hinunter, damit nicht der Eindruck entstand, sie genossen hier wirklich zusammen bloß ein paar Drinks. Gemeinsam… wie Freunde. Bei dem Gedanken wurde ihm übel. Bei dem Geschmack auch fast. Schmeckte sehr bitter das Zeug und es schüttelte ihn von oben bis unten. Er konnte es geradeso vermeiden, komische oder gar peinliche Laute zu machen. Bella kicherte schadenfroh.

    „Stärker als das, was du sonst trinkst?“

    Nun war er es, der ihr einen Seitenblick, aber ja nicht mehr schenkte. Und ohne Lächeln.

    „Bisschen.“

    Sie dagegen genoss das Gesöff richtig, leerte diesmal aber nur knapp die Hälfte, was ob der Füllmenge noch immer weit mehr war, als Andrew probiert hatte. Nun, da er den Geschmack kannte, bildete sich der junge Trainer ein, ihn allein durch den Anblick schon wieder im Rachen zu schmecken. Er wünschte, er hätte was zum Runterspülen.

    „Genießt du das Turnier?“, fragte Bella aus heiterem Himmel und schlug das rechte Bein über das linke, während sie mit dem Ellenbogen an der Theke lehnte. Sie wandte sich ihm ganz zu. Von außen musste es fast aussehen, als sei sie in mehreren Aspekten... stark interessiert an dem Pokémontrainer.

    „Mhm, macht Spaß“, antwortete er knapp. Seine Stirn lag in Falten. Hatte sie aus reiner Neugier gefragt? Sein Verstand sagte ihm natürlich, dass das unmöglich sein musste, doch sein Gefühl vermittelte genau diesen Eindruck. Es war keine Spitze, keine Anspielung oder verborgene Drohung zu erkennen. Der Verdacht erhärtete sich, als sie sich locker zurückfallen ließ und erheitert auflachte.

    „Nicht wahr? Ich liebe es, hin und wieder mit Amateuren zu spielen.“

    Eine sadistischere und widerwärtigere Antwort hätte man sich kaum ausdenken können. Sie machte ein Gesicht, als bemerke sie dies gerade und fasse es nicht, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Tatsächlich ging es ihr aber um etwas Anderes.

    „Tschuldige. Dich mein ich natürlich nicht. Keinen von euch.“

    Auch hier klang sie absolut ehrlich.

    „Danke, dass du uns nicht zum Bodensatz zählst“, erwiderte Andrew bloß nüchtern. Hoffentlich ließ sie die Gelegenheit aus, ihn hier auf´s Korn zu nehmen. Schon im nächsten Moment ärgerte er sich, war geradezu fassungslos, dass er ihr solche Vorlagen gab. Er musste aufpassen, dass er sich nicht von ihrer lockeren Art – fast hätte es Ehrlichkeit genannt – aus dem Konzept bringen ließ.

    Wie sah das Konzept eigentlich aus? Oder der Plan? Der Sinn? Nichts davon hatte er vorliegen gehabt, als er sich erhoben hatte.

    „Jetzt hör aber auf. Ich freu mich total auf morgen. Hatte lange keine Herausforderung. Ich versprech mir einiges von euch.“

    Ihr Mundwerk plapperte absolut lose. Aber nicht vom Alkohol. Ungeachtet der Stärke dieses Zeugs traute er ihr das nach so kurzer Zeit nicht zu. Nein, sie war einfach unbekümmert und offen. Was kein gutes Zeichen sein konnte, denn das bedeutete, dass sie in Andrew und seinen Freunden keine Bedrohung sah. Das wäre zumindest die logische Auslegung, die man treffen sollte, wenn man auf der Hut war. Doch der junge Trainer konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie gar nicht an all das dachte. An Team Rocket, den Schwarzen Lotus, Rayquaza. Man könnte glatt meinen, sie habe vergessen, dass sie Feinde waren.

    „Ich geb mein Bestes, dich nicht zu enttäuschen“, murrte Andrew diesmal etwas zynisch und nippte an seinem eignen Getränk, womit es auch schon leer war. Schmeckte plötzlich viel schwächer. Bellas Grinsen verriet, dass sie die versteckte Kampfansage erkannte, jedoch keineswegs missmutig aufgriff. Das Versprechen gefiel ihr sogar.

    „Hast du dich deshalb vom Schwarzes Lotus anheuern lassen? Weil du die Herausforderung suchst?“

    Einige Sekunden war es still zwischen den beiden. Pete hatte aus ein paar Metern Abstand noch vage vernommen, was über Andrews Lippen gekommen war und er könnte ihm für die Dummheit sofort eine Flasche auf dem Kopf zerschmettern. Aber nun waren die Worte raus.

    Bella schien jedoch nichts aus der Ruhe bringen zu können. Lediglich ihre Heiterkeit wurde etwas gebremst. Und Andrew konnte den Grund dafür kaum fassen, als die Agentin ihn nannte.

    „Warum wollen alle, mit denen ich einen trinken gehe, ständig über meine Arbeit reden?“, seufzte sie ernüchtert. Sie dachte an Eaves zurück, machte sich aber schnell daran, diese Gedanken zu ertränken, indem sie ihren Gin schon wieder leerte. Andrews Brauen zuckten daraufhin und beinahe schüttelte es ihn allein bei dem Anblick erneut. Die war echt ein Monster am Glas.

    „Keiner will einen gemütlichen Abend lang einfach nur mein Saufpartner sein.“

    Der Grund hierfür war in diesem Fall offensichtlich und Andrew wollte ihn gerade offenlegen. Da ertappte er sich erneut bei dem Gefühl, dass Bella hier keine Spielchen spielen oder jemandem auf den Zahn fühlen wollte. Sondern, dass sie eben genau das, einen gemütlichen Abend und sonst nichts im Sinn gehabt hatte, als sie eingetreten war. Er wandte den Blick kurz ab und seufzte fast reumütig.

    „Tut mir ehrlich leid.“

    Das Wort ehrlich fügte er nicht grundlos hinzu. Später würde er sich jedoch nicht mehr beantworten können, warum er es gewählt hatte.

    „Aber in dieser Hinsicht muss ich dich enttäuschen.“

    „Mach dir keinen Kopf“, winkte sie noch beschwichtigend ab, als Andrew sich schon erhob. Dass er mit einem miesen Gefühl von dannen zog, war nicht in ihrem Interesse und sie zog auch keinen Vorteil daraus. Es gab keinen Grund für böses Blut zwischen ihnen. Nicht hier und heute Abend. Wenn es nach ihr ginge, gab es den selbst morgen nicht. Es geschah hier schließlich nichts Persönliches. Es war einfach nur ihr Geschäft.

    „Andrew.“

    Er stoppte tatsächlich, als sie ihm nachrief. Pete lugte über die Schulter und auch Andrews Freunde sahen mittlerweile alle rüber. Keiner machte sich mehr Gedanken, wie offensichtlich sie starrten oder ob die Agentin das mitbekam.

    „Ich versteh dich vollkommen, aber trotzdem hätte es ein toller Abend werden können.“

    Sie hob ihr Glas noch einmal in seine Richtung. Er sah lediglich aus dem Augenwinkel zurück, vernahm die Geste aber eindeutig und hätte sogar um ein Haar in bitterer Zustimmung genickt.

    „Ich find dich gut“, fügte Bella schmunzelnd an und schenke ihm noch ein Zwinkern. Ein paar Mal blinzelte er baff, gab sich sonst aber keine Blöße. Diesmal war er fast sicher, dass sie ihn aufzog. Eigentlich wollte er dahinter auch etwas Hämisches oder Herablassendes erkennen, woran er allerdings erneut scheiterte. Sie triezte ihn verbal, kumpelhaft. Jedoch blieb er nicht lange stehen. Was er sich von diesem so kurz ausgefallenen Gespräch erhofft hatte, wusste höchstens Arceus. Vielleicht nicht einmal der. Aber Andrew hatte wenig Zweifel daran, dass Bella heute wirklich nur hatte trinken wollen und ihr leichtsinniger, durchaus verrückter Charakter ihr keinen Grund hatte finden können, dafür nicht die Bar ihrer Feinde aufzusuchen. Vielleicht war die Tatsache, dass sie Pete gehörte, sogar einer der Gründe, warum ihre Wahl auf eben diese gefallen war.

    Bella sah wenigstens für eine Sekunde etwas frustriert hinter Andrew her. Zu schade, dass er die Umstände nicht für ein paar Stunden beiseiteschieben konnte, aber nachvollziehbar war das durchaus. Wären jene Umstände anders gewesen, hätte er sich vielleicht auf sie eingelassen und gäbe es Sheila nicht, wäre sie dem ebenfalls alles andere als abgeneigt. Eventuell auch über das Trinken hinaus. So blieb ihr leider nur das Eine.

    „Pete, deinen stärksten Rum. Hier herrscht Flüssigkeits-Defizit“, rief sie, ohne den Blick zu dem Barkeeper zu suchen. Der brauchte einen Moment, um sich aus der Starre zu lösen – und die Waffe, die er unter dem Tresen versteckt hatte, wieder aus seiner Hand zu legen. Mit einer Leiche sollte der Abend ganz gewiss nicht enden. Er wollte lediglich sichergehen, dass es für den Fall aller Fälle Bellas Leiche wäre. Sollte sie ihn jedoch nicht dazu zwingen, ließ er sich lieber seine Kasse von ihr füllen.

    Kapitel 45: Underdog


    Irgendwie war Ryan bei seinem zweiten Gang Richtung Innenraum des Prime Stadiums um ein Vielfaches aufgeregter, als noch bei seinem Debüt-Match. Dabei hatte er von Cody nicht einmal eine echte Gefahr zu erwarten. Sportsgeist und Moralapostel hin oder her, ein Amateur würde keine Chance gegen jemanden von Ryans Kaliber haben. Wieso also war er dann so aufgekratzt? Er war sicher, keine Nervosität zu verspüren und Lampenfieber hatte er seit seinen eigenen Anfängen keines mehr gehabt. War es eine abstrakte Form der Vorfreude?

    Nach dem Verlassen der Aufenthaltsräume, in denen sich die Teilnehmer tummelten, waren ihm noch Sandra und Audrey entgegengekommen und hatten sich mit ihm abgeklatscht. Er hatte sich jedoch nicht großartig aufhalten lassen, hatte sodann in seiner Einsamkeit gar Sumpex vorzeitig aus seinem Pokéball entlassen und ließ ihn neben sich her marschieren. Das beruhigte ihn irgendwie und machte es ihm einfacher, seinen Fokus zu wahren, nicht in sinnlose Gedankengänge abzudriften.

    „Fühlst du dich gut?“

    Sumpex grollte, als stünde sein Gegner bereits vor ihm und könne das Signal zum Beginn des Kampfes gar nicht erwarten. Ryan klopfte ihn anstachelnd auf den Rücken. Er hatte längst beschlossen, das Amphibium auch in der zweiten Runde kämpfen zu lassen. Das aus dem ersten Match erwachte Feuer sollte nicht gleich durch zu lange Ruhephasen erstickt werden und Kirlia konnte er später noch immer einsetzen. Das sollte er vor Beginn der anspruchsvolleren K.O. Phasen unbedingt noch abhaken können.

    Der normalerweise gähnend leere Flur teilte sich ein paar Meter vor ihm und führte somit zur Ost-, beziehungsweise Westseite des Stadions. Und genau an diesem Punkt wurde er erwartet. Cody wirkte mindestens dreimal so aufgekratzt, wie sein routinierter Gegner. Nur fieberte er dem Ganzen sehr offensichtlich mit Ungeduld entgegen.

    Ryan runzelte die Stirn, als er einen aufrecht gehenden, grünen Gecko, etwa so hoch wie sein Trainer, eben jenen flankieren sah. Das Reptain, das Ryan vor einigen Runden noch hatte kämpfen sehen, war noch immer völlig geschunden und konnte sich nur mit Mühe aufrecht halten. Es stand auf wackeligen Beinen, Schrammen und Blutergüsse ruinierten die naturgrüne Reptilienhaut. Sumpex gab sich recht unberührt, schien die beiden kaum zu beachten. Sein Blick ging geradeaus und war voll konzentriert. Der Frischling straffte seine Haltung, schien Ryan diesmal deutlich formeller und distanzierter begegnen zu wollen.

    „Was wird das hier?“, fragte er ohne ein Wort der Begrüßung. Er blickte das Reptain an, als erwarte er eine Antwort von diesem anstatt von Cody.

    „Ich rede viel mit meinen Pokémon. Ich höre oft von Veteranen, dass das gut sein soll und die Bindung fördert.“

    Da war was Wahres dran. Schließlich sollte jedes Pokémon auch seinen Trainer kennenlernen. Sonst würden sie diesem niemals vertrauen.

    „Schon am ersten Tag habe ich Geckarbor erzählt, wem ich es zu verdanken habe, dass wir einander finden konnten.“

    Der Gecko trat einen Schritt vor, sah Ryan tief in die Augen. Noch vor kurzer Zeit hätte dieser Blick ihn beeindruckt, hätte ihm imponiert. Doch nach Sandras Shardrago, Sheila und Ruby war es ihm geradezu unmöglich, hierauf nicht kühl und gelassen zu bleiben. Allerdings wollte er keineswegs abweisend wirken, denn Reptain stand ihm alles Andere als feindselig gegenüber. Im Gegenteil. Es lächelte ihn dankbar an und nickte respektvoll. Ryan war nicht nur Codys Wohltäter, sondern auch seiner. Dieser Junge behandelte ihn überaus gut und förderte seine Kampfeslust, seinen Ehrgeiz und Siegeswillen. Es ging ihm fabelhaft bei Cody. Für keinen anderen wollte er kämpfen. Mit keinem anderen wollte er sein. Und ihn zu treffen hatte eben dieser Ryan ermöglicht. Dafür gebührte ihm sein aufrichtigster Dank.

    „Reptain würde es genauso ehren, gegen dich kämpfen zu dürfen, wie es mich ehrt.“

    Nun endlich wechselte Ryan wieder den Augenkontakt und blickte skeptisch, fast schon verurteilend Cody an.

    „In diesem Zustand wäre das unverantwortlich. Das weißt du.“

    Ein kleiner Teil von ihm zweifelte doch an Codys Vernunft, aber er unterstellte dies dennoch. Und der Junge bestätigte dies mit einem bitteren Blick gen Boden. In der Art und Weise las Ryan jedoch bereits, dass er seine Entscheidung trotzdem nicht ändern würde.

    „Ich hab bisher nicht viele Wege gefunden, Reptain angemessen zu belohnen. Er ist ein besserer Partner, als ich ihn mir hätte wünschen können und sehr viel besserer, als ich verdiene.“

    Das Reptil reagierte hierauf mit einem nur äußerst kurzen Seitenblick. Ryan meinte zu erkennen, dass es diese demütige Aussage seines Trainers gerne korrigieren würde. Mit Sicherheit würde das nachgeholt werden, aber so etwas diskutierte man nicht vor einem anderen Trainer und seinem Pokémon aus.

    Ryan schluckte und fühlte sich dezent an sich selbst erinnert. Die ersten Wochen, die er damals mit Karnimani verbracht hatte, gehörten zu den ganz besonderen in seiner ganzen Laufbahn. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon einige Partner gewinnen und gar große Erfolge feiern können. Aber nichts davon hatte sich so gut und leicht angefühlt, wie die Arbeit mit seinem kleinen Krokodil Partner. Ryan hatte nicht nur damals geglaubt, sie seinen füreinander geschaffen und dass er die Treue, den Einsatz, die Opferbereitschaft und nicht zu vergessen die Triumphe, die er in den folgenden Wochen und Monaten erfahren hatte, niemals würde angemessen vergelten können. Wenn er so drüber nachdachte, dann galt dies selbst heute noch.

    „Ich will ihm das hier nicht wegnehmen“, stellte Cody schließlich klar und so ausgelaugt und geschunden Reptain auch war, präsentierte es sich wild entschlossen. Es wollte kämpfen!

    Sumpex verengte die Augen und prustete feines Sprühwasser durch seine Nüstern. Fast wie Ruby mit ihren Flammen. Das Wasserpokémon würde sich diesem Eifer nur allzu gerne annehmen.

    Ryan sagte hierauf gar nichts. Doch auch seine Augen waren schmaler geworden, schienen einen Versuch zu unternehmen, Codys und Reptains Standpunkt zu beurteilen. Und auch wenn er es selbst gar nicht merkte, stand ihm dabei sogar der Mund leicht offen.

    Cody wollte niemanden weiter aufhalten und entschied sich daher, das Gespräch zu beenden, indem er Ryan an seinen Wunsch von vorhin erinnerte.

    „Ich…“, er stockte. Das war so nicht richtig.

    Wir wollen uns irgendwann mit einem Lächeln hieran zurückerinnern.“

    Der Trainer aus Johto sog tatsächlich tief Luft ein und vergaß für einige Sekunden weiter zu atmen. Cody wartete jedoch keine weitere Reaktion ab und wandte sich zum Gehen, folgte dem Flur entlang zum Eingang. Reptain folgte unverzüglich, nach einem vielsagendem – keineswegs aggressivem – Blickkontakt mit Sumpex. Dieser sah ihnen nicht hinterher, sondern wartete geduldig das Ende von Ryans Starre ab. Sie hielt an, bis die Kontrahenten außer Sicht waren, ehe er über den Kragen seines Oberteils den Blick des Amphibiums auffing. Worte waren überflüssig. Sie dachten dasselbe. So wanderten diesmal beide Augenpaare den Flur hinunter als gingen Cody und Reptain dort noch immer. Und sie nickten knapp.


    Über die Stadionlautsprecher wurden die einlaufenden Trainer abermals frenetisch angekündigt. Cay hob dabei erneut die oder eher den großen Namen – Ryans – unter den drei Paarungen hervor. Auch dass dieser sowie sein Gegner Cody mit ihren Pokémon an der Seite einmarschierten erwähnte er mit spürbarer Verblüffung. Sicher ging es da dem ein oder anderen Zuschauer nicht anders. Auch Terry, der nach wie vor nebst Andrew das Geschehen über die Bildschirme verfolgte, runzelte hierüber arg die Stirn.

    Den Schiedsrichter des Kampffeldes Nummer 2, auf dem sich Ryan und Cody einfanden, konnte man ebenfalls äußerst verdutzt beobachten, da Sumpex und Reptain nicht neben ihren Trainer an deren Position stoppten, sondern geradewegs weitermarschierten. Das Amphibium mit wuchtigen Schritten und die schweren Fäuste bei jedem Schritt auf dem Sand geballt. Das Pflanzenpokémon dagegen fast schleichend. Jedoch nicht weniger hungrig auf dieses Duell. Oder zumindest wollte es das, was die Verletzungen jedoch nicht ermöglichten. Beide stoppten erst, als sie einander in der Mitte gegenüberstanden. Normalerweise hatten die Trainer auf das Kommando des Unparteiischen, ihre Kämpfer freizulassen, zu warten und der Mann an der Seitenlinie schien gerade abzuwägen, ob er dies zurückpfeifen sollte. Jedoch ließ er es sein. Ryan schätzte besagten Schiedsrichter ob seiner Ausstrahlung und offensichtlich jungem Alter als eher unerfahren ein, was wohl der Hintergrund seiner Unsicherheit bezüglich des Auftretens der Pokémon war. Und auch seines Schweigens trotz eben dieser Aktion.

    „Oha, oha. Leute, da unten brennt anscheinend jetzt schon die Luft. Das Reptain und das Sumpex von Biggs und Carparso können´s kaum abwarten.“

    Damit lag Cay natürlich nicht wirklich richtig. Ja, die beiden lieferten sich in der Tat ein intensives Anstarr-Duell. Jedoch nicht aus Hass oder weil man dem anderen nicht schnell und oft genug eine verpassen konnte, obwohl es von der Tribüne sicher so aussah.

    „Die Frage ist, ob Cody Biggs gegen so einen Gegner was zu melden hat. Der Typenvorteil ist auf der Seite des Underdogs, aber sein Reptain hat in der ersten Runde schon gewaltig einstecken müssen. Ich bin gespannt, was das gibt!“

    Während der Stadionsprecher noch die Typenverhältnisse auf den anderen Kampffeldern klärte, gingen Reptain und Sumpex nun endlich ein paar Schritte auseinander und erwarteten den Beginn. Cody atmete einmal tief durch. Er war so froh gewesen, dass er sich Ryan gegenüber so klar hatte ausdrücken und felsenfest präsentieren können. Jetzt aber schlug ihm das Herz bis zum Hals. Ein Blick hinüber zu seinem Idol verriet, dass es diesem in keinster Weise so erging. Klar, war er sich seines Sieges praktisch gewiss, so wie auch Cody selbst, aber er meinte nicht, dass die kühle Ausstrahlung und der konzentrierte Blick daher rührten.

    Viel Zeit zum Spekulieren war ihm nicht vergönnt. Cay erhob abermals die Stimme, sowie alle drei Schiedsrichter ihre Fahnen.

    „Beginnt!“

    Reptain begab sich in eine Lauerstellung, die Krallen im Anschlag und den Kopf tief. Das letzte Match war Lehre genug gewesen, dass seine Schnelligkeit lange kein Garant für den Sieg war. Doch jetzt galt es nicht ans Gewinnen zu denken. Nur an den nächsten Angriff, allein den nächsten Zug. Sei es der eigene oder der von Sumpex. Dieser rührte sich für einen Moment, der sich unnatürlich lang anführte, kein bisschen. Stand genauso da, wie vor der Eröffnung dieses Kampfes und blickte starr in das Gesicht des Geckos. Die Augen verengt, wie schon zuvor, ließen sich intensive Gedankengänge dahinter erahnen. Reptain bekümmerte dies nicht. Anderweitige Sorgen hatte man von diesem Ort fernzuhalten.

    Schließlich ging auch Sumpex eine gebückte, in diesem Fall jedoch abwartende Haltung, stemmte die Fäuste in den Boden und erwartete ein Kommando. Kein Konkretes. Von beiden Seiten des Kampffeldes aus war ihm eines recht.

    Es sollt Cody sein, der die Initiative ergriff. Darauf hatte Ryan gesetzt.

    „Gib alles, was du hast. Laubklinge!“

    Er rief zu diesem Angriff aus, als sein es schon der letzte. Der Schlag, mit dem sich alles entscheiden würde. Kein Taktieren, keine Spielchen und kein Abtasten. Wer wusste schon, wie viele Chancen es geben würde, um aus voller Kraft zuzuschlagen. Vermutlich nur diese hier und die wollte genutzt werden. Reptain sprintete voran. Sein Zustand ließ kein so hohes Tempo zu, wie noch gegen Kapoera, aber flinker als Ryans Pokémon war es allemal. Aus reiner Eigeninitiative setzte der Angreifer zu einem Sprung an – sogar sehr früh. Er überwand eine enorme Distanz in der Luft, die er dazu nutzte, sich um die eigene Achse zu drehen und Schwung zu sammeln. Sowie sich die Glieder wieder von Körper spreizten, leuchtete zwei grüne Sichelklingen an den Unterarmen auf und zielte mit einem scharfen Zischen nach Sumpex.

    „Schutzschild“, wies Ryan an. Die Energiekugel, mit der sich das Wasserpokémon umhüllte, hatte fast dieselbe Farbe, wie Reptains Laubklinge, war aber durchsichtig. So blickten die Kontrahenten einander abermals direkt in die Augen, als die Klingen an dem Wall abprallten, wie von Granit.

    Hier bot sich die Gelegenheit, Cody den Tempovorteil zu rauben. Genau darauf hatte es Ryan schon im Voraus abgesehen. Er befahl einen Eishieb.

    Der Schutzschild wurde aufgelöst, zersprang in tausend Scherben, sodass Sumpex sich Reptain greifen konnte. Die gewaltige Faust könnte den schmalen Hals vermutlich wie einen Strohhalm knicken. Stattdessen wurde das Pflanzenpokémon zu Boden geschleudert, was ihm die Luft aus der Lunge drückte. Die andere Hand des Amphibiums hatte sich zur Faust geballt und ging, eingehüllt von Eiskristallen und kaltem Winterhauch auf ihn nieder. In diesem Schlag steckte so viel Kraft, dass der Sand des Kampffeldes aufgewirbelt wurde und sich mit des Eisnebelschwaden vermengte. Die Kämpfer waren für mehrere Sekunden darin verschwunden.

    „Woah, Carparso hat den Angriff bilderbuchmäßig ausgekontert. Und dann auch noch so ein Dampfhammer mit Eishieb gegen einen Pflanzen-Typen. Kann Reptain sowas wegstecken?“

    Cody knirschte mit den Zähnen, als sei er ein Magnayen. Das war´s dann wohl. In Gedanken bat er bereits jetzt Reptain um Verzeihung.

    Dieses war jedoch noch immer bei Bewusstsein. Starrte erneut in die orangefarbenen Augen seines Widersachers. Seines Bezwingers. Der Eishieb hatte nicht auf seinen Körper gezielt. Ein Treffer dieser Art hätte wohl zur sofortigen Ohnmacht geführt. Sumpex aber hatte lediglich auf den linken Arm eingeschlagen. Die Wirkung war durchaus spürbar. Um nicht zu sagen jenseits von Gut und Böse, genau wie es von einer Eis-Attacke bei einem Pflanzentypen zu erwarten gewesen war. Nebst des Pochenden Schmerzes durch den Einschlag selbst hatte sich ein massiver Eisklumpen mit spitzen Zacken gebildet, der den Arm am Boden festhielt und mit seiner Eiseskälte fürchterliche Schmerzen bereitete. Aber es hätte Reptain viel schlimmer ergehen können. Es wurde nicht gejammert, geschrien oder gewinselt. Der Gecko zuckte und krampfte, biss die Zähne zusammen, sich dem erfahrenen Gegner würdig zu präsentieren. Und selbiger erkannte es an.

    Nichts desto trotz hob der Mann an der Seitenlinie eine Fahne und erklärte Ryan zum Sieger.

    „Reptain kann nicht weiterkämpfen. Sumpex und Carparso gewinnen!“


    Andrews fing mit einem Seitenblick eine unerwartete Geste Terrys neben ihm auf. Er formte mit seinen Lippen ein paar unausgesprochene Worte, von denen die Mehrzahl wohl Flüche waren.

    „Hast du Tourette?“

    Auf den miesen Scherz ging der Trainer aus Einall gar nicht erst ein. Und einem anderen wollte er seine Reaktion auch nicht wirklich erklären. Er gab lediglich dem Drang nach, seine Gedanken laut auszusprechen.

    „Der Junge tritt mit einem Pokémon an, das völlig am Ende ist. Da sollte der Trottel lieber gleich aufgeben, bevor er schlimmere Verletzungen riskiert.“

    Diese Haltung war durchaus vertretbar. Auf jeden Fall war sie die vernünftigere, im Sinne der Gesundheit des Pokémons. Doch Terry ging es primär um etwas Anderes.

    „Aber Ryan…“

    Es schien nicht, als suche er nach den richtigen Worten, sondern als wolle er die richtigen Worte einfach nur nicht aussprechen, was er nach einer ganzen Minute doch tat. In dieser Zeit hatte Andrew sich fast schon damit abgefunden, keine Frage mehr zu erhalten.

    „Er hätte ihn niedermachen können. Wieso hat er es nicht getan?“

    Terry schaute dem engsten Vertrauten seines Erzrivalen mindestens so fest in die Augen, wie Reptain es bei Sumpex getan hatte. Jedoch aus einem anderen Grund. Die Tatsache, dass er Ryans Entscheidung, die Samthandschuhe anzulassen, nicht nachvollziehen konnte, schien ihn fast wahnsinnig zu machen. Seltsam, dass er sie überhaupt so verbissen zu verstehen versuchen wollte.

    „Die anderen kann er damit vielleicht täuschen, aber ich weiß, dass das halbherzig war. Und du weißt das doch auch.“

    Hier sah sich Andrew regelrecht gezwungen, das Offensichtliche zu erklären. Schnellstens. Seltsam eigentlich, dass er dies für Terry tun musste, da jemand wie er, der für den Kampf lebte, das eigentlich verstehen sollte.

    „Dieser Junge, Cody, wollte kämpfend verlieren. Er und Reptain wollten sich nicht beugen, sondern stehen. Dem Gegner nicht einmal in die Augen zu sehen, würde die beiden beschämen.“

    Andrew kannte Cody kaum und eventuell unterstellte er ihm hier auch ein bisschen zu viel. Er übertrug bloß seine Einstellung auf ihn, da er sicher war, dieselbe zu besitzen, wie der Frischling. „Solche Dinge achtet Ryan und er sieht keinen Grund, einen Gegner unnötig zu verletzen, den er respektiert. Man nennt es auch Gnade.“

    Äußerst langsam driftete Terry´s Blick von ihm zurück auf den Fernseher, sah dabei aber aus, als hätte man ihm in einer fremden Sprache geantwortet. Darauf erntete er wiederum nur Kopfschütteln. Kein Wunder, dass er Ryan damals wie heute nie verstanden hatte. Ihm schienen einige Grundbegriffe seines – also Ryans und damit auch Andrews eigenen – Trainerdaseins absolut ungeläufig zu sein. Geradezu absurd in seinen Augen. Logisch, dass sie nicht miteinander klarkamen.


    Ryan hatte nach dem Match die Einsamkeit gesucht. Er und Cody hatten sich sportlich die Hand gegeben und waren wortlos auseinander gegangen. Sicher war das nicht der Verlauf gewesen, den Cody sich gewünscht hatte. Doch alles war gut, so wie es war. In den Augen der Zuschauer hatte alles nach einem normalen Kampf ausgesehen, doch nur sie beide sowie ihre Pokémon wussten, dass Sumpex den letzten Schlag absichtlich nicht optimal gesetzt hatte. Noch im Voraus hatte er seinen Partner dazu angehalten, um die Gesundheit Reptains nicht zu gefährden. Hoffentlich erkannte Cody das auch und stellte seinen Stolz hinter eben diese. Das Wohl seiner Partner sollte schließlich immer an erster Stelle stehen. Ryan hatte jedoch wenig Zweifel, dass Cody das verstand.

    In den folgenden Runden waren weder Andrew noch Sandra wirklich auf ernstzunehmende Gegner getroffen und hatten ebenfalls ihren jeweils zweiten Sieg eingefahren. Diesmal hatten gleich beide mit Dragonir gekämpft, und es war durchaus interessant gewesen, die zwei miteinander zu vergleichen. Sporadisch würde man das Pokémon der Drachenmeisterin als das stärkere einschätzen, aber angesichts der Fortschritte und der Entwicklung von Andrews Dragonir durfte er sich erfolgsversprechende Hoffnungen für die nahe Zukunft machen. Es blieb lediglich abzuwarten, ob es für morgen und vor allem für die Gegner, die dann warten würden, schon reichte.

    Terry und Audrey waren ebenso souverän durch die restliche Qualifikation marschiert. Alle beide hatten ihre letzten Matches noch vor den Gästen aus Johto gehabt –, womit die auffälligsten Trainer eigentlich schon genannt waren. Bis auf eine.

    Bella befand sich gerade in ihrem dritten Kampf und verfolgte einen ähnlichen Stil, wie man ihn bereits bei ihrem Ninjask hatte beobachten können. Das weiße, raubkatzenartige Wesen da unten machte gar noch einen finstereren Eindruck. Dazu ein sichelartiger Schweif und ein sehr markantes Horn an der Schläfe – beides so schwarz wie die Nacht, wie es sich für Unlicht-Typen gehörte. Die blutroten Augen erinnerten stark an Sheilas, was der Erscheinung von Absol die Krone aufsetzte. Ähnlich wie das Käferpokémon war sein Repertoire voll von Tricks, Täuschungen und Kontern. Mit Bisaflor hatte es zwar einen zähen Gegner vor sich, der nicht so rasch bezwungen war, doch sah es schon nach dem ersten Manöver nur nach einer Frage der Zeit aus. Mit Finte und Doppelteam ließ Bella die Attacken ihres Gegners immer wieder ins Leere zielen und schlug mit Psychoklinge oder Klingensturm zurück. Schon nach wenigen Treffern war Bisaflors Erschöpfung selbst von der letzten Reihe der Tribünen aus offensichtlich. Unverhofft verwickelte sie die gewaltige Echse in den Nahkampf, als dessen Trainer gerade entschieden hatte, diesen ab hier unbedingt zu meiden. Absol ließ die Klauen aufblitzen und griff mit Kreuzschere an. Vermutlich hätte schon sehr bald jeder Angriff das Ende besiegelt, doch eine so effektive Attacke konnte Bisaflor nie und nimmer standhalten. Absol pflügte sich durch das viele Laub und die Blüten auf des Gegners Rücken, wie die sprichwörtliche Axt im Walde. Es regnete Mengenweise Grünzeug und auch in das Fleisch gruben sich die Krallen, malträtierten die riesige Echse, ehe die vier stämmigen Beine einknickten und der schwere Körper zusammenbrach.

    Bella war ohne Frage gnadenlos und ungezügelt, kämpfte wild und erbarmungslos, aber auch gleichermaßen trickreich. Sie machte ihren Worten alle Ehre. Keineswegs musste sie zu diesen Methoden greifen, um zu gewinnen. Diese Qualifikationskämpfe dienten lediglich als Warnung. Eine Darbietung für Ryan und den Rest von Milas Anhang.

    „Die spielt ein abartiges Spiel“, kommentierte Andrew den gerade beendeten Kampf. Wie schon zuvor wollte man es eigentlich anders nennen. Zum Beispiel Massaker, was allein durch die Tatsache, dass Bella die Pokémon ihrer Gegner nicht tatsächlich umbrachte, vermieden wurde. Mittlerweile war auch er über die wahre Identität der jungen Frau informiert, was ihr ohnehin seine Abscheu garantierte. Ihr Charakter auf dem Kampffeld rundete seinen Unmut lediglich ab.

    „Für sie ist es ganz sicher eins. Trotzdem will ich das eigentlich kein Spiel nennen.“

    Sandra hatte sich die ganze Zeit über mit Ryans Match abzulenken versucht, das auf dem benachbarten Feld stattfand. Hundertprozentig war ihr das leider nicht gelungen, obwohl es Grund genug gab, ihm die Aufmerksamkeit zu widmen. Er hatte schon vorab beschlossen, Kirlia ihr Debüt zu gönnen, womit er ihr wahrscheinlich den größten Gefallen getan hatte, seit dem Moment, von dem an sie sich seine Partnerin nennen musste. Das tat sie ohnehin nicht aus Wohlwollen oder Sympathie für ihren Trainer, sondern allein aus Respekt. Dieser war ihm definitiv sicher, da sie an Hundemon und Despotar mit eigenen Augen gesehen hatte, was er aus talentierten Pokémon zu formen vermochte. Oder treffender gesagt aus ehrgeizigen Pokémon. Talent verhalf schließlich nur zu einem geringen Anteil solcher Stärke, wie er ihr eingetrichtert hatte. So tief reichte ihr Respekt schon, dass sie seine Worte verinnerlichte und beherzigte. Dass sie dies jemals von einem Menschen würde behaupten können, hatte bis vor einer Weile noch jenseits ihrer Vorstellung gelegen.

    Ryan vernahm wie aus der Ferne die dröhnende Stimme von Cay aus den Stadionlautsprechern, der Bella und ihr Absol in den Himmel lobte, wie er es bei fast jedem siegreichen Pokémon tat. Sogleich spürte er den stechenden Blick der Agentin auf sich und konnte ihn dankbarerweise mühelos ignorieren. Er hatte schließlich selbst noch zu kämpfen und vor allem zu beurteilen. Diesen ersten Auftritt gönnte er Kirlia ohne Weiteres, aber von hier an würde sie sich Einsätze verdienen müssen. Und sie konnte morgen früh noch so voller Tatendrang sein – wenn sie heute nicht ablieferte, so musste sie sich hinter Sumpex und den anderen anstellen.

    „Jetzt Schaufler, Digdri!“

    Die Frau auf der anderen Seite des Kampffeldes musste die älteste Teilnehmerin sein, was allerdings nicht bedeutete, dass sie bloß Bodensatz war. Gegner im mittleren oder gar hohen Alter hatten Ryan in der Vergangenheit ebenso erbitterte Kämpfe geboten und ihm seine Höchstleistung abgerungen. Ganz so stark war die hier zwar nicht, doch für Kirlias Feuertaufe durchaus ein harter Brocken.

    Ihr Partner grub sich bestimmt zum bald zwanzigsten Mal in diesem Kampf in die Erde, was man dieser auch ansah. Bei den vielen Löcher grenzte es an ein Wunder, dass die Tunnel nicht einstürzten und einen Teil des Feldes absackte. Leider beherrschte Kirlia keinen Angriff, der durch das gesamte Tunnelsystem wüten konnte. Sumpex könnte sie ganz einfach fluten und das Match im Handumdrehen für sich entscheiden. Sie vermochte Digdri jedoch bloß direkt anzugreifen. Und auch nur, wenn es sich zeigte. Leider gab es keinen Weg, den Angriff vorauszuahnen, was dieses Spiel vor allem mit zunehmender Dauer gefährlich machte.

    Oder vielleicht doch? Immerhin hatten Pokémon ihrer Gattung einen zusätzlichen Sinn, mit dem die arbeiten konnten.

    „Sondersensor, Kirlia.“

    Das sollte eigentlich funktionieren und auch die Psychodame verstand genau, was die Idee hinter diesem Befehl sein sollte. Sie schloss die Augen und ging in eine tänzerisch anmutende Ausgangsstellung. Die ganze Zeit schon hatten ihre Schritte und Bewegungen quasi eine ganz eigene Darbietung geboten, aber das war lediglich ihre Art. Ihr eigentliches Ziel war ganz einfach der Sieg und die Anerkennung an ihre Stärke. Sowohl von den Zuschauern als auch ihrem Trainer.

    Die grazile Gestalt Kirlias begann in weißen und purpurnen Lichtschleiern zu glimmen. Sondersensor verstärkte nicht nur ihre physischen, sondern auch kinetischen Sinne. Genau diese griff besagte Technik nämlich auf des Gegners Seite an. Und ein so wüster und grober Widersacher war geradezu spielend auszumachen. Für Kirlia fühlte sich einen Moment lang die ganze Umgebung still an und tatsächlich hatte auch Ryan fast das Gefühl, alle hielten den Atem an, während sie auf Digdris Angriff warteten. Einzig und allein Cay verstummte nicht ob der Spannung.

    „Jetzt wird´s interessant. So langsam scheint Carparso einen Plan zu entwickeln, wie er den Schaufler aushebeln kann. Bloß nicht blinzeln, Leute.“

    Wenn der Typ seinen Gegner noch ein Mal seine Absichten verriet, so schwor Ryan, würde er Cays Sprecherkabine stürmen und ihn die Treppen der Tribünen runter stoßen.

    In der Erde vibrierte es, grummelte es. Nur leise und ganz kurz, doch es verriet Kirlia, dass der Angriff in dieser Sekunde erfolgte. Sie verhakte die Arme vor dem Körper und drehte sich auf dem Absatz wie eine Ballerina. Just in diesem Augenblick brach der Boden auf und Digdris Schädel verfehlte um ein Haar ihre Beine. Noch in der Bewegung suchte die Tänzerin den Blickkontakt zu ihrem Trainer aus dem Augenwinkel, der nur auffordernd grinste und ihr knapp zunickte.

    Das Licht, das ihren Körper einhüllte, schien zu wandern und sich in ihrer Hand zu sammeln. Es war nur ein kleiner Lichtpunkt. Ryan würde ihn problemlos mit seiner Faust einhüllen können. Doch sie schleuderte ihn auf Digdri, als wuchte sie einen schweren Hammer auf den Gegner. Der Effekt kam einem solchen recht nahe. Der robuste Körper wurde von der unsichtbaren Gewalt so hart in die Erde zurückgestoßen, dass nun tatsächlich der aufgewühlte Boden ein Stück nachgab und Zentner an Sand und Lehm aufgeschlagen wurden. Da der Gegner zwar nicht gerade Koloss, aber dennoch erheblich schwerer als Kirlia war, schleuderte sie sich mit dieser telekinetischen Krafteinwirkung selbst einige Schritt hoch in die Luft. Dies war allerdings keineswegs unbeabsichtigt.

    „Spukball!“, hallte es vom Rande des Kampffeldes herüber. Diese Anweisung hätte sie nicht einmal mehr gebraucht. Noch während sie sich in der Luft ausrichtete, ließ sie eine dunkelviolette Energiekugel zwischen ihren Händen wachsen. Für einen Herzschlag stand sie wie in Zeitlupe in der Luft und holte aus und schleuderte selbigen in das, oder eher die drei Gesichter.

    Der Einschlag bewirkte exakt dasselbe Ergebnis, wie der Sondersensor und fügte neben Sand und Schutt einige violetten Rauchschwaden sowie knisternde Blitze hinzu, die im entstandenen Krater zuckten. Sie verzogen sich allerdings rasch, und beseitigten alle noch so kleinen Zweifel am Ende des Kampfes.

    „Digdri kann nicht weiterkämpfen. Kirlia und Carparso gewinnen das Match!“, verkündete der Schiedsrichter schnurstracks. Im selben Moment landete besagte Kirlia wieder auf dem Boden, beugte die Knie geschickt und anmutig. Sie drehte sich einmal mehr um die eigene Achse, spreizte dabei die Arme von sich, um dann in eine Ladyhafte Verbeugung überzugehen.

    „Und das war´s! Kirlia hat den Spieß eiskalt umgedreht! Verdammt, wer hätte geahnt, dass diese Kleine so böse austeilen kann?“

    Selbst der aufbrausende Jubel und der Applaus vermochten diese Grazie nicht zu stören oder zu unterbrechen. Sie nahm beides auf, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt für sie. Nur Ryan, der selbst in die Hände klatschte und die Ränge gar zu noch mehr Beifall für Kirlia anstachelte, würde anhand ihrer Augen und dem zarten Rotschimmer auf ihren Wangen die wahren Emotionen des Psychopokémons erkennen können. Doch ausnahmsweise würde sie sich nicht der Peinlichkeit vor ihrem Trainer ergeben. Würde sich nicht in ihrem Pokéball oder hinter dem ohnehin nicht anwesenden Hundemon verstecken. Diesen Moment, dieses Gefühl wollte sie genießen. Nur stellte sie hier etwas fest, das sie selbst niemals erwartet, niemals für möglich gehalten hätte. Arceus nicht einmal auf die Idee wäre sie jemals gekommen, doch tatsächlich bedeutete der Sieg ihr fast nichts. Der Kampf war gewonnen, schön und gut, aber was zählte der schon? Was war dieser Stolz und der Beifall dieser völlig fremden Menschen schon wert? Hatte sie dies denn je begehrt, als sie noch frei gewesen war? Mitnichten und obwohl sie jene Freiheit immer genossen hatte, fühlte sie sich jetzt nicht gefangen. Es war das falsche Wort. Es musste es heißen, als sie noch allein gewesen war.

    Nicht einen Gedanken hatte sie an Ruhm und Triumph verschwendet. Und so gut sich dieser auch anfühlte, galten ihre jetzigen nur ihrem Trainer. Ebenso wie ihr Dank. Denn nichts von alldem hätte sie jemals ohne ihn erfahren. Er hatte es ihr ermöglicht, indem er sie zu seiner Gefährtin gemacht und schließlich so gefördert hatte. Ihn stolz zu sehen, ihn lächeln zu sehen war hier und jetzt so viel schöner, als der Sieg selbst. Kirlia erkannte ihre eigenen Gefühle kaum wieder. Angst hatte sie aber keine vor ihnen. Ganz im Gegenteil. Sie wollte mehr davon. Und noch mehr wollte sie Ryan zurückgeben.

    Der ließ sich vor seiner kleinen Freundin auf die Knie fallen und schloss sie in die Arme.

    „Du warst prima, Kirlia. Absolut klasse!“

    Und die Wärme stieg noch weiter an. Ryan hatte schon befürchtet, er sei mit diesem engen Kontakt schon zu weit gegangen und brachte die kleine Göre mal wieder in Verlegenheit. Das verflog, sowie sich die dünnen Ärmchen ebenfalls um seine legte. Sie erwiderte die Geste. Und sie lächelte. Jetzt war er es, der sein Glück kaum noch fassen konnte. Er wollte sich bremsen, nicht über die Strenge schlagen, aber er hatte schlicht und ergreifend das Gefühl, dass in ihr, genauso wie bei Sumpex, etwas geschah. Ausgelöst durch diesen ersten Sieg. Weniger jedoch auf den Kampf bezogen, sondern auf ihre Bindung. Und das war sogar noch viel wertvoller.


    Dunkelviolette, fast schwarze Energiemasse quoll aus dem Maul, umspielte die mörderischen Reußzähne und schien nach etwas zu Gieren, das sie auslöschen konnte. Die unheilvolle Kraft wartete gerademal seit ein paar Sekunden auf Befreiung – viel zu lange, gar eine Ewigkeit des Ausharrens. Doch schließlich war es soweit. Das Maul öffnete sich weit und entfesselte die Energie, die pfeilschnell über die ebene Sandfläche schoss. Da war ein riesiges Geschöpf, stark und robust, eine Schlange aus massivem Fels. Wie eine solcher vermochte es beinahe jeder Brandung zu widerstehen. Aber nicht dieser Finsteraura. Diese Welle aus unheilvollen Schatten türmte sich gar höher, als sich das Onix aufrichten konnte und überrollte es geradezu, spülte es hinfort.

    Die Erde bebte unter dem tonnenschweren Körper, der über das Kampffeld und an dessen Grenzen rollte und fast mit der Mauer kollidierte, was sicher Schäden hinterlassen hätte, für die Andrew ungern aufgekommen wäre. Diese kleine Katastrophe blieb ihm glücklicherweise erspart. Mit dieser Kraft seitens von Magnayen hatte er selbst nicht gerechnet.

    „Und da ist der Schlusspunkt!“, verkündete Cay zeitgleich mit dem Unparteiischen an der Seitenlinie, der Andrew zum Sieger erklärte. Nicht, dass dieser besonders viele Gründe gehabt hätte, an jenem zu zweifeln, aber dennoch fiel eine kleine Last von seinen Schultern. Nachdem Ryan, Sandra und auch Audrey allesamt ihre drei Kämpfe gewonnen hatten, wäre er sehr ungern als einziger einmal als Verlierer vom Feld gegangen. Auf das Zittern und Bangen um die Qualifikation für die K.O. Phase konnte er ebenso verzichten. Es deutete sich nämlich an, dass kaum einer, der keine weiße Weste vorzuweisen hatte, morgen noch zum Teilnehmerfeld gehören würde.

    Cay hielt das Ende des ersten Wettkampftages ebenfalls ausführlich, überaus zufrieden, noch immer elektrisiert und vor allem außer Atem fest. Nach jedem Satz musste er Luft holen und die Stimme war völlig heiser. Kein Wunder. Wie viele Stunden hatte er nun aufgeregt ins Mikro gebrüllt und das Publikum angeheizt?

    „Keine Ahnung, wie es euch geht, Freunde… nein im Ernst, ich weiß es nicht. Lasst mal was von euch hören! Hat euch dieser erste Tag Spaß gemacht?“

    Die Zuschauer bejahten bereits mit Applaus und Begeisterungspfiffen, bevor Cay überhaupt ausgeredet hatte. Mit dem Fortschreiten des Tages war es nie leerer auf den Rängen geworden. Im Gegenteil. Im Laufe des Nachmittags hatte es scheinbar noch einige Kurzentschlossene hergezogen. Sprich, es waren sogar mehr Zuschauer beim Abschluss, als bei der Eröffnung. Morgen würde man sich so etwas allerdings nicht leisten können. Wer zum jetzigen Zeitpunkt noch kein Ticket besaß, durfte höchstens am Fernseher zusehen, da das Prime Stadium schon seit über einer Woche ausverkauft war.

    Hierauf freute sich Andrew mittlerweile ganz besonders. Vor halbvollen Rängen anzutreten, fühlte sich an wie eine Party, auf die keiner so wirklich wollte. Er brauchte mehr Menschen, mehr Lärm und mehr Stimmen!

    Jedenfalls war er nicht unglücklich über das Ende der Qualifikationen und mit der Leistung seiner Pokémon konnte er ebenfalls zufrieden sein. Er kniete sich gerade neben Magnayen und klopfte ihm lobend die Seite. Der Wolf wurde – zumindest ein klein wenig – zum Schoßhund, schmiegte seinen Kopf an Andrews Bein und suchte immerzu seinen Blickkontakt.

    „Leute, Leute, ich kann nur sagen tausend Dank, dass ihr so zahlreich gekommen und vor allem bis zum Schluss geblieben seid. Aber das wärt ihr ja nicht, wenn ihr nicht die Abschlusstabelle sehen wolltet, richtig?“

    Der Onix-Trainer auf der anderen Seite des Kampffelds marschierte gerade in den Tunnel und würdigte die Anzeigetafel keines Blickes. Er hatte zwei Mal den Kürzeren gezogen und war somit definitiv raus. Andrew war da schon interessierter, wenn auch nicht besonders angespannt, da all seine Freunde wie Rivalen ungeschlagen und somit ohne Frage unter des ersten sechszehn waren. Eben diese verfolgten die Bekanntgabe mit ähnlichen Gedanken, wobei Ryan durchaus um einen Namen bangte und hoffte. Wenn auch nur ein bisschen.

    „Also dann, hier sehen wir unsere Achtelfinalisten!“

    Eine große Menge an Namen, sowie die Statistik aus Siegen, Niederlagen und gesammelter Kampfzeit wurde abgespult. So schnell, dass man sie gar nicht lesen konnte. Doch je weiter man sich dem oberen Ende näherte, desto langsamer wurde die Aufzählung. Als sie schließlich zum Stillstand kam, wurden 16 davon golden umrandet, während der Rest ausgegraut blieb.

    „Bäm! Da haben wir´s Gold auf Blau. Wer seinen Namen findet – Glückwunsch, wir sehen uns morgen wieder!“

    Andrew suchte nicht besonders eifrig nach seiner eigenen Platzierung, sondern ging die Liste chronologisch durch. Sandra belegte den ersten Platz. Nicht gerade eine Überraschung, auch wenn es durchaus knapp gewesen war. Die ersten beiden Kämpfe hatte sie quasi in einem Atemzug gewonnen. Allerdings hatte die Zweitplatzierte insgesamt nur ein paar Sekunden länger gebraucht. Was frustrierend war, da diese nie wirklich auf Tempo gespielt hatte. Es handelte sich um Team Rockets angeheuerte Agentin Bella. Es war klar, dass dieser Name zu lesen sein würde, doch dass er so weit oben stand, weckte in Andrew beinahe einen Brechreiz. Er las schnell weiter, um sich abzulenken und fand seinen Kumpel Ryan auf Rang drei. Auch das verwunderte sicher niemanden. Hätte dessen letzter Gegner mit seinem Digdri nicht so auf Zeit gespielt – es hatte sicher mehr Zeit unter als über der Erde verbracht –, wäre vielleicht noch mehr für ihn drin gewesen.

    „Arenaleiterin Sandra hat die Nase ganz vorn und macht ihrem Ruf alle Ehre. Dahinter folgt die gnadenlose Bella Déraux. Carparso rundet das Spitzentrio ab.

    Es folge ein ihm unbekannter Trainer namens Jamie Gregory und schließlich Audrey Miller, ehe er selbst aufgelistet wurde. Die Spitzengruppe hatte Andrew also verpasst, aber das kümmerte ihn wenig. Außerdem war er immer noch zwei Plätze vor Terry Fuller. Diesem waren die Details dieser Tabelle jedoch vermutlich gar völlig schnuppe. Er hatte nie auch nur entfernt so gewirkt, als gäbe er alles und hatte auch noch mehrfach unter benachteiligten Typenverhältnissen gekämpft. Dass er nicht nur souverän, sondern total lässig hier durchmarschiert war, konnte man durchaus als beunruhigend bezeichnen. Und trotzdem sehnte sich ein Teil von Andrew nach einer Revanche mit dem Kerl.

    Cay las nicht jeden einzelnen der Namen vor. Das konnte jeder für sich. Einige Überraschungen hob er jedoch hervor.

    „Das obere Drittel wird von eindeutig von den Jothonesen dominiert. Miller und Warrener sind da ebenfalls mit drin. Terry Fuller ist mit Rang 8 bloß im Mittelfeld der Qualifizierten. Überrascht mich ein bisschen, wenn ich ehrlich bin. Aber ich bin sicher, er wird uns morgen noch ´ne Show bieten.“

    Die untere Hälfte listete keine Namen auf, die Andrew bekannt wären. Dieser nahm das Ergebnis somit nüchtern zur Kenntnis und machte sich mit einem zufriedenen Seufzer auf den Weg in die Katakomben. Ryan war dagegen etwas ernüchtert, presste die Lippen zusammen und resignierte still vor sich hin. Sandra, aufmerksam wie eh und je, entging das keineswegs.

    „Ist was?“

    Audreys Aufmerksamkeit wurde somit ebenfalls auf ihn gelenkt. Unzufrieden konnte er eigentlich nicht sein. Schließlich hatte er nie mit einem Wort erwähnt, dass ihm der erste Platz irgendwas bedeuten würde. Wäre auch etwas hochgesteckt, wenn man bedachte, dass die beiden Pokémon, mit denen er angetreten war, noch nie zuvor einen offiziellen Kampf bestritten hatten.

    Der Blonde schürzte die Lippen, als er den Grund enthüllte.

    „Cody ist raus.“

    Ein weiterer, prüfender Blick bestätigte es den Trainerinnen. Ihre Augen wanderten ein Stück weiter runter und fanden ihn in grauer Schrift an achtzehnter Stelle. Mit zwei Siegen in der Tasche hatten für ihn definitiv Chancen bestanden, doch fehlte ihm eine knappe halbe Minute auf den ersehnten Rang 16.

    Niemand sagte hierzu etwas. Es wäre überflüssig gewesen. Jeder von ihnen hätte es Cody gegönnt, aber wie sie schon vor Beginn dieses ersten Turniertages festgehalten hatten – das Auswahlverfahren war knallhart.

    Kapitel 44: Reasoning


    „Das sind echt zwei zähe Brocken da unten. Die kämpfen ja, als ginge es hier schon um alles oder nichts“, hielt Cay angespannt fest. Wie der Trainer des Kapoera, dessen Namen weder Ryan noch Andrew Beachtung geschenkt hatte, darüber dachte, wusste keiner der beiden. Für Cody dagegen ging es wohl um nicht weniger als eben alles oder nichts. Sein zweites Match konnte man bereits jetzt als verloren abstempeln und wenn er dieses erste hier verlor, so konnte er sich schon von jeglichen Hoffnungen auf die K.O. Runde verabschieden.

    Das spielte für ihn jedoch nicht mal eine Rolle. Seinen ersten Auftritt bei einem anerkannten Turnier wollte er unbedingt siegreich gestalten. An etwas Anderes dachte er hier gar nicht. Für sein Pokémon ging der Kampf aber fast schon zu lange.

    Es hatte natürlich beide Trainer aus Johto überrascht, dass ein unerfahrener Junge wie Cody es binnen so kurzer Zeit geschafft hatte, sein Geckarbor zu Reptain weiterzuentwickeln. Aber eventuell war das Hydropi, das Ryans Weggefährte wurde, nicht das einzige Exemplar gewesen, das eigentlich schon zu alt für einen Anfänger war – und dieses hatte immerhin bereits seine höchste Entwicklungsstufe erreicht.

    Codys Match war das letzte in diesem Dreierblock, das noch lief. Terry hatte in derselben Runde gekämpft und war seinem Ruf allemal gerecht geworden. Es hatte bereits einseitige Matches in diesem noch so jungen Turnier gegeben. Allerdings hatte keiner der Sieger dabei unter einem enormen Typennachtel gekämpft, so wie der amtierende Champ von Johto mit seinem Admurai. Rexblizar hatte sein Gegner geheißen. Ein Koloss aus Sinnoh, der den Eis- und den Pflanzenpokémon angehörte. Von dem theoretischen Vorteil war jedoch nichts zu sehen gewesen. Der vierbeinige Seelöwe hatte nach dem Gnadenstoß noch ausgesehen, als sei er bestenfalls aufgewärmt.

    Kapoera und Reptain allergings weigerten sich nach wie vor, zu Boden zu gehen. Die flinke Echse hielt vermutlich nur noch aus reiner Willenskraft durch. Sein Gegner war definitiv erfahrener, hatte mit seinen unvorhersehbaren Bewegungen sowie blitzschnellen Kombinationen aus Kicks den Temponachteil nichtig gemacht. Reptain war zwar selbst unglaublich geschickt, doch auf ebener Fläche fühlte sich diese Gattung nicht gerade wohl und jemand wie Cody wusste das einfach noch nicht auszugleichen.

    Da kam sein Gegner schon wieder angeschossen. Auf dem Kopf stehend und mit schwindelerregenden Drehungen um die eigene Achse. Vorhin war Kapoera mit Rasierblatt nicht zu stoppen gewesen und einen direkten Gegenschlag hatte Reptain auch nach drei Versuchen noch nicht platzieren können. Jedes Mal, wenn man glaubte, den Moment des Angriffs abpassen zu können, trat Kapoera plötzlich von der anderen Seite zu oder täuschte bloß an, um die gerade entblößte Stelle zu treffen.

    Nur war diesmal etwas anders. Den jungen Trainer auf der anderen Seite hatte wohl die Geduld verlassen. Er blies zum vollen Angriff, wies an, in einen Dreifachkick überzugehen, was das humanoide Kampfpokémon dazu veranlasste, sich vom Boden abzustoßen und nach vorne zu katapultieren. Vielleicht traute er dem unerfahrenen Gegenüber auch einfach nicht zu, hierauf clever reagieren zu können. Ein folgenschwerer Fehler, den Cody geschickt auszunutzen wusste.

    „Spring drüber und dann Laubklinge!“

    Das Timing musste für diesen Versuch perfekt sein. Gut möglich, dass es keinen weiteren geben würde. Noch im Ansatz ging Reptain bei seinem Sprung in eine Schraube über und wetzte die leuchtenden, gekrümmten Schwerter an seinen Unterarmen. In dieser horizontalen Drehbewegung schlug die Echse einmal in die Seite und einen Wimpernschlag später direkt ins Genick von Kapoera. Der ganze Körper erschlaffte. Er rollte ohnmächtig und entkräftet durch den Staub, bis er direkt vor Cody liegen blieb. Reptain brach bei seiner Landung beinahe selbst zusammen, doch es blieb bei nur einem Knie, das den Boden berührte – so sehr die erschöpften Muskeln auch aufschrien und zitterten.

    „Kapoera ist kampfunfähig. Das Match geht an Cody Biggs!“, ließ der Schiedsrichter verlauten, woraufhin sowohl die Zuschauer als auch der mitfiebernde Cay am Mikro ihre Begeisterung kundtaten. Wäre Sumpex jetzt an Ryans Seite, hätte der nun eine präzise Ahnung, wie er vorhin ausgesehen hatte. Denn der Frischling machte fast dasselbe fassungslose Gesicht. Zumindest für ein paar Sekunden, ehe einfach alles der Freude wich.


    Ryan hatte Codys Kampf, sowie den von Terry, zur Abwechslung von der Tribüne mitverfolgt. Hatte es Sandra und Andrew mit dem Mangel an frischer Luft begründet. Tatsächlich wollte er sie einfach hautnah beobachten. Und er war von beiden beeindruckt. Dies zu gestehen, war er sich selbst bei seinem verhassten Rivalen nie zu schade gewesen. Dieses Admurai war sein erstes Pokémon gewesen und verkörperte heute eines seiner stärksten. Übertrumpft wurde es wohl nur durch das Maxax, dem er die Niederlage bei der Silberkonferenz zu verdanken hatte und das beinahe Andrews Psiana verkrüppelt hätte. Dieses zu schlagen war Ryan bislang nie ohne den Einsatz seines Impergator möglich gewesen. Dass der Alligator jetzt nicht an seiner Seite war, schmälerte jedoch keineswegs seine Zuversicht. Eher spornte ihn diese Tatsache an, da er sich und seinen anderen Pokémon unbedingt beweisen wollte, dass jeder von ihnen besser war, als Terry Fullers stärkster Kämpfer.

    Was Codys Match anging, so war er von dem Niveau und dem Tempo durchaus überrascht gewesen. Sicherlich hatte der Kampfstil beider Pokémon durchaus zur Unterhaltung und Brisanz beigetragen, aber Ryan erkannte durchaus die Qualitäten und das Potenzial. Der Junge musste in der Pokémonschule nur Einsen geschrieben haben. Es gab nur zwei Faktoren, die ihm unübersehbar und vor allem in Mengen fehlten. Und neben der Erfahrung, die natürlich nicht vom Himmel fiel, war das eindeutig Selbstvertrauen. Er musste vergessen, dass er ein Anfänger war. Musste aufhören, sich stets als den Außenseiter zu sehen, der sich nur so gut wie möglich zu verkaufen erhoffen konnte. Er musste mit der Überzeugung antreten, gewinnen zu können, gleichzeitig aber die Balance zum bedachten Vorgehen wahren. Nur mit Leidenschaft gewann man schließlich keine Kämpfe. Nebst Herz und Muskeln brauchte es auch Verstand.

    Ryan hatte kurz erwogen, Cody noch ein oder zwei Ratschläge hierüber zu geben. Das verwarf er aber schnell wieder. Er war zuversichtlich, dass der schon von selbst darauf kommen würde – vielleicht sogar musste. Und dem Ersteindruck nach zu urteilen, konnte das nur eine Frage der Zeit sein. Aber es war gleichermaßen merkwürdig, wie amüsant, dass Cody Ryan doch so sehr beschäftigte. Vielleicht hatte Sandra gar nicht so Unrecht, was ihn betraf.

    Der Trainer aus Johto würde nun einige Runden zu überbrücken haben, ehe er gegen den Frischling antrat. Er entschied sich, Melody aufzusuchen und diese Zeit mit ihr zu verbringen. Es konnte auch wenig unterhaltsam für sie sein, sich jedes dieser Matches allein anzutun. Mindestens eines war in jedem Durchgang dabei, das zum Ermüden anmutete. Außerdem wollte Ryan noch so viel Zeit wie möglich an sie investieren. Morgen hätte er nur sehr wenig davon für sie übrig, sofern er nicht früh ausschied, aber das stand nicht auf seinem Plan. Und was nach dem Turnier sein mochte, wagte er ohnehin nicht einzuschätzen.


    „Ihr habt ohne Winterkleidung in den Bergen übernachtet?“

    Audrey nickte belustigt, aber auch schuldbewusst. Das war eine ihrer liebsten Erinnerungen, die sie mit Ryan verband. Nicht weil eine angenehme, aber immer eine witzige Geschichte. So lange ihr eine solche am Ende blieb, dachte sie gerne an etwas zurück.

    „War meine Schuld. Eine meiner weniger ruhmreichen Pokemonjagden.“

    „Was habt ihr gejagt?“ erkundigte sich Sandra. Die versuchte bei jeder Gelegenheit, das Gespräch boden- und vor allem anständig zu halten. Die ganzen verschleierten Fragen, mit denen Andrew sie vorhin noch gelöchert hatte, waren jenseits des Wortes unsensibel.

    „Ein Geowaz. In der Stadt hat man es den König des Berges genannt.“

    Sie schmunzelte, während ihre Gedanken die Bilder von damals vor ihrem Auge abspielten.

    „Ein Mords Exemplar sag ich euch. Das größte, das ich je gesehen hab und locker eine Tonne schwer. Aber es hat uns rollend abgehängt. Ist einfach durch alle Felsen durchgebrettert. Absolut irre, hat alles platt gewalzt, wie eine Bowlingkugel.“

    Nun lachte auch Andrew trocken auf. Geowaz waren nicht leicht zu kriegen. Erst versuchen sie einen zu überrollen, dann machen die plötzlich den Abgang und ließen es Steine regnen. So eine Verfolgung war nicht ohne.

    „Und da seid ihr hinterher?“

    „Sagen wir, die Sturheit von irgend so einer Trainerin hat über die Vernunft gesiegt. Dann war es plötzlich schon dunkel und wir konnten nicht mehr zurück nach Mahagonia City. Genauso schlecht konnten wir weiter nach Ebenholz.“

    Es war bis heute das einzige Mal gewesen, dass Ryan und Audrey, zumindest für ein paar Tage, gemeinsam gereist waren, bevor man sich in Ebenholz City voneinander verabschiedet hatte. Audrey hatte schon das nächste Event im Kopf und sich nach Kanto aufgemacht, während sich Ryan auf die Silberkonferenz hatte vorbereiten müssen. Das einzige Mal, dass sie einander länger als einen Tag sahen. Und dann war alles so eskaliert.

    Es folgte wieder dieses Achselzucken. Dazu schlug sie die Beine übereinander.

    „Also mussten wir auf dem Berg pennen. Wir hatten nicht mal die warmen Jacken dabei, weil wir erst am nächsten Tag durch den Eispfad wollten.“

    Hier schien Andrew kurz zu überlegen, was dies bedeutete, ehe er sich nach vorne lehnte und die Stimme ein wenig senkte.

    „War´s… du weißt schon… ne sehr kalte Nacht?“

    „Das reicht jetzt“, befand die Drachenmeisterin und legte mahnend eine Hand auf seine Schulter. Sie drückte zügelnd in sein Fleisch. Wahnsinn, was sie für eine Kraft hatte. Nicht das Level von Sheila, aber durchaus schmerzhaft, wie das verzerrte Gesicht des Trainers verriet.

    Audrey lachte äußerst zufrieden und ließ sich die Show gefallen. Sandra redete weiter belehrend auf den Jungen ein, der sie zu beschwichtigen versuchte und sein Benehmen verharmloste. Audrey konnte gut zwischen den Zeilen lesen – nicht, dass Andrew seine wahren Absichten großartig verschleiert hätte – und sie hatte sich mit konkreten Antworten arg zurückgehalten. Einerseits, da sie keinen Stress mit Ryan wollte, indem sie womöglich etwas ausplauderte, das er gern unter ihnen behalten hätte. Es gab da durchaus ein, zwei delikate Themen unter den beiden. Primär hielt sie aber den Rand, weil es amüsant war, Andrew auflaufen zu lassen. Der hatte sehr genau bezüglich ihres Verhältnisses zueinander nachgegraben, aber es gab tatsächlich wenig Besonderes zu erzählen. Sie waren ganz einfach Freunde, die ein paar Erlebnisse verschiedenster Art geteilt hatten, welche für solche eher unüblich waren.

    Eine Frage gab´s da aber, die Audrey ihrerseits gern beantwortet haben würde und sie könnte sich selbst an die Stirn schlagen, da sie diese nicht vorhin an Ryan selbst gerichtet hatte.

    „Sagt mal, wer war eigentlich die Kleine, die ich beim Einlass noch mit euch gesehen hab?“

    Da sie nicht hier war, handelte es sich bei dieser Rothaarigen wohl um keine Trainerin. Oder zumindest keine Teilnehmerin.

    „Seine Freundin? Oder deine, Andrew?“

    Ein kurzer Stoßlacher. Die Vorstellung mit ihm und Melody war auf absurde Weise amüsant. Noch mehr, da er sich bei ihrer ersten Begegnung so an sie rangemacht hatte. Naja, genau genommen war es bei einem Versuch geblieben.

    „Sie heißt Melody und meine ist sie schon mal nicht.“

    „Wie steht´s mit Ryan?“

    Es wäre wohl kaum verwerflich, Audrey jetzt Eifersucht vorzuwerfen oder gar Angst, dass ihr Auserkorener vergeben sein könnte. Aber wenn man sie so ansah und vor allem mit ihr sprach, fiel es schwer, etwas in der Richtung zu erkennen. Wie es den Anschein hatte, waren ihre anfänglichen Anspielungen und die Aufdringlichkeit, die Andrew zu erkennen geglaubt hatte, nur Hirngespinste gewesen. Ein Trugschluss seinerseits, entstanden durch ihre wahnsinnige Offenheit und die verschmitzte Art. Das war wohl einfach ihr Ding.

    „Schwer zu sagen“, meinte Andrew schließlich, nachdem er einen Moment lang nachdenklich die Lippen geschürzt hatte. Er vermied es bewusst, Ryan zu fragen. So unsensibel war er schließlich doch nicht, dass er seinen besten Freund über die genauen Umstände ausquetschte. Und von außen war es fast unmöglich zu beurteilen. Hilfesuchend sah er zu Sandra auf.

    „Es ist im Moment schwer für ihn, über solche Dinge nachzudenken“, erläuterte sie schemenhaft. Für Liebesangelegenheiten war in seiner derzeitigen Situation einfach kein Platz.

    „Hat er Probleme?“ erkundigte sich Audrey weiter, nahm sicher aber schon jetzt vor, keine weitere Frage mehr zu stellen. Sie drängte sich nicht gerne anderen auf. Sie mochte Ryan und respektierte ihn sehr. Das gestattete ihr aber nicht, sich in seine Gefühlswelt einzumischen.

    Ein paar kleine Problemchen, so wollte Andrew schon antworten und beschrie sich selbst, er solle die Klappe halten. Er brauchte nicht durchblicken lassen, wie tief Ryan, er selbst, sie alle gerade in der Scheiße steckten

    Dass er mit einer Antwort haderte, war Audrey allerdings schon Information genug. Sie seufzte leise und lehnte sich zurück. Das Thema sollte sie schnell abhaken.

    „Ihr müsst nichts erklären. Falls ich aber helfen kann, könnt ihr jederzeit fragen.“

    Die beiden lächelte bloß. Scheinbar hatte auch sie ein verborgenes Gespür für heikle Themen und Situationen, welches man ihr nicht unbedingt auf Anhieb zutraute. Genau wie Andrew.

    Dieser beschloss, die Frauen mal für eine Zeit unter sich sein zu lassen und Audrey eine Pause von seinen Fragen zu gönnen. Sie äußerte den Wunsch nach einem Kaffee und drängte Sandra, sie zu begleiten. Während sie sich entfernten, hörte Andrew nur noch, wie sie ihren Vorzug zu Tee kund tat.

    Vor den Bildschirmen, welche kontinuierlich die laufenden Kämpfe ausstrahlten, war es noch fast genauso voll, wie zum Start des Turnieres. Nur einige wenige hatten sich im Stadion zerstreut und waren die Stände oder Buden besuchen gegangen. Es schien nicht besonders viele Gruppenbekanntschaften, gleich seiner mit Ryan, Sandra und Audrey zu geben. Es wurde wenig geredet, teilweise einander sogar argwöhnische Blicke zugeworfen, mit denen man sich einzuschüchtern versuchte. Bei den Grünschnäbeln klappte das ja vielleicht sogar.

    Andrew realisierte durchaus, dass er sich nur ein paar Meter neben einem mürrischen Rotschopf in grauer Jacke positionierte. Selbst wenn nicht, würden nun die klappernden Metallringe an seinem Handgelenk verraten, dass Terry Fuller dort stand. War aber nicht von Bedeutung für ihn, schließlich hatte er dem Penner nichts zu sagen. Und er war ziemlich sicher, dass der ebenfalls still sein würde, solange Ryan nicht aufkreuzte. Dennoch spürte er für einige Sekunden seinen Blick auf sich ruhen.

    Die Ringe schellten erneut. Diesmal etwas lauter und rhythmisch. Verdammt nochmal, Terry kam doch nicht wirklich zu ihm rüber!?

    Tatsache, er kam. Andrew legte sich bereits eine abweisende Antwort zurecht, ganz gleich, was er in ein paar Sekunden als erstes hören würde. Er hatte keinen Grund, auf sein Anliegen einzugehen. Sollte er doch weiter Stress beibihm suchen. Er würde bloß dasselbe wie vorhin zu hören bekommen.

    Terry flankierte seinen neusten Rivalen, verschränkte die Arme und sah für ein paar Sekunden stumm wieder auf die Bildschirme. Als wolle er gar nichts von Andrew. Vielleicht suchte er aber auch noch nach den richtigen Worten.

    „Wie geht es Psiana und Schwalboss?“

    Beinahe hätte er sich an den Worten verschluckt, die er schon hatte aussprechen wollen. Das war nun wirklich nicht die Eröffnung, mit der Andrew gerechnet hatte. Er überlegte dennoch, ob er sich auf eine Unterhaltung einlassen sollte. Er mochte Terry nicht, das stand außer Frage. Aber wer wäre er denn, eine – offensichtlich – gut gemeinte Frage mit Beleidigung und Abweisung zu beantworten?

    „Bestens“, seufzte er dann, als könne er es nicht fassen, dass er wirklich mit dem Kerl redete. Oder, dass er es normal tun konnte und fuhr sich beiläufig durch sein rostbraunes Haar. Irgendwie war das hier sehr unbehaglich.

    Terry nickte schwach, hielt den Blick stur geradeaus. Der wirkte recht mürrisch, seine Worte allerdings höflich. Zumindest ein klein bisschen.

    „Ryans Hydropi hat sich ja erstaunlich schnell entwickelt.“

    „Was willst du, Terry?“, unterbrach Andrew ihn dann doch. Dass dieser banale Small Talk sein Ziel war, kaufte er ihm im Leben nicht ab und er schätzte ihn auch nicht für so dämlich ein, sich eben dies herauszunehmen. Dazu hätte er bei ihrer ersten Begegnung einiges anders machen müssen.

    Nun war es der Trainer aus Einall, der einen Stoßseufzer ausstieß. Es war wohl naiv gewesen, zu glauben, er würde einfach so seine Antworten bekommen. Er sah sich zu einer direkteren Ansprache gezwungen.

    „Gut, ich frag dich einfach gerade raus.“

    Zum ersten Mal wandte er sich ganz zu Andrew und holte angespannt Luft.

    „Warum bist du Trainer geworden?“

    Andrew neigte den Kopf leicht in Terrys Richtung und fing seinen Blick auf. Er wirkte absolut ernst und machte nicht den Eindruck, ihn verarschen oder verhöhnen zu wollen. Er wollte ganz einfach und ehrlich wissen, warum er tat, was er tat.

    Sollte er darauf antworten? Sollte, nein, konnte er denn jemanden, der ihm in so hohem Maße unsympathisch war, so etwas anvertrauen?

    „Du erwartest jetzt echt, dass ich dir das einfach so verrate? Wieso interessiert dich das überhaupt?“

    „Du bist nicht Ryan. Dich verachte ich nicht.“

    Terry kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. Wirklich gut war er nicht im Wogen glätten.

    „Du sahst vorhin so aus, als wolltest du mich genauso loswerden, wie er. Und ja, ich war beim letzten Mal vielleicht etwas zu herablassend. Aber ich schmeiß seine Freunde nicht gleich mit ihm in denselben Topf.“

    Das war das Vernünftigste und Reifste, das Andrew bislang von ihm gehört hatte.

    „Falls Ryans Feinde, aber automatisch auch deine sind, dann…“

    „Hältst du mich für so kleinkariert?“

    Terry hob eine Braue und fing seinen Blick auf. Andrew schnaubte, da sein Gegenüber die Frage offenbar nicht ehrlich verneinen konnte.

    „Ich hab meine eigene Meinung und die hat nichts mit Ryan zu tun. Nur weil er dich für einen Kotzbrocken hält, gilt das nicht für mich.“

    Wahrlich nicht. Er hatte andere – eigene – Gründe.

    „Ich halte dich für einen Kotzbrocken, weil ich deine Art ekelhaft finde.“

    Die blassroten Augenbrauen zogen sich ein Stück zusammen. Es war keineswegs Andrews Absicht, ihn zu provozieren. Sonst täte er ja exakt das, was er von Terry zuvor für so überflüssig befunden hatte und würde sich somit der Heuchelei schuldig machen. Der wirkte durchaus etwas ernüchtert. Hatte sich vermutlich Hoffnung gemacht, bei ihm auf weniger Feindseligkeit zu stoßen. Das hatte er leider längst vergeigt.

    Es spielte keine Rolle, gegen wen er seine hässliche Seite richtete. Terry war die meiste Zeit über mindestens lästig, wenn nicht mehr. Und so jemand konnte bleiben, wo der Pfeffer wuchs, selbst wenn er sich ihm gegenüber anständiger verhielt. Wobei man das auch nur mit viel Wohlwollen wirklich als anständig oder respektvoll bezeichnet konnte.

    „Also beantwortest du mir meine Frage nicht?“

    Er klang nicht, als rechnete er noch damit, doch tatsächlich hatte Andrew das noch nicht endgültig entschieden. Eine Sache interessierte ihn noch, die er vorher erfahren wollte.

    „Hast du sie Ryan schon mal gestellt?“

    Terry fuhr sich nachdenklich mit einer Hand um den Mundbereich. Er erinnerte sich genau daran. Aber nicht allzu gerne. Es stellte schließlich den Beginn einer harten, missmutigen Rivalität dar.

    „Ist lange her. Damals haben wir uns noch nicht so gehasst. Aber ich konnte seinen Worten nicht wirklich folgen. Wir haben irgendwie total aneinander vorbeigeredet. Als würden wir unterschiedliche Sprachen sprechen.“

    Er erzählte gemächlich, sprach deutlich langsamer. Als hätte er sich vor diesem Tag niemals ernsthafte Gedanken drüber gemacht. Vielleicht hatte er auch nur noch niemandem davon erzählt und musste daher vorsichtig nach den richtigen Worten suchen.

    „Es war eine sehr persönliche Frage, ich weiß. Hätte er einfach nur nicht drüber reden wollen, wäre ja alles gut gewesen. Aber er hat mich nicht mal ernst genommen, hat sich in wirrem Gefasel verzettelt, um mir auszuweichen. Von da an hatte ich ständig dieses Gefühl. Nicht nur, wenn ich mit ihm redete, sondern auch wenn wir kämpften. Also fing ich an, ihn zu zwingen, mich ernst zu nehmen. In jeder Hinsicht. Heute würd ich im Leben nicht nochmal fragen. Das hab ich mir schon vor langer Zeit geschworen.“

    Andrew könnte ihnen beiden eins überbraten. Mehr aber noch Terry, wie er offen zugeben musste. Es wäre auch zu schön gewesen, würde er ihn nach seiner Erklärung besser verstehen können. Das war nur leider nicht der Fall. Er war nach wie vor ein Arsch. Und zudem ein Idiot.

    „Wenn du so empfunden hast, dann war er wahrscheinlich so ehrlich, wie er nur sein konnte“, erläuterte Andrew, entschied aber im selben Moment, dass er nicht mehr hierzu beisteuern würde. Er hatte nun eine – wenn auch noch nicht ausreichend – präzise Vorstellung, warum Ryan und Terry zu Feinden geworden waren. Und selbstverständlich traf auch seinen Kindheitsfreund eine Teilschuld. Er war ein komplizierter Mensch und vermochte sich bei so heiklen, persönlichen Themen oft nicht simpel und verständlich auszudrücken. Dass dies von seinem Rivalen aus Einall so beleidigend aufgefasst worden war, konnte er dennoch nicht nachvollziehen. Genauso wenig, wie diese Nichtigkeit eine so mächtige Lawine aus Unmut hatte auslösen können. Vermutlich hatte eins zum anderen geführt und die beiden hatten alles stur immer weiter hochgeschaukelt. Aber er wollte sich hier auch nicht zu sehr einmischen. Dieser Konflikt war mit Sicherheit nicht so banal und einfach aufzudröseln. Da steckte schon mehr dahinter, wovon er vielleicht niemals erfahren würde.

    Terry war tatsächlich vorübergehend verstummt. Er wollte an Andrews Worten zweifeln, sich selbst überzeugen, dass der Typ damals nicht anwesend war und somit keine Ahnung besaß, wie alles abgelaufen war. Doch dieses traurige Schmunzeln verhinderte es irgendwie. Es gab ihm das Gefühl, von Andrew bemitleidet zu werden, da er so über die Dinge dachte. Und bemitleidet zu werden hatte er nun wirklich nicht nötig.

    „Ich war blöd, zu erwarten, dass du objektiv bleibst. Selbst wenn du wolltest, könntest du´s gar nicht, weil du vermutlich alles über Ryan weißt, aber gar nichts über mich“, seufzte er ernüchtert.

    „Was weißt du denn über ihn?“, konterte Andrew und ignorierte einfach mal die Spitze, dass er moralisch noch immer fest hinter dem Blonden stand. Terry würde ihm ja ohnehin nicht glauben, wenn er es abstritt. Bevor er ein vernünftiges Gespräch zu führen versuchte, sollte er erst einmal seine ganzen Vorbehalte ausblenden.

    „Oder über mich?“, fügte er noch hinzu. Terry befeuchtete die Lippen. Andrew machte es ihm nicht gerade leicht. Gar nichts!

    „Ich weiß, dass Ryan ein verbissener Bock ist und immer nur an seinen eigenen Vorteil und Sieg denkt.“

    Zu fünfzig Prozent richtig. Dass verriet Andrew ihm aber nicht und schon gar nicht, welche Hälfte hier zutraf und welche nicht. Nur durch seine Worte würde er Terry eh nicht überzeugen können. Er musste es schon selbst rausfinden. Sofern er denn das Interesse daran entwickeln konnte.

    „Und was unterscheidet dich dann von ihm?“

    Hier hob der Rotschopf eine Braue und trat langsam einen Schritt näher heran. Er schien allerdings zu versuchen, ihn nicht bedrohlich wirken zu lassen. Unterbewusst war es wohl ein symbolischer Schritt. Dass er bereit war, auf Andrew zuzugehen und dasselbe von ihm erwartete. Und dafür verriet er sogar seinerseits, warum er den Weg des Pokémontrainers gewählt hatte.

    „Ich wollte nicht schon als Kleinkind Pokémon trainieren, so wie die meisten, weißt du?“

    Nun wurde er wirklich hellhörig. Versuchte seine Überraschung zu verbergen, dass Terry Fuller hier und jetzt, nachdem sie kaum ein freundliches Wort miteinander gewechselt hatten, so etwas von sich preisgab.

    „Eigentlich hatte ich lange überhaupt kein Interesse daran, hatte nicht einmal viel Kontakt zu Pokémon. Ich hab vor Jahren höchstens mit denen meines Dads gemeinsam gespielt. Bis er eines Tages sagte, ich sollte mal probieren, nicht nur ihren Spieltrieb, sondern auch ihre Kampfeslust zu fördern.“

    Für eine Sekunde glaubte Andrew schon, ein strenger Vater habe ihn auf seinen Weg gedrängt, aber wie einen solchen beschrieb Terry ihn nicht. Eher wie jemanden, der seinem Sohn unbedingt beibringen musste, dass Pokémon nicht nur Schmusetiere waren. Dass sie auch raue und eventuell gar brutale Seiten hatten. Das hing natürlich stark von der Spezies ab, doch grundsätzlich war das Kämpfen ein natürlicher Instinkt, dem die Allermeisten nicht nur bei der Nahrungssuche sowie Verteidigung von Revier und Nachwuchs, sondern eben auch zum Vergnügen nachkamen. In der freien Natur endeten solche Kämpfe für den Verlierer nur leider nicht selten weit schlimmer, als auf einem Kampffeld.

    „Begeistert war ich nicht wirklich, aber er meinte, das gehöre zum Erwachsenwerden. Für sie, wie für mich. Ich hab anschließend sogar ein Pokémon mit Typennachteil ausgesucht, damit ich eine Ausrede hab, wenn ich verliere. Und vor allem, wenn ich schnell verliere.“

    Eine kurze Pause. Er wirkte, als könne er es selbst jetzt noch immer nicht ganz fassen, was damals passiert war.

    „Aber dann hab ich irgendwie gewonnen.“

    Jetzt aber genug. Wollte er Andrew wirklich weiß machen, dass er schon immer der Allergrößte gewesen ist? Dass er nicht bei Null angefangen, sondern schon damals über allen anderen gestanden hatte?

    „So komisch das auch klingt, ich kann mich kaum an den Kampf erinnern. Aber ich wusste einfach, was ich zu tun habe. Was mein Vater gleich befehlen würde und wie ich ihn auskontern konnte. Jeder Angriff, jedes Manöver… es war, als sei es das Einfachste und Logischste auf der Welt. Und ich fühlte mich von einem Moment auf den nächsten dazu bestimmt, Trainer zu werden.“

    „Warst du schon immer so sehr von dir selbst beeindruckt?“

    Diese zynische Spitze war ganz bestimmt nicht das, was Terry jetzt erwartet, geschweige denn erhofft hatte. Dennoch überging er sie ganz einfach und wahrte seinen Ernst.

    „Ich wusste nie so richtig, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, verstehst du? Ich hatte keine Ahnung, was ich wollte. Also entschied ich mich stattdessen, das zu tun, worin ich gut bin. Und in nichts anderem bin ich nur annähernd so gut.“

    Andrew verzog nachdenklich die Lippen, überlegte, inwiefern diese kleine Geschichte sein momentanes Bild von Terry Fuller beeinflusste. Zugegeben, er war verdammt gut, aber den Beweis hatte er schon vor seinem Kampf mit ihm nicht gebraucht. Wer in der Lage war, Ryan zu schlagen und ein großes Turnier zu gewinnen, konnte niemandem einen solchen Beweis schuldig sein. Die Beweggründe allerdings waren den Triumphen in seinen Augen allerdings unwürdig. Sie machten Andrew nicht wütend oder ließen ihn Terry gar mehr verabscheuen. Sondern bemitleiden.

    „Und davon bist du so überzeugt, dass du auf deine Rivalen spucken musst?“

    Er wollte das verurteilen, gegen diese Unterstellung protestieren. Sie entsprach nicht der Wahrheit – zumindest nicht in Gänze. Nicht jeder seiner Rivalen stand auf derselben, niedrigen Stufe wie Ryan Carparso. Gegen andere hasste er das Verlieren zwar auch, aber…

    Dieses aber, ließ Terrys Worte in seinem Hals feststecken. Dabei hatte er den Mund schon für einer Erwiderung geöffnet. Er war glatt über sich selbst verblüfft, verstand seine eigenen Hintergründe nicht mehr. Wieso hatte er abgebrochen? Diese Frage war in diesem Augenblick so wichtig, dass er nicht einmal mehr versuchte, Andrew etwas zu entgegnen.

    Dem war die Reaktion Antwort genug. Dennoch hielt er es für angebracht, ihm einen Denkanstoß zu geben, der auf einer deutlich freundlicheren Ebene ansetzte. Es wäre seinerseits absolut niederträchtig, wenn dies seine einzige Antwort auf diese Offenheit bliebe. Vor allem, da der Trainer aus Einall mit diesem Gespräch nie etwas Argwöhnisches hatte bezwecken wollen. Im Gegenteil.

    „Es stimmt schon, dass Ryan und ich anders waren und sind. Das hier haben wir schon immer gewollt. Genau das und nichts anderes. Aber es ist doch nicht wichtig, was man tun soll oder was man tun will. Ob es dir in die Wiege gelegt wurde oder du dich selbst dazu berufen fühlst.“

    Dies waren die Anstöße, die den Beginn von etwas einleiteten. Doch am Leben gehalten wurden diese Dinge, in diesem Fall die Karriere als Trainer, von etwas anderem.

    „Es zählt nur, ob man auch liebt, was man tut.“

    Terry sah sicher für eine ganze Minute in Andrews braune Augen. Wenn diese Worte etwas in ihm auslösen, ihn bewegen sollten, so verschleierte er es. Aber er wirkte doch nachdenklich. Was bedeutete, selbst wenn Andrew sich hier und jetzt nicht ausreichend erklärt hatte, so würde sein Gegenüber es mit der Zeit vielleicht doch verstehen. Nur reichte ihm das eben hier und jetzt nicht.

    Er verschränkte erneut die Arme und wandte sich den Fernsehbildschirmen zu. Allerdings nur, da er aus irgendeinem Grund nicht weiter Augenkontakt mit Terry halten wollte. Nicht, während er diese Worte sprach.

    „Sobald ein Gegner vor meinem Pokémon steht und ich selbst hinter ihm, ist meine Welt auf den Bereich zwischen mir und diesem Gegner beschränkt. Alles andere um mich herum ist weg, ausgeblendet. Die Menschen, meine Sorgen, meine Ziele, meine Wünsche, das Training mit meinem Pokémon, oder all der Blödsinn, durch den Ryan mich regelmäßig schleift.“

    Andrew würde sich in naher Zukunft fragen, warum er ausgerechnet ihm so viel Einblick in seine Seelenwelt erlaubte. Und sich vermutlich für bescheuert halten. Aber vielleicht hatte er bereits so viel geredet, dass ihm die Kontrolle entglitten war. Und es fühlte sich jedes Mal gut an, diese Worte auszusprechen, obwohl sie in gewisser Weise auch eine Art Gefängnis für ihn bedeuteten.

    „Nur auf dem Kampffeld... bin ich frei.“

    Terry schwieg auch hierauf. Weitere Worte wurden nicht gesprochen. Weitere Worte waren nicht vonnöten. Sie hatten ausgeredet. Sie beide. Freund würden die zwei wegen dieses Gesprächs sicher keine werden. Schwer zu sagen, ob es überhaupt etwas bewirken oder verändern würde. Und selbst wenn, so war das Wann ebenso ungewiss. Doch so war es schließlich immer, wenn Menschen miteinander sprachen. Es konnte alles Mögliche passieren. Und manchmal passierte einfach nichts. Nur fühlte es sich in diesem Fall nicht so an.

    Kapitel 43: Den Feind im Nacken


    Bella.

    Eine käufliche Agentin, welche direkt dem Schwarzen Lotus unterstand. Wurde als rechte Hand ihrer Klientin eingesetzt und war auf allen Gebieten, dir für Team Rocket relevant sein könnten, hervorragend. Spionage, Sabotage, Infiltration, Exfiltration, Diebstahl und sogar Meuchelmord. Aus den Schatten heraus hatte sie jüngst den Überfall in den Wäldern geleitet, der schließlich das Erscheinen der Zwillingsdrachen erzwungen hatte.

    Ryan hätte seine Frage, warum er noch nie von ihr gehört hatte, wenn Mila doch so viel über sie wusste, am liebsten herausgeschrien. Vor so jemandem hätte man ihn unbedingt warnen müssen. Aber ihm war selbstverständlich bewusst, dass dies weder die Zeit noch der Ort dafür war. Vor kurzem noch hätte diese Information, oder eher die Tatsache, dass sie ihm vorenthalten worden war, Zweifel bei ihm ausgelöst. Zweifel, ob er Mila vertrauen konnte. Und die Frage, ob es da noch mehr gab. Letzteres konnte er auch jetzt nicht vollständig ausschließen, aber glücklicherweise hatte er den Punkt, an dem er seine Freunde und Verbündeten noch abwägen musste, bereits passiert. Er hob sich die Fragen vorerst auf, hielt es allerdings für sehr wahrscheinlich, dass sie bis zum Ende des Summer Clash nicht mehr relevant sein würden. Bis dahin konnte von nun an quasi alles passieren. Und ganz so wie Sheila es stets tat, versuchte Ryan, sich für alle erdenklichen Szenarien zu wappnen.

    Als er zur Gruppe zurückkehrte, war Bella verschwunden. Das war ihm nur recht. Er brauchte sie sicher nicht dauerhaft um sich. Wobei das von nun an unausweichlich war.

    „Hab ich was verpasst?“, meldete er sich zurück und schaffte sogar, unbeschwert zu lächeln.

    „Nur fast“, antwortete ihm Andrew und nickte zur Arenaleiterin ihm gegenüber.

    „Sandra ist jetzt dran.“

    Hierauf hatte er sich genauso gefreut, wie Ryan. Auch wenn es womöglich ein kurzer Kampf werden könnte. Schließlich erwartete man von den allerwenigsten Teilnehmern, dass sie an die Stärke der bekanntesten Leiterin Johtos heranzureichen vermochten.

    Audrey schien sich der Vorfreude anzuschließen und wirkte bereits ungewöhnlich vertraut mit Sandra.

    „Enttäusch' mich nicht. Ich will was sehen!“

    Sie ließ nur einen Mundwinkel nach oben zucken und machte sich mit einem weiten Flattern ihres Capes auf den Weg. Viele sahen ihr hinterher, waren gespannt und begierig darauf, Johtos stärkste Arenaleiterin in Aktion zu erleben. Da der Löwenanteil der Trainer hier vermutlich aus Hoenn stammte, hatten die wenigsten von ihnen sie jemals kämpfen sehen. Ihr selbst gegenüberstehen wollten aber sicher auch keiner.

    Audrey sah Sandra ebenfalls noch etwas hinterher, sodass Andrew sich kurzerhand seinem Kumpanen zuwandte und seinen Arm etwas zu eng um dessen Nacken zog. Seine Stimme pegelte er so weit runter, dass niemand sonst ihn würde hören können.

    „Karten auf den Tisch, Ryan. Hattest du was mit ihr?“

    Eigentlich sollte es ihn gar nicht überraschen, dass Andrew diese Frage stellte. Dass es jedoch nach so kurzer Zeit geschehen würde…

    Es grenzte geradezu an einen Scherz. Hatte Audrey vielleicht etwas angedeutet? Er selbst käme niemals auf so eine Idee. Manche Sachen gingen niemanden, ja wirklich niemanden etwas an. Andrew aber wollte über jedes Techtelmechtel Bescheid wissen, wie ein Klatschweib. Einer seiner lästigsten Eigenschaften.

    „Ohne meinen Anwalt sag ich hier gar nichts.“

    Darauf erntete er abfälliges Schnaufen, aber wenigstens aus dem schwitzkastenähnlichen Griff wurde Ryan entlassen.

    „Komm schon, offensichtlicher geht´s ja nur noch, wenn du einfach ja sagst.“

    „Vergiss es“, würgte er ab, schubste Andrew von sich und brachte schnell ein paar Meter zwischen ihn und sich selbst. Er registrierte durchaus Audreys Amüsement, seufzte aber nur in ihre Richtung, als wolle er fragen, wieso in aller Welt sie denn solche Dinge erzählen musste. Um nicht in Erklärungsnot zu geraten, drängte er sich näher an einen der Bildschirme, die den Innenraum und die laufenden Matches zeigten. Zwei davon blendete er vollkommen aus. Er konzentrierte sich nur auf das Shardrago, das offenkundig Sandras war, sowie dessen Gegner.


    „Das Shardrago da unten scheint richtig Bock zu haben. Mal sehen, ob Carol Smith und ihr Giflor da was zu melden haben. Sie ist Zuchtexpertin für Pflanzenpokémon, aber wie´s um ihre Kampferfahrung steht, wird sie erst noch beweisen müssen.“

    Stadionsprecher Cay zeigte durchaus Tendenzen, sich stets primär auf das vielversprechendste der drei laufenden Duelle zu konzentrieren. Wobei man in diesem Fall durchaus Verständnis aufbringen konnte. Nebenan standen sich Spezies wie Morlord, Jurob und Sonnflora gegenüber. Ohne voreilig urteilen oder sie schmälern zu wollen, war das nicht übliche der Stoff, aus dem Turniersieger gemacht waren. Oder Kandidaten, die generell Ambitionen in dieser Richtung hatten. Vermutlich handelte es sich bei ihren Trainern um Anfänger oder vielleicht Züchter, die mal ihr Können auf die Probe stellen wollten. Eines unter ihnen war Ryan noch unbekannt und hörte auf den Namen Ninjask, wie er heraushörte. Ein schwarz-gelbes Käferpokémon mit weißen Flügeln und blutroten Insektenaugen. Das neugierige Tuscheln, das Ryan bei dessen Erscheinen vernahm, machte ihn durchaus skeptisch. Da schien der ein oder andere doch ziemlich eifersüchtig zu sein. Mal sehen, ob der Schein dieses Wesens bloß trog. In erster Linie waren jedoch natürlich Sandra und ihr Shardrago von Interesse.

    „Ladys und Gentleman, wir sind soweit. Lasst es krachen!“, ertönte es aus den Lautsprechern, woraufhin die drei Schiedsrichter das Signal für den Beginn gaben.

    „Giflor, beginn mit Blättertanz!“

    Die eben als Carol Smith vorgestellte Trainerin rief ihren ersten Befehl sehr hastig und aufgeregt. Als sei sie es nicht gewohnt, vor einer Kulisse zu kämpfen, was Ryans Theorie bezüglich der Teilnehmer bekräftigte. Wenn man jedoch einem Gegner wie Sandra nicht die Initiative überlassen und sie in die Defensive drängen wollte, musste man aber schon mehr bieten.

    „Drachenstoß, mitten durch. Dann Feuerzahn.“

    Die Arenaleiterin wirkte routiniert und selbstsicher, wusste scheinbar ganz genau, was sie ihrem Partner hier zumuten konnte. Unterstützt nicht nur von seinen kräftigen Beinen, sondern auch von seinen eigentlich zu kleinen Schwingen – der Höhlendrache hatte wohl fest verinnerlicht, sie bei möglichst jeder Bewegung mit einzubeziehen, um schneller als seine Artgenossen zu sein – stieß sich Shardrago nach vorn und hüllte sich in bläuliches Licht, das abstrakte Drachenzüge um ihn herum bildete. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde die Gestalt von einem horizontal wirbelnden Tornado aus Blütenblättern um- und verhüllt. Doch Giflors Attacke verpuffte wirkungslos. Die Blätter stoben auseinander, wirbelten wild in der Luft wie Konfetti und erreichten nicht den geringsten Effekt. Kaum da der Drache wieder zu sehen war, rammte er das Pflanzenpokémon bereits auf seinen markanten, roten Pilzschirm. Die Kollision ließ die als Licht geformte Drachenenergie blitzartig aufleuchten, ehe die Kontrahenten von aufgewirbeltem Staub umgeben wurden. Niemand konnte sehen, wie sich Shardrago schließlich mit flackernden Flammen in seinem Maul in besagter Schirmkappe verbiss. Als die Sicht aufklarte, schüttelte er Giflor herum wie ein Beutetier. Die bloße Beißkraft und das Feuer reichten nach dem vorangegangenen Schlag durch den Drachenstoß bereits aus, um eine gnädige Ohnmacht herbeizuführen. Und hatte Shardrago dies einmal bemerkt, ließ er von seinem Gegner ab. Er schleuderte die Pilzdame auch nicht überflüssigerweise herum oder gegen die Begrenzung des Kampffeldes. Er ließ sie einfach fallen. Eilig gab der Schiedsrichter ein Fahnensignal und beendete den Kampf.

    „Woohahaha, wenn das mal keine Rekordzeit war!“, reif Cay baff, begleitet von einem fast ehrfürchtigen Raunen der die Menge. Für einen Moment hatte das ziemlich brutal ausgesehen, aber Shardrago war scheinbar gut genug trainiert und erzogen worden, um mit Wettkampfgegnern nicht umzugehen wie einst mit Beutetieren oder territorialen Rivalen.

    „Sandra und Shardrago haben den Kampf quasi mit einem Manöver für sich entschieden. Tja meine Freunde, sie ist nicht umsonst die stärkste Arenaleiterin in Johto. Die kann es hier noch weit bringen.“

    Ryan ließ sich nicht allzu sehr anmerken, wie sehr er die Stärke und das Geschick der Drachenmeisterin bewunderte und fragte sich gleichzeitig, warum er dies tat. Es war nicht so, als hätte er nicht allen hier längst gezeigt, dass er mit ihr befreundet war. Vielleicht verbot es ihm unbewusst sein Wettkampf-Eifer. Ein Teil von ihm behielt ständig in Hinterkopf, dass er möglicherweise noch gegen sie würde kämpfen müssen, während ein anderer gleichzeitig vom Dürfen sprach.

    Da Sandra ihren Eröffnungskampf so schnell hinter sich gebracht hatte, gönnte sich Ryan einen Blick auf die anderen Begegnungen. Die hatten kaum angefangen. Es herrschte ein ganz anderes Tempo.

    Wenn man schon von Tempo sprach, galt es jedoch unbedingt Feld Nummer 1 ins Auge zu fassen. Das Pokémon, das auf den Namen Ninjask hörte, war der Anfangsoffensive des Morlord mit Doppelteam und Agilität entkommen. Besonders dank letzterer Technik bewegte es sich nun so schnell, dass das menschliche Auge kaum folgen konnte. Ein bisschen sah es so aus, als würde das Doppelteam noch anhalten, aber tatsächlich war das Käferpokémon so schnell, dass man es für einen Moment an zwei Orten gleichzeitig zu sehen glaubte. Das beeindruckte nicht nur Ryan, sondern auch Stadiosprecher Cay.

    „Alter Falter, seht euch das an! Also, falls ihr könnt. Ninjask ist unglaublich flink unterwegs. So eine Geschwindigkeit hab ich noch nie gesehen.“

    „Schlitzer“, ordnete die Trainerin überlegen und gelassen an. Die Stimme war ein bisschen tief für ihr Alter und wirkte irgendwie verspielt.

    An den Vorderbeinen der Zikade blitzten spitze Krallen auf, die sich glücklicherweise nicht so mühelos durch das Fleisch des Molches pflügten, wie es bei anderen Spezies der Fall wäre. Shardrago könnte Morlord vermutlich in Stücke schlagen, wenn er es darauf anlegen würde. Doch auch ohne eine solche Kraft hinterließ die Attacke deutliche Spuren. Allein die dicke Fettschicht schützte vor verheerenden Verletzungen. Der junge Trainer wusste nicht, wie er dieser Geschwindigkeit entgegenwirken sollte. Er wies Flächendeckende Attacken wie Eissturm und Surfer an, doch immer, wenn das Wasserpokémon zum Angriff ansetzte, hatte Ninjask sich bereits repositioniert und aus dem toten Winkel heraus zugeschlagen.

    „Geh über in Nachthieb.“

    Wieder setzte der flinke Käfer mit seinen körperlichen Primärwaffen an, die diesmal von dunkelvioletten Nebelschwaden eingehüllt wurden. Es schlug nicht nur ein Mal zu. Mindestens ein halbes Dutzend Schläge brachte es Morlord bei. Immer wieder zischte es surrend an dieser vorbei, hieb mal in die Flanke, mal unter Kinn, mal über den Rücken. Und das mit mehreren Treffern in einer einzigen Sekunde. Cay konnte das ganze kaum Kommentieren, da er und somit auch die Zuschauer von dort oben aus Ninjask mit bloßem Auge fast überhaupt nicht mehr sehen konnten. Das ging nur über die Videowände.

    „Es hagelt einen Schlag nach dem anderen für Morlord! Fast als würde man gegen einen Unsichtbaren kämpfen!“

    Es war völlig überfordert. Genau wie sein Trainer. Der sah zu, wie sein Partner zerkratzt und malträtiert wurde, wie sich die Wunden auf seinem Körper anhäuften und ihm Qualen bereiteten. Mehr als eben zusehen konnte er gar nicht. Es war aussichtslos. So tat er schließlich das einzig Richtige.

    „Genug, es reicht! Ich gebe auf!“, rief er in Richtung des Schiedsrichters, der sich gleich eilte, das Trauerspiel zu beenden.

    „Josh Bailey hat aufgegeben. Das Match geht an Bella Déraux!“

    Ryan bekam gerade so noch mit, wie Ninjask überflüssigerweise noch einen letzten Schlag austeilte, der Morlord endgültig auf die Matte schickte, sodass sich dieses am Boden wälzte und jammerte. Der mahnende Blick des Schiedsrichters verriet deutlich, was er davon hielt.

    Die Trainerin in vorwiegend schwarzer Kleidung, schien das gekonnt zu ignorieren. Sie warf sich das gleichfarbige Haar zurück und rief, ohne ein einziges Wort zu sagen, ihr Pokémon zurück in seinen Ball. Dann warf sie träge und mit einem verschmitzten Aufblitzen in ihren bernsteinfarbenen Augen eine Kusshand Richtung Publikum – und Kameras, was jedem Trainer in den Katakomben das Gefühl gab, selbst damit gemeint zu sein und verspottet zu werden –, ehe sie mit weitem Hüftschwung den Weg zurück in den Tunnel antrat. Der Schiedsrichter sah ihr noch ungehalten hinterher, war jedoch nicht befugt, die Teilnehmer nach einem Match zu belehren. Die Turnierleitung würde das im Auge behalten müssen. Solches Verhalten konnte bei Wiederholung durchaus zur Disqualifikation führen.

    „Auwauwau. Josh Baley hat das Handtuch geworfen. Gute Entscheidung, mein Junge, gute Entscheidung. Sein Morlord wurde echt nach Strich und Faden verprügelt. Leute, ich glaube, Bella Déreaux müssen wir im Auge behalten.“

    Das musste Ryan wohl auch. In seinem Fall gar aus zweierlei Gründen.


    Im Anschluss hatte Ryan nur wenig Aufmerksamkeit für die Kämpfe übrig, obwohl er sich nach wie vor an die Fernseher flüchtete. Er war jedoch so tief in Gedanken versunken, dass er kaum mitbekam, was eigentlich passierte. Viel zu angestrengt überlegte er, was und ob er überhaupt etwas gegen Bella unternehmen konnte. Hier, während des laufenden Turniers sicher nicht. Zumindest nicht allein, aus eigener Kraft. Wobei es bestimmt selbst für Mila und Sheila schwierig werden würde, die Agentin Team Rockets einfach so auszuschalten, während sie fast ständig in der Nähe von Menschenmassen war. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr bestärkte sich die Einsicht, dass es leichtsinnig wäre, Bella hier anzugreifen. Selbst wenn sie überlistet werden könnte, gab es keine Garantie, dass keine weiteren Mitglieder unter den Zuschauern, Angestellten oder sogar weiteren Teilnehmern existierten, die sich dem Kampf anschließen könnten. Was also konnten sie tun? Bella auf dem Kampffeld entgegentreten und sie aus dem Turnier schmeißen? Das Problem wäre damit wohl kaum gelöst. Als ob ihr Ausscheiden sie davon abhalten würde, das Stadion weiter zu betreten, sprich, Ryans Schatten zu sein. Nach dieser ersten Kostprobe von ihrem Können, war es nicht einmal gewiss, ob er, oder Andrew oder Sandra sie denn so mir nichts dir nichts würde schlagen können. Selbst ohne den gelieferten Ersteindruck von ihrer Kampfkraft mussten sie absolute Vorsicht walten lassen. Der Schwarze Lotus hatte sicher keine blutige Anfängerin engagiert. Bella wusste mit ihren Pokémon unter Garantie umzugehen.

    Trotz der Dringlichkeit dieses Themas, sollte Ryan sich später darüber ärgern, dass er durch seine Gedankengänge beinahe den gesamten nächsten Durchgang verpasst hätte. Eigentlich hatte er sich doch hierauf gefreut. Er hatte Audrey schließlich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr kämpfen sehen.

    „Feuerwirbel, Vulnona!“

    Die Füchsin beschrieb mit ihrem Kopf kreisende Bewegungen und spuckte feine Flammenzungen. Diese fingen das gegnerische Elezard – eine aufrecht gehende Donnerechse – schließlich in einem Turmhohen Flammentornado ein und verbrannten seine ledrige Haut. Es war längst am Ende seiner Kräfte. Diesem höllischen Gefängnis konnte es niemals aus eigener Kraft mehr entkommen.

    Es fehlte nur noch der finale Schlag und nun war die perfekte Gelegenheit, ihn zu setzen.

    „Solarstrahl!“ befahl Audrey mit einer ausholenden Armbewegung. Da sie Vulnona kurz zuvor hatte Sonnentag einsetzen lassen, sammelte sich die nötige Energie hierfür viel schneller. Sie spreizte alle neun Schweife und badete im prallen Sonnenlicht. Ihr Fell begann zu funkeln. Eine Lichtkugel wuchs tief ihrem Rachen. Nur wenige Sekunden hatte es gedauert, ehe sie eine feste Position einnahm und ihr Ziel fixierte. Der gleißende Lichtstrahl blendete die Zuschauer selbst noch auf den oberen Rängen. Er schoss durch Vulnonas eigenen Feuerwirbel, in dem lediglich Elezards Silhouette auszumachen war. Anhand dieser hatte die Fuchsdame ihren Angriff dennoch präzise auf der Brust platzieren können. Das Feuer zerstreute sich und das schwarz-gelbe Elektropokémon wurde über den gesamten Kampfplatz geschossen. Seine Trainerin musste gar einen kleinen Schritt ausweichen, um nicht Gefahr zu laufen, mitgerissen zu werden. Ungläubig sah sie zwischen ihrem und Audreys Pokémon hinterher. Sie hatte nicht einen Treffer landen können und war selbst unter häufiger Anwendung von defensiven Techniken wie Lichtschild immer wieder überrumpelt und zermürbt worden. Dieses Vulnona war eine vierbeinige, flauschige Dauerfeuerkanone.

    „Booom, das hat gesessen. Audrey Miller beendet damit das erste Match mit absoluter Dominanz“, kommentierte der Stadionsprecher in seiner anhaltenden Euphorie. Ein kleines bisschen Anstrengend war das schon mit der Zeit, aber er wirkte nicht aufgesetzt. Er war tatsächlich so begeisterungsfähig. Und irgendwie steckte es auch ein bisschen an. Man konnte daher mit Fug und Recht behaupten, dass er sein Handwerk beherrschte.

    Audrey hatte ganz offensichtlich nicht bloß auf der faulen Haut gelegen, seit Ryans letztem Treffen mit ihr. Hätte ihn aber auch gewundert. Es war sehr interessant, eine Pokémon-Gattung, die auch Teil seiner eigenen Familie war, an der Seite eines anderen Trainers zu sehen. Ob Audrey ihre Feuerfüchsin auch gegen Ryan einsetzen würde? Theoretisch sollte er mit Hundemon eine geradezu brillante Wahl dagegen in Petto haben. Der Solarstrahl sowie der Sondersensor, den Vulnona zuvor gezeigt hatte, würden wenig oder gar überhaupt keinen Effekt gegen den Schattenhund haben und sämtliche Feuer Attacken würden ihn dank seiner Eigenschaft Feuerfänger sogar kräftigen. Auf der anderen Seite war sich der junge Trainer nicht hundert prozentig sicher, ob Hundemon es fertig brächte, sie überhaupt anzugreifen. Vor seinem inneren Auge würde er vermutlich immerzu Ryans Vulnona sehen. Seine geliebte Partnerin, die zu Hause auf ihn wartete. Ob es das Risiko wert wäre? Neugierig wäre Ryan in dieser Sache durchaus.

    Während er so in vergleichsweise belanglosen Überlegungen versank, lieferten sich auf Kampffeld 2 ein Pottrott und ein Skorgla ein sehr ungleiches Duell. Der Flugskorpion versuchte permanent, geradezu verzweifelt, das Bollwerk in Form dieses unscheinbaren Widersachers zum Einsturz zu bringen. Doch der Panzer dieser Pokémon Gattung war geradezu lächerlich stabil. Fraglich, ob Skorgla hier überhaupt etwas würde ausrichten können. Spannend konnte man das nicht nennen.

    Da ging es ein paar Meter weiter schon deutlich interessanter zu. Andrews Dragonir wich gekonnt der Hydropumpe eines Quappo aus. In spiralförmigen Flugbahnen wand es sich um den Wasserstrahl herum und verkürzte die Distanz zwischen ihnen, um der muskulösen Kaulquappe eine Drachenwut aus nächster Nähe ins Gesicht zu speien. Es riss jedoch die Arme hoch und schützte sich vor einem verheerenden Treffer. Dafür bot sich nun die Gelegenheit für einen direkten Angriff. Die ganze Zeit über hatte Andrew seinen Partner auf Abstand gehalten, da dieser überdurchschnittlich imposante Gegner der Drachenschlange im Nahkampf schlichtweg überlegen war. Nun aber sah er eine günstige Gelegenheit, das Match für sich zu entscheiden.

    „Eisenschweif, ziel auf die Beine!“

    Die Kristallkugeln an Dragonirs Schwanzspitze waren von Natur aus steinhart. Nun wurden sie gar zu Metall, was für gewöhnlich nicht gerade die effektivste Waffe gegen Wasserpokémon darstellte. Es war jedoch nicht das Ziel, Quappo mit diesem Angriff K.O. zu schlagen. Vielmehr sollte es den entscheidenden Angriff nur vorbereiten.

    Mit einem für diese Gattung energischen, aber doch noch immer sehr melodischen Ausruf seines Namens brachte Dragonir den Gegner zu Fall. Auf den nächsten Befehl seines Trainers hin wurde Quappo von den bläulichen Flammen der Drachenwut eingekreist. Cay ahnte, dass Andrew damit auf etwas hinarbeitete, das man nicht verpassen sollte.

    „Das sieht da unten nicht gut aus für Cherry Walker. Andrew Warrener hat die Oberhand und will das Ding jetzt nach Hause fahren!“

    Recht hatte er. Weder Pokémon noch Trainerin sahen einen Weg hinaus aus dem Flammengefängnis. Das kam einem irgendwie bekannt vor, wenn man bei Audreys Match nicht geschlafen hatte.

    „Da hat er sich wohl was von Audrey Miller und Vulnona abgeschaut. Quappo kann sich nicht mehr vom Fleck bewegen“, beobachtete der Mann am Mikro aufmerksam. Und wahrhaftig fehlte der Mut, die Flammen zu durchbrechen, sowie die Kraft, um mit einem beherzten Satz direkt auf Dragonir zuzuspringen, die sich nun direkt über ihm befand.

    „Schraub dich noch etwas höher und dann Hyperstrahl!“

    Wieder bewegte sich die Drachendame spiralförmig, diesmal jedoch in der Vertikalen. So würde Quappo auch mit einer Fernkampf-Attacke kaum eine Chance auf einen Treffer haben. Gleichzeitig gewann Andrew so Sicherheitsabstand. Und auch, wenn das nicht wesentlich war, bot das Manöver doch was für´s Auge. Es wirkte wie ein inszenierter Ablauf, den Dragonir längst verinnerlicht hatte. Und tatsächlich war das auch zumindest teilweise der Fall.

    Während ihres Aufstiegs in immer enger werdender, spiralförmiger Flugbahn wuchs eine goldene Energiekugel an der Hornspitze und im selben Moment, in dem die volle Größe erreicht war, stoppe die Drachenschlange in der Luft. Für eine Sekunde schien die Zeit dort oben eingefroren. Es war das Luftholen vor den entscheidenden Schlag. Und das Tosen und Krachen des Energiestrahls war das Gebrüll dazu. Der Kreis aus Drachenfeuer verpuffte augenblicklich, wurde von goldenem Licht verschluckt und in alle Richtungen zerstreut. Im Zentrum dessen konnte man nur noch im Ansatz eine dezent humanoide Gestalt vermuten.

    Andrew würde bei dem Anblick gerne glauben, ein Stern falle vom Himmel herab, doch die Kraft des Hyperstrahls war noch nicht das, was er zu erreichen versuchte hatte und nach wie vor versuchte. Es konnte der zurückliegenden Verletzung geschuldet sein oder vielleicht hatte Dragonir auch schlicht nicht all ihre Kraft in den Angriff gelegt. Das trübte die Zufriedenheit aber nur nebenbei. Noch bevor das Licht gänzlich erloschen war, konnte man bereits den regungslosen Körper der Kaulquappe ausmachen.

    „Man sah das geil aus! Andrew Warrener gewinnt somit seinen ersten Kampf – und wie! Freunde, dieses Finish war ja wohl einen Applaus wert!“

    Das war es. Der Beifall ließ daher nicht lange auf sich warten. Und Arceus noch eins, er würde dieses Gefühl noch in 10 Jahren genauso genießen, wie beim ersten Mal. Naja, vielleicht nicht ganz. Das erste Mal war immer unvergleichlich. Mit einem breiten Grinsen winkte er die Drachenschlange an seine Seite und zog sie am Nacken in eine kameradschaftliche Umarmung. Er wollte nicht allein bejubelt werden. Sie teilten sich diesen Sieg, so wie sie jede Niederlage teilten. Das taten er und seine Partner immer.


    Mila hielt sich noch immer unbemerkt von der Masse in den Korridoren auf, die ihr eigentlich nicht zugänglich waren. Sie kann zwar nicht nahe genug an die Fernsehbildschirme, um das Geschehen eigens zu beobachten, doch hören konnte sie es sehr deutlich. Natürlich könnte sie sich auch einfach auf die Tribüne setzen. Obendrein könnte sie so zudem für Melodys Sicherheit sorgen. Aber sie musste unbedingt an Bella dranbleiben. Wenn sie die Agentin nur für eine Minute außer Acht ließ, könnte im schlimmsten Fall eine Leiche daraus resultieren.

    „Dranbleiben“, definierte sich hier allerdings nicht gerade wortwörtlich. Es genügte einfach, in ihrer relativen Nähe zu bleiben und sie wissen zu lassen, dass sie auf Milas Radar war. Dazu musste die nicht einmal ununterbrochen Blickkontakt halten. Tat sie in diesem Moment auch nicht. Sie lehnte nur an einer blassgolden gestrichenen Wand, die Arme vor der Brust verschränkt und hörte von Andrews Sieg, was ihr ein Schmunzeln entlockte. Die Jungs, aber auch Sandra wurden ihren Favoritenrollen beim Auftakt allesamt gerecht. Es wäre sicher eine Freude, ihnen dabei zusehen zu können.

    Der Grund, warum sie das nicht tun konnte, näherte sich in diese m Augenblick der Drachenpriesterin. Absätze klackerten auf dem Flur direkt um die Ecke. Nur eine Armlänge von der Drachenpriesterin entfernt gabelte sich der Korridor im 90 Grad Winkel. Der Gang der Schritte war entspannt, langsam, ruhig. Sie wollte, dass Mila sie bemerkte. Die rührte sich nicht vom Fleck, so es sie doch überraschte, dass Bella auf sie zukam. Die Schritte stoppten, gerade als man befürchtete, Bella würde in diesem Moment um die Ecke biegen. Den Blickkontakt wollte sie Mila jedoch nicht vergönnen. Sie tat dasselbe, wie sie auch – lehnte sich an die Wand, verschränkte sie Arme und stemmte zudem noch einen Fuß gegen die Mauer.

    Für ein paar Sekunden herrschte Stille. Die Priesterin hatte schlicht nichts zu sagen und lehnte es daher ab, das Wort zu ergreifen. Bella war von sich aus hergekommen. Sie war es, die den Kontakt suchte. Sollte sie sprechen. Oder schweigen. Das war Mila tatsächlich gleich. Aber auch das vergönnte sie ihr nicht.

    „Solche Turniere sind wohl nichts für dich? Die elegante Mila Montéra hält sich wohl lieber an Wettbewerbe, hm?“

    „Wenn du gekommen bist, um zu spotten, vergeudest du deine Zeit. Du sprichst mit der ältesten Frau der Welt und nicht mit einer Göre.“

    Sie gab sich gleichgültig und desinteressiert und sollte Bella nichts Besseres vorzubringen haben, würde sie auch desinteressiert bleiben. Gelangweilt sogar. Sie hatte mehr zu bieten.

    „Meine Klientin hat dir bereits geraten, einfach aufzugeben.“

    Sie neigte den Kopf ein wenig, als könne sie Mila so aus dem Augenwinkel betrachten. Doch so lange keiner von ihnen diesen einen, weiteren Schritt tätigte, konnte es nicht dazu kommen.

    „Ich werde nicht versuchen, dir dasselbe einzureden. Du hast deine Wahl getroffen und es wäre auch nicht in meinem Interesse.“

    Das stellte die Anführerin der Drachengarde nur vor ein Rätsel. Nämlich, was den das Ziel hinter diesem Gespräch sein sollte. Trotz ihrer Ahnungslosigkeit würde sie jedoch nicht fragen. Sie horchte. Damit musste sich Bella begnügen.

    „Mich würde nur eine Sache brennend interessieren, Mila. Ich bitte dich daher höflich, um eine ehrliche Antwort“, bat die Agentin, erhielt jedoch kein Einverständnis. Was sie aber nicht davon abhielt, ihre Frage zu stellen.

    „Bist du verrückt?“

    Die Frage war weder spöttisch gemeint, noch wollte Bella sie zum Narren halten. Und Mila spürte deutlich, dass weder Hohn noch Argwohn in ihren Worten gelegen hatte. Sie überlegte doch tatsächlich sehr ernst und angestrengt, wie sie darauf antworten sollte.

    „Bist du denn der Ansicht, eine verrückte Person, würde wissen, dass sie verrückt ist?“

    „Ein dummer Mensch sicher nicht“, gab die rechte Hand des Schwarzen Lotus sogleich zurück. Ihre bernsteinfarbenen Augen wanderten durch den Flur, die Wand hinauf, sahen direkt in das kalte Licht der alten Neonröhren, ohne von ihnen geblendet zu werden.

    „Ich fragte aber nicht, ob du dumm bist. Ich fragte, ob du verrückt bist.“

    Wieder war es still. Länger sogar, als beim ersten Mal. Gut eine halbe Minute verging, ehe Mila wieder antwortete.

    „Es lag wohl schon immer in meiner Familie. Also ja, ich bin verrückt. Allerdings nicht, weil ich dir und Team Rocket die Stirn biete. Und auch nicht meines Schwurs oder meines Ziels bezüglich Rayquazas wegen.“

    Bella wünschte so langsam doch, hervorzukommen und Mila anzusehen. Es war etwas ernüchternd, ihr das sanfte Lächeln auf ihren Lippen nicht zeigen zu können, das sowohl etwas Bewunderung als auch eine enorme Menge an Mitleid bekundete.

    „Wie nennst du euren Widerstand dann, wenn nicht verrückt?“

    Darüber musste sie tatsächlich nicht lange überlegen. Sie hatte sich diese Frage bereits mehr als einmal selbst gestellt. Dennoch schwieg sie wieder für einige Sekunden, da sie dieses Geständnis nicht gerne aussprach. Schweigen und fliehen konnte sie auf der anderen Seite genauso wenig. Dies wäre ein noch größeres Zeichen der Schwäche.

    „Verzweifelt.“

    Bella ließ auf diese Antwort den Kopf gegen die Wand fallen und atmete geräuschvoll aus. Sie verbarg es nicht. Sie war enttäuscht. Es war nicht ihre Art, hilflose Opfer zu quälen und zu schlachten. Sie liebte die Herausforderung, blickte hinterher gerne auf einen würdigen Gegner herab, sobald dieser besiegt war. Konnte Mila unter gegebenen Umständen denn wirklich einer sein? Konnte das überhaupt noch jemand außer ihrer heiß ersehnten Sheila?

    „Nur keine Sorge“, beschwichtigte die Drachenpriesterin urplötzlich, als habe sie ihre Gedanken gelesen.

    „Du wirst bekommen, wonach es dich verlangt und noch mehr.“

    „Willst du etwa behaupten, dass Verzweiflung dich stärker macht?“

    Bella fragte, als sei es irrsinnig und dumm, dies zu bejahen, doch es war der Realität gar nicht mal fern.

    „Oft wissen wir gar nicht, wie stark wir sind, bevor wir nicht eben diesen Zustand erreicht haben.“

    Nun kicherte die Agentin in Schwarz. Teils amüsiert, teils spöttisch und auch hoffungsvoll. Hoffnung darauf, dass Mila ihr, entgegen aller Erwartung, das bieten könne, was sie sich von ihr versprochen hatte.

    „Korrigiere mich ruhig, aber Verzweiflung hat sicher noch niemals eine bewaffnete Hand stärker, schneller und sicherer gemacht.“

    „Nein“, antwortete Mila sofort, erstickte umgehend alle Zweifel im Keim. Nur, um dann doch zu widersprechen.

    „Aber sie hat den Besitzer zäh gemacht, sodass er lange genug kämpfen konnte.“

    Sie hätte öfter das Gespräch mit dieser Frau suchen sollten. So sie auch nicht so hinreißend wie ihre Partnerin war, konnte Bella der Unterhaltung mit ihr einiges abgewinnen. Unter anderem eine wachsende Lust, sich auch mit ihr zu duellieren. Es wäre sicher das größte Szenario, sie umzubringen und sich anschließend der rachsüchtigen Sheila zu stellen. So einen perfekten Ablauf wagte sie kaum zu erhoffen.

    „Du bist stark, Bella. Jeden anderen Menschen könntest du wohl besiegen. Aber noch ist es zu früh für dich, mich herauszufordern. Vor dir stehen hunderte Jahre Erfahrung mit dem Schwert.“

    Verzweifelt klang dies sicher nicht. Und so sie sich wundern musste, wo denn die Selbstsicherheit, die plötzlich diesen Platz einnahm, ihren Ursprung hatte, gefiel Mila ihr so noch besser. Auf diese Spielchen ließ sie sich allzu gerne ein.

    „Um es zu benutzen, müsstest du aber erst einmal nahe genug an mich herankommen. Und das hat bislang noch niemand geschafft.“

    Mila schreckte kein bisschen zurück. Wozu auch? Bella schien noch immer nicht begriffen zu haben, dass im Falle ihres Todes weder für sie noch für Team Rocket irgendetwas gewonnen wäre. Sie sorgte sich nicht einmal großartig um ihr eigenes Wohl und wäre Ryan nicht gewesen, wäre das letzte Bisschen mittlerweile ebenfalls erstickt. So lange letztendlich das große Ziel erreicht war, nahm sie für sich jedes noch so dunkle Schicksal in Kauf.

    „Dann versuch es nur, wenn dir danach ist. Nenne mir Zeit und Ort und ich werde da sein. Ich gebe dir sogar mein Wort, dass ich allein kommen werde. Oder greif mich aus dem Hinterhalt an, wie du es so gerne tust. Es ist mir gleich und wird den Ausgang nicht beeinflussen.“

    Nun stahl sich gar ein Lächeln auf Milas Lippen. Doch es war nicht hämisch, überlegen oder siegessicher. Es zeugte von einer Spur Trauer, gemessen der Umstände und Bedeutung, obwohl sie gleichzeitig dankbar war, dieses unübertroffene Talent in ihrer Partnerin zu wissen.

    „Und selbst wenn, so würde es dir wenig nützen. Denn angenommen du könntest mich töten, hättest du gegen Sheila doch nicht die geringste Chance.“

    Das war dann nun doch ein wenig beleidigend. Auf der anderen Seite war es nur logisch und verständlich, dass sie dieses Vertrauen in ihrer Partnerin setzte.

    „Ich lasse es nur zu gerne auf den Versuch ankommen.“

    Nicht, dass Mila das bezweifelt hätte. Sie trauerte dennoch um diese Verschwendung. Verschwendung an Bellas Talent. Sie besaß gefährliche Gaben, hatte sich tödliche Fertigkeiten antrainiert, doch nirgends war festgelegt, dass sie Böses damit tun musste. Das hatte sie einst auch Sheila lehren müssen. Die Agentin auf ihrer eigenen Seite zu haben, würde ihre Chancen immens erhöhen und ihrer Gruppe diverse Türen öffnen. Und am allerwichtigsten – Bella könnte sich selbst ein so viel besseres Leben damit bescheren. Wer wusste schon, wer oder was sie auf den Pfad geführt hatte, der ihr jetziges Dasein beschrieb. Mila wusste es nicht und maß sich auch nicht an, es zu hinterfragen. Es sollte ihr auch gleich sein. Nur seine Richtung ändern würde sie zu gerne.

    Nun war es die Drachenpriesterin, die einen Seufzer ausstieß. Den erlaubte sie sich allerdings auch nur, da sie merkte, dass Bella fort war. Lautlos wie ein Schatten verschwunden.

    Es war nicht nötig, ihr nachzujagen. So nahe musste Mila ihr nun wirklich nicht sein. Ungeachtet dessen, was sie ihr gerade eben noch gesagt hatte, wäre das auch näher, als ihr lieb war.

    Kapitel 42: Konkurrenz


    „Du mieser, elender Geheimniskrämer!“

    Nicht einmal die gröbste Art, wie Ryan jemals von Andrew empfangen worden war. Vor allem, da er über beide Ohren grinste. Der Anteil am Erfolg seines besten Kumpels, den er hier nahm wog doch mehr als der Vorwurf des Stillschweigens über Moorabbels Weiterentwicklung. Ein bisschen vorwurfsvoll klang er aber durchaus.

    „Hast du´s also doch nicht erraten?“, erkundigte sich der zurückgekehrte Trainer, der gerade Sumpex´ Pokéball in die dafür vorgesehene Tasche an seinem Gürtel steckte. Er hatte ihn mit einem geradezu triumphalen Gefühl der Euphorie bis gerade eben noch in der Hand gewogen und betrachtet.

    „Als würdest du mir glauben, wenn ich jetzt sage, dass ich´s hätte.“

    Würde er, genau genommen. Aber er sah gerade keinen Grund, das mitzuteilen. Sandra gesellte sich ebenfalls zu Ryan und lächelte sehr zufrieden. So und nicht anders hatte sie ihn zu sehen gehofft. Tat wirklich gut, dies nach all dem Stress, den Strapazen und Lebensgefahr der jüngsten Vergangenheit mal zu können.

    „Sumpex hat sich sehr gut gemacht, für´s erste Mal.“

    Da sagte sie was Wahres, aber Ryan war nicht hundert prozentig sicher, ob er nicht eine sehr dezente Anschuldigung hinter diesen Worten oder eher daran, wie sie ausgesprochen wurden, erkannte. Eine, die ihm sagte, dass diese Entscheidung leichtsinnig, vielleicht sogar arrogant war und genauso gut hätte nach hinten losgehen können.

    „Hab nie dran gezweifelt“, entgegnete er nur, die Vermutung beiseite schiebend. Wenn Sandra was zu kritisieren hatte, würde sie es schon offen tun, so schätzte Ryan. Seine eigene Ehrlichkeit würde da schon eher befleckt werden, wenn er den Satz so stehen ließ.

    „Naja, bisschen nervös war ich doch.“

    Das Geständnis ließ Sandra und Andrew schmunzeln und sorgte dafür, dass der Junge, der gerade an die Gruppe heranzutreten gedachte, erst bemerkt wurde, nachdem er die schüchterne Stimme erhob.

    „Ihr seid wirklich hier.“

    Das Trio fuhr herum und musste überraschend weit runter sehen, um dem Trainer in die Augen sehen zu können. Sie waren nervös und aufgeregt, aber im positiven Sinne. Ein paar dunkle Locken fielen ihm ins Gesicht. Weißes Shirt unter einer ärmellosen Weste in Blauviolett und Dreiviertelhosen. Den hatte Ryan schon mal gesehen. War das auf der Fähre hierher? Nein, kurz danach bei Professor Birk.

    Andrew war dann derjenige, der sich zuerst an seinen Namen erinnerte.

    „Hey, hey, Kleiner. Hätte nicht gedacht, dass man sich so schnell wiedersieht. Cody, richtig?“

    Er nickte einmal so fest, dass man befürchten könnte, sein Hals würde brechen.

    „Ich fass es selbst kaum. Und dann ihr beide noch mit Sandra aus Johto.“

    Die Arenaleiterin wirkte noch sehr gefasst. Sicherlich hatte auch sie schon oft genug mit Fans oder gar Verehrern zu tun gehabt und mit ihrer Souveränität konnte sie diesem hier noch äußerst gelassen begegnen. Eine gewisse Höflichkeit strahlte ihr Lächeln obendrein aus.

    „Es ist mir eine Ehre, Sandra. Ähm, Ma´am“, stotterte er ein wenig zusammen und reichte ihr die Hand. War eine solche Formalität angemessen? Die Leiterin von Ebenholz war noch eine äußerst junge Frau, aber auf der anderen Seite eine immense Respektsperson. Sie stellte sich jedoch als viel lockerer heraus, als erwartet. Die Hand wurde freundlich und ohne Zögern ergriffen.

    „Sandra reicht.“

    Die Frau war echt zu beneiden. So würde Ryan auch gern mit dieser Sorte Mensch umgehen können.

    „Das ist echt unglaublich. Hab gehört, ihr seid schon länger hier. Ich bin erst seit vorgestern in der Stadt. Schaut mal“, tönte Cody stolz und kramte eine kleine Metallscheibe aus seiner Tasche. Ryan und Andrew erkannten sie, obwohl sie selbst den Orden gar nicht besaßen. Mit ihrer Arena Reise hatte es ja bisweilen nicht klappen wollen.

    „Ich hab die Arenaleiterin in Metarost City herausgefordert und gewonnen.“

    Er strahlte über beide Ohren und Ryan befand, dass er was sagen sollte. Ganz offen wusste er nicht so recht, was er jetzt mit Cody anfangen sollte, jetzt, da er vor ihm stand. Dieser Frischling war ihm nicht der sympathischste Mensch auf Erden, aber wer wäre er denn, jemanden fortzuscheuchen, der trotz aller Aufdringlichkeit und Begeisterung für seine Person immer höflich blieb? Er selbst wäre vor einigen Jahren vermutlich sehr ähnlich gewesen, wenn er ein Vorbild gehabt und auch mal getroffen hätte.

    „Glückwunsch, Cody. Dein erster?“

    Die Frage schien schlechte Erinnerungen zu wecken. Das Lächeln behielt der Junge bei, aber es wirkte plötzlich ein bisschen gezwungen. Als flog ein fader Beigeschmack mit.

    „Und leider mein einziger bisher. Dabei war ich noch in Blütenburg. Aber gegen den Arenaleiter dort hatte ich ja mal überhaupt keine Chance.“

    Anscheinend hatte er nicht gewusst, welches Niveau dort herrschte und dass der Leiter Norman sogar schon bei den Top Vier im Gespräch gewesen ist. Sich als Neuling in der Szene gegen ihn echte Chancen einzuräumen, war dann eher unrealistisch.

    „Das passiert. Wird auch bestimmt nicht dein letzter verlorener Arenakampf sein. Aber auch das ist eine Erfahrung.“

    Hiermit steuerte Ryan sogar etwas bei, das er vollkommen ernst und als ehrlichen Ratschlag meinte. Auch wenn er vielleicht ein bisschen gleichgültig klang.

    „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, fügte Sandra hinzu und zog mit ihrer ernsten, ja sogar belehrenden Stimme die Aufmerksamkeit auf sich.

    „Gerade aus Niederlagen lernt man am besten. Du solltest also jede Gelegenheit nutzen, um gegen starke Trainer und Arenaleiter anzutreten. Aus jedem Kampf kannst du etwas Wertvolles mitnehmen.“

    „Jeder muss am Anfang erst mal Lehrgeld zahlen“, ergänzte Andrew ein wenig lockerer, damit sich Cody nicht vorkam, als sei er in der Schule.

    „Bleib einfach am Ball. Ausdauer und Zähigkeit machen in diesem Business schon einen großen Unterschied und die Erfahrung kommt mit der Zeit von allein“, erklärte er mit einem neckischen Stoß gegen die Schulter des Anfängers.

    „Danke, werd ich mir merken.“

    Es klang ehrlich und er selbst entschlossen, das auch zu beherzigen. Von diesen Dreien hier konnte er mehr lernen, als er jemals schaffen würde zu notieren. Wer hatte schon das Glück, mit solchen Veteranen sprechen zu können?

    „Ihr habt Recht. Deswegen bin ich ja auch hergekommen. Ich will nicht nur gegen Arenaleiter, sondern gegen viele andere Trainer kämpfen. Oder später zumindest beim Zusehen was lernen.“

    Ryan nickte und versuchte ebenfalls, gab sich Mühe, seine moralische Unterstützung zu bekunden. Komisch, dass er sich plötzlich doch die Mühe machte.

    „Gute Einstellung. Du hast hier nichts zu verlieren.“

    „Stimmt. Und ich werd ja schon bald die nächste Chance haben, direkt von einem echten Könner zu lernen.“

    Gleich alle drei Augenbrauenpaare zogen sich zusammen. Cody hatte seine Worte ausgesprochen, als müssten sie bereits wissen, welcher Gegner ihm diese Gelegenheit bieten solle. Ein kurzes hin und her sehen zwischen den Johtonesen verriet dem aber das Gegenteil.

    „Ihr habt´s noch gar nicht gesehen?“

    „Ich weiß nicht, was du meinst“, gestand Ryan, grämte sich dafür aber sehr offensichtlich wenig bis gar nicht. Da er nur die wenigsten aus dem Teilnehmerfeld kannte und nicht damit rechnete, einem von ihnen schon in der Quali zu begegnen, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, die Namen seiner Gegner nachzulesen. Andrew genauso wenig, allerdings aus dem Grund, dass es ihm einfach egal war, gegen wen er ran musste.

    „Schaut mal da hoch.“

    Cody deutete auf einen der Monitore, der chronologisch die heutigen Ergebnisse sowie die noch bevorstehenden Matches dokumentierte. Bei jedem Trainerpaar, das bereits gekämpft hatte, war der Verlierer ausgegraut worden und am linken Bildschirmrand war eine Blitztabelle der Bestplatzierten, die zu diesem frühen Zeitpunkt natürlich noch sehr wenig Relevanz besaß. Ryan führte sie in diesem Moment an.

    Der junge Anfänger verwies noch auf Runde 13. Dort stand sein Name unter der Spalte, die ihn für das Kampffeld Nummer 2 einteilte. Benachbart wurde er von Ryans Namen.

    „Na sieh mal einer an“, nuschelte der Blonde eher zu sich selbst als zu Cody. Sein nächster Kampf würde gegen den Frischling stattfinden. Es fiel ihm in diesem Moment schwer, einen konkreten Gedanken, sprich eine Ansicht hierzu zu fassen. Was sollte er davon jetzt halten? Freuen tat er sich bestimmt nicht.

    „Ryan“, begann Cody neben ihm und suchte gerade offenbar ebenfalls nach den richtigen Worten. Dann jedoch flackerten seine Augen auf, als kenne er sie doch schon längst und raufe sich zusammen, sie auch auszusprechen.

    „Ich weiß, dass ich gegen dich keine Chance habe. Aber ich freue mich trotzdem wahnsinnig darauf.“

    Eben die Tatsache, dass sein Sieg nur Formsache sein würde, machte dieses Match für Ryan wenig erstrebenswert. Kämpfe dieser Art waren nicht das, wofür er den ganzen Tag und manchmal den Großteil der Nacht mit seinen Partnern ackerte oder an Strategien und Trainingsmethoden tüftelte. Für ihn gab es nichts zu gewinnen. Die Tatsache, dass dieser Kampf ihn in der Rangliste weiter an der Spitze halten könnte, war da noch der wertvollste Ertrag.

    Für Cody ging es aber sehr offensichtlich keineswegs um das Turnier. Ryan spürte, dass es eine Herzensangelegenheit für ihn war.

    „Mit jemandem wie dir einmal auf demselben Kampffeld zu stehen… das bedeutet mir unheimlich viel. Und ich will mich irgendwann mit einem Lächeln daran zurückerinnern.“

    Ryan hob das Kinn etwas und wog Codys Worte ab. Er selbst würde nichts zu bereuen oder zu verlieren haben. Doch darum ging es ihm auch nicht, so meinte er zu verstehen. Dieser junge Bursche schien dem Veteranen tatsächlich zwischen den Zeilen etwas mitteilen, ihn um etwas bitten zu wollen. Dass er ihn ernst nehmen würde. Dass er ihn wie einen Gegner behandelte, ungeachtet des enormen Kräfteunterschieds.

    Interpretierte er in diese Worte vielleicht zu viel hinein? Möglich, aber nachhaken konnte Ryan nicht mehr. Denn der Youngster machte einen respektvollen Schritt zurück und sah noch einmal in die Runde.

    „Das war im Grunde alles, was ich sagen wollte. Danke für eure Ratschläge und eure Offenheit.“

    Er deutete ein leichtes Kopfnicken an, als wolle er sich eigentlich verbeugen und machte unverzüglich kehrt, verschwand schnurstracks erst zwischen den zahlreichen Trainern und schließlich in einem der Korridore. Damit ließ er das Trio aus Ryan, Andrew und Sandra ziemlich sprachlos und nicht wenig verwundert zurück. Erstgenannter hatte sogar leicht den Mund offen, fuhr sich dabei nachdenklich mit der Zunge über die Lippen.

    „Ein interessanter Junge“, brach schließlich die Drachenmeisterin das Schweigen. Andrew hob darauf die Braue.

    „Ein Netter ist er. Und enthusiastisch. Aber interessant?“

    „Er erinnert mich an mich selbst“, erklärte Sandra weiter und sorgte somit dafür, dass die langjährigen Trainer-Freunde neugierig die Stirn runzelten. Ihre Freundschaft – so durfte man es sicher nennen – mit der Arenaleiterin von Ebenholz war noch nicht auf der Stufe, in der man gegenseitig nach seinen peinlichen Anfängerjahren fragte. Die wenigsten erzählten gerne davon, da sie meist nicht fassen konnten, wie naiv, blöd, blind, stur, überheblich und schwach sie damals gewesen sind. Wenn man allerdings genau drüber nachdachte, war es eigentlich gut, wenn man so über seine vergangenes Ich empfand. Diese Veränderungen zu damals, der Wunsch, in der Zeit zurückgehen und sich selbst belehren zu können, war das eindeutige Zeichen, das man sich weiterentwickelt und dazugelernt hatte.

    Sandras heutiges Bild machte es fast unglaubwürdig, dass sie zu irgendeiner Zeit mal wie Cody gewesen sein soll. Vor allem, da sie in ihrer Heimat unter der Lehre großer und erfahrener Drachenmeister aufgewachsen war. Vielleicht war ihr aber gerade daher auch an einem Ratschlag für den Jungspund gelegen.

    „Das musst du unbedingt mal im Detail erzählen“, scherzte Ryan mit einem neckischen Seitenblick. Zumindest zum Teil. Interessieren würde es ihn allemal, wie Sandras Anfänge ausgesehen hatten.

    „Dann verlange ich dasselbe von euch. Und wenn es soweit ist, wird´s mit Limo und Tee nicht getan sein.“

    Schlug sie gerade vor, dass sie alle dann bei Pete einen trinken sollten? Mit solchen Sachen warteten sie dann wohl besser noch ein halbes Jahr, bis zur Volljährigkeit. Sandra würde sich strafbar machen, wenn sie des Abends im Vollrausch mit zwei jungen Männern unter 18 Jahren einen Ordnungshüter antreffen sollte. Das einstimmige Lachen deutete eher darauf hin, dass dieser Vorschlag ohnehin nicht ernst gemeint war, aber Andrew ließ sich hierzu gar noch das Versprechen beider geben, dass dieser Plan auf jeden Fall in die Tat umgesetzt werden musste. Auf diesen Abend freute er sich jetzt schon.


    Gerade als das allgemeine Lachen abzuklingen begann, ertönte das sachte und rhythmische Klappern von leichtem Metall. Ähnlich wie Schellringe, aber ohne Nachklang. Das Geräusch erstarb, sowie Ryan es genau hinter sich fühlte und meinte man, seine Mundwinkel müssten augenblicklich nach unten sacken, funkelte etwas in seinen marineblauen Augen auf. Seit es Gewissheit war, dass der Penner am Summer Clash teilnahm, hatte es keine Hoffnung darauf gegeben, dass sich dieser Moment hier umgehen ließ. Nicht, dass er es versucht hätte. Die Situation war eine völlig andere, als bei ihrem letzten Treffen. Nun konnte Ryan seinem verhassten Rivalen wieder kampfbereit gegenübertreten.

    Noch im Umdrehen machte er einen Schritt in Terrys Richtung, sodass sich ihre Gesichter sehr nahe waren. Andrews Seufzen war unüberhörbar, aber Ryan ignorierte es vollkommen. Natürlich hatte er keinen Bock darauf, den beiden beim Streiten zuzusehen und zu hören. Auf der anderen Seite hatte er selbst Rivalen, vor denen er sich zurückzuweichen verbot. Daher konnte er diesen Zwist wohl nicht verurteilen. Und dennoch. Auf eine lautstarke oder sogar handfeste Show wie beim letzten Mal konnte Andrew gut und gerne verzichten. Am Ende würden sie noch aus dem Turnier geschmissen werden und sich einfach auf der Straße die Köpfe einschlagen.

    „Na, wie willst du deine Partner heute quälen?“

    Wie in aller Welt konnte Terry diese Ansicht über Ryan eigentlich aufrechterhalten? War es möglich, sich ein falsches Bild einer anderen Person so oft und vehement einzureden, dass man es irgendwann wirklich für echt hielt? Oder fiel ihm einfach nur nichts Besseres ein, um ihn zu provozieren?

    „Ich reagier mich lieber an unerwünschten Trainern ab.“

    Im Gegensatz zum letzten Mal würde Ryan nicht so leicht aus der Haut fahren. Es wäre zu viel der Behauptung, er hätte sich das vorgenommen. Es hatte sich ganz einfach sehr viel in der kurzen Zeit geändert. So vieles war passiert. Wobei ihm diese Woche fast wie ein Jahr vorkam. Der Trainer aus Johto fühlte sich fast wie ein anderer Mensch im Vergleich zu seiner Ankunft hier in Hoenn. Entsprechend gedachte er dieser laufenden Pest anders zu begegnen.

    „Wenn du Arsch dich wieder prügeln willst, such dir einen anderen Primitiven. Wegen dir bin ich bestimmt nicht hier.“

    Der Kerl und seine Worte machten mal wieder enorm viel Sinn. Umso größer war die Genugtuung, nun wieder wie ein echter Gegner mit ihm reden zu können. Wie jemand der nicht nur ebenbürtig, sondern besser war. Ryan war überzeugt, dass dies auf ihn zutraf.

    „Dann hättest du Trottel gar nicht erst anhalten sollen.“

    Terry legte den Kopf leicht schief. Sein blassrotes Haar fiel über eine Gesichtshälfte und verdeckte das linke Auge. Hatte der diesen Blick trainiert?

    „Schlechte Angewohnheit, wie ich zugeben muss. Vielleicht liegt´s aber auch daran, dass…“

    „Kann man dir helfen?“, unterbrach eine recht dunkle, weibliche Stimme. Sandra hatte noch nie in Anwesenheit von Ryan oder Andrew so finster und zurechtweisend gesprochen. Ihr Tonfall war voller Abneigung gewesen und sollte den Störenfried sicher keine echte Hilfe anbieten. Bestenfalls den Rat, weiter zu ziehen.

    Der Trainer aus Einall sah erst jetzt zu den beiden hinter Ryan. Während Andrew mit einer Kopfbewegung andeutete, Terry solle gefälligst nicht in seine Richtung sehen, hielt Sandra mit ihrer Antipathie nicht gerade hinterm Berg. Der Typ konnte erzählen, was er wollte – er war nur zum Streiten und wegen sonst nichts gekommen. Eine Eigenart, die Sandra verachtete.

    „Wir haben uns gerade unterhalten. Wenn du also kein vernünftiges Anliegen hast, belästige jemand anderen.“

    Sie sprach wie mit einem Betrunkenen, der sich in der Bar uneingeladen zu ihrer dazugesellte. Die Worte beherrscht und mit einem Rest Höflichkeit gewählt, aber mit Nachdruck und Abneigung ausgesprochen.

    Tatsächlich wollte Ryan aber gar nicht, dass er hier moralische Unterstützung erhielt. So froh er auch darüber war, dass Terry bei ihr keine Sympathie weckte, war das eine Sache zwischen ihnen beiden. Seit letztem Mal bestenfalls noch Andrew mit eingeschlossen. Der Rotschopf hätte die Gelegenheit ergreifen können, seinen Erzfeind weiter zu verspotten, da er seine Gefechte ja offensichtlich nicht allein austragen konnte. Doch so viel Gehirn besaß anscheinend selbst er noch, das zu unterlassen. Das hätte schließlich noch weniger Sinn gemacht, als die meisten seiner eh schon haltlosen Behauptungen, da Ryan ihm während seiner Johto Reise stets allein gegenübergetreten war. Und ungeachtet, wer von beiden das jeweilige Duell für sich hatte entscheiden können, war er nie zurückgewichen.

    „Du hast dir ja ganz schön populäre Freunde gemacht“, bemerkte er argwöhnisch, was mit einem Schulterzucken quittiert wurde. Ryans Gelassenheit war Andrew beinahe unheimlich, aber keineswegs unwillkommen. Sie bestätigte seine positive Entwicklung und machte es ihm unmöglich, ein Schmunzeln zu unterdrücken.

    „Wer kann, der kann.“

    Diese Antwort bot Terry nun wirklich gar keine Angriffsfläche. Also versteifte er sich wieder auf die übliche und ließ Sandra links liegen. An sich war ihr das nur recht – oder wäre es, wenn er dasselbe tun und einfach seines Weges gehen würde.

    „Und was kannst du sonst noch so? Nicht viel, wenn ich so an letztes Mal denke. Ich würde fast wetten, du kannst schon nach der ersten K.O. Runde wieder abreisen.“

    Wenn er sich mit seiner Einschätzung schon lächerlich machen wollte, könnte er Ryans Ausscheiden auch gleich für die bereits laufende Qualifikationsrunde prophezeien. Er tat ja so, als hätte er nie gegen Ryan verloren. Vor ihrem Kampf in der Johto-Liga hatte er diesen Dummschwätzer oft und gerne an seine Pleiten erinnert. Aber heute zog er es gar vor, ihn in seiner Traumwelt verweilen zu lassen. Das Erwachen würde früh genug kommen und ihn umso härter treffen. Ryan lehnte sich ein Stück vor und seine Augen begannen die seines Rivalen zu durchstechen.

    „Nur zu. Unterschätz mich ruhig weiter. Das wird noch lustig für mich.“

    Insgeheim hoffte Ryan ein klein wenig, dass seine fruchtlosen Provokationen Terry sichtlich frustrieren würden. Schließlich hatten die schon mal besser funktioniert. So sie auch nie vermocht hatten, seinen Gegner bis hin zu ihrem Kampf aus der Fassung zu bringen und das Match somit auf emotionaler Ebene bereits zu seinen Gunsten zu lenken, war es ihm immerhin ein paar Mal gelungen, Ryan einige Ausbrüche zu entlocken. Nur eben heute nicht. Das lag vermutlich daran, dass Terry den Grund für besagte Ausbrüche immer darin gewähnt hatte, dass Ryan der harten Realität nicht ins Gesicht sehen wollte. Der wahre Ursprung hatte jedoch fast ausschließlich in seiner ekelhaften Penetranz gelegen.

    Wenn denn wirklich Frust in Terry aufkeimte, dann ließ er ihn sich nicht anmerken, was bestimmt einiges an Selbstbeherrschung abverlangte. Nach außen gab er sich sogar sehr überlegen und ruhig. Auch wenn er dazu gerade wenig Anlass hatte. Er sah sich einfach als unverwundbar, so vermutete Andrew, der die Unterhaltung bald doch eigens beenden würde. Dabei hatte er sich vorgenommen, den Streithähnen ihre verbalen Konflikte zu gönnen. Nur hatte er die Sturheit von diesem Arsch unterschätzt. Er konnte es wirklich nicht sein lassen.

    „Mit dieser aufgesetzten Zuversicht kannst du höchstens einen Grundschüler verarschen. Du…“

    „Wird der Kotzbrocken hier mal fertig?“

    Eine junge Frau lehnte sich urplötzlich an Terrys Schulter und unterbrach seine angefangene Tirade. Der war von allen Anwesenden offensichtlich am meisten überrascht, konnte aber ein erschrecktes Zurückweichen unterdrücken.

    „Ich will keine Nummer zieh´n müssen, um mit den Jungs zu plaudern, also komm zum Ende mit deinen beschissenen Spielchen.“

    Sauer oder genervt klang sie jetzt nicht wirklich. Eher als scheuche sie ein aufdringliches Kind weg. So leicht ließ das Terry allerdings nicht mit sich machen. Er zerrte grob den Arm von seiner Schulter und besah sich der jungen Frau.

    Ryan tat dasselbe und konnte nur mit sehr viel Mühe sein Pokerface wahren. Vielleicht entglitt es ihm ein wenig. Es war die vom Eingang, vor dem Stadion. Karierter Rock, Lederjacke, gefärbte Haarspitzen und diesmal beide Sonnenbrillen im Haar.

    „Heute kommt definitiv zu viel Gesocks zusammen“, maulte Terry äußerst ungehalten. Ryan Verstand absolut nicht, wie ihre Ankunft in diese Frage münden konnte. Er war ja nicht mal sicher, um wen es sich bei dieser Frau handelte. Aber sein Rivale schaffte da unwissentlich Abhilfe.

    „Ryan ist schon schlimm genug. Da bist du hier echt überflüssig, Audrey.“

    Ryan atmete tief ein. Audrey? Audrey Miller?

    „Kannst dich jederzeit vom Acker machen. Keiner hat dich angesprochen“, warf Andrew nun ein und bedeutete gar mit einem Arm die Richtung, in die Terry endlich von dannen ziehen sollte. Die Neue war ihm zwar unbekannt, aber jederzeit willkommen, wenn sie diesen Arsch unter Umständen zum Gehen bewegen konnte. Sie stellte sich dabei sogar recht rigoros heraus.

    „Sehr gut beobachtet. Sieh zu, dass du Land gewinnst.“

    Mit einem kecken Schubser entfernte sie ihn aus der Runde und ging einen Schritt auf die drei Johtonesen zu. Die blickten Terry nochmals hinterher, dem der Verlauf des Gesprächs offenkundig gar nicht schmeckte. Mit Sicherheit hatte er sich diese Konfrontation anders vorgestellt. Hoffentlich würde Ryan ihn beim nächsten Mal ebenso kühl entgegentreten können. Schien ja wahre Wunder zu wirken.

    Mit einem Nicken bedeutete er seinem Erzrivalen nochmals, sich zu verkrümeln, was er mit einem spöttischen Kopfschütteln auch endlich tat. Als hätte auch nur einer von ihnen die Macht, geschweige denn das Recht, ihm etwas vorzuschreiben. Aber das waren einfach zu viele Maulhelden auf einem Haufen. Er konnte ja gerade so den einen ertragen. Auf dem Kampffeld würden sie nicht mehr Händchen halten können. Da wurde Mann gegen Mann gefochten. Dürfte aber auch gerne Mann gegen Frau sein. Er hätte jedenfalls nichts dagegen, auch Audrey eine Lehrstunde zu erteilen.

    Die verschränkte die Arme unter der Brust und sah Ryan ein wenig anklagend, aber nicht wirklich ernst an, ehe sie dann plötzlich in ein Grinsen überging. Als habe sie es vermisst, über die zwei lamentieren zu können.

    „Ihr beide seid wie Sengo und Vipitis, weißt du das?“

    „Kann ich schlecht abstreiten“; entgegnete er und umarmte sie knapp, kameradschaftlich. Sie, hier – das war eine mehr als angenehme Überraschung. Wobei ihm wirklich jeder lieb und recht war, um Terry loszuwerden.

    „Hab dich erst gar nicht erkannt. Ist das hier Zufall oder wusstest du, dass ich beim Summer Clash mitmache?“

    Sie musste nicht fragen, warum er sie zunächst für eine Fremde gehalten hatte. Es war nämlich nicht das erste Mal. Sie änderte ihre Haare genau so oft, wie ihre Kleidung. Mal waren sie blutrot, mal kurz, mal lang und blond, wie bei ihrem letzten Treffen und nun eben ein wilder Schnitt in schwarz mit gefärbten Spitzen. Und für nächste Woche hatte sie schon wieder etwas völlig Anderes in Planung.

    „Hab´s erst vor ein paar Tagen erfahren, aber da war ich schon auf dem Weg hierher“, erzählte Audrey und strich sich eine Strähne hinters Ohr. Andrew und Sandra tauschten währenddessen einen doch leicht entrüsteten Blick aus. Sie fühlten sich, als habe man sie vergessen. Nebenbei, was war hier eigentlich los? Hier kam ja ein Trainer nach dem anderen. Beziehungsweise Trainerin.

    „Ich geb aber zu, nachdem ich wusste, dass du hier bist, hab ich noch einen Zahn zugelegt“, fügte die Trainerin mit Nachdruck und einem verschmitzten Unterton an. Arceus, machte die sich gerade an Ryan ran? Sofern dieser sie nicht vollkommen falsch interpretierte, schien die Antwort nein zu lauten und sich viel mehr auf einer wettkampforientierten Ebene zu bewegen.

    „Schmeichelhaft, aber ich hab keine Eile mit unserer Revanche.“

    War es wirklich das, was sie gemeint hatte? Andrew konnte diese Audrey spontan irgendwie schwer einschätzen. Was ihn aber mehr frustrierte, war das teilnahmslose Herumstehen. Seine vorwurfsvollen Blicke mussten ein Stechen in Ryans Rücken gebohrt haben, das er tatsächlich spürte. Als hätte er es bemerkt, machte er sie auf einmal sehr rasch miteinander bekannt.

    „Jedenfalls, Audrey, das ist Andrew. Du kennst ihn glaube ich schon als den Rastlosen.“

    Er führte die beiden näher zusammen und gerade als Andrew ganz cool grüßen wollte, zog sie ihn schon in eine ähnliche Umarmung, wie zuvor mit Ryan. Das ließ ihn kurz erstarren, aber ihr Duft vertrieb das sofort wieder und er konnte die Geste erwidern.

    „Audrey Miller, aus Rosalia City”, fuhr Ryan fort. Die Verblüffung seitens seines Kindheitsfreundes war ihm nicht entgangen und das ließ sein Schmunzeln ihn auch wissen. Andrews Blick riet ihm dagegen, bloß weiterhin die Klappe zu halten. Das tat er zwar nicht, aber er hänselte auch nicht weiter und plauderte daher etwas aus dem Nähkästchen.

    „Wir sind uns ihn Johto ein paar Mal über´n Weg gelaufen. Haben hin und wieder gekämpft und an ein, zwei kleineren Turnieren teilgenommen.“

    „Also noch eine Rivalin?“, schaltete sich Sandra nun ein und trat an Audrey heran. Nebeneinander war der Anblick der zwei Frauen auf eine abstrakte Weise umwerfend. Zwei feurige Kämpferinnen, eine in rot-schwarz, die andere in blau. Urplötzlich entflammte in beiden Trainern aus Silber City der Wunsch, die beiden gegeneinander kämpfen zu sehen. Nebst dem, selbst gegen sie zu kämpfen.

    „Ich denke nicht, dass ich dir sagen muss, wer das ist, Audrey?“

    Sie grinste breit, aber ihre Augen waren gleichzeitig auch ein bisschen herausfordernd. Irgendwie hitzig, diese Begegnung, obwohl doch alle so entspannt waren, seit Terry abgezogen war.

    „Drachenmeisterin Sandra aus Ebenholz. Eine große Freude“, grüßte sie ehrlich und reichte ihr – eine solche Respektsperson grüßte man beim ersten Treffen einfach nicht so offenherzig, wie sie es bei Ryan und Andrew getan hatte – die Hand, welche fest ergriffen wurde.

    „Ganz meinerseits.“

    Der Händedruck hielt ein paar Sekunden. Oha, wenn sich da nichts anbahnte. Audrey schien echt heiß auf ein Duell mit der Arenaleiterin. Aber ihr gegenüber wirkte doch distanzierter und anständiger.

    „Rivalin klingt so feindselig. Ich nenne uns einfach Freunde.“

    „Definitiv das schönere Wort“, bekundete Sandra, deren Aufmerksamkeit sich gleich Andrew sicherte, so wie sie endlich die Hände lösten.

    „Müsstet ihr euch nicht schon begegnet sein? Wenn du aus Johto bist, warst du doch bestimmt in ihrer Arena, oder nicht?“

    Eine logische Theorie, aber Andrew lag falsch, wie Ryan wusste.

    „Ich sammle keine Orden“, eröffnete Audrey hierauf. Sie ließ sich keck auf der Bank nieder, auf der bis vorhin Andrew noch gethront hatte und schlug die Beine übereinander.

    „Ich kämpfe sehr gerne. Aber in der Zeit, in der ich die acht Orden für dieses eine, große Event zusammenklauben müsste, könnte ich mindestens genauso viele weniger populäre Turniere besuchen. Man trifft viel mehr Leute. Wie den da zum Beispiel.“

    Ein Nicken ging in Ryans Richtung. Der hielt´s führ angebracht, davon etwas konkreter zu erzählen.

    „Ein Wasserpokémon Turnier in Oliviana. Hab sie selbst mit Impergator gerade so klein gekriegt. An dem Tag hat sie auch Terry kennen und hassen gelernt.“

    Sie winkte gleich ab, wollte den Typen wohl für heute weder nochmal sehen, noch von ihm sprechen müssen.

    „Hätte jeder. Der Kerl ist ein laufendes Geschwür. Und als du ihn damals sozusagen baden geschickt hast, bin ich fast sowas wie ein Fan von dir geworden“, meinte Audrey und stieß neckend ihren Ellenbogen in seine Seite. Sie würde hinterher ohne Übertreibung oder Lüge behaupten, dass ihre folgende Erzählung von jenem Match, knapper Natur gewesen war. Dass sie an der Oberfläche gekratzt hätte. Nur glauben würde ihr das niemand, da sie für eine ganze Minute redete. Es beschwerte sich aber keiner, auch nicht gedanklich. Man hörte ihr gerne zu. Denn selbst wenn sie über Terry fluchte, oder aber ob sie gerade nur in ihren Erinnerungen mit Ryan schwelgte, war sie ununterbrochen am Lächeln und ihre Körpersprache völlig relaxed. Sie kam total taff und cool rüber, war aber definitiv eine Lebhafte. Und redselig. Ein durchaus sympathischer Ersteindruck, wie Andrew befand.

    Kurz bevor Andrey ausgeredet hatte, stieß die Drachenmeisterin Ryan unauffällig in die Seite. Der hatte gedanklich ein wenig abgeschaltet, da ihm gerade nichts erzählt worden war, was er nicht schon kannte und blinzelte daher etwas überrascht. Noch unerwarteter traf ihn der urplötzlich so ernste Gesichtsausdruck Sandras. Sie blickte ihn nicht einmal an, sondern stur an ihm vorbei.

    „Da drüben will jemand zu dir.“

    Kam da noch ein bekanntes Gesicht? Oder war Terry gar blöd genug, die zweite Runde anzupeilen? Es traf ersteres zur, doch war es keine Trainerin, die dort im diffusen Licht des Korridors wartete. Mit dem glänzenden, blonden Haar und die himmelblauen Augen wäre sie selbst inmitten der Masse aus Teilnehmern sofort herausgestochen. Das dort war allerdings keine Teilnehmerin. Daher versteckte sie sich auch in einem unauffälligen Gang, der obendrein nicht benutzt wurde, da die Trainer über andere Wege in den Innenraum und zu den Ausgängen gelangten.

    Ryans Lächeln schwand nicht ganz, aber es erfuhr einen harten Dämpfer. Es konnte nichts Gutes verheißen, wenn Mila ihn hier zu sprechen verlangte.

    „Bin gleich zurück“, meinte er bloß und hatte sich schon im nächsten Moment umgedreht. Eine Sekunde lang sahen Audrey und Andrew ihm hinterher, was Sandra unterband, indem sie sich vor die beiden schob und verhinderte, dass die Uneingeweihte Gefahr lief, in ihre Angelegenheiten verwickelt zu werden. Mila sollte sie nun wirklich nicht begegnen.

    „Erzähl ich so langweilig?“, fragte Audrey, lächelte dabei allerdings, wie schon die ganze Zeit und war daher vermutlich auch nicht wirklich gekränkt. Andrew hätte durchaus Lust, seinen charmanten Humor zu versprühen, um sie ein bisschen weniger auf Ryan und dafür mehr auf sich zu fixieren. Aber ehe er sie nicht ein bisschen kennengelernt hatte, würde er so etwas nicht bei einer Freundin seines besten Kumpels tun. Aber auch nur bei dem nicht. Und selbst unter der Rücksicht ihm gegenüber fiel es bei Audrey schwer.

    Ein stiller und etwas peinlicher Moment mit dem stummen Austausch seines und Sandras Blickes verging, eher beide einfach nur den Kopf schüttelten. Daraufhin wurde ihr Lächeln noch breiter, als habe sie es von Mila abgeschaut und lehnte sich ein Stück zurück.

    „Da war Ryan einst ehrlicher.“

    Wieder tauschten sie Blicke aus, ohne ein Wort zu sagen. Diesmal aber mit gerunzelter Stirn und dem flauen Gefühl im Bauch, dass sie ein bisschen verarscht wurden.


    Ryan starrte nicht zu sehr in die Richtung, in die er ging. Er fürchtete ohnehin, dass jemand ihm hinterhersehen und Mila entdecken könnte. Um es genau zu nehmen, achtete er kaum auf seine eigenen Schritte, da er zu fieberhaft nachdachte, was in aller Welt sie denn von ihm wollen könnte. Wenn sie ihn hier aufsucht, musste es wichtig sein.

    Gerade als er eine Säule passierte, die glücklicherweise etwas Sichtschutz für die Drachenpriesterin bot, wurde der junge Trainer allerdings rüde aus seinen Gedankengängen gezerrt. Er hatte völlig das Mädchen übersehen, das an eben jener Säule gelehnt hatte und war über ihre Füße gestolpert. Wobei es treffender wäre, zu behaupten, er habe ihre vor sich her getreten. Fassungslos über seine eigene Blindheit eilte Ryan sich zu einer raschen Entschuldigung.

    „Sorry, war keine Absicht“, haspelte er und wollte eigentlich sofort weiter, sich nicht lange aufhalten lassen. Aber ihre Reaktion ließ ihn innehalten. Später würde er nicht mehr sagen können, warum sie das tat. Lag es an ihrem Blick? Für eine Sekunde hätte er schwören können, dass er zufrieden wirkte.

    „Alles noch dran“, entgegnete sie seelenruhig und äußerst wohlwollend. Das hätten die allerwenigsten Menschen in dieser Situation getan.

    „Aber du solltest besser auf deine Füße achten. “

    Sie sagte es mit einem gewissen Unterton, den er nicht einzuordnen vermochte. Es fühlte sich an, als wollte sie eigentlich ganz andere Worte sprechen.

    „Meistens bin ich besser darin“, antwortete Ryan bloß monoton und mit gerunzelter Stirn. Er war gedanklich schon fast bei Mila gewesen und hatte daher kein Pokerface aufgelegt. Hätte aber in dieser oberflächlich so banal wirkenden Situation auch niemals gedacht, dass es nötig wäre.

    „Sehr ratsam“, meinte sie nur und stieß sich von der Säule ab. Sie pirschte regelrecht an ihn heran.

    „Du bist Ryan Carparso, nicht wahr?“

    Er hatte gerade einen zweiten Versuch unternommen, seinen Weg fortzusetzen. Nun, da auch dieser gescheitert war, wurde ein Funken Neugier für die Person geweckt und er musterte sie rasch. Sie trug überwiegend schwarz. Ihre kurzärmelige Weste war offen, reichte knapp an ihren Nabel und präsentierte etwas von ihrer extrem hellen Haut sowie einen muskulösen Bauch. Unter dem halboffenen Kleidungsstück bildete ein weißes Oberteil einen der wenigen hellen Kontraste ihrer Erscheinung. Die Innenseite war zudem dunkelviolett. Am Kragen war ein wenig weißes Kunstfell angenäht, das ihren schmalen, langen Hals kitzelte. Dort trafen sie auf die Spitzen ihres welligen und selbstverständlich pechschwarzen Haares. Die Lederhose war ebenfalls schwarz, wurde von einem schweren Gürtel gehalten, durch dessen Löcher violette Lederbändchen gezogen waren. Darunter schaute wieder weißes Fell hervor. Sie lief in ähnlichen Stiefeln wie Sheila – mit dem Unterschied, dass ihre natürlich schwarz anstatt braun waren.

    „Gefalle ich dir?“

    Er hatte sie definitiv zu lange gemustert. Ein Blick in ihr verschmitztes Gesicht verriet das. Und fast wäre Ryan gedanklich schon wieder abgedriftet. Ihre Iris glänzte wie blank polierte Bernsteine. So eine Farbe hatte er sicher noch nie zuvor gesehen. Sie erinnerten ihn an ein schlitzohriges Snobilikat, das sich trügerischer Weise nach außen verspielt und harmlos gab.

    „Wir kennen uns nicht, oder?“

    Sie schüttelte bloß den Kopf. Jede Bewegung war langsam, aber nicht müde. Sie schien jede Sekunde dieses Gesprächs, wenn man es denn so nennen konnte, zu genießen. Und Ryan begann einen ominösen Grund dahinter zu vermuten. So verhielt sich doch niemand.

    „Dann sag mir doch erst einmal, mit wem ich das Vergnügen habe“, verlangte der Trainer scharf und lehnte sich sogar auffordernd etwas nach vorne. Sie war allerdings kein Dummerchen, erkannte sofort, was er eigentlich sagen wollte. Und im Grunde bewegten sie sich somit auf derselben Ebene.

    „Bist du allen Fremden gegenüber so misstrauisch?“

    „Nur einigen wenigen.“

    Sie ging zwei Schritte um ihn herum, betrachtete ihn nun selbst ein bisschen eingehender. Von so nahe sah sie ihn schließlich das erste Mal.

    „Wie kaltherzig. Wo du es doch warst, der mich rüde überrascht hat“, spielte sie das verletzte Mauerblümchen. Aber nicht wirklich ernst, da sie nach wie vor verschmitzt und verräterisch lächelte. Dann beugte sie sich ein Stück vor, um Ryan aus tiefer Position in die Augen zu sehen, während sie die Hände in die Hüften stemmte. Damit wirkte sie seinen Versuchen entgegen, ihrem Blick auszuweichen. Er hatte sich kein visuelles Duell mit ihr gewünscht, doch nun, da er gezwungen wurde, nahm er es dennoch auf. Seine Intuition verriet ihm, dass er vor ihr nicht zurückschrecken, ausweichen oder Schwäche zeigen durfte.

    Sie hingegen schien das zu erkennen und neigte unschuldig den Kopf zur Seite.

    „Womit verdiene ich so ein distanziertes Verhalten?“

    „Sag du´s mir oder gib mir einen Grund es nicht zu tun.“

    Man sah, wie ihre Zunge die Innenseite ihrer Unterlippe entlangfuhr. Ein Zeichen, dass ihr dieses Spielchen gefiel?

    „Ich weiß keinen Grund für keines. Vielleicht ahnst du ja, wie gefährlich ich bin. Vielleicht fühlst du dich von mir herausgefordert“, meinte sie bloß und gab sich weiter ach so harmlos. Generell widersprach ihre Körpersprache weitestgehend dem, was aus ihrem Munde kam. Dabei musste sie wissen, dass jeder Idiot das durchschaute. Sie wollte ihm nicht wahrhaftig etwas vormachen, sondern nur anstacheln, aus der Reserve locken. Ganz so leicht würde Ryan es ihr aber nicht machen.

    „Willst du denn eine Herausforderung aussprechen?“

    Ohne Zweifel wollte sie das. Ryan war nicht so blöd, derart offensichtliche Worte fehl zu deuten – und standen sie auch nur zwischen den Zeilen. Dennoch wollte er unbedingt, dass sie jene aussprach. Warum? Tja, das war eine gute Frage. Allerdings zeigte er sich einer solchen gegenüber nicht verängstigt.

    „Ich habe vor, einigen Teilnehmern hier ihre Grenzen aufzuzeigen und ihnen beizubringen, dass man seine Gegner weise zu wählen hat. Wenn du dich dadurch angesprochen fühlst, dann ist das wohl eine Herausforderung, Ryan Carparso.“

    Womit auch die letzten Zweifel ausgeräumt wären. Aber der Trainer aus Johto würde sich davor nicht einschüchtern lassen. Selbst eine Waffe vor seiner Nase hatte das nicht. Da könnte sie hier es mit ihren bloßen Worten noch so verbissen und so oft versuchen. Keinesfalls machte er hier einen Rückzieher.

    „Tja. Leider haben meine Gegner mir nicht den Luxus einer Wahl gelassen“, entgegnete er schließlich mit einem kaum merklichen Achselzucken. Dies traf es ziemlich gut. Er hatte nichts von alldem gewollt. Er hatte den Kampf nicht begonnen, aber er kämpfte ihn und sein Blick machte deutlich, dass er es ohne Furcht und Zaudern tun würde. Hierauf drehte er nun endgültig ab und setzte seinen Weg fort. Die Fremde hatte aber noch etwas klarzustellen.

    „Die Wahl hast du getroffen.“

    Er stoppte und hasste sich dafür. In gewisser Weise behielt sie nämlich Recht. Ryan hatte durchaus eine Wahl getroffen. Die, den Drachensplitter zu behalten. Er deutete an, den Kopf nach ihr zu drehen, ließ es aber doch sein und verbot sich erst recht, noch etwas zu antworten. Es konnte nichts Gutes dabei herumkommen, wenn er diese Konversation ausdehnte. Ein bisschen fühlte es sich an, als habe er den Bogen bereits überspannt. Er sah endlich zu, dass er Mila erreichte, ehe die junge Frau ihm noch ein Messer in den Rücken stieß – oder noch schlimmer, weitersprach.


    Ein paar Meter weiter hatte Sandra die Unterhaltung weitestgehend Andrew und Audrey überlassen und sich nur sporadisch beteiligt. Mindestens mit einem Auge hatte sie immer über die Schulter geschaut und genau beobachtet, wenn auch nicht gehört, wie Ryan aufgehalten worden war. Sie hatte sich ihm in den Weg gestellt. Hatte dir Berührung und die Konfrontation eigens und bewusst gesucht. Wofür? Um ihn zu verunsichern? Wenn das geglückt war, so ließ er es sich nicht anmerken, wofür sie sehr dankbar war. Eventuell hatte sie auch gar kein konkretes Ziel verfolgt.

    Sandra wurde nicht paranoid. Noch immer, wie man festhalten musste, da es schon in den Wäldern mehrere Momente gegeben hatte, in denen sie Gefahr gelaufen war. Das galt ebenso für Ryan und Andrew. Und dennoch bohrte das ungute Gefühl in ihr, dass dieses Mädchen in Schwarz keine einfache Teilnehmerin war. Sie hatte etwas an sich. Nur konnte man es nicht so richtig benennen.

    Um nicht aufzufallen, wandte sich die Drachenmeisterin wieder zu den anderen und stieß ein neues Thema an, um sich zu beschäftigen und von sich selbst abzulenken.

    „Ryan hat vorhin eine Revanche erwähnt. Ich nehme an, ihr habt eine Vorgeschichte auf dem Kampffeld?“

    Sie lehnte sich nach vorne und stützte das Kinn auf einen Handrücken, zeigte sich cool wie schon die ganze Zeit, aber gleichzeitig auch sehr entschlossen, diese Rechnung zu begleichen. Obwohl sie offen gesagt einen Teil von sich nicht von einem Erfolg überzeugen konnte.

    „Ein paar mehr Geschichten sind es schon. Aber abseits vom Kämpfen habe ich genauso gerne mit ihm Zeit verbracht. Er hat... viele Qualitäten.“

    Sie schien von Ryan zu schwärmen. Aber nicht nur das. Ein bisschen auch für Ryan, wie es schien. Doch der kleine Hinweis, dass man nach dem Kämpfen nicht auseinander gegangen war, sowie die Art und Weise, wie Audrey erzählt hatte, stimmten Andrew erst recht neugierig. Er schob sich neben sie auf die Bank und wandte sich ihr ganz, geradezu aufdringlich zu, was sie jedoch keineswegs zu stören schien.

    „Inwiefern? Ich möchte Details.“

    Er lehnte sich ebenfalls nach vorne und ließ mit seiner ganzen Art keine Zweifel daran, was er genau zu erfahren wünschte.

    „Umfassende Details.“

    Normalerweise wäre er dieses Wagnis niemals bei einer fast Fremden Person eingegangen. Doch Audrey wirkte offen und redselig genug und zog tatsächlich mit einem Schmunzeln eine Braue hoch, als sei sie gar nicht mal abgeneigt.

    Sandra könnte Andrew dafür sofort eine verpassen, aber so lange er niemanden belästigte oder ausquetschte, sollte er nur machen. Umso einfacher war es für sie, rüber zu Ryan und Mila zu schielen. Die beiden unterhielten sich seit etwa einer Minute, als dem Jungen eine absurde Information mitgeteilt wurde. Anders konnte man sich seine Reaktion nicht erklären.


    Erst zuckten seine Augenbrauen hoch und sein Kopf nach hinten. Er schüttelte ihn kurz, als wolle er ein störendes Pfeifen, das ihm im Ohr lag, loswerden. Anschließend legte sich seine Stirn in diverse Falten und er stellte sicher, dass er sich nicht doch verhört hatte.

    „Du hast Sheila was befohlen?“

    Die Skepsis konnte Mila nachvollziehen, aber es sollte nicht allzu schwierig sein, ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen. Zunächst wiederholte sie sich jedoch bloß und sprach so beruhigend wie möglich. Er sollte seine Empörung zunächst überwinden. Erst dann würde er ihr wirklich zuhören.

    „Ich sagte, Sheila wird während des Turniers Eure Leibwache sein.“

    „Wozu brauche ich denn eine Leibwache?“

    Ryan war der Gedanke nicht nur suspekt, sondern überaus unangenehm. Allein schon, Sheila ständig auf den Dächern der Stadt über sich zu wissen und getarnte Agenten in jeder Menschenmasse zu vermuten, bescherte ihm bereits bei jedem Verlassen des Pokémoncenters Unbehagen. Musste sich das jetzt beim Summer Clash wirklich fortsetzen?

    Leider ja, wie Milas frustriertes Seufzen schon im Voraus verriet.

    „Wozu braucht man eine Leibwache? Um Euch vor Feinden zu schützen. In diesem Fall ist es eine der Teilnehmerinnen.“

    Ryan hatte sich noch während ihres Satzes eine Antwort zurechtgelegt, doch sowie sie ausgeredet und er selbst angesetzt hatte, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Läge seine jüngste Begegnung länger zurück, wäre er vielleicht gar nicht darauf gekommen. Aber es war ja gerade mal eine Minute her. Und wen sonst sollte die Priesterin meinen?

    „Die Schwarzhaarige von eben?“

    Dass sie ihnen bis hierhin so nahe kommen würde, hatte Mila weder erwartet, noch konnte es ihr recht sein. Sie war viel zu gefährlich. Und selbstsicher, wenn sie sich so unters öffentliche Auge wagte.

    „Ihr Name ist Bella.“

    Kapitel 41: Release the passion


    Der Weg vom Pokémoncenter zum Stadion war im Normalfall binnen von zwei Minuten bewältigt. Heute allerdings dauerte es ob des Trubels und der Menschenmassen erheblich länger. Dabei würde der wahre Sturm erst ab morgen losgehen.

    Der Eröffnungstag des Turniers, so hatten Ryan und Andrew sich vorab informiert, gestaltete sich aus der Eröffnungszeremonie und den Qualifikationen. Angeblich würde sich das Prime Stadium hierfür allerdings maximal bis zur Hälfte füllen, da von echter Spannung hier noch keine Rede sein konnte. Melody hatte bereits bei ihrer Ankunft in Graphitport, als sie noch blindlings auf der Suche nach Ryan gewesen war, von ein paar Teenies erfahren, wie das in etwa ablief. Jeder Trainer absolvierte exakt drei Kämpfe mit nur einem Pokémon. Hierbei kämpfte man aber nicht nur gegen den unmittelbaren Gegner, sondern auch gegen die Uhr. Primär wurde das Ranking natürlich nach Siegen, sekundär allerdings nach der gesammelten Kampfzeit erstellt, die es möglichst niedrig zu halten galt. Aus circa achtzig Teilnehmern würden morgen in den K.O. Runden nur die 16 mit dem besten Ergebnis antreten. Ihnen allen stand also ein beinhartes Auswahlverfahren bevor. Von der Anzahl war man hier beinahe in den Dimensionen der regionalen Hoenn Liga. Allerdings nicht vom Niveau. Schließlich brauchte man keine Orden, um am Summer Clash teilnehmen zu dürfen. Jeder konnte das – sofern man kein Anfänger mit gerade einmal zwei Pokémon im Gepäck war.

    Die Idee hinter diesem System war daher, dass mit dem Against the Clock-Modus die Spreu vom Weizen getrennt wurde. Unerfahrene Trainer machten mehr als die Hälfte des Teilnehmerfeldes aus und würden in der Quali vermutlich eine Zeit lang miteinander ringen müssen. Sollte einer jedoch auf einen erfahrenen Trainer treffen, konnte man von einer schnellen Nummer ausgehen. Das hatte auch den Vorteil, dass unter den Trainern nicht lange gepokert wurde und sich keiner anfangs unter Wert verkaufte, um ja nicht auf dem Radar der Konkurrenz zu landen. Jeder musste von Beginn an zeigen, auf welchem Niveau man sich bewegte, sonst riskierte man, das Achtelfinale zu verpassen. Theoretisch war es natürlich auch möglich, dass zwei starke Trainer schon in der Qualifikation aufeinandertrafen und sich ein längerer Kampf entwickeln konnte. Doch aus eben diesem Grund kämpfte man eben gleich drei Mal und die Chance, dass sich in mehreren dieser Duelle zwei hochrangige Trainer fanden, war doch verschwindend gering. Und das Zeit-Kriterium war nur bei einem Sieg wirksam, was bedeutete, dass man sich eine einzelne Niederlage – ungeachtet der Dauer – wahrscheinlich ohne Folgen erlauben könnte, wenn dafür zwei rasche Siege gelangen. Darauf setzen sollte man allerdings nicht, denn mit etwas Pech konnte man mit nur einer Niederlage auch rausfliegen, selbst wenn dadurch ein möglicher Hochkaräter vorzeitig ausschied. Aber dann war es halt so. Mann konnte den Veteranen auch nicht alles vor die Füße legen. So ein Turnier war kein Ponita Hof.

    „Ich bin nicht sicher, was ich von dem Auswahlverfahren halte, wenn ich ehrlich bin“, grübelte Andrew, während er die Fassade des Stadions aus der Ferne inspizierte. Von außen das es kaum wie eines aus. Eher wie eine riesige Mall, die durch Plakate, Schriftzüge und Fahnen am Eingang mit Wettbewerb anstatt mit Mode für sich warb. Es war viel Glas verwendet worden und was an Beton nicht verschönert oder verschleiert war, hatte man weitestgehend in dunklen Tönen von Rot und Gold gestrichen.

    „Wie würdest du´s denn machen?“, wollte Melody wissen. Sogar ihr war bewusst, dass man hier das gängige System der Meisterschaften nicht übernehmen konnte, da die Qualifikationen dort auf mehreren Kampfplätzen außerhalb des Stadions ausgetragen wurden. Und selbst dies dauerte den ganzen ersten Tag. Hier war diese Möglichkeit einfach nicht gegeben. Für die heutigen Kämpfe würde der Innenraum des Prime Stadiums abgesperrt und für gleich drei Trainerpaare zur selben Zeit herhalten müssen. Anders konnte man binnen eines halben Tages niemals so viele Trainer aussondieren.

    Andrew hatte allerdings keine Lust, jetzt nach einer besseren Alternative zu suchen. Das war nicht sein Job.

    „Ich werd für´s Kämpfen bezahlt. Nicht für´s Denken.“

    „Na da hast du ja Glück gehabt“, bemerkte Ryan und konnte sich sein Grinsen kaum verkneifen. Nicht, dass er es wirklich versucht hätte.

    Melody gluckste über die Spitze und selbst Andrew war sich nicht zu schade, selber darüber zu schmunzeln. Dennoch nahm er sich vor, ihm den Spruch zu vergelten.

    Sandra begleitete die Gruppe – logischerweise, da sie ja dasselbe Ziel hatte.

    „Ich find´s interessant. Ist mal was Anderes.“

    Ihr darauffolgender Seitenblick hatte durchaus vor, die beiden jungen Trainer anzustacheln.

    „Erzählt mir nicht, ihr hättet Angst, jetzt schon auszuscheiden?“

    Für ein paar Sekunden starrten sie beide ziemlich monoton in ihre scharfen Augen. Selbst zwischen all den Menschen kam es ihnen in dieser Zeitspanne irritierend still vor.

    „Dein Witz war besser“, befand Andrew in Richtung seines Kumpels, versuchte aber aus dem Augenwinkel die Reaktion der Arenaleiterin genau zu beobachten. Die ließ es ihrerseits mit einem Lachen gut sein. Auf gar keinen Fall würde die K.O. Runde ohne Ryan und Andrew starten. Andernfalls hätte sie die beiden in letzter Zeit nicht so häufig für ihr Können gelobt.


    Während sich die Gruppe mehr und mehr aus dem großen Menschenfluss löste, je näher sie ihrem Ziel kam – für die Teilnehmer gab es einen separaten Eingang – schielte Ryan immer mal wieder nach links, nach rechts, über die Schulter. Hin und wieder fing er einige Blicke auf. Andere Trainer, die über seine Anwesenheit und die von Andrew sicher nicht erfreut waren. Ein paar davon hatte er über die letzten zwei Wochen im Pokémoncenter schon ein paar Mal gesehen. Dass er und Andrew unliebe Konkurrenz für viele waren, war ein Umstand, an den sich beide längst gewöhnt hatten, aber dass sie so kumpelhaft neben Sandra hergingen, der natürlich auch nur die wenigstens gegenüberstehen wollten, schien ihnen zusätzlichen Unmut einzubrocken.

    Tatsächlich hielt Ryan aber nicht nach diesen Gestalten Ausschau, sondern nach solchen, die für gewöhnlich schwarze Kleidung und Baskenmützen trugen. Die sich nur zwecks Tarnung in Alltagsklamotten geschmissen hatten, um ihm unbemerkt nahe zu kommen. Es war erschreckend, aber gegenwärtig überaus sinnvoll, geradezu notwendig, immer ein Auge auf die Umgebung zu haben sodass es für ihn mittlerweile so selbstverständlich geworden war wie das Atmen. Das war es wohl, was man meinte, wenn man sich Augen am Hinterkopf wachsen lassen wollte.

    Besonders aufgefallen war Ryan jedoch nur eine Person. Von der konnte er komischerweise mit hoher Sicherheit ausschließen, dass sie zum Team Rocket gehörte. Komisch deshalb, weil er sich beim besten Willen nicht an ihren Namen erinnern konnte, obwohl er glaubte, sie zu kennen. Zur Hölle, er wusste nicht einmal mehr, wo er ihr Gesicht schon gesehen hatte. Er würde sie nicht als Mädchen bezeichnen, sondern eher als junge Frau. Zwei, drei Jahre war sie sicher älter als er und somit volljährig. Auf die Entfernung schätzt er sie nur ein paar Zentimeter kleiner als sich selbst. Schlanke Figur, ein karierter Rock in Schwarz und Knallrot, unter dem sich schwarze Netzstrümpfe an sehr sportliche Beine spannten und in Sneakers endeten. Ihre schwarze Lederjacke trug sie offen, wirkte damit nicht so rau und grob, wie die meisten, die so etwas anzogen. Irgendwie behielt sie eine gewisse Bodenständigkeit. Darunter ein zinngraues Hemd und eine lässig gebundene Krawatte, ähnlich wie der Rock gefärbt. Die Frisur hatte sie ihrem modischem Farbschema angepasst. Wildes, dunkles Haar mit Schulterlänge hatte sie an den Spitzen knallrot gefärbt. Und obwohl sie einer Sonnenbrille auf der Nase trug, ruhte eine weitere auf ihrem Schopf.

    Man sollte meinen, so eine Gestalt wiederzuerkennen. Doch es wollte bei Ryan nicht klingeln. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, so dachte er. Genau in diesem Moment schob sie ihre Brille ein Stück herunter, sodass sie gezielt seinen Blick suchen und ihm keck zuzwinkern konnte. Ohne eine Reaktion abzuwarten verhüllte sie ihre Augen wieder, behielt das feiste Grinsen bei, das sie schon die ganze Zeit trug und marschierte voraus, schnurstracks Richtung Teilnehmer-Eingang.

    Ryan blinzelte einige Male verblüfft. Für eine Sekunde hatte er doch eine Rocket Agentin hinter dieser Frau vermuten wollen, doch dieses Zwinkern war keinesfalls bedrohlicher oder feindseliger Natur gewesen. Hatte eher wie eine verspielte Herausforderung anstatt einer Drohung gewirkt, ohne Argwohn. Waren sie sich also doch schon einmal begegnet? Aber wo? Wann? Und wieso kam Ryan dann nicht auf ihren Namen?

    Es war Melody, die schließlich seine Gedankenströme unterbrach.

    „Ich bin dann mal weg. Nachher wieder genau hier?“, meinte sie und drückte sich nochmals fest an Ryans Arm. Der blinzelte etwas verwirrt, was sie glücklicherweise nicht zu bemerken schien.

    „Klar. Bis später“, schaffte er weitestgehend ohne Gestotter zu antworten, womit sie auch schon aus seiner Weltsicht verschwand und sich in die Menschenschlage drängte. Richtig. Melody musste durch den Haupteingang, wie alle anderen Besucher und Fans. Heute würde die schiere Anzahl an Trainern die Gänge und Katakomben restlos überfüllen, weshalb deren Freunde und Bekannte nur Zutritt zu den Tribünen erhielten. Ab morgen würde ihnen das Betreten der Aufenthaltsräume der Achtelfinalisten gestattet. Hierfür mussten sie lediglich in Begleitung des entsprechenden Trainers an einen Ticketschalter, um sich einen Pass für diesen Bereich zu sichern. Ryan nahm sich noch vor, dies heute Abend, wenn die besten 16 Trainer ermittelt waren, auf keinen Fall zu vergessen.

    Weiterhin nahm er sich vor, alles und jeden, aber vor allem die junge Frau von gerade im Auge zu behalten. Hoffentlich steigerte er sich hier bloß in eine harmlose Bekanntschaft von früher hinein, der er sich einfach nicht mehr konkret entsinnen konnte. In diesem Fall würde ein Gespräch mit ihr schlimmstenfalls etwas peinlich werden. Was nicht ansatzweise so verheerend wie die andere Möglichkeit wäre.


    Ryan schätzte das Fassungsvermögen des Prime Stadiums auf 15.000 bis 20.000 Plätze, aufgeteilt auf zwei Ränge, die auf einer Längsseite noch von einer VIP Loge unterbrochen wurde. Man saß selbst in der ersten Reihe noch einige Meter vom Geschehen entfernt, doch das war hinsichtlich der Platzaufteilung in den bald beginnenden Qualifikationsrunden nur von Vorteil.

    Er und Andrew standen nebst 76 weiteren Pokémontrainern aufgereiht wie die Rekruten am Rande des Kampffeldes, auf dem bereits sporadische Markierungen gezogen, sowie dicke Trennwände hochgezogen worden waren, damit nicht versehentlich ein Querschläger die kämpfenden Nachbarn traf. Zwar behinderte diese Absperrung die Sicht von einigen Rängen aus enorm, aber für den heutigen Tag war die Zuschauerzahl noch sehr überschaubar – sprich, alle konnten problemlos auf den Längsseiten Platz finden, von wo aus man uneingeschränkte Sicht auf alle Matches hatte. Melody ausfindig zu machen wäre trotz allem vermutlich ein nahezu unmögliches Unterfangen.

    Obwohl nicht einmal die Hälfte aller Sitzplätze belegt war, schien der Stadionsprecher – der Stimme nach zu urteilen ein energiegeladener, junger Mann, der sich halbwegs erfolgreich an einem jugendlichen Jargon versuchte und sich mit dem Spitznamen „Cay“ vorgestellt hatte – bereits jetzt jeden einzelnen Fan anheizen und elektrisieren zu wollen, als ginge es bereits um das Finale. Das meiste davon blendeten Ryan und Andrew aus. Wenn der Typ so eine aufgebauschte Ansprache vom Zaun brach, wäre es doch besser gewesen, die Teilnehmer an dessen Ende einlaufen zu lassen, oder? Letzterer unter den beiden überbrückte die Zeit, indem er sich ein wenig umsah, sich emotional mit dem Stadion etwas vertraut machte. Sie standen hier vor der Haupttribüne mit dem VIP Bereich. Dementsprechend waren hier die meisten Kameras aufgebaut, aber noch konnte man sie an den Händen abzählen. Ab morgen gab es wahrscheinlich mehr davon als Teilnehmer – zum jetzigen Zeitpunkt! Das Bauwerk als Ganzes gefiel ihm von außen wie von innen recht gut, obwohl von der Kapazität noch Luft nach oben war. Bei der Johto Liga zum Beispiel kämpfte man vor einer doppelt so großen Kulisse. Da das hier aber keine nationale Meisterschaft war, durfte man solche Dimensionen nicht erwarten. Ryan war in ganz anderen Gedanken, schüttelte nebenbei seine Glieder ein bisschen, als stünde sein morgendliches Sportprogramm an. Anspannung oder Nervosität verspürte er ebenso wenig wie Andrew. Obwohl sie nicht einmal volljährig waren und damit wahrscheinlich jünger als mindestens ein Drittel ihrer potenziellen Gegner, konnte man sie in diesem Kreis als Routiniers bezeichnen.

    Als die Rede des Stadionsprechers ihrem Höhepunkt entgegensah, erschallte Applaus und Jubel von den Tribünen in Richtung der Trainer. Die meisten winkten entweder verhalten oder verlegen. Ein paar wenige schienen es aber gar auszublenden. Ryan war einer von ihnen. Und zu einem anderen sah er gerade rüber. Vielleicht acht Plätze zu seiner Rechten fuhr sich gerade ein Junge mit seiner Hand durchs blassrote Haar. Drei metallene Ringe an dessen Gelenk schellten und klapperten geradezu verräterisch. Es hatte Gerüchte gegeben, dass Terry Fuller sich ebenfalls für den Summer Clash hatte registrieren lassen. Da er aber quasi nie im Pokémoncenter zu sehen gewesen war, hatte keiner so richtig dran geglaubt. Doch hier stand er. Lässig und unberührt von der Situation, der Kulisse und der Konkurrenz. Es war nicht so, dass er Ryan noch nicht gesehen hatte. Bereits während des Aufmarsches auf das Feld hatten sie Blicke ausgetauscht. Schwer zu sagen, wie Terry seinen Erzrivalen für dieses Turnier einstufte. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er geringschätziger denn je von ihm gesprochen, doch glaubte er kaum, dass der keine Bedrohung in ihm sah. So eine Naivität traute der Blonde ihm nicht zu. Und wenn, dann wäre es nur von Vorteil für ihn.

    Ryans Blick verschärfte sich und seine Lippen formten sich zu einem wahnsinnig schwachen Schmunzeln. Als wollte er am liebsten sofort zu ihm rüber gehen und ihre Rivalität in die nächste Runde schicken. Sandra stand wiederum nur drei Plätze weiter rechts von Terry aus und schielte zu Ryan hinüber. Sie merkte durchaus, dass sein Blick nicht ihr galt, konnte aber auch nicht mit Sicherheit sagen, an wen er sich denn richtete. Letztlich war es auch egal, denn der Gegner spielte keine Rolle. Sie würde sich ihm sogar selbst entgegenstellen, um Ryan – genau diesen Ryan, mit all seinem Spirit, seiner Raffinesse und seinem Ehrgeiz – noch einmal kämpfen zu sehen. Wobei sie bei seinem Blick durchaus ein klein bisschen schauderte. Nicht einmal damals in ihrer eigenen Arena hatte sie einen solch intensiven bei ihm gesehen. Was ihn wohl ausgerechnet jetzt so sehr anspornte?


    „Du bist schon in der zweiten Runde dran, huh?“

    Fast klang Andrew ein bisschen mitleidig. Ryan empfand es allerdings keineswegs als Nachteil. Das ersparte ihm sogar lästige Warterei vor seinem Debut vor der Kulisse Hoenns. Er war nicht eingebildet. Es entsprach einfach der Tatsache, dass ein Großteil des Kontinents ihn und Andrew beobachteten. Gleiches galt natürlich auch für Sandra und Terry.

    „Find ich gut“, kommentierte er diesen Umstand bloß. Wie alle anderen befanden sie sich gerade in einem der Aufenthaltsräume, von denen aus man in den Tunnel und schließlich in den Innenraum des Stadions gelangte. Ein paar Fernsehbildschirme waren in hoher Position an den Wänden montiert und zeigten den Wartenden, was gerade auf dem Kampffeld passierte. Ryan hatte sich auf einer Bank niedergelassen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und hatte die behandschuhten Hände ineinander gefaltet. Gleichzeitig schien es ihm aber Mühe zu bereiten, still sitzen zu bleiben. Er wippte hektisch mit einem Fuß und die Hände wirkten auch eher angespannt. Fast konnte man vermuten, Ryan war nervös, aber ein kurzer Blick in seine marineblauen Augen verriet selbst einem Fremden, dass er einfach bloß heiß drauf war, loszulegen.

    „Hast du zu viel Kaffee getrunken?“, erkundigte sich Andrew, als er dies registrierte und meinte es nur zum Teil als Scherz. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er glatt darauf gewettet.

    „Besser.“

    Er dachte ja gar nicht daran, den Grund zu nennen. Es würde viel amüsanter sein, wenn Andrew es selbst herausfand. Sandra schürzte die Lippen, aber dahinter war ebenfalls ein leichtes Schmunzeln zu erkennen. Die beiden Jungen gönnten sich untereinander also auch diese Art von Spielchen. Sie würde aber nicht weiter bohren und versuchte lieber, das Thema zu wechseln, bevor Andrew damit anfangen konnte.

    „Kennst du jemanden unter den Teilnehmern?“

    Die Arenaleiterin sah sich selbst sporadisch um. Viele Blicke ruhten auf ihr und selbstverständlich auch auf den beiden Trainern, mit denen sie offensichtlich per du war.

    Ryan könnte diese Frage rein theoretisch sehr simpel beantworten. Wäre da nicht die ominöse Braut in Schwarz und Rot beim Einlass gewesen. Was die anging, war er sich selbst nicht sicher, wie er das beantworten sollte. Abgesehen von ihr und der Tatsache, dass er längst nicht alle der Trainer hatte in Augenschein nehmen können, gab es nur einen, den Ryan mit Sicherheit nennen konnte.

    „Der Rotschopf, der ein Stück links von dir stand.“

    Es brauchte keine genaue Beschreibung. Sie wusste, wen er meinte.

    „Dachte ich mir schon. Ich war mir fast sicher, dass er in meiner Arena war.“

    „Das ist Terry Fuller. Kann nicht behaupten, mich drüber zu freuen, ihn zu kennen“, ergänzte Andrew. Ryans Ausführung wäre wohl um einiges länger und missmutiger gewesen.

    An seinem Namen wäre Sandra jetzt offen gesagt gescheitert. Sie hatte behauptet, dass sie nie einen formidablen Herausforderer vergaß, aber das stimmte nur zum Großteil. Tatsache war, dass dieser Typ sie damals, als er um ihren Drachen Orden kämpfte, verdammt kalt erwischt hatte. Sie war es, wie auch die meisten anderen Arenaleiter, in der Regel gewohnt, den Kampf weitestgehend selbst zu diktieren. Zumindest den Beginn. Der Löwenanteil von Pokémontrainern war in den ersten Minuten gerne mal überfordert mit der Erfahrung und dem Niveau der Leiter sowie deren Pokémon. Nur wer es während des Kampfes schaffte, sich diesem Niveau anzupassen und über sich hinauswuchs, hatte eine Chance, am Ende siegreich zu sein. Aber dieser Terry war mit einem ungeheuren Selbstbewusstsein bei ihr aufgeschlagen und hatte ihr Garados regelrecht überrollt. Sie hatte sich gefühlt, wie eine blutige Anfängerin, die sich für viel stärker hielt, als sie tatsächlich war. Es war eine sehr ungewohnte Situation für sie gewesen. Viele Trainer, die nach ihrem Orden gierten, hatten es mit Mühe und Not gerade mal geschafft ihr erstes Pokémon, eben Garados, zu schlagen. Und plötzlich waren die Rollen umgekehrt gewesen. Letztendlich war es doch eine enge Kiste geworden, aber Sandra hatte das Runder nicht mehr gänzlich herumreißen können und somit den Orden abtreten müssen.

    Nun, da sie wieder wusste, wie der Kerl von damals hieß, erinnerte sich Sandra auch an das zweite Mal, als sie sein Gesicht gesehen hatte. Wenn auch nur im Fernsehen. Und zwar bei der Silberkonferenz.

    Ryan und Andrew merkten es nicht, wie sie rasch Luft einsog und die Brauen hochzuckten. Der Champ der Johto-Liga war also anwesend. Der, an dem Ryan gescheitert war…

    Aus den viel zu leise eingestellten Lautsprechern der Fernsehgeräte drang die euphorische Stimme des Stadionsprechers Cay noch immer an so ziemlich jedermanns Ohr und unterbrach somit die Unterhaltung, sowie die Gedankengänge Sandras.

    „Für den Anfang nicht schlecht, oder was meint ihr? Aber wartet ab, Leute. Die großen Kaliber werden erst noch aufgefahren. Das Feld wird schnell geräumt und dann sind auch schon die nächsten drei Paare dran. Und so viel versprech ich euch – hier erwartet euch schon der erste große Name.“

    Der Kerl wirkte deutlich unseriöser als seine Berufskollegen in den hohen Ligen. Machte ihn aber auf eine abstrakte Weise etwas sympathisch. Zumindest, wenn man nicht so verbohrt war.

    „Was meinst du Ryan, von wem redet der wohl?“, feixste Andrew mit einem schelmischen Seitenblick. Ryan knuffte ihm beim Aufstehen dafür lediglich in die Seite und verabschiedete sich mit einem raschen „wir sehen uns“. Die beiden blickten ihm nach, bis er um die Ecke gebogen war, ehe Sandra aussprach, was ihr seit einigen Minuten auf der Zunge brannte.

    „Was denkst du, hat er vor?“

    Selbstverständlich hatte Andrew als sein engster und ältester Freund es ebenfalls längst bemerkt, dass Ryan darauf wartete, etwas vorzuführen oder vorzuzeigen. Er hatte keine verbalen Andeutungen gemacht, aber es war ihm irgendwie anzusehen.

    „Da würde mir einiges einfallen.“

    Weil es sich dabei jedoch ausnahmslos um Vermutungen handelte, behielt er seine Ideen für sich.

    „Schätze, wir warten. Gleich sind wir schlauer.“


    „Schon geht die wilde Fahrt weiter. Und meine Freunde ich hab euch nicht zu viel versprochen, denn hier ist einer der Großen am Start. Auf Feld Nummer drei seht ihr Ryan Carparso. Oh Mann, ist das geil, ihn hier beim Summer Clash zu sehen. Das wird der Hammer, das sag ich euch.“

    Der Stadionsprecher machte zwischen seinen Sätzen kaum Pausen, sodass das Zuhören über lange Zeit vermutlich anstrengen würde. Nur gut, dass er vom Kampffeld aus leichter auszublenden war.

    „Er tritt gegen Justin Parker an, der hier sein erstes großes Turnier bestreitet. In der Szene gilt er als einer der vielversprechendsten Rookies der Region, also zeig mal, was du drauf hast, JP.“

    Fühlte sich schon etwas merkwürdig an, auf einem kleineren, abgegrenzten Kampffeld zu stehen und obendrein nur teilweise besetzte Tribünen um sich zu haben. Als wäre das ein Trainingskampf. Ryan warnte sich aber davor, diesen hier als solchen zu behandeln. Wenn er Pech hatte – und das schien ihn seit seiner Ankunft und Hoenn auf verschiedenen Ebenen wahrlich zu verfolgen – war der hochgewachsene Lulatsch vor ihm kein Fallobst, sondern ein talentierter Trainer, der durchaus wusste, was er tat. Er war schick gekleidet, weißes Hemd, schwarze Hose, glänzend polierte Schuhe. Arbeitete der vielleicht bei Pete in der Bar?

    „Du bist in Johto ne große Nummer, was?“

    Er klang nicht missmutig oder geringschätzig. Eher als freue er sich auf einen würdigen Gegner. Mal sehen, ob er seinerseits einer für Ryan war. Der zuckte lediglich mit den Armen als wüsste er es selbst nicht. Noch, was er darauf sagen sollte. In Wahrheit wollte er gern hinzufügen, dass er in Kanto wohl genauso bekannt war, wie in seiner Heimat, aber er sparte sich arroganten Details.

    Justin strich sich mit dem Daumen eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war extra mit Gel nach vorne gestylt, während er die Seiten kurz rasiert hatte.

    „Ich will hier in Hoenn eine werden. Du eignest dich gut als Sprungbrett.“

    Das, so sollte man meinen, klang nun seinerseits arrogant, aber irgendwie fasste Ryan es nicht so auf. Er klang einfach nicht eingebildet oder herablassend. Hatte er einfach Freude daran, hier zu sein? Vielleicht sogar speziell daran, dass er gegen einen der besten Trainer Johtos kämpfte?

    „Jetzt bin ich gespannt. Wehe das war nur heiße Luft.“

    Ryan mochte den Typen irgendwie. Das steigerte seine ohnehin schon gute Laune. Ungern hätte er diese Premiere gegen ein hohles Großmaul abgehalten.

    Der Schiedsrichter am Rande des Feldes hob seine beiden Flaggen und rief zum Befreien der Pokémon auf. Diese mussten gleichzeitig gewählt werden, damit niemand mit einem Typenvorteil auf den Kämpfer des Gegners reagieren konnte. Man wählte also blind, ohne zu wissen, welche Gattung einem gegenüberstehen würde.

    Ryan hatte damit wahrscheinlich am allerwenigsten ein Problem. Er hatte sich bereits gestern nach seinem Abschlusstraining entschieden, mit wem er den Summer Clash eröffnen würde. Dann flogen schließlich zwei Pokébälle in die Luft.

    Melody stellte mit einem sporadischen Rundblick fest, dass sie beileibe nicht die Einzige war, die den Großteil ihrer Aufmerksamkeit zu ihrer Linken steuerte. Natürlich hatte der Name Carparso viele Leute hellhörig gemacht und zumindest ihr waren die übrigen Trainer dort unten völlig unbekannt. Das musste aber natürlich nicht für alle Zuschauer gelten. Tat es sicher auch nicht. Der aufgedrehte Cay am Mikrofon schien ebenfalls ein Auge immer auf Feld 3 zu haben.

    „Woohhoo, da ist ganz schön viel Muskelkraft am Start. Ich sehe da ein Rizeros und ein Letarking im Duell. Da kann man für Marcus Gill nur hoffen, dass sein Gegner noch nicht ganz wach ist. Nebenan ist sogar ein Meistagrif, ein ganz seltener Gast in Hoenn. Und auf der Drei kämpft Carparso mit einem Sumpex gegen ein Pandagro!“

    In den Aufenthaltsräumen des Prime Stadiums war es deutlich stiller geworden. Mehr als die Hälfte der Trainer hatte die Konversation eingestellt und beobachteten, was die Konkurrenz – in diesem Fall primär die aus Johto angereiste – trieb. Sandra hatte dem Bildschirm bislang nur einen Seitenblick gewidmet, doch als sich das ozeanblaue Amphibium vor Ryan aufbaute, drehte sie sich dann doch ganz um. Moorabbel hatte sich weiterentwickelt?

    „Dieser Sack“, ertönte es neben ihr von Andrew, der mittlerweile auf einer der Bänke saß. Aber er kommentierte das Erscheinen des Pokémons mit einem Lachen. Hätte er mal doch seinen Tipp zu Ryans kleinem Geheimnis angegeben. Eine Weiterentwicklung hätte nämlich auf seiner Liste ganz oben gestanden.

    Als Sumpex war das Wasserpokémon nun fast so groß wie sein Trainer und deutlich dunkler gefärbt, als zuvor. Aus dem Schädel ragten nun zwei Flossen hervor, ähnlich wie bei dem Doppelschweif, der in Relation zum Körper ebenfalls gewachsen war. Die gesamte Haltung war nun gekrümmter, da dieses Wesen zwar problemlos auf den Hinterläufen die Balance halten konnte, jedoch meist auf allen Vieren stand. Die langen Arme strotzen vor ungeheurer Kraft und endeten in schaufelartigen Händen, die ideal zum Paddeln geeignet waren. Oder zum Zuschlagen.

    Einige Meter höher schmunzelte Melody. Sie allein war bei Ryans gestrigem Abschlusstraining dabei gewesen und hatte Moorabbels Wandlung hautnah beobachtet. Es war tatsächlich das erste Mal gewesen, dass sie diesen Evolutionsvorgang mit eigenen Augen hatte beobachten können. Noch jetzt hatte sie beim Gedanken daran Gänsehaut. Ryan hatte kurzerhand die Trainingszeit etwas ausgedehnt und Sumpex seine neuen Kräfte austesten lassen. Es war definitiv eine Umstellung – in erster Linie für das Wasserpokémon. Der eigene Körper war plötzlich über eine Tonne schwer, aber dafür um ein Vielfaches kräftiger und robuster. Außerdem hatte Melody gleich miterfahren, dass Sumpex obendrein über ein aufgestocktes Arsenal an Attacken verfügte.

    Auf der anderen Seite stand ihm ein zwei Meter großer Pandabär gegenüber, der jedoch das Kuscheltier-Klischee seiner Vorentwicklung abgelegt hatte und äußerst grimmig und geradezu gewaltbereit auf seinen Gegner stierte. Der Kontrast von Pam-Pam zu diesem Ungetüm erinnerte Ryan unweigerlich an Teddiursa und Ursaring.

    „Alle bereit? Dann lasst die Show beginnen!“, frönte der Stadionsprecher, woraufhin alle drei Schiedsrichter das Signal zum Start gaben. Entgegen zu den ersten drei Matches brandete diesmal gar echter Jubel auf.


    „Pandagro, Patronenhieb, mach Tempo!“

    Das war für einen eröffnenden Zug kein übler Gedanke. Ryan gestand selbst ein, dass er bei dieser Begegnung nicht mit solch einem raschen ersten Manöver gerechnet hatte. Er wusste zwar nur das Nötigste über Pandagro, aber Schnelligkeit gehörte nicht zu seinen Stärken. Eigentlich.

    Der übergroße Bär katapultierte sich doch tatsächlich mit nur einem Satz nach vorn und begann eine wütende Salve aus Schlägen mit eisenharten Fäusten. Sumpex würde das nicht auskontern können und war gezwungen, den Angriff über sich ergehen zu lassen, schützte lediglich mit den Unterarmen seinen Kopf.

    So wie Justin seinen Gegner in der Defensive sah, holte er zu einem deutlich herberen Schlag aus.

    „Jetzt Hammerarm!“

    Pandagro faltete die Klauen über dem Kopf zusammen und ließ sie mit einem energischen Gebrüll auf Sumpex nieder gehen.

    „Konter mit deinem eignen Hammerarm!“, wies Ryan daraufhin an. Durch die Entwicklung würde er Ausweichtaktiken weitestgehend in den Wind schießen können, aber Sumpex war allemal taff genug, um den Angriffen solcher Bestien Stand zu halten. Und zurückzuschlagen! Das Amphibium drosch die niedergehenden Fäuste beiseite wie ein Boxer einen zu leichten Sandsack. Hier offenbarte sich ein Fehler des schwarz-weißen Kolosses. Er hatte all seine Energie in diese Attacke gelegt, jedoch ohne sich vorher wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

    „Ein Angriff braucht einen festen Stand“, hörte Ryan in seinem Kopf die Worte Sheilas. Dass ihm eine ihrer Lektionen mal in einem Pokémonkampf helfen würde… verrückt.

    „Eishieb in die offene Seite!“

    Durch den Verlust seiner Balance war Pandagros rechte Flanke völlig ungeschützt. Sumpex fixierte diesen Zielpunkt mit verengten Augen und sammelte seine Kraft in einer geballten Faust, die plötzlich eisige Kälte ausstrahlte. Der kräftige Körper des Bären krümmte sich gar unter dem gewaltigen Schlag, als sei ein Zug in seine Seite gefahren. Eiskristalle verklumpten Teile seines Fells und brannten durch die enorme Kälte auf der Haut sowie noch tief darunter. Eine sehr widerliche Art von Schmerz.

    Justin wusste aber scheinbar genau, was sein Kämpfer einstecken konnte. Das hier war nicht genug, um ihn zu stürzen.

    „Knirscher! Verbeiß dich in Sumpex´ Arm!“

    Ein energisches Funkeln blitzte in den Augen des Pandas auf und wurde begleitet von einem wütenden Grollen. Er ging nicht zu Boden. Ein Fuß stampfte auf und hielt den wuchtigen Körper aufrecht, sodass seine Kiefer nach dem Unterarm des Lehmhüpfers schnappten, noch ehe der sich aus der Gefahrenzone entfernen konnte. Die spitzen Zähne durchdrangen die Haut, aber mehr auch nicht. An den angespannten Muskelsträngen unter der ledrigen Oberfläche würden sich die allermeisten Spezies die Beißer ruinieren. Die von Pandagro waren obendrein viel zu kurz und würden ihn nicht weiter verletzen können. Dabei war Justins Ansatz an sich kein übler gewesen. Sumpex´ Arme waren seine körperlichen Primärwaffen. Von ihnen ging der Großteil seiner Muskelkraft aus. Es empfahl sich durchaus, sie zu attackieren und zu immobilisieren. Doch man müsste es schon anders machen. Pandagro besaß nämlich nur ein Maul. Sumpex dagegen zwei Fäuste.

    „Hammerarm!“, wies Ryan diesmal deutlich lauter an, da er nun die Lücke sah, die den Kampf früh entscheiden könnte. Das Wasserpokémon schlug seinem Gegner direkt auf die Wange. Ein Knacken ging durch den gesamten Schädel, das von unnatürlichen Bewegungen des sich schlagartig öffnenden Kieferknochens zeugte. Pandagro ließ von seinem Gegner ab und geriet ins Taumeln. Schon wieder besaß er nur mangelhafte Standfestigkeit, wobei es diesmal ganz einfach außerhalb des Machbaren lag, anstelle von Überheblichkeit. Der Moment für die Trumpfkarte war gekommen.

    „Jetzt Aquahaubitze!“

    Von seiner tiefen Ausgangsposition nach dem Schlag gegen den Kopf des schwarz- weißen Bären aus ging Sumpex in einer Drehung über und gewann einen Schritt Sicherheitsabstand, ehe er alle Viere stramm auf dem Boden stemmte. In seinem Maul sammelte sich Wasser, das zu einer rasch wachsenden Kugel geformt wurde und bald auszubrechen drohte. Justin wollte noch reagieren, wollte einen verzweifelten Versuch unternehmen, den Angriff zu stoppen, aber noch bevor er etwas ausprobieren konnte, war das Wassergeschoss unterwegs. Es war wie eine nasse Kanonenkugel. Um Sumpex´ Hände und Füße wurde Staub aufgeschlagen, verriet in etwa den Stoß, der beim Abfeuern durch den ganzen Körper ging. Die tatsächliche Kraft der Aquahaubitze war dann deutlich von Pandagro abzusehen. Der wankende Panda wurde in einer geraden Linie zurückgeschleudert, als habe ihn ein festes anstelle eines flüssigen Geschosses erfasst und kam erst zum Stillstand, als er in die Barrikade am Rande des Feldes kollidierte. Die Wasserkugel detonierte erst hier in Gänze. Hätten Zuschauer hier gesessen, wären die ersten Reihen nun klatschnass. Pandagro war es ebenfalls, um nicht zu sagen völlig durchnässt und außerdem bewusstlos. Dieser Stoß, der durch seinen Rumpf gegangen war, hatte die Organe malträtiert und der Schmerz ihn in die Ohnmacht geschickt.

    „Pandagro ist kampfunfähig. Ryan Carparso gewinnt das Match!“, erklang es von dem jungen Mann in der Sportuniform, der eine Fahne in Ryans und Sumpex´ Richtung schwenkte. Hierauf drang als nächstes die begeisterte Stimme Cays über die Stadionlautsprecher an sein Ohr.

    „Wow, die erste Nummer ist schon durch! Sumpex hat Pandagro eiskalt ausgeknockt. Es ist völlig fertig, Leute!“

    Mit Sicherheit hatte der Typ am Mikro schon während des Kampfes seine Begeisterung für alle laufenden Duelle bekundet, doch glücklicherweise nahm Ryan das währenddessen gar nicht mehr wahr. Viel weiter ging er aber noch nicht darauf ein, da die beiden anderen Kämpfe noch liefen und daher seine Aufmerksamkeit beanspruchten. Von den Tribünen allerdings brandete erster, wenn auch für den Moment noch etwas verhaltener Jubel auf. Aber zumindest für ein paar Sekunden schien Ryan weitestgehend ungeteilte Aufmerksamkeit zu besitzen.

    Er machte keine Freudensprünge. Nicht einmal ein triumphierendes Ballen und Hochrecken der Faust konnte man beobachten. Stattdessen applaudierte er seinerseits – und zwar Sumpex, während er an seine Seite trat.

    „Starker Kampf, Kumpel. Gut gemacht.“

    Das Amphibium hatte seine Kampfposition noch gar nicht verlassen. So richtig konnte er es noch nicht fassen, wie schnell alles gegangen war. Dabei hatte er sich kaum von der Stelle bewegt. Aber schließlich hatte Ryan ihm nach seiner Entwicklung am Vorabend auch genau das eingetrichtert. Er war nun ein absolutes Schwergewicht. Dazu fähig, solch halbherzige Angriffsversuche einfach wegzustecken und beinhart zurückzuschlagen, sobald der Gegner zu ungestüm wurde. Sein Trainer hatte ihn einst als Festung prophezeit, was nun eingetreten war. Er hatte sich genau an seine Anweisung gehalten. Und er war in kürzester Zeit siegreich. Der Beifall der Menschen. Das Lob Ryans. Es war kaum zu beschreiben, wie gut sich das anfühlte. Nicht mehr in einem Hinterhof den Veteranen nacheifern, sondern auf offenem Feld, Auge in Auge mit dem Kontrahenten stehen. Er hatte endlich allen zeigen können, was in ihm steckte. Ach was, hatte damit gerade erst angefangen. Er konnte noch mehr. Wollte es! Wollte weiter gehen.

    Justins anfängliche Energie war natürlich weitestgehend abgekühlt und an seiner Körpersprache las Ryan, dass er seinen Übermut einsah. Niedergeschlagenheit fand er jedoch keine. Er verfrachtete das geschlagene Pandagro in seinen Pokéball, entschuldigte sich sogar kurz und sehr leise für seine Blauäugigkeit. Mit etwas mehr Respekt für den Gegner und vor allem Vorsicht wäre er gut beraten gewesen. Carparso war eine gestandene Größe in der Szene, mit der er noch nicht mithalten konnte.

    Justin näherte sich den beiden Siegern, die ihn mit recht nüchterner Körpersprache erwarteten. Fragten sich vielleicht, wie der Kerl nun reagieren und ihnen gegenübertreten würde.

    Er sollte sich als echter Sportsmann und ehrenhafter Verlierer herausstellen.

    „Chapeau ihr beide. Ihr habt uns echt den Arsch aufgerissen“, gestand er, klatschte schon auf den letzten Metern ebenfalls kurz in die Hände. Für ihn war dies vermutlich gar ein deutlich größerer, da lehrreicher Moment, als für Ryan. Er war noch ein Neuling, wenn auch kein Jungspund oder Amateur. Und einem solchen war die Erfahrung, gegen einen der besten gekämpft zu haben, viel wert. Auch, wenn der Kräfteunterschied so deutlich ausgefallen war.

    Ryan bedankte sich noch höflich und wünschte ihm alles Gute für das weitere Turnier. Ein knapper Shanke Hand mit Justin und dem Schiedsrichter und dann wandten er und Sumpex sich zum Gehen. In diesem Moment erklangen noch einmal Applaus und einige begeisterte Pfiffe von den Zuschauern, was den Blonden doch noch dazu veranlasste, sich kurz umzudrehen und sich mit einem lässigen Winken für den Beifall zu bedanken. Seinem Pokémon Partner neben ihm schien dieser Umstand, dass ihm zugejubelt wurde, allerdings noch immer etwas zu überfordern.

    „Die meinen dich“, stellte er mit einem zusprechenden Lächeln klar. Es war herrlich, Sumpex so zu sehen. Wie er es aufsog. Wie es ihn begeisterte, dass er andere hatte begeistern können. Und dass er mehr davon wollte. Das hier war erst der Anfang.

    „Zeig dich erkenntlich.“

    Als kleines Moorabbel hätte er jetzt ungläubig und verunsichert zu Ryan rauf geblickt, hätte gezweifelt und gezögert. Aber er war nicht mehr klein und schwach. Er war kein Niemand und das würden all diese Leute da oben und noch viele mehr bald wissen.

    Sumpex riss die Arme hoch und stapfte einmal entschlossen auf den Boden, posierte für die Menge und grölte auf, als solle man ihm direkt den nächsten Gegner schicken.

    Ryan hatte noch einige Bedenken bezüglich dieses Matches gehabt. Direkt nach der Entwicklung einen ersten offiziellen Kampf zu bestreiten war durchaus riskant. Viele Spezies hatten anfänglich Probleme mit ihrem neuen Körper und seiner hatte doch enorme Veränderungen durchgemacht, was Kraft und Gewicht auf der einen sowie Schnelligkeit und Wendigkeit auf der anderen Seite anging. Aber es hatte sich ausgezahlt. Auch mental. Denn neben der hervorragenden Grundeinstellung, der Lernbereitschaft und dem Ehrgeiz war nun noch etwas anderes in Sumpex entfacht. Er war hungrig.

    Kapitel 40: Familie


    Rückblickend war die Zeit auf einmal so schnell vergangen. Seit knapp drei Wochen waren Ryan und Andrew nun schon in Graphitport und die ersten Tage hatten sich lang, träge angefühlt. Sie hatten so viel Zeit gehabt, ganz egal, wie viel davon in ihr Training investiert worden war. Wie sich die Dinge doch geändert hatten. Die zweite Woche hatte sich wie einige wenige Atemzüge angefühlt. Und das, obwohl Schlaf absolute Mangelware gewesen war. Nicht nur für Ryan – aber doch besonders ihn.

    Es fühlte sich fast wie ein Scherz an, dass der Summer Clash übermorgen beginnen würde. Dass sie nach wie vor daran teilzunehmen planten, gar wie ein noch größerer. Aber was konnten sie jetzt schon großartig tun? Ruby hatte einem Waffenstillstand mit Hoffnung auf ein engeres Bündnis zugestimmt und entgegen des ursprünglichen Plans waren Latios und Latias nun aufgetaucht. Somit war die Hoffnung, jemanden aus Team Rockets höheren Riegen auszufragen und den Schwarzen Lotus aufzuspühren, ohne sie zu gefährden, erstmal dahin. Noch so einen Angriff wie in der Nacht, in der Sheila angeschossen worden war, würden sie ganz sicher nicht wagen. Es musste eine neue Strategie her, um Informationen über den Strippenzieher zu erlangen. Pete hatte Mila darum gebeten, ein paar Tage lang ruhig zu bleiben, damit er mit einigen Kontaktmännern sprechen konnte. Unter Umständen würden sie ihm nützliches Wissen verkaufen können, auch wenn sich sein Optimismus in Grenzen hielt. Daher würde Mila in der Zwischenzeit an einem neuen Plan arbeiten, oder zumindest überlegen, wo sie denn mit einem anfangen sollte. Sandra hatte der Drachenpriesterin noch unter vier Augen eröffnet, dass Team Rocket eventuell während des Turniers einen Anschlag auf Ryans Leben unternehmen könnte, aber mittlerweile war sie nicht einmal mehr sicher, ob der Feind es denn darauf abgesehen hatte. Würden sie Ryan wirklich als so große Bedrohung einstufen, dass er beseitigt werden müsste, hätten die Rockets in jener Nacht nicht lange gezögert. Noch hätte Bella diesen sofortigen, aber keineswegs panischen Rückzug angeordnet. Generell hatten die wenigen Worte, die vor allem von Carlos und Lydia gesprochen worden waren, sie stutzig gemacht. Es war seitens der Rockets ebenfalls von einem konkreten Plan die Rede gewesen. Und die Indizien sprachen dafür, dass ein Blutvergießen gar nicht vorgesehen war. Konnten all diese Drohungen nur vorgegaukelt worden sein? Zwar hatten die beiden Rockets tatsächlich gewalttätige Intentionen gezeigt, doch die waren unübersehbar persönlichen Ursprungs gewesen.

    Es war hart, dieser Realität ins Auge zu sehen, doch so langsam wusste auch Mila nicht mehr weiter. Zu viele Dinge waren ungewiss und zu viel stand auf dem Spiel, um noch eine leichtfertige Entscheidung zu treffen. Von jetzt an mehr denn je, da Latios und Latias nun stets in relativer Nähe zu ihnen sein würden. Das Einzige, was sie selbst tun konnte, war Sheila nun nicht mehr einfach nur schützend um sie und Ryan Carparso herum patrouillieren zu lassen, sondern sie aktiv als Kundschafterin einzusetzen. Die beiden Rockets mit ihrer violetten Haarpracht müssten theoretisch auffallen wie bunte Hunde. So sie sich wohl kaum offen auf der Straße zeigen würden, war es den Versuch noch immer wert. Aber nur, falls Pete irgendeinen Anhaltspunkt für Mila haben würde. Dies bedeutete aber nach wie vor, dass ihr momentan die Hände gebunden waren.

    Mila selbst verbrachte nun viel Zeit in der Nähe von Ryan, aber auch Andrew. Abwechselnd sorgten sie und Sandra dafür, dass auch ja keiner von beiden allein in der Stadt unterwegs war. Gut, Melody folgte Ryan wo auch immer dieser hin ging, aber sie würde ihm in einem Kampf nicht unterstützen können. Traurigerweise war das Gegenteil der Fall.


    Im Augenblick war allerdings einer der seltenen gewordenen Momente, in denen Ryan, Andrew, Mila, Sandra und Melody alle gemeinsam versammelt waren. Nur Sheila war abwesend. Sie alle hatten sich auf den Kampfplätzen hinter dem Pokémoncenter eingefunden, die zur nahenden Abendstunde wie üblich leer waren. Da das Center mittlerweile fast bis unters Dach ausgebucht war und die Trainer sich auf den Summer Clash vorbereiteten, musste man nach dem Frühstück bis zum Nachmittag hin teilweise Nummern ziehen, um sie nutzen zu können. Doch um diese Zeit, in der es langsam aber sicher zu dämmern begann, waren die meisten erschöpft oder hungrig und der ein oder andere wollte heute Nacht sicher noch auf die Piste. Darüber war Ryan heilfroh, denn bei dem, was er gleich tun würde, brauchte er echt keine Zaungäste. Er öffnete den Verschluss der kleinen Gürteltasche und führte den jüngst hinzugefügten Pokéball zutage.

    Ein dezent alarmiertes Grollen ließ ihn aufblicken. Despotar hatte das Personal fast die ganze Nacht hindurch beschäftigt, die Intensivstation im Anschluss aber gleich verlassen dürfen. Er und Shardrago hatten zwar schwere, jedoch ausschließlich äußerliche Verletzungen erlitten, was an ein Wunder grenzte. Aber es sprach auch für die Zähigkeit der beiden. Sandras Drachengefährte hätte mit etwas Pech ein Schädeltrauma erleiden können und die massige Felsechse hatte lediglich Schäden an seinem Panzer davongetragen. Mit etwas Medizin, welche die Heilung unterstützte, würde er im Laufe des Turniers wieder einsatzbereit sein. Despotar hatte sich zusammen mit Kirlia, Moorabbel und Hundemon im Halbkreis um Ryan herum aufgestellt. Rachegelüste waren nie eine Eigenschaft dieses Gesteinpokémons gewesen, aber er war zuvor auch noch nie so böse zugerichtet worden, wie von Ruby. Der junge Trainer vertraute jedoch voll und ganz darauf, dass er das Brutalanda ebenso akzeptieren würde, wie es bei Hundemon und Kirlia der Fall gewesen war. Die kleine Göre wirkte ob der Atmosphäre deutlich interessierter und angespannter als üblich. Das traf auf sie alle zu. Menschen eingeschlossen.

    Ein letzter Blick in die Runde und er ließ die Kapsel in seiner Hand aufspringen. Schon im weißen Licht war die Gestalt Ruby´s imposant und Respekt einflößend. Mit der Besiegelung ihres, man sollte wohl am besten sagen Bündnisses, hatte Ryan sich vorgenommen, dass er ausschließlich dies, Respekt, vor ihrer zerstörerischen Kraft haben würde. Er verbot sich, ihr noch mit einem noch so kleinen Funken Angst zu begegnen. Obwohl der gesunde Menschenverstand noch immer behauptete, dass man die haben müsste.

    Das Brutalanda war nach ihrem Erscheinen absolut still. Eine sporadische Betrachtung ließ hoffen, dass alle Verletzungen gut von selbst verheilt waren. Ihre Umgebung, wo sie sich befand, kümmerte sie scheinbar überhaupt nicht. Sie ließ den Blick gemächlich über die Pokémon vor ihr Schweifen. Weitestgehend Winzlinge im Vergleich zu ihr und bei der Hälfte mangelte es sichtbar an Kampferfahrung. Das erkannte jemand wie sie sofort. Am Ende der Gruppe fand sie das Despotar aus jener Nacht vor. Stolz, aufrecht und stark. Nicht wimmernd oder gebrochen von seinen Verletzungen, die zweifellos noch ausheilen mussten.

    Sie machte gar keinen Laut. Fauchte, grolle oder brüllte nicht. Ruhigen, neugierigen Schrittes ging sie näher zu den Vieren. Das Moorabbel und das Kirlia – offensichtlich die beiden Jungspunde unter ihnen – schienen Mühe zu haben, nicht zurückzuweichen. Narren. Würde sie ihnen etwas antun wollen, wäre es bereits um sie geschehen. Zumindest versuchten sie, mutig zu sein. So stolz Ruby auch auf ihre Stärke war, gab es einen winzigen Teil in ihrem Gedächtnis, der sie stets an Zeiten erinnerte, in denen sie als kleines Kindwurm nicht andern ausgesehen haben konnte. Daher verbot sie sich den Spott. Das Hundemon wirkte da weitaus wilder. Von ihm kam zwar keinerlei Drohgebärde, aber sein Blick verriet deutlich, dass sie ihn keineswegs einschüchterte. Tapfer, wenn auch unvernünftig. Besser so als andersherum. Und dann war da noch Despotar.

    Ryan atmete tief ein und versuchte, die Ruhe zu bewahren. Ihm selbst hatte Ruby ihre Unterstürzung zugesichert. Der Felsechse allerdings war sie rein gar nichts schuldig und wer wusste schon, ob sie nicht etwas nachtragender war. Höchstens Mila konnte das wissen, doch da die sich genau so ruhig verhielt, wie der Rest, konnte er sich gar zuversichtlich stimmen.

    Die Drächin machte noch einen gezielten Schritt auf Despotar zu, sodass sie Auge in Auge standen. Sie wirkte prüfend, skeptisch, als warte sie, dass er den ersten Schlag austeilte. Aber die scharfen Augen zeugten gerade von keinerlei Aggression. Nein, Respekt war es, den sie darin las. Und das fiel Despotar tatsächlich nicht leicht. Er hasste es, zu verlieren. Mehr als alles andere. Aber er hatte nun mal verloren. Also würde er sie in ihren Reihen willkommen heißen – und auf seine Revanche warten. Eben dies vermittelte das sehr schwache Grinsen, das er ihr schenkte. Und sie erwiderte es.

    Ryan fiel ein Stein vom Herzen. Er drehte sich kurz zu seinen Freunden und blickte ausnahmslos in lächelnde Gesichter. Er kam nicht umher zu bemerken, dass er Sandra und vor allem Mila gerade zum ersten Mal, wenn auch nur in Gedanken, Freunde genannt hatte. Das wäre längst überfällig gewesen. Melody war mal wieder als allererste bei ihm und klammerte sich freudig an seinen Arm. Er drückte sie kurz an sich, wandte sich aber wieder zu den Pokémon.

    „Herhören. Das ist Ruby, eine alte Freundin von Mila. Sie hat sich entschieden, für eine Weile bei uns zu bleiben. Nehmt sie gut bei euch auf und behandelt sie mit demselben Respekt, den ihr euch von ihr wünscht.“

    Er zweifelte etwas daran, dass sie den ohne Weiteres bekommen würden, aber das war bei einer Drächin ihres Formats auch keineswegs selbstverständlich. Das wussten die Vier sicher selbst. Despotar wusste es auf jeden Fall.

    „Da fällt mir ein...“

    Ryan machte nochmals ein paar Schritte auf Ruby zu und gewann so ihre Aufmerksamkeit. Zum ersten Mal musste er sie nicht genau beobachten oder vorsichtig versuchen, ihre Blicke zu deuten. Von hier an wollte er sie behandeln wie alle seiner Pokémon. Mit gewissen, respektvollen Einschränkungen.

    „Ich hab mich dir selbst noch gar nicht vorgestellt.“

    Das Brutalanda legte den Kopf schief. Tatsache, das hatte er nicht, aber sie hatte auch nicht wirklich danach verlangt. Bis jetzt. Ja, jetzt schien es durchaus angebracht.

    „Ich bin Ryan. Ryan Carparso. Das hier sind Melody und mein bester Freund Andrew“, eröffnete er ihr mit einem Deut auf das Mädchen in seinem Arm, sowie seinen Trainer-Kumpanen. Beide grüßten höflich und anständig.

    „Willkommen in der Familie.“

    Familie. Hatte sie jemals eine richtige gehabt? Wohl genauso wenig, wie jeder andere Vertreter ihrer Art. Brutalanda Männchen verließen üblicherweise noch vor dem Schlüpfen der Jungen ihre Partnerin, würden gegebenenfalls sogar von ihr vertrieben werden. Und selbst die zog ihre Kinder nur bis zu einem gewissen Alter bedingungslos groß. Wenn sie stark genug waren, wurden sie fortgescheucht, um ihren Platz in der Welt zu finden und ihren eigenen Weg zu gehen. Was also bedeutete Familie für Ruby? Und vor allem, würde sie diese Pokémon und den Jungen namens Ryan ebenfalls so bezeichnen können? Unwahrscheinlich. Selbst damals, als sie in ihrer Jugend so viel Zeit bei Mila und ihrer Garde verbracht hatte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, irgendjemanden Teil ihrer Familie zu nennen. Auch die Drachenpriesterin selbst nicht. Aber... vielleicht. Es wäre nicht undenkbar. Die Zeit – viel Zeit – würde es zeigen.

    Hundemon und besonders Moorabbel, der bedingungslos alle Entscheidungen Ryans unterstützte, pflichteten dem lauthals bei und wagten gar, sich der Drächin zu nähern. Der Schattenhund verzichtete allerdings darauf, sie näher zu beschnuppern, wie er es üblicherweise tat. Er hatte eine präzise Ahnung, was für einen Charakter das Brutalanda besaß und würde sich nicht so rasch so sehr aufdrängen. Neugierig war er jedoch überaus.

    Die schüchterne Kirlia hielt lieber noch etwas Abstand. Die Riesin war ihr noch nicht ganz geheuer, aber das hatte anfangs auch für Hundemon gegolten. Jetzt war sie ständig in seiner Nähe. Oder war er ständig in ihrer? Verflucht, hoffentlich hielt er nicht noch nimmer an dieser Beschützer-Kiste fest, die Ryan ihm aufgeschwatzt hatte.

    Für Despotar war so ein Trubel nichts. Ihm war nach Ruhe und allein sein. Nicht aus Verbitterung oder Antipathie. Er hatte seiner neuen Kameradin schlicht und ergreifend nichts zu sagen. Naja, eines schon. Er lenkte seine Schritte Richtung Ryan, machte aber einen Bogen, um nahe an der Drächin vorbeizugehen und es mit abermals mit einem kurzen, einfachen Blick mitzuteilen.

    Nächstes Mal werde ich siegen.

    Rubys Lefzen zuckten und sie grinste angespornt, während das Gesteinpokémon sich bereits abwandte und seinem Trainer zu verstehen gab, dass er für heute genug hatte.

    Andrew schüttelte im Hintergrund fassungslos, aber gleichzeitig erleichtert den Kopf, als er zusah, wie Despotar in seinen Pokéball verfrachtet wurde und Ruby sporadisch ihre neuen Bekanntschaften aufnahm. Diese Offenheit nun bei ihr zu sehen... als wären das hier und die Ruby aus jener Nacht zwei verschiedene Pokémon.

    „Nicht zu fassen, der Mistkerl hat´s echt hingekriegt“, meinte er lächelnd. Er war tatsächlich stolz auf Ryan. Manchmal vergaß selbst er, dass er für sein Alter besonders reif sein konnte. Bei diesem Umgang mit all seinen, besonders aber seinem neusten Pokémon, klang es beinahe absurd, dass er noch nicht einmal ganz volljährig war. So viele Menschen, die schon doppelt so lange lebten, könnten noch eine ganze Menge von ihm lernen.

    „Ich gebe zu, ich hab lange nicht dran geglaubt“, gestand Sandra derweil. Das überraschte doch ein wenig, hatte sie doch stets selbstsicher gehandelt und – das war eine Tatsache – die Moral in der Gruppe nicht selten oben gehalten. Sie hatte den jungen Trainern ungemein geholfen, sich stets auf den nächsten Schritt, auf das momentane Ziel zu fokussieren. Oft durch Kleinigkeiten, weshalb es ihnen nicht immer aufgefallen war.

    „Ich wollte nicht dran glauben“, korrigierte sie dann sogar. Jetzt reichte es aber, befand Andrew.

    „Hör auf. Ohne dich hätten Ryan und ich uns vermutlich längst die Köpfe eingeschlagen.“

    Sie blickte ihn nicht an, schüttelte stattdessen skeptisch, geradezu verneinend den Kopf, während sie die Lippen schürzte. Aber dies musste Andrew ihr unbedingt vermitteln. Er war sicher, dass Ryans Gefühlslage in den letzten 48 Stunden präzise wie seine eigene ausgesehen hatte, doch er wollte hier lieber bloß für sich sprechen. Nicht, dass er seinem besten Kumpel noch Worte in den Mund legte. Außerdem fühlte er das Verlangen, ihr etwas Persönliches anzuvertrauen. So löste er seine verschränkten Arme und wandte sich ihr ganz zu.

    „Meinst du denn, ich bin wirklich immer so locker, wie ich tue?“

    Nun sah Sandra ihm endlich in die Augen – verwundert. Sie merkte, dass sich seine Stimme verändert hatte, deutlich ernster war, als üblicherweise. Und zwar nicht erzwungen, sondern eher… befreit. Erlöst. Als sei er froh um diesen Moment, in dem er seine Fassade einmal ruhen lassen konnte und im selben Moment war die Arenaleiterin regelrecht vor den Kopf gestoßen, da sie erkannte, dass es nichts weiter als eben eine Fassade gewesen war.

    „Das bin ich nicht mal in der Hälfte aller Fälle. So komm ich einfach nur am besten mit anderen Leuten klar. Aber ich war die letzten Tage über ein Pulverfass. Meine Nerven lagen so blank, dass ich sogar Sheila auf´s Korn genommen hab. Jetzt fass ich es immer noch nicht, dass ich so blöd war.“

    Hieran konnte sie sich gut erinnern. Wenn man das Kind beim Namen nennen wollte, hatte er sie wirklich ein bisschen verarscht und alle Anwesenden wussten, dass sie Menschen schon für weit weniger mindestens ein paar Knochen gebrochen hatte.

    Andrew hatte noch immer nicht ausgeredet. Dabei schien Sandra es so langsam begriffen zu haben.

    „Du hast eine besondere Ausstrahlung, die mich zuversichtlich gemacht hat. Und zwar nicht, weil du Arenaleiterin Sandra bist, sondern einfach, weil du Sandra bist. Und ich gehe jede Wette ein, dass es Ryan genauso ging.“

    Vielleicht war es mit Andrew gerade ein wenig durchgegangen. Sicher war, dass er sich gegenüber einer Person außerhalb seiner Familie, die nicht Ryan hieß, seit Jahren nicht mehr so emotional geäußert hatte. Er würde es im Normalfall nie aussprechen, dass es Menschen gab, die er bewunderte – sei es wegen ihrer Fähigkeiten oder ihres Charakters. Doch es gab sie absolut und Sandra war eine davon. Sogar eine der wenigen, die er sowohl für ihre Fähigkeiten als auch ihren Charakter bewunderte. Eine andere Person wäre zum Beispiel Ryan.

    Offenbar war es nötig gewesen, dass Andrew sich fast schon so peinlich wie ein Fan aufführen musste, damit die Drachenmeisterin aus Ebenholz seine Worte akzeptierte. Sicher belustigte es sie auch ein wenig, dass er sie an einen solchen erinnerte, aber sie würde seine Worte nicht weiter in Frage stellen. Wie könnte sie auch, nachdem er sich so geöffnet hatte?

    „Beharrlich bleibst du aber wirklich immer. Egal, ob locker, witzig oder ernst“, stellte sie lächelnd fest, was zwischen den Zeilen bedeutete, dass sie nicht die Energie besaß, um diese respektvollen Worte abzustreiten. Wie käme es denn außerdem rüber, wenn sie sich selbst so vehement kleinreden würde?

    „Aber um ehrlich zu sein, klingt diese Beschreibung für mich eher nach Mila…“

    Sandra ließ die Augen in Richtung eben dieser schweifen und ihr Lächeln schwand augenblicklich. Sie schaute nun verdutzt, über alle Maßen überrascht. Andrew tat es ihr in der Sekunde, in der er ihrem Blick Richtung Drachenpriesterin gefolgt war, gleich. Ihre Augen schimmerten wässrig.

    Nur sehr schwach und definitiv vor Glück, wie das beseelte Lächeln verriet. Doch was in aller Welt machte sie denn in diesem Moment so glücklich, dass es sie beinahe zu Tränen rührte?

    „Mila?“, frage Sandra vorsichtig. Auf einmal kam ihr das Gespräch mit Andrew wie das zweier Statisten vor. In der Drachenpriesterin ging unübersehbar etwas weit Tiefgründigeres vor.

    „Nun hat er bereits zwei Dinge vollbracht, die mir unmöglich waren.“

    Sie beide sahen rüber zu Ryan, an dem Milas glückseliger Blick festgewachsen schien. Ruby versuchte es noch zu verbergen, aber Mila konnte sie schon lange nicht mehr täuschen. Das Brutalanda war glücklich. Glücklich, keine Einzelgängerin mehr zu sein. Glücklich, jemanden gefunden zu haben, an den sie glauben konnte. Sie würde es nicht so einfach offen zeigen. Vielleicht sich gar zu der ein oder anderen Dummheit hinreißen lassen, um ihre wahren Gefühle zu verstecken. Das war leider schon immer ihre Natur gewesen. Aber so wie jetzt hatte Mila sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und daher war sie sicher, Ruby würde sich gegenüber Ryan und auch ihren neuen Partnern mit der Zeit ganz öffnen. Es wäre nicht weniger als einer von Milas innigsten Herzenswünschen, dass dies wahr würde.

    „Erst hat er Sheila ihren Namen gegeben. Und nun hat er Ruby eine Familie gegeben.“

    Einige Sekunden lang schien die Zeit an diesem kleinen Fleck am Rande der Kampfplätze einzufrieren. Lediglich ein sanfter Vorreiter des Abendwindes blies etwas Laub an ihnen vorbei. Und dann stahl sich ein ähnliches Lächeln auf die Lippen von Andrew und Sandra. Der junge Trainer wagte in diesem Moment zwar nicht, noch etwas zu sagen, aber innerlich stimmte er der Arenaleiterin zu. Auch Mila vermochte, Menschen mit ihrer Aura zu beeinflussen. Besonders auf Ryan hatte sie einen enormen Einfluss und ganz offensichtlich beruhte dies auf Gegenseitigkeit.

    So sehr es Mila auch bewegte, was hier gerade geschah, kam sie nicht umher, ihre Gedanken in die nahe und tragischerweise düstere Zukunft zu werfen. Auch wenn sie dadurch verpasste, diesen Moment vollends zu genießen. Vielleicht war Ryan dann ja auch imstande, diese dritte Hürde zu meistern, an der sie bislang gescheitert war. Nämlich die lang ersehnte Freundschaft zwischen Menschen und Drachen. Hoffentlich eilte Pete sich mit den Informationen. Es war höchste Zeit, diesem Vorhaben entschlossenere Taten folgen zu lassen, anstatt es immer nur herbeizusehnen.


    „Ich warne dich Freundchen. Wenn du mich verarschst, kannst du dich auf schlimmere Narben einstellen.“

    Pete sprach nur extrem selten Drohungen bei solchen Unterhaltungen aus. Kontaktpersonen, die ihn fürchteten, würden ihn meiden und er wäre um eine Quelle ärmer. Aber das hier war zugegebenermaßen auch niemand, den er kannte. Jene, in die er seine Hoffnungen gesetzt hatte, waren allesamt keine Hilfe gewesen. Und da war ihm dieser junge Bursche entgegengetreten, der ihm zu helfen versprach. Pete hielt ihn noch an seinem verschmutzten Hoodie gepackt und gegen die Backsteine der Hauswand einer Seitengasse gedrückt. Die Kapuze hatte er auf offener Straße noch tief ins Gesicht gezogen, um die hässliche Narbe in seinem Gesicht nicht zur Schau zu stellen, doch nun war sie durch das rüde Anpacken heruntergefallen.

    „Tu ich nicht, Mann. Ich schwör´s dir.“

    Pete würde ihm gerne glauben. Bellas meist genutzten Aufenthaltsort zu kennen, klang fast zu gut und wäre mehr als wertvoll. Man könnte sie dort überraschen, wo sie es niemals erwartete. Aber er war nicht mehr grün hinter den Ohren. Stets hatte er jede Information, die man ihm in so heiklen Themen mitteilte, überprüft. Sofern möglich. Das wäre in diesem Fall nur leider kaum machbar.

    „Warum sollte ich einem ihrer ehemaligen Mitglieder glauben? Du könntest mich genauso gut in eine Falle schicken.“

    Zugegeben, wenn der junge Mann tatsächlich einst selbst in schwarz herumgelaufen war, würde das zumindest erklären, woher er diese Info besaß. Nur konnte das mit dem „ehemalig“ auch ganz einfach gelogen sein. Und dass er einfach so auspackte, ohne eine Bezahlung zu verlangen, machte Pete erst recht skeptisch.

    „Was hätte ich davon? Ich war ein kleiner Fisch, hatte in der Organisation nichts zu sagen und dann haben sie mich quasi wegen nichts rausgeschmissen.“

    Der Typ wirkte etwas verzweifelt. Und Pete suchte vergeblich nach Scheinheiligkeit und Lüge. Er wollte ihm eigentlich nicht so einfach seinen Glauben schenken. Nur ließ er den Ex-Rocket nichts von seinen Gedankengängen und Abwägungen ahnen.

    „Rache, weil sie dich vor die Tür gesetzt haben? Das kauf ich dir nicht ab, Kleiner.“

    „Nicht an Team Rocket will ich mich rächen!“

    Seine Stimme war auf einmal so laut und so wütend geworden, dass er sich im nächsten Moment zu beiden Seiten umsah. Nicht, dass doch ein Passant – im schlimmsten Fall ein getarnter Agent – aufmerksam geworden war. Doch es schien nach wie vor niemand einen Grund zu sehen, einen genauen Blick in die Gasse zu werfen. Zum Glück war diese sehr lang und es hallte obendrein kein Echo.

    Dann sank sein Kopf ein wenig und er sah diesen einen Abend, diesen Moment, diese Frau ein weiteres Mal vor seinem inneren Auge. Er starrte durch Pete hindurch und zitterte leicht. Schwer zu sagen, ob aus Furcht oder Hass. Dann fuhr seine Hand langsam zu seiner Wange, wo die Narbe begann. Die Fäden waren jüngst entfernt worden, doch würde er sie sicher den Rest seines Lebens tragen. Er vermied es seither nach Möglichkeit, in einen Spiegel zu sehen. Schon das Ertasten über die Nase und das untere Ende seiner Augenhöhle entlang, war abscheulich. Sie hatte ihn auf ewig gezeichnet. Mit etwas Pech hätte er sogar ein Auge verlieren können.

    Pete beobachtete ganz genau. Mit so einer Narbe im Gesicht würde er sich auf offener Straße auch nicht gerne zeigen. Und es war unübersehbar, dass sie den Burschen plagte. Sehr sogar.

    „Ich will einfach nur dieser Frau schaden“, sagte er nun wieder leiser.

    „Sie hat mich gedemütigt und deformiert. Nun bin ich für den Rest meines Lebens in der Öffentlichkeit bloßgestellt“

    Seine Stimme wurde ein wenig heiser und sein Kinn begann leicht zu zittern. Wurden seine Augen gar wässrig? Er war wirklich noch jung.

    „Wenn ich könnte, würde ich ihr genau denselben Schmerz beibringen. Aber ich bin raus. An sie komm ich nie wieder ran. Doch so kann ich wenigstens dafür sorgen, dass sie verliert. Ich kann dafür sorgen, dass ihr sie bloßstellt. Der Schwarze Lotus soll gnadenlos mit seinen Agenten sein, wenn sie versagen und würde einer Söldnerin von außerhalb bestimmt Schlimmeres antun, als Bella es bei mir getan hat.“

    Pete sah dem Jungen nur noch in die Augen. Er versuchte nicht länger, den Barbesitzer zu überzeugen. Er dachte gar nicht mehr darüber nach, was er hier erzählte. Seine Emotionen hatten die Kontrolle über seine Worte gewonnen. Er pokerte nicht, er flehte. Obgleich ihm bewusst sein musste, dass nichts von dem, was hiernach eventuell passieren konnte, für ihn getan werden würde.

    „Ich weiß jetzt, wie dumm es war, dieser Gruppe beizutreten. Eigentlich war es mir schon länger bewusst. Sie haben mir so viel versprochen. Und bekommen habe ich das hier.“

    Nun endlich sah er Pete wieder in die Augen. Musste sich jedoch allergrößte Mühe geben, bei dem Gedanken an seine Dummheit, an die verschwendeten Jahre, vor allem aber sein entstelltes Gesicht, nicht zu zerbrechen.

    So jung.

    „Ich will, dass sie versagt und leidet. Als letzte schlechte Tat meinerseits vor einem Neuanfang.“

    Pete ließ nun endlich, sehr langsam, von dem Jungen ab, machte einen Schritt zurück und seufzte tief. Der ehemalige Rocket rührte sich noch nicht. Blieb an der Wand lehnen und sah ihn einfach nur an, wartete auf eine Antwort. Pete erkaufte sich etwas Denkzeit, indem er nach einer Zigarette fischte und sie anzündete. Der erste Zug war ein sehr tiefer.

    „Ich werde überprüfen, was du mir gerade erzählt hast.“

    Seine Augen flackerten auf. Hatte er es geschafft? Glaubte der Mann ihm?

    „Meine Klienten werden bestimmt nicht für dich Rache üben. Aber falls du die Wahrheit sagst, werden sie ihr die Hölle heiß machen.“

    Er vermied hier bewusst einige bestimmte Details. Das tat er immer, wenn er nicht mit vertrauenswürdigen Menschen sprach. Und davon existierten in diesen Kreisen nicht viele. Jeder Mensch hatte einen Preis und gerade das organisierte Verbrechen meistens auch die Mittel, ihn zu zahlen. Oder auch, um Dienste oder Infos zu erzwingen.

    „Ist egal, dass sie es nicht für mich tun. Wenn es geschieht, bin ich schon zufrieden.“

    Das war praktisch seine Bezahlung. Wenn seine Klienten scheitern sollten, dann war es eben umsonst gewesen. Aber er würde nicht lange genug in der Stadt bleiben, um es zu erfahren. Er wollte Team Rocket, Hoenn, sein bisheriges Leben möglichst schnell hinter sich lassen. Ihm genügte es, sich dem Glauben und der Vorstellung hinzugeben, dass Bella Scheiße fressen würde, während er ein neues anfing. Leicht würde es nicht werden. Er hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt und Freunde hatte er auch kaum noch. Aber es war den Versuch wert, sie anzurufen und falls sie ihn abgeschrieben haben sollten, gab es da noch ein paar Leute, die ihm einen Gefallen schuldig waren. Zumindest eine vorübergehende Bleibe und regelmäßig etwas Essbares würde er bekommen. Immerhin ein Anfang, auf dem er aufbauen konnte.

    Pete bot ihm noch eine Zigarette an, bevor er seines Weges ging. Der Bursche nahm sie, vertraute ihm gleichzeitig an, dass er jedoch noch nie geraucht hatte. Das entlockte Pete dann doch ein Lachen. Nicht weil es dumm war – genaugenommen drängte er ihn gerade zu einer Dummheit. Es überraschte ihn ganz einfach kaum, wenn er den Jungen ansah.


    Schon während seiner Gespräche mit diversen anderen Kontaktpersonen sowie auf den Wegen dazwischen hatte Pete mindestens so oft über die Schulter geschaut, wie geradeaus. Nur hinauf hatte er nicht gesehen. Würde er es jetzt tun, würde er weiter oben von einer Feuertreppe aus ein in schwarze Slim Jeans gehülltes Bein mit hohen Boots daran herabbaumeln sehen. Sie gehörten zu einer jungen Frau, die sehr relaxt am Geländer lehnte und sich an einer Flasche Sake berauschte. Es war so ein Glück, dass sie nun länger hier in Graphitport arbeiten konnte. Hier lebte ein Bekannter, der in seinem Keller einen extrem starken brannte. Und schmecken tat er zudem erheblich besser, als das Zeug in den Läden. Sogar besser als in Johto.

    „Sagte ja, dass du immer ein Grünschnabel bleiben wirst, Eaves“, nuschelte sie mit einem verschmitzten Lächeln vor sich hin. Sie hätte durchaus Lust, ihm nach diesem Gespräch aufzulauern und ihm den Tag zu versauen. Weiter verletzten würde sie ihn nicht. Sie verspürte keinen Hass. Hatte lediglich das Bedürfnis, ihn noch etwas aufzuziehen und ihm deutlich darzulegen, dass er schon sehr viel früher aufstehen musste, um ihr ans Bein zu pissen. Schade nur, dass sie dafür keine Zeit hatte. Der Informationskrieg hatte gerade eine kleine, aber nicht uninteressante Wendung genommen.

    Kapitel 39: Drachenseele


    Selten hatte es sich so gut angefühlt, in einem weichen Bett zu erwachen. Dabei kam dieses eigentlich viel zu früh. Ryan wusste nicht wirklich, wann er, Andrew, Sandra und Melody das Pokémoncenter erreicht hatten, hatte sich aber prophezeit, dass er vermutlich den halben Tag verpennen würde. Während dieser vergangenen Nacht war ihm jegliches Zeitgefühl verloren gegangen, noch bevor Ruby sie angegriffen hatte. Das Brutalanda Weibchen ruhte nach wie vor in dem Pokéball und gönnte sich – so hoffte der junge Trainer – einen erholsamen Schlaf. Er hatte gar abgewogen, ob er das Chaneira, das nebst zwei Assistenzärzten die Nacht hindurch über die Schwerverletzten, der sich in Behandlung befindenden Pokémon gewacht hatte, darum bitten sollte, Schwester Joy für einen Notfall herzubestellen. Zwar hätten ihn einige neugierige Fragen in arge Erklärungsnot bringen können, doch das war für ihn irrelevant gewesen. Was zählte, war Rubys Gesundheitszustand und natürlich auch der von Despotar, Shardrago, sowie auch Milas Altaria und Milotic. Die Drachenpriesterin hatte aber, ebenso wie Sheila und Pete, widersprochen. Hatten ihm hoch und heilig versichert, dass keine Notwendigkeit bestand, Uneingeweihte an die Drächin heranzuführen. So schwer ihre Wunden auch sein mochten, hatte das Brutalanda weit Schlimmeres überstanden und würde in Kürze von selbst wieder auf die Beine kommen. Das Risiko, Ruby könne im Center gar Amok laufen, war einfach viel zu hoch dafür. So waren nur die übrigen Pokémon an Chaneira übergeben worden. Hoffentlich waren sie hier auch ohne eine anwesende Joy in guten Händen.

    So hatten die vier, die hier einquartiert waren, abwechselnd geduscht und sich danach ins Bett fallen lassen – bloß, um in Ryans Fall mit dem ersten Sonnenstrahl wieder wach zu werden. Er fluchte müde und ungläubig. Vermutlich war es keine fünf Stunden her, dass er die Zimmertür durchschritten hatte. Eigentlich fühlte er sich so platt, dass er gerne den ganzen Tag mit dem Kopf auf dem Kissen gebettet verbracht hätte. Na immerhin hatte er überhaupt mal wieder etwas geschlafen.

    Genug war es aber bei weitem nicht gewesen, weswegen er sich in seinen Laken wälzte und die Decke über den Kopf zog. Das war zumindest der Plan gewesen, doch es blieb bei dem Versuch. Sein rechter Arm wog unnatürlich schwer und er konnte seine gesamte rechte Körperhälfte nicht so recht bewegen. Sein schlaftrunkener Verstand verarbeitete nur langsam, was der Grund dafür sein mochte und als er die Antwort endlich gefunden hatte, war Ryan plötzlich… vielleicht nicht hellwach, aber durchaus munterer. Mit der freien Hand schlug er die Decke etwa bis zu seiner Taille zurück und brachte einen schlafenden Rotschopf zum Vorschein, der seinen Arm fest umklammert hatte und nach wie vor durchs Land der Träume spazierte. Melody hatte das Bad in der Nacht erst nach ihm betreten und jetzt, da der stetig wacher werdende Pokémontrainer darüber nachdachte, wurde ihm endlich bewusst, dass er bei ihrer Rückkehr aus dem Badezimmer bereits eingeschlafen war. Wie sie sich zu ihm ins Bett gedrängt und mit seinem rechten Arm im Klammergriff neben ihm eigenschlafen war, hatte er daher ebenfalls nicht mitbekommen.

    Es gab so einiges, was Menschen in seiner Lage und vor allem seinem Alter nun für Gedanken und Gefühle haben mochten. Anfängliche Verwunderung, gefolgt von warmen Glücksgefühlen, eventuell etwas Peinlichkeit. Aber Ryan fühlte nichts dergleichen. Er blickte nur in das friedliche Gesicht Melodys und war schlicht und ergreifend froh, dass sie hier war. Hier in Hoenn, hier an seiner Seite und auch hier direkt neben ihm. Gerade letzte Nacht hatte es, bedingt durch das Chaos und die Bedrohung erst durch Ruby und schließlich durch Team Rocket, Momente gegeben, in denen er es fast vergessen hätte – aber sie war immer da. War immer bei ihm. Und er war glücklich darüber.

    Ryan sah an ihr herunter. Sie war in Hotpants und einem lässigen Shirt, das ihren Bauch nicht ganz verdeckte. Sachte und vorsichtig legte er sich wieder nieder, ohne auch nur eine Sekunde seine marineblauen Augen von ihr zu nehmen. Er ließ sich dazu hinreißen, ihr eine Strähne aus dem Gesicht zu schieben und vorsichtig über ihr Haar zu streichen. Kaum endete die Berührung, da schnellte Melody urplötzlich hinauf zu Ryan und schlang ihre Arme fest um seinen Nacken, drückte ihn zurück in sein Kissen. Der war für eine Sekunde wie erstarrt, hatte er sie doch noch im Tiefschlaf erwartet.

    „Ich werde nicht weglaufen.“

    Ihre Stimme klang gedämpft, da sie in seine Schulter redete, an der ihre Stirn lehnte. Doch Melody befand, dass sie ihm in die Augen sehen sollte, damit er ihre Aufrichtigkeit erkannte und lehnte sich somit etwas über ihn.

    „Egal was und wer noch auf uns zukommt, ich bleibe bei dir.“

    Es klang wie ein Versprechen. Es war eins. Und felsenfest ausgesprochen, ohne jegliche Zweifel oder Ängste. Es war ein Entschluss, dessen Unerschütterlichkeit der von Ryan glich. Der antwortete zunächst nicht, sondern verlor sich in ihrer blauen Iris. Er hatte nie angenommen, dass Melody ihm den Rücken kehren würde und sei es bloß um ihre Sicherheit willen. Dabei wünschte Ryan sich dies fast, da er es sich wohl nie würde verzeihen können, wenn ihr etwas passieren sollte. Gleichzeitig war er heilfroh, dass sie ihm dieses Versprechen gab und zog sie schließlich enger an sich.

    „Ich weiß“, flüsterte er in ihr Ohr.

    Es tat so gut, sie hier und jetzt nicht mit dieser traurigen Sehnsucht in den Augen zu wissen, wie er es die meiste Zeit, seit ihrem Wiedersehen, in ihr beobachten musste. Sie machte sich ständig Sorgen und das konnte man ihr nicht einmal verübeln. Er wünschte sich nur ganz einfach, sie öfter so fröhlich und frech zu erleben, wie neulich bei ihrem nächtlichen Date in der Innenstadt oder beim Wettbewerb, den ihnen Mila so überraschend versüßt hatte. Denn so hatte er sie kennen und mögen gelernt.

    Jedoch verbot Ryan sich, dem jetzt nachzutrauern und entschied sich stattdessen, hieraus Energie für die kommenden Tage zu schöpfen. Nicht, dass er noch mehr Gründe brauchte, um Team Rocket zu schlagen, den Krieg zu verhindern und seine Fehler zu berichtigen. Aber in diesem Moment beschloss der junge Trainer, auch für Melody und sich selbst zu kämpfen. Für sie beide. Damit sie möglichst bald unbeschwert zusammen sein konnten. Für den Augenblick jedenfalls war das was sie gemeinsam aneinander hatten, alles wonach er verlangen konnte. Und mehr, als er verdiente.

    Melody sah ihm ein weiteres Mal tief und entschlossen in die Augen. Sie kam ihm langsam näher. Er rührte sich nicht, ließ geschehen, was immer sie vorhatte. Er ahnte es bereits, las es deutlich in ihrer funkelnden Iris und konnte sein Glück kaum in Worte fassen. Äußerst sanft und vorsichtig berührten sich ihre Lippen, als könne der Gegenüber sonst zerspringen wie Glas.

    Die Zeit hätte getrost einfrieren können. Für Stunden und Tage. Doch mehr als präzise zwei Sekunden waren Ryan und Melody nicht vergönnt, ehe ein vibrierendes Surren auf dem Nachttisch sie unterbrach.

    So wart der herrliche Moment tragischerweise ruiniert. Allein dafür zürnte Ryan dem Absender der Nachricht, wohlwissend, dass es gut und gern Mila sein mochte. Melody selbst spürte gar für den Bruchteil einer Sekunde das heiße und dunkle Verlangen, dem Störenfried den Schädel zu spalten. Nach einem entschuldigenden Blick, sowie einem prüfenden auf sein Handy bestätigte sich der Verdacht.


    Es war nicht derselbe Wald von letzter Nacht, in den Mila die Gruppe führte. Er war kleiner, voller alter Laubbäume und deutlich näher an der Stadt. Sie hatten kaum die Vororte hinter sich gelassen. Weniger waren sie zudem auch, da Pete angeblich mit einigen Kontakten sprechen wollte, um nach Informationen über Team Rocket zu forschen. Sheila war zwar da, zumindest irgendwo in relativer Nähe, aber für alle außer Sichtweite. Sie würde diesmal absolut sicher gehen, dass sich niemand für einen Hinterhalt heranschleichen konnte, wie in der Nacht zuvor.

    Andrew wankte ebenso wie Ryan noch sehr ermattet über Wiese und Wurzeln. Der Blonde hatte sich in das Shirt und die Weste geschmissen, die er bei seinem Date mit Melody getragen hatte, da seine übliche Kluft beinahe ruiniert worden war. Auch Andrew würde seine geliebte Jeansjacke zunächsz reinigen müssen und war heute nur im T-Shirt. Sandra ging als einzige so stolz und stramm wie immer, doch zeichneten sich auch unter ihren Augen sehr dunkle Ringe. Sie sahen Mila schon von weitem, wurden dabei zunehmend fassungsloser, je näher sie ihr kamen. Von Müdigkeit und Erschöpfung keine Spur. Sie empfing die Ankömmlinge mit demselben Lächeln, das sie immer im Gesicht trug. Wie man Sheila kannte, erging es ihr vermutlich nicht anders. Wie Ryan sie mittlerweile einzuschätzen wagte, hatte sie womöglich nicht einmal geschlafen, sondern nur ihre Wunde versorgt. Und selbst das wohl nicht mehr als absolut notwendig war.

    Kurz bevor sie Mila erreichten, drängte sich das Gespräch mit Latios noch einmal in Ryans Gedächtnis. Über seine Situation wusste er zumindest im Groben längst Bescheid und die Drachenpriesterin hatte ihn, sowie seine Schwester, rasch in die Details eingeweiht. So hatte es glücklicherweise nicht mehr viel für den Jungdrachen zu erfragen gegeben. Genau genommen waren es nur drei Fragen gewesen. Mit Sicherheit hatte es sich dabei um die wichtigsten gehandelt, die er sich zurechtgelegt hatte.


    „Wie ist dein Name?“

    Der junge Trainer befeuchtete die Lippen und gab sich allergrößte Mühe, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Es schlug so stark, dass er es fast ausspuckte. Er fühlte sich zurückversetzt zu dem Moment, in dem Mila ihn über den Drachensplitter aufgeklärt und er selbst das Versprechen, den Diebstahl von selbigem wieder gut zu machen, gegeben hatte. Auch da hatte die Anspannung ihn förmlich zerrissen. Jedoch sprach er sich diesmal Mut zu. Setzte sein Vertrauen darin, dass wie damals, nach diesem Gespräch alles klarer und seine Absichten für die Zwillingsdrachen deutlich würde.

    „Ryan Carparso“, antwortete er knapp, aber fest. So es ihm eigentlich nicht zustand, wollte er diesem Pokémon gegenüber so weit wie möglich auf Augenhöhe begegnen. Nicht als jemand auftreten, der in seiner Schuld stand und nur handelte, um sein Gewissen zu beruhigen und auch nicht als Diener, der nicht die Freiheit einer Wahl besaß. Niemand hatte ihn jemals gezwungen oder auch nur gedrängt. Er war hier, weil er hier sein wollte.

    „Warum hast du den Drachensplitter an dich genommen?“

    Latios legte ihm dankbarerweise seine Absichten recht offen vor. Keineswegs wurde Ryan hier angeprangert oder als der gesuchte Sündenbock hingestellt. Latios wollte ihn testen. Seinen Charakter, seine Aufrichtigkeit, seine Bereitschaft, seinen Schneid. Zwar würde es ihm genügen, wenn Mila ihm all dies bestätigte, doch wollte der er es von ihm selbst hören. Das wusste sie auch, weshalb sie nur stumm beobachtete und lauschte. Dabei kniete sie gar fürsorglich neben Sheila, reichte dabei Pete und Sandra eine helfende Hand, während sie mit ihren notdürftigen Mitteln die Schusswunde in der Schulter verbanden.

    „Weil ich damals schwach war.“

    Ryan beschönigte nichts an diesem schicksalhaften Moment. Ungeachtet, dass selbst Mila sich vor Rayquazas Herz fürchtete, wie sie ihm gestanden hatte, war Ryan der Ansicht, dass er dem Drang hätte widerstehen müssen. Dass dieser herrliche Kristall, den er unter der Erde gefunden, ihn niemals so hätte verändern dürfen und sei es nur für einen Augenblick. Der Splitter hatte schließlich auch keineswegs seine Entscheidung beeinflusst, seine Tat geheim zu halten, anstatt sie irgendjemandem zu gestehen. Es war eigens sein Vergehen gewesen.

    „Und was gedenkst du nun zu tun?“

    Allein die Tatsache, dass die Drachenpriesterin, sowie ihre Gefährtin und mehrere Verbündete diesen jungen Mann Kamerad oder gar Freund nannten, musste den Zwillingsdrachen eigentlich reichen, um zu schlussfolgern, dass er das Herz ihres Vaters zurück zum Heiligtum der Drachengarde bringen würde. Andernfalls hätte Sheila ihn längst aufgeschlitzt.

    Doch Ryan spürte, dass Latios die Frage nicht so meinte. Nein, es ging hier nicht um den Plan. Es ging einzig und allein um ihn. Es war nie um etwas Anderes gegangen. Er nahm sich einen Augenblick, um die richtigen Worte zu finden, suchte dabei nach möglichst knappen. Jetzt eine Rede vom Zaun zu brechen käme ihm falsch und unehrlich vor, als versuche er entweder sich zu rechtfertigen oder nur etwas zu sagen, das den Jungdrachen zufrieden stellen würde. In erster Linie zählte ohnehin nicht, was er sagte, sondern wie er es tun würde. So straffte er seine Haltung und sah Latios fest an. Zwei legendäre Augenpaare trafen sich.

    „Stärker sein.“

    Es ging nicht darum, an Kraft zu gewinnen, sprich stärker zu werden. Sondern über die Person hinaus zu wachsen, die einst den Drachensplitter in seiner Tasche hatte verschwinden lassen. Besser zu sein. Und zwar unverzüglich. Denn die Person, die diesen Diebstahl begangen hatte, das war in Wahrheit nicht er. Nicht wirklich. Ryan versprach hier und jetzt nicht weniger, als augenblicklich besser als sein vergangenes Ich zu sein und jedes Hindernis zu überwinden, um sein Ziel zu erreichen. Gleich ob es rachsüchtige Drachen, Team Rocket oder der Splitter selbst war. Von nichts und niemandem würde er sich mehr abbringen lassen. Das war sein Entschluss. Sein unerschütterlicher Wille.

    Melody lächelte augenblicklich breit. Sie wartete nicht einmal die Reaktion von Latios ab. Sie trat entschlossen an Ryans Seite und legte ihren Arm fest um seine Taille. Ihr Blick war ebenso entschlossen und frei von jeglichen Zweifeln, wie der Seine. Andrew machte von der Seite ebenfalls einige Schritte auf Latios zu und nickte, als würde er für diese Antwort jederzeit seine Hand ins Feuer legen und gleichzeitig zusichern, dass er selbst nichts Geringeres im Sinn hatte.

    Latias gesellte sich an die Seite ihres Bruders und sah zu ihm auf, als wüsste sie bereits, dass er hierauf nur noch eines sagen konnte. Er erlaubte sich vorher aber doch noch einen prüfenden Blick in Richtung der Drachenpriesterin. Die hatte sich erhoben und zuckte bloß mit den Schultern als wüsste sie nicht, was denn noch sei. In ihrer Körpersprache lag eine gewisse Selbstverständlichkeit. Natürlich würde Ryan das tun und natürlich würde er es schaffen. Sie hatte nie irgendwelche Bedenken gehabt. So nickte Latios sehr knapp, aber sehr offenkundig zufrieden und zuversichtlich.

    „In diesem Fall, Ryan Carparso, kann auch ich dich Freund nennen.“


    Latios und Latias kamen schwebend aus dem Schatten der Laubbäume hervor und flankierten die wartende Mila. Sandra hatte die Gruppe bis eben noch angeführt und Ryan war mit Melody an ihrem Ende gegangen. Nun jedoch machte die Arenaleiterin Halt und wandte sich zu ihm um, ließ ihm den Vortritt. Er sah sie gar nicht erst an, marschierte einfach geradewegs weiter. Er war schließlich derjenige, auf den in die Zwillingsdrachen primär warteten. Ironischerweise lag dies aber nicht einmal daran, dass er der Träger des Drachensplitters war. Hier und jetzt ging es ausnahmsweise nicht um den Krieg und Rayquaza. Denn bevor man sich dessen weiter widmen konnte, sollte zunächst das ungeheuerliche Brutalanda namens Ruby zu einer Verbündeten gemacht werden. Ryan hatte auf dem Weg hierher pausenlos darüber nachgedacht und abgewogen, wie er denn zu der Drächin stand. Er besaß streng genommen nicht das Recht, sie in einem Pokéball an seiner Seite mitzuführen. Selbst wenn all die Umstände um den Splitter und den drohenden Krieg nicht existieren würden, besäße er es nicht. Denn er hatte den Kampf gegen sie nicht allein bestritten. Nicht einmal gewonnen hatte er ihn. Nur war ihm das hier und jetzt egal. Er wollte ihre Unterstützung, wollte sie auf seiner Seite wissen. Und bei Arceus, er wollte sie auch als Freundin wissen.

    Ryan war ungewöhnlich emotional, wenn es um das Einfangen eines Pokémon ging. Er gewann nicht einfach nur einen neuen Kämpfer, auf den er zurückgreifen konnte. Er gewann einen Partner, der für ihn unersetzbar wurde und für den er selbst ebenfalls unersetzbar werden wollte. Nicht jeder Neuling war erfreut darüber gewesen, seine Freiheit gegen die Wärme einer Gemeinschaft, eines Teams von Kameraden einzutauschen. Das hatte sich am jüngsten Neuzugang Kirlia nicht zum ersten Mal bestätigt. Nidoking hatte ihn anfangs, damals noch als kleines Nidoran, eines seiner allerersten Pokémon, einige Male attackiert. Von seinem Vorhaben abhalten lassen hatte Ryan sich durch solche Hürden aber keineswegs. Egal wer und egal wie lange bereits – alle Pokémon, die er zu seinen Partnern machte, sollten ein gutes Leben mit ihm führen. Und dies wollte er auch für Ruby tun. Sie war jetzt bei ihm, also würde er alles Menschenmögliche unternehmen, damit sie ihren Hass auf ihn vergessen und ihn nicht nur respektieren, sondern auch mögen lernen konnte.

    „Seid gegrüßt.“

    Latios sprach sehr gelassen, beinahe sorglos und seine Schwester machte einen ähnlichen Eindruck. Lächelte sogar heiter, während sie ebenfalls in die Runde grüßte. Der melodische Klang in ihren telepathischen Stimmen raubte Sandra und Andrew, die niemals zuvor Vergleichbares erlebt hatten, noch immer den Atem. Es war, als würde ihnen kontinuierlich das Echo einer Tropfsteinhöhle anhängen und ihr Klang drang nicht nur in die Ohren, sondern tief in den gesamten Körper.

    „Ich hoffe, ihr konntet euch alle etwas erholen“, erkundigte sich Mila. Mit euphorischen Bestätigungen hielt man sich aber eher zurück. Zuckende Schultern, missmutige Seufzer und müde Blicke reichten ihr als Antwort absolut aus. Besser nicht weiter darauf eingehen. Sie sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren.

    „Seid Ihr bereit, Ryan?“

    Er wusste dies selbst nicht zu beantworten. Jedoch kam ein Rückzieher für ihn jetzt nicht in Frage, weshalb er schätzte, das bejahen zu können. Vorsichtig nickte er Mila zu und griff in die Pokéballtasche an seinem Gürtel. Die Kapsel ganz außen am Rand, der er selbst durch seine Lederhandschuhe hindurch noch etwas des getrockneten Schlamms der letzten Nacht anhaften spürte. Ihm war danach, sie nachdenklich anzustarren, als könne er so bereits erste, herantastende Blicke mit Ruby austauschen. Natürlich Blödsinn, weswegen er den Pokéball bewusst gar nicht erst ansah. Ryan vermutete aber, dass es in diesem Moment wohl jedem so ergangen wäre. Als letztes, kurzes Hinauszögern. Doch das würde seinen ach so festen Entschluss infrage stellen lassen.

    Melody trat wieder einmal an seine Seite und legte beistehend eine Hand auf seinen Rücken. Er sah aus dem Winkel seiner Augen in die Ihren. Und die marineblaue Iris, die er von Lugia einst geschenkt bekam, leuchtete hoffnungsvoll auf, als sie ein aufrichtiges und zuversichtliches Lächeln erblickten. Hatte sie sich von den Zwillingsdrachen anstecken lassen? Oder von Mila? Sicher nicht. Das war vorher noch nie geschehen. Wer sich allerdings von ihr anstecken ließ, das war der junge Trainer mit dem Pokéball in der Hand, welchen er per Knopfdruck vergrößerte und fest umklammerte. Andrew und Sandra hatten sich entschieden, die Situation ausnahmsweise als stille Beobachter mitzuerleben. Eigentlich hatte gerade der aufgedrehte Trainer nicht übel Lust, sich hier auch einmal zu Wort zu melden, um nicht vergessen oder unbewusst außen vorgelassen zu werden. Doch dieser Moment brauchte ihn ganz einfach nicht. Brauchte keine Worte von ihm.

    Ryan trat ein paar Schritte aus der Gruppe heraus und richtete die rot-weiße Kapsel auf einen verhältnismäßig freien Punkt Wiese. Eine Lichtung wie vor einigen Stunden gab es hier keine, doch der Platz sollte auch für das ausgewachsene Brutalanda Weibchen reichen.

    Es fühlte sich an, als poche jedes der fünf Menschenherzen ein einzelnes Mal deutlich lauter und fester in ihrer Brust, als der Pokéball aufsprang in ein grelles, weißes Licht die Gestalt Rubys preisgab. Sie alle hatten so einiges erwartet, was die Drächin als Allererstes tun würde – und die wenigsten darunter waren erbaulich. Jeder hatte falsch gelegen. Denn sie tat gar nichts.

    Da stand sie nun, verwundet und geschunden, vom Kampf der letzten Nacht gezeichnet. Schrammen, Schnitte und Blutergüsse fast am ganzen Körper. Dennoch die Flügel weit ausgebreitet und den Kopf so weit wie möglich erhoben. So stolz und erhaben man mit diesen Kampfspuren noch stehen konnte, präsentierte sie sich. Jedoch schweigend und stillstehend.

    Ihre Augen schienen noch immer feindselig und zornerfüllt. Ihre Körpersprache war jedoch völlig ruhig. Als stünde sie gerade das erste Mal vor ihnen und überlege noch immer, ob sie denn Milas Angebot, sich mit ihnen zu verbünden, annehmen sollte. Die Drachenpriesterin war es auch, die sich als erstes rührte und vor Latios und Latias aufbaute. Wie beabsichtigt zog sie die Aufmerksamkeit des Brutalanda damit auf sich, welche unweigerlich zu den Zwillingsdrachen wechselte. Wie sie deren Anwesenheit interpretierte, konnte nicht einmal die Priesterin erahnen. Kein Blinzeln oder Zucken der Nüstern. Kein Knurren, kein Grollen und auch sonst kein Laut. Sie sah ihnen einfach in die Augen. Der Blick solch höherer Geschöpfe war etwas Besonderes. War in der Lage, Dinge zu vermitteln, die Menschen mit tausenden ihrer Worte nicht vermochten. Rasch erkannte sie, was das Bestreben von Rayquazas Lieblingen war und was sie nun von ihr erwarteten.

    Doch Ruby war weder eine Untergebene, noch dazu verpflichtet oder angehalten, den beiden Folge zu leisten. Sollte nicht ihrer aller Vater selbst zur Erde hinabsteigen und sie auffordern, sich dem Willen der Zwillinge anzuschließen, so oblag die Entscheidung über ihr Denken und Handeln allein ihr selbst. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass Latios und vor allem Latias einem falschen Menschen ihr Vertrauen schenkten.

    Von ihren so einzigartigen Augen schweifte Rubys Blick zu einem ebenso markanten Paar. Hatten sie vor einigen Stunden noch wie ein silbrig schimmernder Vollmond geglänzt, waren sie nun marineblau, jedoch keineswegs von geringerer Wirkung. Nicht jeder beliebige Drachen hätte sie sofort erkannt, doch Ruby lebte bereits sehr lange auf dieser Welt – hatte dennoch gerade mal ihr halbes Leben gelebt – und wusste um ihren Ursprung. Angesichts der Makel, die sie selbst jetzt in diesem Jungen sehen konnte, musste sie sich fragen, was denn den Wächter der Ozeane geritten hatte, ihn zu seinem Vertrauten gemacht zu haben.

    Die erdrückende Stille hielt sehr lange an. Mila wusste, sie hätte eigentlich als erste das Wort ergreifen müssen. Ihr war aber nichts eingefallen, womit sie eine friedliche Unterhaltung angemessen beginnen sollte. Die letzte Nacht wollte sie lieber mit keinem Wort erwähnen. Sie war vergangen und ihre Geschehnisse sollten am besten tief vergraben werden. Zu tun, als wäre sie nie gewesen, erschien allerdings genauso falsch. Melody und Andrew hatten Ruby ohnehin wenig zu sagen und Sandra traute sich höchstens einige arg distanzierte, eventuell gar unterwürfige Worte zu. Dass solche jetzt weiterhalfen, daran zweifelte sie jedoch stark. Letzterer hatte offen gesagt auch noch zu viel Angst, um sie einfach anzusprechen. Melody war zwar der festen Überzeugung, dass zwischen ihnen und dem Brutalanda alles gut werden würde, sah sich aber auch nicht in der Position, als erste das Wort an sie zu richten.

    Letztendlich war es naheliegend gewesen, dass Ryan den ersten Schritt wagte. Andernfalls hätte Latios bald einschreiten müssen, doch der junge Trainer, welcher auch der von Ruby sein wollte, würde einen Vermittler strikt ablehnen. So etwas brauchte man für Fremde. Vor ihm war niemand Fremdes. Nur eine neue Partnerin. Daran wollte er ganz fest glauben.

    „Tut es noch weh?“

    Mila stockte fast der Atem. Ryan tat genau das, was sie tunlichst umgangen hätte. Nämlich ihren Kampf ansprechen. Sie an den Moment erinnern, in dem sie mit brennendem Hass und mörderischen Intentionen ihre Flammen nach ihnen gespien hatte.

    Die Augen der Drächin zogen sich ein wenig zusammen, wurden zu Schlitzen und ein zurechtweisendes, aber glücklicherweise noch nicht zu aggressives Grollen entkam ihrer Kehle. Er war wirklich der Allerletzte, dessen Mitleid sie benötigte.

    „Natürlich. Du bist sehr stark, dafür braucht keiner mehr einen Beweis“, sprach Ryan unbeirrt weiter. Damit verdutzte der Ruby gar etwas. Er machte nicht den Eindruck, als hätte er ihre Geste gar nicht oder missverstanden. Fast schon, als hätte er mit genau dieser Reaktion gerechnet.

    „Du bist sogar unglaublich stark. Deine Kraft ist mehr als überwältigend.“

    Wollte er ihr schmeicheln? Weniger als sein Mitleid brauchte sie seine Bestätigung dafür. Natürlich war sie ungeheuer stark. Kein normalsterbliches Wesen reichte an sie heran! Das war keine arrogante Einbildung ihrerseits, sondern schlicht und ergreifend ihre Schlussfolgerung aus den Kämpfen, die sie über die letzten Jahrzehnte ausgetragen hatte.

    „Dessen ungeachtet…“, fuhr er etwas leiser fort.

    „… hoffe ich, du kannst allen Schmerz vergeben, den wir dir bereitet haben.“

    Ryans Augen ließen für einem Moment ab von Ruby, sahen durch die umherstehenden Bäume, die ihm das Flüstern des Windes zuspielten und ihre Kronen sanft über sie alle wogen, während er einen bestimmten Moment dieser Nacht noch einmal vor seinem inneren Auge abspielte. Dann wanderte sein Blick ihren Hals hinab auf ihren Rücken und er entschied, das Wagnis einzugehen.

    Mit strammen Schritten ging er auf Ruby zu, lenkte sie zu ihrer linken Flanke. Ein geradezu ungläubiges Schnauben war ihre erste Reaktion. Als er sie fast berühren konnte, wich sie einen Schritt zurück und konnte sich selbst dafür schon im nächsten Moment dafür in den Schweif beißen. Was war los mit ihr? Was in aller Welt tat der Narr da überhaupt? Hatte er auch nur die geringste Ahnung?

    Sandra und Melody wollten gar etwas sagen, doch blieb es ihnen beiden im Hals stecken. Andrew klappte glatt die Kinnlade runter und er schlug die Hände über den Kopf. Nur Mila weitete lediglich ein bisschen die Augen. Nicht einmal vor Schock oder aus Furcht, Ryans Leben könne in diesem Moment beendet werden. Sollte sich Ruby dazu entscheiden, wären Latios und Latias die Einzigen, die das zu verhindern vermochten. Falls sie schnell genug reagieren konnten.

    Nein, dieser Verblüffung seitens des Brutalanda haftete keine Empörung an. Das durchschaute sie, die sie doch besser als jeder andere Mensch kannte, ganz deutlich. Fast würde sie sogar behaupten, dass ihr dieser dreiste Mut imponierte. Das konnte aber auch Wunschdenken sein.

    Ryan wagte sogar noch mehr, als er spürte, dass Ruby sich nicht vor ihm zurückzuziehen beabsichtigte und ließ sehr sanft seine Fingerspitzen ihre Schuppen streicheln. Am Ansatz ihres Flügels angekommen, drehte er sich noch einmal, suchte den Blick der Drächin, den er unablässig auf sich ruhen fühlte, während er sich angenähert hatte. Seine Stimme klang nüchtern, aber sie vernahm etwas Respektvolles daraus.

    „Lässt du mich danach sehen?“

    Danach? Was wollte er sehen? Eine ihrer Wunden? Von welcher sprach er de…

    Sie sog scharf Luft ein und ihre Augen leuchteten für einen Moment auf. Die Stichwunden, die sie durch Sheila erfahren hatte! Was diese anbelangte, würde es sogar Sinn machen, wenn er für diese um Vergebung bat – obwohl es eigentlich die tun müsste, die ihr diese Wunde zugefügt hatte. Allerdings nur, wenn er ein gewissenhafter und guter Mensch war. Und das wäre so ziemlich das Gegenteil von dem, was sie vergangene Nacht noch in ihm gesehen hatte.

    Ruby wandte den Kopf leicht von Ryan ab, sah skeptisch aus dem Winkel ihres linken Auges auf ihn herab und schließlich für einen kurzen Moment zu Mila und den Zwillingsrachen. Die übrigen Menschen waren für sie fast ausgeblendet. Sie scherten die Drächin schließlich nicht.

    Ruby war sich in diesem Moment nicht sicher, was Latios und Latias ihr hier und jetzt raten würden. Was sie an ihrer Stelle tun würden. Wollten sie ihr überhaupt eine Entscheidung nahelegen oder beobachteten sie ganz einfach nur? Dagegen war Mila mit ihrem vertrauensvollen Lächeln die Offenheit in Person. Zweifellos stand sie absolut hinter diesem Jungen. Vertraute ihm. Die Frage war nur, wie weit Ruby wiederum dem Urteil der Priesterin trauen konnte.

    Das Brutalanda entschied, dass sie zuallererst diese offensichtliche Unsicherheit verbannen sollte, die man ihr gewiss ansah. So durfte sie sich nicht durchschauen lassen. Ohne einen weiteren Laut und ohne den Menschen, der den Drachensplitter trug, noch eines Blickes zu würdigen, legte sie sich nieder. Gestattete ihm, sie zu berühren und ihre Wunden zu begutachten. Sie würde es niemals zugeben, doch sie plagten Ruby durchaus, obgleich sie in einem Kampf keinen ernsthaften Nachteil darstellen würden.

    Ryan dankte Ruby aus tiefstem Herzen, dass sie ihm diese Chance gewährte und hoffte inständig, dass sein Blick ihr das vermitteln konnte. Der massige Körper reichte selbst in liegender Position noch fast bis an seine Brust und er musste sich etwas nach vorne lehnen, um die Einstiche zu sehen. Das Blut daran war bereits getrocknet und Schorf hatte sich an den Rändern gebildet. Ryan erinnerte sich zurück, was er in Faustauhafen von Schwester Joy über die Selbstheilung von Dragonir erfahren hatte und fragte sich, ob alle Drachentypen ähnliche Fähigkeiten bei der Regeneration besaßen. Falls ja, würden davon wahrscheinlich nicht einmal Narben bleiben. Dennoch wäre ihm wohler, hätte er Ruby ruhigen Gewissens im Pokémoncenter untersuchen lassen könnte.

    Nun hatte Ryan sie erfolgreich dazu gebracht, sich ihm so weit anzuvertrauen, dass er vor fast nichts mehr zurückschreckte. Er zögerte bei keiner Bewegung und seine Hände waren ruhig. Der Verschluss eines Lederhandschuhs wurde geöffnet und seine rechte Hand davon befreit, um Ruby direkt berühren zu können. Er tastete über ihr blaues Schuppenmuster, fühlte die Wärme ihres kräftigen Körpers und das getrocknete Blut. Die Drächin ließ in gewähren, ließ alles geschehen, ohne ihn zurechtzuweisen. Mila beobachtete sie ganz genau, doch viel gab sie nicht von sich preis. Ihre Augen starrten nachdenklich über den Waldboden. Fast so, als beachte sie Ryan gar nicht. Als wäre sie viel zu beschäftigt mit dem Überlegen und Abwägen, ob sie ihn anerkennen konnte.

    Tatsächlich ging es bei ihr nicht ums Wollen. Selbstverständlich wollte sie, dass der Träger von Rayquazas Herz ein starker Mensch war, fähig im Kampf und vor allem fähig, den drohenden Krieg zu verhindern. Aber Ruby war ein extrem stolzes Brutalanda. Einem Charakter wie ihr war es einfach unmöglich, sich auf die Seite der Schwachen zu schlagen und gewissermaßen unterzuordnen. Nur hatte sie doch an seinem Despotar feststellen können, dass er keinesfalls schwach war. Oder nicht? So sie auch siegreich, nicht nur über ihn, sondern auch über die Kämpfer von Mila und Sandra gewesen war, hatte dieses Pokémon ihr enorm viel abverlangt. Das hatten in ihrem gesamten Leben nur eine Handvoll geschafft.

    Ruby wurde aus ihren Gedanken gerissen, da sie eine menschliche Hand nun über ihre gesamte linke Seite streichen spürte. Ryan ließ sich vom Glanz der Schuppen im Sonnenlicht beinahe hypnotisieren und rann seine Finger entlang ihrer Flanke, ihrer Schulter, ihres Halses. Bis er schließlich an ihren Kopf gelangte und… sie anlächelte? Und wie er es erst tat. Getrübt? Nein, entschuldigend.

    „Ich bin froh, dass Sheila gezögert hat.“

    Bei allem, was geschehen war, hatte Ruby diesem Moment beinahe vergessen. In dem dieser junge Mensch die Partnerin Milas, die Meuchelmörderin, davon abgehalten hatte, sie zu töten. So sehr sich das Brutalanda auch davon abwenden und winden mochte, hätte dieses Mädchen letzte Nacht durchaus ihr Leben beenden können. Und ihr war auch bewusst, wo der Ursprung dieses Zögerns lag, das er eben angesprochen hatte. Es war allein seinetwegen gewesen.

    Ryan sah zurück in die Gruppe, suchte dabei den Blick von Johtos stärkster Arenaleiterin.

    „Findest du nicht auch, Sandra?“

    Sie schmunzelte. Sie hatte immer gewusst, dass Ryan Carparso kein gewöhnlicher Trainer war. Das hier übertraf jedoch ihre Erwartungen an ihn. Dieser Verrückte.

    „Absolut“, bestätigte sie nickend und wagte nun ebenfalls einige Schritte auf Ruby zu. Sie sah ihr direkt in die Augen und war froh, dies nun mit einem ehrlichen Lächeln anstatt zittriger Knie tun zu können. Wann hatte ihr wohl zum letzten Mal eine andere Person so viel Sicherheit gegeben? Und dann noch jemand, der jünger war als sie?

    „Ich hätte ihr es sonst nie verzeihen können.“

    Sie kniete sich vor die Drächin, war somit auf Augenhöhe. Aber nur, da sie noch immer auf dem Boden ruhte. Sandras Augen blickten fest in diese wilde Iris, lange und tief darin versunken, ehe sie sporadisch ihre gesamte Erscheinung in Augenschein nahm. Sie war ein überwältigendes Geschöpf.

    „Du bist eine wahre Zierde deiner Art, Ruby. Ich spreche sicher für alle, wenn ich sage, dass dieser Moment eine Ehre ist.“

    Ruby konnte keine Lüge in ihren Worten feststellen. Dabei würde sie es eigentlich gerne. Denn den Feind von gestern wollte sie nicht heute schon Freund nennen. Gab es da nicht ein Sprichwort unter den Menschen, das genau dies nahelegte?

    Natürlich würde niemand Sandra laut widersprechen. Doch für Andrew ging sie damit in Wahrheit ein bisschen zu weit. Er mochte nicht, wie leichtfertig die meisten Menschen mit dieser Floskel umgingen oder sie scheinheilig missbrauchten. Daher würde er sie nicht unbedacht benutzen – obwohl er natürlich ebenfalls die ungeheure Kraft des Brutalanda respektierte. Sehr sogar. Aber die Drachenmeisterin empfand mit Sicherheit genau so, wie sie es gesagt hatte. Natürlich tat sie das, da sie jeden Tag ihres Lebens von Drachen umgeben war und von morgens bis abends an fast nichts anderes dachte.

    Ryan begab sich wieder in Rubys unmittelbares Sichtfeld, war ihr dabei nahe genug, dass sie ihm den Kopf würde abbeißen können, ohne auch nur aufzustehen. Von solch mörderischen Gedanken war jedoch keinerlei Spur mehr in den Seelenspiegeln der erhabenen Drächin. Stattdessen faszinierte es sie, wie ehrlich ihre Gegner der vergangenen Nacht um ihr Wohlergehen, nicht nur besorgt schienen, sondern wahrhaftig waren. Sie hatten doch eigentlich keinen Grund dazu.

    „Ruby“, begann Ryan schließlich, zögerte dabei zum allerersten Mal ein klein wenig. Doch das konnte er angesichts dessen, was er zu sagen beabsichtigte, nicht verhindern. Er hielt ihr den Pokéball vor, der nun ihrer war. Mit dem sie eingefangen worden war.

    „Das hier hat keinerlei Macht über dich. Du bist noch immer deine eigene Herrin und kannst tun, was auch immer du für richtig hältst.“

    Es war absolut korrekt, sie nicht dazu zu drängen, sich mit ihrem „Gefängnis“ abzufinden. Aber, ihr vollkommene Freiheit zu lassen, erachtete sogar Mila mindestens als gewagt. Sie fürchtete stark, dass Ruby dies ohne lange zu überlegen ausnutzen würde. Besonnenheit hatte nie zu ihren größten Stärken gezählt. Ihre Gattung war von Natur aus sehr impulsiv.

    Ryan ging jedoch gar einen Schritt weiter und legte seine Hand fest auf die Wange des Brutalanda, lenkte somit ihren Blick strikt auf sich. Wie schon bei anderen Menschen und Pokémon in den letzten Tagen, sollte sie seinen unerschütterlichen Willen darin erkennen können. Wenn sie das tat, ging er auch das Risiko ein, jene Hand zu verlieren – obgleich er regelrecht betete, dass es gut ausgehen würde.

    „Aber wenn du tatsächlich an langanhaltenden Frieden und vielleicht sogar Freundschaft zwischen Drachen und Menschen glaubst, dann sollten wir nicht gegen-, sondern miteinander kämpfen.“

    Für einen winzigen Moment leuchteten Rubys Augen regelrecht auf, als wäre ihr gerade ein Wunder versprochen worden. Nicht nur Frieden, sondern Freundschaft? Das war sein, ihr Wunsch. Ihr Ziel. Es klang beinahe zu schön, um wahr zu sein. Eine Fantasie, eine naive Träumerei. Ungeachtet, was die Drächin mit diesem Menschen vorgehabt oder in der Vergangenheit anderen angetan hatte, zürnte sie dieser Rasse nicht. Nur einzelnen Individuen – und da gab es selbst unter ihrem eigenen Volk genug schwarze Voltilamm.

    Dennoch ging er mit dieser Geste, dieser Berührung, nun doch zu weit. Mit einem Ruck stand sie auf und stieß den jungen Mann von sich. Ihrer ungezügelten und ungestümen Kraft war es geschuldet, dass er sogar vom Boden abhob und auf den Rücken geworfen wurde. Leid tat Ruby dies sicher nicht, doch beabsichtigt hatte sie es offen gesagt ebenso wenig. Nun war es aber geschehen. Sie straffte bereits ihre Haltung und breitete die Flügel aus. Ihre Muskeln spannten sich. Gleich würden sie alle wieder ihre Pokémon herbeirufen und selbige auf sie hetzen. Sie atmete tief ein. Sie würde sie alle mit tosendem Gebrüll und lodernden Flammen empfangen.

    Keiner rührte sich. Keiner von ihnen. Auch nicht Latios oder Latias. Sie alle blickten sie bloß weiter so eindringlich an. Jeder auf genau dieselbe Art. Versuchten die Narren, sie einzuschüchtern, indem sie sich so gegen sie sammelten? Nein, das war es nicht. Was dann? Was ging in ihren Köpfen nur vor? Und warum scherte es sie überhaupt? Sie hätte sie längst alle verbrennen können, so die Zwillignsdrachen sich nicht zum Einschreiten entscheiden sollten. Doch die sahen mit derselben festen Überzeugung aus ihrer schwebenden Position auf sie herab. Mit der Überzeugung, dass diese angestrebte Freundschaft möglich war. Die Hoffnung darauf hatte Ruby doch eigentlich längst aufgegeben. So schwer es ihr auch gefallen war. Doch warum fiel es ihr dann so schwer, nun wieder daran zu glauben?

    „Wir verlangen nicht nach deiner Hilfe!“, erhob sich plötzlich eine junge, männliche Stimme. Das blonde Haar verdeckte den Großteil seines Gesichts und auch als er sich aufsetzte, den Kopf dabei leicht nach vorn beugte, verschleierte es seine marineblauen Augen. Er atmete einmal tief ein und richtete jene schließlich wieder auf die von Ruby.

    „Wir bieten dir unsere an.“

    Schlagartig war es wieder still. Nur ein erneutes, verblüfftes Schnauben des Brutalanda erklang und sie zog ungläubig den Kopf zurück. Beinahe wäre sie wieder einen Schritt von dem Jungen gewichen, doch davon hatte sie sich geradeso abhalten können.

    Melody kam vorsichtig, um ja keinen Hinterhalt vermuten zu lassen, an Ryans Seite und kniete sich zu ihm. Der wollte seinen Blick noch nicht von Ruby ablassen, ergriff aber fest ihre Hand und zog sie an sich. Dieses Vertrauen. Konnte es wirklich so eisern sein?

    Sandra flankierte den jungen Trainer ebenfalls und lächelte geradezu siegessicher.

    „Wir alle tun das. Damit wir vereint Rayquazas Herz zurückzubringen und ein Beispiel für die angestrebte Freundschaft sein können.“

    Andrew entschied, dass es genug des abseits Stehens war und trat nicht nur neben, sondern vor Ryan und bot ihm eine Hand an. Der ergriff sie dankend und ließ sich hochziehen, suchte nach einem kurzen Augenkontakt samt Nicken wieder Rubys Blick. Andrew fing ihn aus dem Augenwinkel ebenfalls auf. War sogar mutig genug, sie im Stillen zu fragen, was es noch zu zögern gäbe. Das war bestenfalls geringfügig grenzdebiler, als noch vor ein paar Tagen, als er Sheila auf´s Korn genommen hatte. Von ihm war hier eh nichts abhängig. Er war gar nicht einmal unzufrieden damit, dass er in dieser Sache nicht die tragende Rolle spielte. Obwohl er sich sonst so gerne in den Vordergrund stellte.

    Es erschien irrwitzig, dass sich gerade hier und jetzt Mila und die Zwillingsdrachen noch am weitesten entfernt und nach wie vor schweigend aufhielten. Im Falle der Drachenpriesterin dafür mit einem gerührten Lächeln. Sie hatte bereits erkannt, was in Ruby gerade vorging und sah den Ausgang dieser Konfrontation klar vor sich. Und dieser stimmte sie so glücklich und erleichtert, wie seit hundert Jahren nichts mehr auf dieser Welt.

    Die Drächin grollte nachdenklich, während ihr Blick noch einmal über die Gruppe schweifte. Mit dieser Entschlossenheit und Kameradschaft allein war es noch nicht getan. Ohne die nötige Stärke war all das nämlich nutzlos. Da war es das einzig Richtige, sich an sie, das stärkste lebende Brutalanda zu wenden. Die einzige Frage, die noch blieb, war, ob sie ihnen allen, besonders aber dem Träger des Drachensplitters, diese Stärke leihen wollte.

    Ruby entschied sich, die Antwort auf diese Frage nicht spontan und leichtfertig zu treffen. Begleitet von einem kurzen, weniger aggressiven Knurren sowie einem Nicken deutete sie auf den Pokéball in Ryans Hand. Ihr gezackter Schädel senkte sich bereits ein Stück zu ihm herab. Dem Blonden war ihre Intention nicht ganz klar, doch tat er einfach, wozu er glaubte, aufgefordert worden zu sein und hielt ihn dem Brutalanda offen hin. Dieses schenkte ihm nur noch einen letzten, äußerst knappen Augenkontakt, der ihn warnen sollte. Davor, sie nicht zu enttäuschen.

    Sie betätigte den Knopf selbst und wurde schließlich von einem roten Lichtstrahl ins Innere gezogen.


    Genau wie bei ihrem Erscheinen, zog auch Rubys Verschwinden eine lange Stille nach sich. Während sie anhielt, starrte Ryan unentwegt die Kapsel in seiner Hand an. Er konnte kaum glauben, was gerade passiert war. Er fühlte sich beinahe wie in dem Moment, als er genau diesen Ball auf Ruby geworfen und er nach einigen endlos langen Momenten geschwiegen hatte.

    „Ich will nicht den Spielverderber geben“, erklang schließlich Andrews nüchterne Stimme.

    „Aber Zustimmung sieht anders aus.“

    In der Tat. Bis zu dem Augenblick, in dem sie verschwunden war, hatte man ihr die Skepsis ansehen können. Ruby war noch nicht überzeugt von ihnen – von Ryan. Doch sie war bereit, sich überzeugen zu lassen.

    „Viel mehr konnten wir nicht erwarten, Andrew“, entgegnete ihm Mila. Die lächelte glücklich und beseelt, als sei der Splitter gerade wohlbehalten wieder in Heiligtum der Drachengarde gelangt.

    „Doch seid versichert, ihr habt gerade etwas nahezu Unmögliches vollbracht. Ihr alle.“

    Aus heiterem Himmel huschte Latias, fast wie ein verspieltes Wablu, an ihre Seite und lächelte sie beipflichtend an. Ihr Bruder behielt seine kühle Ruhe und erbarmte sich zu einer genauen Erläuterung.

    „Im Moment hat sie sich weder für, noch gegen euch entschieden. Sie wird jedoch bis auf Weiteres Rayquazas Herz schützen und ihm daher so nahe wie möglich sein.“

    Mila schien das so aufzugreifen, als sei die Freundschaft, die sie zunächst mit ihr und auf lange Sicht zu allen Drachen aufzubauen versuchten, damit bereits besiegelt. Und sie hielt nicht lange hinterm Berg, warum sie das tat. Denn die Ernüchterung in Ryans Gesicht erachtete sie als völlig unangebracht. Er hatte sich wegen nichts zu grämen. Das Gegenteil war der Fall.

    „Ihr seid in ihren Augen würdig, Ryan. Sonst wäre diese Begegnung nicht friedlich ausgegangen. Und je öfter sie sich dessen vergewissern wird, desto mehr wird sie sich Euch öffnen.“

    Ryan sah zu Mila rüber, als könne er es nicht glauben. Als wolle er es nicht. Es klang zu schön, um wahr zu sein. Dabei hatte er sich doch genau dies zum Ziel gemacht.

    „Und was soll ich tun, damit sie mich weiter als würdig erachtet?“

    Er hatte es lange nicht gesehen. Wie Milas Lächeln von einem fast schon süffisanten Blinzeln begleitet, noch breiter wurde. Das Lächeln, welches er anfangs so gehasst und dann irgendwie zu mögen gelernt hatte. Er spürte schließlich eine Hand auf seiner Schulter. Er fand sich vor Sandra wieder, die Milas Lächeln fast imitierte.

    „Handle entsprechend deiner Worte von gerade eben. Sei so stark, wie du zu sein versprachst.“

    Dieses Versprechen hatte er bereits Latios gegeben und wenn seine Gefühle stark genug waren, selbst einen legendären Drachen zu überzeugen, so gab es gegenüber dem Brutalanda nichts zu befürchten.

    Und schließlich spürte Ryan, wie der Arm, der Rubys Pokéball hielt, fürsorglich umschlossen wurde. Dazu drängt sich ein schlanker, weiblicher Körper, der ihn an sich drückte. Melody lächelte tief und eindringlich, und ihre Miene zeugte von grenzenlosem Vertrauen. Ryan sah ihr zu, wie sie schließlich eine Hand an den Ball führte und dabei über den Rücken von seiner strich. Große Ansprachen oder tiefgründige Worte waren hier gar nicht vonnöten. Es gab doch nur einen Rat, den man ihm mitzugeben brauchte.

    „Sei du selbst.“

    Melody hatte verstanden, wie Mila freudig feststelle. Mehr brauchte Ryan gar nicht tun, damit Ruby sich ihm anvertrauen konnte. Es würde dauern, zweifellos. Aber auf lange Sicht würden sie Freunde werden. Daran glaubte sie nicht nur – sie war fest davon überzeugt.

    Kapitel 38: Hinterhalt


    Er starrte ihn zunächst nur an. Als wüsste er nicht, was er tun sollte. Ganz so sehr stand er zwar noch nicht neben sich, doch genau jetzt zweifelte er doch, ob er das Richtige getan hatte. Hinsichtlich ihres Überlebens war es das hundertprozentig, wie er jedoch erst im Laufe des nächsten Tages schlussfolgern würde. Die Frage war, wie es mit der Drächin weiter ging. Konnte er sie nun Partnerin nennen? Dürfte er das überhaupt? Und würde sie ihn denn akzeptieren und ihm vertrauen?

    Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Und erwartete Ryan, als er den Kopf drehte, bereits Melody oder Andrew zu sehen, blickte er unerwartet in zwei funkelnde Rubine. Sheila zog gerade behutsam ihren Schal ein Stück herunter und offenbarte sich ihm völlig. Noch nie hatte er etwas bei ihr gesehen, dass einem Lächeln zumindest so nahe kam. Es fühlte sich an wie Lob und Aufmunterung zugleich.

    Ein paar Meter weiter traute Andrew kaum seinen Augen, allein ob der Geste. Und ihren Gesichtsausdruck sah er noch nicht einmal. Er blieb für einige Momente fassungslos stehen, selbst als Melody bereits an ihm vorbei rannte und auch Pete sich mit Mila, die er noch dezent stützte, zum Rest der Gruppe schleppte.

    Noch ehe es einer von ihnen zu Ryan und Sandra geschafft hatte, verengte Sheila, die gerade den ihren geliebten Dolch wegsteckte, plötzlich alarmiert die Augen und ihr Blick hutschte in das finstere Unterholz. Der Rest bemerkte das gar nicht. Genauso wenig, wie sie die, die sich da herangeschlichen hatten, bemerkten. Selbst die Attentäterin hatte viel zu spät Notiz genommen. Eine Schande, ungeachtet der tosenden Drächin, der ihre Aufmerksamkeit zwangsläufig gegolten hatte.

    Ryan hatte gerade den Griff fest um den Pokéball gelegt, als er urplötzlich von den Knien gestoßen wurde. Noch im Fallen blieben seine Augen an Sheila hängen, die gerade auch Sandra zur Seite stieß, ehe ein kurzes, aber sehr lautes Geräusch sie alle aufschrecken ließ. Jeder wusste, was es gewesen war. Von Melody abgesehen hatte jeder hier dieses Geräusch schon mal vernommen. Ryan und Andrew hatten das erst kürzlich, noch vor ihrer Ankunft in Hoenn. Es war ein Schuss. Das wusste gerade erstgenannter sofort, auch wenn er es nicht glauben wollte. Auch seine Augen mussten ihn belügen. Zumindest wollte er, dass es so war. Doch das Blut, das ihm hier entgegen schlug, war real. Das spürte er, als es sein Gesicht benetzte. Er fühlte die Wärme, fühlte es seine Wangen hinunterlaufen und schließlich vom Kinn tropfen. Für ihn spielte sich alles wie in Zeitlupe ab, während Sheila vor ihm zusammenbrach. Mehr Blut trat aus ihrer linken Schulter und durchtränkte die weiße Bluse.

    „Sheila!“

    Es war wenig überraschend die Drachenpriesterin, die nach ihr rief. Und der Schrei war gleichermaßen von Entsetzen erfüllt, wie zuvor bei ihren beiden Pokémon. Sie wollte bereits losstürmen, noch hielt Pete sie instinktiv fest und verhinderte so erneut, dass Mila ihrerseits entkräftet zu Boden ging.

    Sandra war die erste, die an Sheilas Seite kam und vorsichtig versuchte, sie auf den Rücken zu drehen. Doch die Assassine stemmte energisch einen Arm in die schlammige Erde und richtete sich auf in eine kniende Position.

    „Nicht so schlimm“, beteuerte die ächzend und wenig überzeugend. Rasch riss sie mit der freien Hand ein Stück ihrer Bluse ab und drückte es auf die Wunde. Ryan war für mehrere Sekunden wie versteinert gewesen, völlig konsterniert von dem, was gerade passiert war. Nun kam er wieder zu sich und tat eben dasselbe. Es war ein glatter Durchschuss. So wurde ein Fetzen seines Shirts zweckentfremdet, um direkt neben ihrem Schulterblatt die Blutung zu dämmen. Wäre dieses getroffen worden, würde es vermutlich weit schlimmer um Sheila stehen.

    Andrew – so sehr auch er sich gerne Sheilas Zustand vergewissert hätte – preschte mit seinem Psiana an der Seite an allen vorbei und spähte in die Richtung, aus der er den Schuss vermutete. Mila und Pete gingen neben der Getroffenen in die Hocke, während Melody beinahe zurückgelassen wurde. Die hatte nämlich vor Schreck die Hände vor den Mund geschlagen und starrte auf das Blut, als habe sie bereits eine Leiche vor sich.

    „Halt dich bereit“, wies Andrew unterdessen Psiana an. Wer auch immer da geschossen hatte, könnte es erneut versuchen. Doch eine simple Kugel wäre für die Psychokatze gar einfacher abzufangen, als so manche Pokémonattacken. Es erklang jedoch kein weiterer Schuss. Lediglich trockenes Gelächter. Es waren zwei Stimmen, ein Mann und eine Frau, sehr offensichtlich.

    „Na sag schon, bin ich gut?“, raunte es sehr zufrieden und geradezu abartig glücklich über die Pein, die er über das Mädchen brachte, die so viele von ihnen Kollegen auf dem Gewissen hatte.

    „Spiel dich nicht so falsch auf, Carlos“, lautete die Antwort, obgleich auch ihre Stimme auf eine perverse Weise amüsiert klang.

    „Auf die hattest du doch gar nicht gezielt. Außerdem lebt sie noch.“

    Und sie war fest entschlossen, Blut mit Blut zu vergelten. Sheila konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Zorn verspürt hatte. Es war möglich, dass es länger zurück lag, als das Ende ihrer Ausbildung. Doch das brennend heiße Gefühl, das sie regelrecht niederkämpfen musste, um nicht sofort nach ihren geliebten Dolchen zu greifen und die beiden ausbluten zu lassen, konnte nichts anderes als Zorn sein. Sie hasste diese Schusswaffen und noch mehr hasste sie es, wenn ihr ein Hinterhalt gestellt wurde, wo sie es doch meist war, die genau das tat. Aber ganz bestimmt nicht so. Ort und Zeit waren für sie nie relevant gewesen, doch dieses As hatte feige abgewartet, so lange sie mit Ruby beschäftigt waren und bediente sich auch noch eine solch unehrenhaften Waffe. Dafür würden sie leiden, so viel stand für die Attentäterin fest.

    Es brauchte all ihre Beherrschung, um es nicht sofort geschehen zu lassen, doch selbst wenn sie mit dieser Wunde einem wilden, hastigen Schuss würde ausweichen können, so wäre es zu riskant, sich auf das Psiana dort zu verlassen. Ihr Trainer war ihr einfach nicht vertrauenswürdig genug, um das Leben ihrer Gebieterin aufs Spiel zu setzten.


    Die beiden Figuren traten endlich auf die Lichtung, wo das Mondlicht sie enthüllte. Als sie den Namen Carlos gehört hatten, wollte es weder Ryan, noch Andrew glauben und stattdessen an einem Zufall festhalten. Doch es war wirklich ihr alter und nicht gerade wohlgesonnener Bekannter, der Ryan bereits einmal mit einer Kanone bedroht hatte. Nebst ihm war auch Lydia diesmal bewaffnet und beide Läufe zielten nach der Gruppe. Flankiert wurden sie von ihren Pokémon Omot und Rasaff.

    „Ausgerechnet jetzt“, fluchte Sandra verbissen und ballte die Hände so krampfhaft zur Faust, dass sie ohne die Handschuhe aus festem Stoff wohl zu bluten begonnen hätten. Keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen konnten, doch Team Rocket hatte wohl zu jeder Zeit gewusst, was sie anstellten und wo sie sich befanden. Zumindest im Groben, doch wenn sie sich auch nur in der Nähe dieses Waldes aufgehalten hatten, wäre es ob der donnernden Schlacht, die hier bis vor wenigen Minuten noch getobt hatte, unmöglich gewesen, sie zu verfehlen.

    Die leuchtenden Augen Lydias gingen einmal quer durch die erstarrte Meute vor ihr und blieben schließlich an dem Psychopokémon hängen, das sich noch vor Andrew kampfbereit hielt, ihr gar wütend entgegen fauchte. Die Prinzessin zeigte ihre Zähne.

    Sofort machte die Agentin einige stramme Schritte auf den Trainer zu und richtete ihre Waffe auf ihn.

    „Sofort weg mit dem Vieh“, befahl sie giftig. Andrew dachte gar nicht daran, dem nachzukommen. Er senkte den Kopf ein wenig, als wolle er das Miststück herausfordern, doch insgeheim war er nicht wirklich scharf drauf, dass hier geballert wurde. Wenn Lydia es wirklich drauf anlegen sollte, könnte Psiana den Spieß umdrehen, so lange sie noch vor ihm stand. Ihre Augen fixierten konzentriert den Finger, der auf dem Abzug lag. Die kleinste Regung von selbigem war für sie das Signal, ihren Trainer vor der tödlichen Kugel zu bewahren. Wäre nicht noch der andere da, könnte sie ganz einfach per Psychokinese jede Bewegung der Frau unterbinden, nur wäre das war viel zu riskant, solange eine zweite Waffe im Spiel war, die jederzeit auf jemand anderen, außerhalb ihres schützenden Radius feuern konnte. Hinzu kamen noch Rasaff und Omot, die ebenfalls sie oder jemand anderen aus der Gruppe angreifen könnten.

    All das wussten die Rockets anscheinend auch. Dennoch oder vielleicht gerade daher beharrten sie so sehr darauf, Psiana möge in ihren Ball verschwinden. Und Lydia schien sich nur sehr ungern wiederholen zu müssen. Ohne den Blick von Andrew abzulenken, richtete sie ihre Waffe willkürlich auf Sheila. Die reagierte kein bisschen darauf, doch wenn sie jetzt schoss, wäre es das für sie gewesen. Endgültig.

    „Los“, drängte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und zog den Hammer ihrer Pistole.

    Sandra, Pete, Mila, sie alle knirschten mit den Zähnen und Andrew spürte deutlich, wie die meisten Augenpaare sich auf ihn legten. Irgendwie schaffte er es sogar, konzentriert und besonnen zu erscheinen, einen kühlen Kopf zu bewahren und vor der Waffe nicht zu erstarren. Tatsache war jedoch, dass Psiana nur ihn und nicht alle anderen würde schützen können. Da noch kein weiterer Schuss gefallen war, konnte es nicht das erklärte Ziel von Carlos und Lydia sein, sie einfach umzubringen. Das hätten sie längst tun können. Insofern war es wohl das Beste, vorerst zu gehorchen und auf eine bessere Gelegenheit zu hoffen, den Spieß umzudrehen.

    Anderw zeigte zunächst seine leere Hand, die langsam an seinen Gürtel wanderte und die Kapsel der Psychokatze hervorholte. Die hatte die Situation von selbst begriffen und sah ihre Machtlosigkeit ebenfalls ein. Sie würde sie vermutlich ihr Leben lang nicht vergessen. Frustriert ließ sie den Kopf sinken und sich schließlich von einem roten Energiestrahl widerstandslos in den Pokéball ziehen.

    Für ein paar Sekunden herrschte totale Stille. Keiner in der Gruppe wollte was sagen. Was denn auch? Sie hatten den Rockets nichts zu erzählen – von der Angst, jedes noch so kleine Kommentar könne deren Finger am Abzug zu lose machen, mal abgesehen. Carlos ging schließlich ein paar Schritte auf sie alle zu, bedeutete Sandra mit seiner Waffe schließlich, ein paar Schritte zurück zu gehen. Sie tat es ohne mit der Wimper zu zucken, was ihm eigentlich missfiel. Ihm wäre lieber, alle starr vor Angst zu sehen. Doch das war allein die rothaarige Göre ganz hinten, die allerdings von allen die unwichtigste Person darstellte. Die mörderische Tussi mit dem Schal brachte er ebenfalls auf Abstand und davon konnte er eigentlich kaum genug haben, bedachte er die Massaker, für die sie verantwortlich war. Doch nun sah die Sache anders aus.

    Dann blickte Carlos mit verengten Augen zu Ryan, der direkt zu seinen Füßen noch immer auf dem Erdreich kniete.

    „Das weckt Erinnerungen, nicht wahr“, fragte er unglaublich provokant und grinste dabei wie ein geisteskranker Gestörter. Keine guten Erinnerungen, wie der junge Trainer befand. Der blickte gerade tatsächlich lieber in den Lauf der Kanone, anstatt in das widerwärtige Gesicht dieses Penners.

    „Tu jetzt nichts Unüberlegtes, Carlos.“

    Es war nicht Lydia, die ihn da bremste. Eine andere, ebenfalls feminine Stimme, aber weicher und viel Autoritärer. Sheila verengte sofort die Augen noch weiter. Sie war also doch nicht nur zum Zuschauen da. Aber eingreifen schien sie auch noch nicht zu wollen.

    Vom Assassinen abgesehen hatte sie keiner bemerkt. Im Schatten der Bäume saß eine junge Frau auf einem hohen Ast. Ein Bein war verspielt herangezogen, während das andere lose herunterbaumelte. Die Kleidung war größtenteils dunkel, ebenso wie die Haarspitzen. Doch mehr konnte man in der Finsternis beim besten Willen nicht erkennen. Sheila brauchte das auch nicht. Ebenso wenig wie ihre Gebieterin. Sie wussten ganz genau, wer dort saß.

    „Ich weiß, ich weiß,“ beschwichtigte Carlos sofort, kam Ryan aber sehr nahe und beugte sich zu ihm herab.

    „Dass das klar ist. Ich hätte dich schon beim letzten Mal wegpusten können.“

    Wer´s glaubt. Gerne würde Ryan ihn jetzt an die Schnittwunde erinnern, die ihm Panzaeron in besagtem Moment beigebracht und von der er sicherlich eine hübsche Narbe davongetragen hatte. Aber wie schon damals, war er nicht so lebensmüde, es auszusprechen. Unterdessen wurde das Grinsen des Rockets noch breiter und er freute sich innerlich bereits sehr darauf, die Worte zu sagen, die er sich zurechtgelegt hatte, seit er den Namen dieses Trainers in der Datenbank ausführlicher überprüft hatte.

    „Du wärst auch nicht der erste Carparso, dem ich das Licht ausknipse.“

    In Ryans Kopf wurde mit einem Schlag alles leer. Für eine Sekunde war sein Verstand gänzlich ausgeschaltet. Nur Schwärze, Leere und ein dumpfes Echo. Das Echo des Schusses, der seinen Vater getötet hatte, sowie dessen Körper, der leblos auf dem Asphalt aufschlug. Wieso hörte er das? Er war nicht dabei gewesen, als Adam Carparsos Leben geendet hatte. Doch in diesem Moment fühlte er sich wirklich als wäre er es.

    Das... konnte unmöglich sein. Der? Dieser Typ in schwarzer Uniform? Das war doch ausgeschlossen! War es das? Es musste!

    „Ich bin sicher, du hast meine Visage schonmal irgendwo gesehen. Polizei, Medien oder so. Nur hab ich mich seit meinem Ausbruch ein bisschen verändern müssen.“

    Sowie er erzählte, fing Ryan an, das abartige Gesicht vor ihm in Gedanken umzustrukturieren. Die Haare nicht lila mit weißer Strähne, sondern schwarz und auf Kinnlänge, dazu ein ungepflegter drei-Tage-Bart und tiefe Augenringe. Das war nämlich das Bild, das tatsächlich einige Tage durch die Medien kursiert war, als der Mord dort Erwähnung gefunden hatte.

    „Du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich mich auf diesen Moment gefreut hab, nachdem ich rausgefunden hatte, dass du das Balg von diesem Kerl von damals bist“, fügte Carlos an, der fast selbst in Nostalgie an damals schwelgte, als er noch ein einfacher Straßenräuber gewesen war. Der Typ, den er damals abgeknallte hatte, war ihm völlig schnuppe gewesen und würde es sich nicht um eben jenen Mord handeln, der für ihn den Knast bedeutet hatte, so hätte er ihn längst vergessen. Eingelocht für so einen kleinen Raubüberfall. Mann, war das frustrierend gewesen. Eher zufällig hatte er nach einigen Monaten drei der Wärter belauschen können, die sich von Team Rocket bestechen ließen und hatte über sie Kontakt zu der Organisation bekommen. Mit dem Versprechen, sich in ihre Dienste zu stellen, hatte man ihn und einige andere Häftlinge aus dem Knast geholt, wohl wissend, dass man sich einem Versprechen gegenüber Team Rocket nicht würde entziehen können. Doch mieser als das Leben hinter Gittern hätte es auf keinen Fall sein können.

    Und nun stand er hier. Mit einer Waffe auf den Schädel des Abkömmlings von eben jenem Typen, den Carlos damals erschossen hatte.

    „Wie das Leben doch manchmal spielt, oder?“

    Der Blick in die Augen von Ryan war nur leider ganz und gar nicht das, was er zu sehen gehofft hatte. Er hatte fest mit Verzweiflung gerechnet und wie man ihm ansehen konnte, dass er die Erkenntnis abzustreiten versuchte. Doch es sah eher so aus, als wollte er mit der bloßen Kraft seines Geistes die Kehlte von Carlos zerdrücken. Es war ein Blick, der Menschen zu durchbohren vermochte, stand weder dem der rachsüchtigen Sheila noch dem wutentbrannten Brutalanda von vorhin in irgendwas nach.

    Der Rocket verzog angesäuert das Gesicht. Da hatte er sich so hierauf gefreut und jetzt war ihm nicht mal der Spaß vergönnt, den Hosenscheißer mental ein bisschen zu quälen.

    Ryan zuckte nicht einmal. Nicht einen Muskel rührte er. Der Hass, den er gerade verspürte machte seine Glieder taub und würde es ohnehin nicht zulassen, dass er jetzt etwas Dummes tat. Doch er schwor sich hier und jetzt, wenn er diese Nacht überleben sollte, Carlos das Leben zu nehmen.


    Andrew war der einzige aus dem Rest der Gruppe, der das Ausmaß dieser Nachricht und dieser Situation in Gänze erfassen konnte. Klar erging aus dem Kontext heraus, wovon der Bastard mit der Knarre sprach, doch nur er hatte damals miterlebt, wie Ryan der Verlust seines Vaters mitgenommen hatte. Was es in ihm ausgelöst hatte. Nur er war anwesend gewesen, wie er – als Kind! – dem Mann, der die Schuld daran trug, dass sein Vater nie wieder nach Hause kommen würde, seinerseits den Tod gewünscht hatte. Er war beileibe und vor allem traurigerweise nicht der einzige auf der Welt, der ohne Vater hatte aufwachsen müssen. Doch dieser Schmerz konnte niemals von jemandem verstanden werden, der dieses Leid nicht eigens erfahren hatte. Noch würde man sich den Schmerz vorstellen können, den Ryan diesem Carlos nun gerne beibringen wollte.

    Für Mila, Sandra und Melody war die Botschaft ebenfalls ein Schock. Keine von ihnen hatte wissen können, was Ryans Vater widerfahren war, doch nie hätte jemand mit irgendetwas in der Art gerechnet. Team Rockets Operationen forderten nur sehr selten Menschenleben. Hier auf ein Mitglied zu treffen, das einen Teil von Ryans Familie ausgelöscht hatte…

    Mila hatte viele Menschen selbst sterben sehen, gar eigenhändig getötet. Doch die Botschaft, dass Ryan Carparso ebenfalls zu den Menschen gehörte, die jemand sehr wichtigen in ihrem Leben verloren hatte, schnürte ihr das Herz zu. Kaum ein Mensch war so verdorben, dass er solch einen Schmerz verdiente. Er noch mitunter am wenigsten.

    Über diesen Verlust selbst dachte Ryan allerdings im Moment nicht eine Sekunde nach. Nur an die mit ihm verbundene Vergeltung. Zur Hölle, er würde es hier und jetzt tun, wenn er nur die Gelegenheit hätte. Doch der Dolch, den er von Mila bekommen hatte, lag zwischen den zertrümmerten Bäumen und war unerreichbar, obwohl er gar sicher war, ihn zwischen all der zersprengten Flora aufblitzen zu sehen. Kurz hatte er überlegt, ob er einen von Sheila würde stibitzen können, doch traute er sich nicht zu, dies zu bewerkstelligen, ohne dass die beiden Rockets es mitbekamen. Letztendlich würde er nur provozieren, dass noch ein Abzug betätigt wurde.

    Um die Karten auf den Tisch zu legen - Ryan wusste nicht weiter. Was allerdings nicht hieß, dass er den verachtenden Blick, mit dem er Carlos stumm seine Rache schwor, sein ließ. Und genau das schien jenem mehr und mehr zu stinken.

    „Glotz nicht so, du kleiner Scheißer“, murrte er frustriert und schlug ihm schließlich mit dem Griff gegen die Schläfe. Melody sog scharf Luft ein und unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei. Was hier passierte, entsprach keineswegs dem, worauf sie sich mental vorzubereiten versucht hatte, bevor sie nach Hoenn gekommen war. Da war es in ihrer Welt noch um Pokémon gegangen und den legendären Drachengott. Nicht aber um bewaffnete Gangster.

    Andrew ballte die Faust, sodass diese zitterte. Auch er konnte sich kaum beherrschen. Wie musste es Ryan erst gehen?

    Der hatte nicht einen Ton von sich gegeben. Er drehte sich nur langsam wieder nach vorn, um genau denselben Blick in Carlos hässliche Augen zu richten. Er wunderte sich noch, dass er kein Blut herabrinnen spürte. Seine eigenen, in denen sich im nur schwächlichen Mondlicht dieser Nacht bloß ein dezentes, silbernes Schillern über das Marineblau gelegt hatte, wollten nicht kapitulieren. Carlos sollte hier und jetzt seine Abscheu, seinen Hass und seinen unbeugsamen Durst nach Rache in ihnen ablesen.

    Ob er das tat, blieb ungewiss. Was Ryans Augen aber definitiv in ihm auslösten, war Zorn. Der Griff um seine Waffe verstärkte sich, verkrampfte beinahe. Er wollte unbedingt erneut und fester zuschlagen. Die Intention schien die junge Frau weiter hinten in den Schatten jedoch zu erahnen, erkannte sie vielleicht schon im Zucken seines Armes.

    „Genug damit.“, wies sie unerwartet und äußerst strikt an. Sie hatte nie vorgehabt, auch nur einen aus dieser Gruppe solch demütigenden Spielchen zu unterziehen. Das lag unter ihrer Würde und entsprach keineswegs ihren Prinzipien. Sadismus war nie eine ihrer Eigenschaften gewesen. Allgemein galt ihr persönliches Interesse nur einer einzigen Person. Und glücklicherweise hatte der Schwarze Lotus ihr für diesen Auftrag gar gestattet, nach diesem Interesse zu handeln.

    „Bringt die Kleine her.“

    Die Kleine. Dabei dachte nicht nur Ryan als allererstes an Melody. Genaugenommen tat das jeder – mit Ausnahme der tatsächlich gemeinten. Sheila erhob sich sehr langsam. Das Carlos sie aufforderte oder ihr mit der Waffe im Rücken folgte, wäre gar nicht nötig. Bloß weil er einen Meter Sicherheitsabstand hielt, wäre sie dennoch in der Lage ihn jederzeit zu überwältigen. Ein Risiko, dass sie nach wie vor nicht eingehen konnte. Ryan verblieb in seiner Position und ganz offensichtlich war Rasaff bereits im Voraus die Verantwortung dafür übertragen worden, dass das so bleibt. Das Kampfpokémon baute sich direkt neben ihm auf und schnaubte durch seine Nase, sodass seine Haarspitzen zappelten. Wohl sollte das einschüchternd wirken, doch da musste es eindeutig noch üben. Da klang Despotar ja bedrohlicher, wenn er schnarchte. Omot bewachte den Rest von oben, würde sicher auf jede verräterische Bewegung reagieren. Und diesmal vermutlich nicht mit so etwas Harmlosen wie Stachelspore.

    Sheila drückte mit einer Hand noch immer den Stoff gegen ihre versehrte Schulter, obwohl dieser schon völlig durchtränkt war und ihre weiße Bluse mehr und mehr rot färbte. Die rubinfarbenen Augen blickten nicht hinauf zu ihr, sondern nimmer nur geradeaus. Warum sollte sie auch eine Frau, die eine echte Assassine zu imitieren versuchte, sich aber feige im Hintergrund versteckte und andere die Arbeit auf zudem ehrlose Weise erledigen ließ, auch ansehen? Das käme einem winzigen Hauch von Anerkennung gleich, die sie der Agentin nicht schenken wollte. Selbige war hocherfreut über den unverhüllten Anblick von Milas engster Vertrauten. Waren diese Augen doch so zum Fürchten, besaß die Kleine tatsächlich ein gar süßes Gesicht. Was für ein Antlitz. So ein Gesicht gepaart mich diesen Seelenspiegeln könnte sich kein Mensch jemals ausdenken.

    Es wäre Sheila gar recht gewesen, würde sie einfach da oben sitzen bleiben, doch den Gefallen tat sie ihr natürlich nicht. Die viel zu seltene Gelegenheit, ihr Objekt der Begierde aus nächster Nähe zu sehen, musste unbedingt genutzt werden. Vor allem, da ihr zum ersten Mal ein Blick in ihr unverhülltes Gesicht vergönnt war. So schwang sie sich leichtfüßig von ihrem Ast und betrachtete die Attentäterin aus nächster Nähe. Einen plötzlichen Angriff brauchte sie nicht zu fürchten. Sicher würde Sheila gerne ein, zwei Dolche in ihren Körper stoßen, doch würde sie nicht in Kauf nehmen, dafür ihre Kameraden zu gefährden. Wobei… die vielleicht schon. Nicht aber Mila.

    Der Drachenpriesterin wurde ganz anders in ihrer Magengegend, während ihre Partnerin so schutzlos ausgeliefert war. Sie wagte nicht zu mutmaßen, was mit ihr geschehen könnte. Auf sie war bereits geschossen worden.

    Der Rest der Gruppe tappte noch immer im Dunkeln, wer denn die ominöse, junge Frau war. Selbst nun, da sie auf demselben Boden stand wie sie, verhinderte die Dunkelheit sowie Sheila selbst einen genaueren Blick. Auch was sie nun tat, blieb unerkennbar für Ryan, Andrew und sie alle. Vermutlich war es auch besser so.

    Eine Klinge blitzte auf. Binnen eines Wimpernschlages hatte sie nach Sheilas Hals gezielt, sodass die Spitze nun genau an ihrer Kehle lag.

    „Es wäre so einfach“, seufzte die Agentin, was gar mit einem abfälligen Schnauben quittiert wurde. Sie hatte nicht einmal zu hoffen gewagt, dieser Mörderin so eine Reaktion entlocken zu können.

    ‚Meine Rede‘, antwortete Sheila allerdings bloß in Gedanken. Ihr Blick war dafür durchaus herausfordernd. Sollte sie doch ernst machen. Sollte sie es doch wahrhaftig versuchen. Diese Wunde sollte das Ergebnis nicht beeinflussen. Doch sie würde es nicht tun. Keineswegs wegen eines Befehls, der sie zurückhielt. Nein, sondern aus eigenem Entschluss führte sie ihren Dolch keinen Zentimeter weiter. Dies wäre nicht das, was sie sich erhofft hatte. Die Chance, sich wahrlich mit diesem mörderischen Mädchen zu duellieren, würde sie nicht so einfach wegwerfen. Nebenbei würde sie im Hinterkopf behalten müssen, Carlos für seine Dummheit zu bestrafen, die Kleine anzuschießen. Hätte er sie versehentlich umgebracht… die Agentin hätte den Idioten direkt hinterher ins Totenreich geschickt.

    Carlos und Lydia schienen sich da jedoch deutlich weniger im Zaum halten zu können. Letztere trat gerade and Andrew heran, der es bewusst vermied, ihr ähnlich aufmüpfig in die Augen zu sehen, wie Ryan es bei Carlos getan hatte. Selbst als sie direkt neben ihm stand und sich leicht herabbeugte, ließ er den Kopf etwas unten. Dafür blickte Sandra auf und beobachtete genau, was diese Frau tat. Bei ihrem Gesichtsausdruck schwante ihr jedoch Böses.

    „Beim letztes Mal hast du mich echt sauer gemacht, Bürschchen.“

    Wenn die wüsste, wie sehr er sich im Nachhinein ins Fäustchen gelacht hatte, würde sie vermutlich zur Furie werden. Etwas, das Andrew gerade tunlichst vermeiden wollte.

    „Mich so bloß zu stellen und mein Ansehen im Team Rocket zu gefährden, schreit nach einer Wiedergutmachung, denkst du nicht?“

    Scheiße. Verdammte Scheiße. Ryan schürte sehr offensichtlich nicht als einziger Rachegelüste. Die hatte doch nicht vor, ihn jetzt abzuknallen, oder? Bloß weil er sich gewehrt und nicht getan hatte, wozu er und alle anderen damals aufgefordert worden waren. Wie naiv war Andrew eigentlich? Natürlich war das dieser Tussi genug. Jeder Idiot erkannte sofort, dass sie selbstverliebt und herrschsüchtig war. So eine Person ließ sich rein gar nichts einfach so gefallen. Alles, aber auch alles musste doppelt und dreifach zurückgezahlt werden. Denn ihr gegenüber zu rebellieren war ein unverzeihliches Verbrechen.

    „Beruhig dich, Lydia. Noch ist nicht die Zeit. Vergiss den Plan nicht.“, ermahnte Carlos von weiter weg, drehte dabei den Kopf nur ein kleines Stück, ohne dieses verfluchte Mädchen aus dem Auge zu lassen. Er wusste, nur eine Sekunde würde ihr genügen.

    „Der hier ist unwichtig genug. Ich denke, der Schwarze Lotus wird nichts dagegen haben.“

    Sprach sie den Namen schon wieder unbedacht vor dem Feind aus. Lydia war manchmal unverbesserlich. Und auch wenn Carlos ihr in dieser Sache nicht unbedingt widersprach, überstieg sie hier ihre Befugnisse.

    „Halt dich an die Befehle.“

    „Scheiß auf die Befehle!“, spie sie nun lauthals aus und wandte sich ganz zu Carlos, drehte Andrew somit für einen Moment den Rücken zu. Der hatte nicht mehr wirklich darüber nachgedacht, was er jetzt tat. Doch so wie sich das hier entwickelte, war ihm keine Wahl gelassen. Jetzt nicht zu handeln, bedeutete wohl seinen Tod. Sein Körper bewegte sich ganz von selbst, griff mit einer Hand nach dem Lauf der Waffe und drückte ihn nach oben. Die andere packte ihr schmales Handgelenk. Um Omot und Rasaff konnte er sich jetzt keine Gedanken machen. Lydia war fahrlässig geworden und obwohl sicher nicht völlig wehrlos, würde er eine Frau bestimmt überwältigen können. Mit der Kraft, die das Adrenalin in Andrews Körper freisetzte, ganz sicher.

    Alles geschah so schnell. Der junge Trainer lenkte die Waffe über sich hinweg, nur einen Moment bevor sich der Schuss daraus löste. Beinahe hätte die Kugel Omot erwischt, weshalb das Käferpokémon verschreckt zur Seite flatterte.

    Alle Blicke wurden zu Andrew gelenkt, der es schaffte, Lydia zu überwältigen, sodass sie rückwärts stolperte und fiel. Seine Hände klammerten mit aller Kraft am Gelenk der Hand, welcher die Pistole hielt und drückten sie am Boden fest. Mehr als diesen winzigen Moment brauchte Sheila nicht, um nach ihrem geliebten Dolch zu langen, der noch in ihrem Stiefel versteckt gewesen war. Bella wurde kalt erwischt. Auf den Waffengurt hatte sie immer ein Auge gehabt, aber nicht auf dieses Versteck. Ihre Reflexe allein waren es, die sie davor bewahrten, eine Hand zu verlieren, indem sie selbige rasch aus der Gefahrenzone zog. Zumindest fast. Einen tiefen Schnitt an der Handkante musste sie hinnehmen. Der Schmerz war heiß und stark genug, dass sie ihre Klinge fallen ließ, doch ihre linke Hand fischte schon nach einer anderen. Entgegen ihrer Erwartung setzte Sheila jedoch nicht zu einem Angriff an. Die hatte sich abgewendet und sprintete zurück zur Gruppe. In diesem Moment erfasste sie, wie fast alle anderen die Situation quasi in Zeitlupe. Sie würde es nicht schaffen. Carlos hob bereits seine Waffe mit hasserfülltem Gesicht. Sandra und Ryan machten Anstalten, aufzuspringen und ihn zu stoppen – und dabei unter Umständen selbst zur Zielscheibe würden. Jedoch ballte Rasaff bereits die Faust, um sie Ryan in die Seite zu schlagen, während Omots Augen, die sich auf die Drachenmeisterin gelegt hatten, bläulich aufleuchteten. Mila erkannte das zu spät und wollte gerade schreien, mit der Macht ihrer Stimme wohl einen verzweifelten Versuch unternehmen, alles und jeden zum Aufhören zu bewegen. Und die Assassine selbst ward ebenfalls in Gefahr. Lange hatte sie nicht so einen dummen Fehler begangen. Dem unmittelbarsten aller Feinde einfach den Rücken zu kehren, anstatt sie einfach zu töten, als sie die Gelegenheit gehabt hatte. War sie denn von Sinnen? Das würden morgen ihre Gedankengänge sein, jedoch nicht jetzt. Denn jetzt musste sie zu Mila, zu den anderen. Vergebens und zu spät war ihr Bestreben.


    Die Nacht wurde zum Tag. Die Sonne ging über ihnen allen auf. Nein, es war kein Sonnenlicht, das die verwüstete Lichtung…, ach was, den halben Wald erhellte. Das Licht war kälter und zu ihm gesellte sich ein mystischer Stich aus Blau, sowie ein fantastisches Surren, das die Luft erfüllte. Es war das einzige Geräusch. Sämtliche Stimmen, Schreie, Getrampel schienen verschluckt zu werden. Nur ein sachtes Piepsen lag einem jeden im Ohr. Als hätte der Krach temporär das Gehör geschädigt.

    Die Agentin, die gerade noch mit einem Wurfmesser auf die Waden Sheilas hatte zielen wollen, musste beide Arme vor das Gesicht halten. Es nützte nichts. Sie fühlte sich noch immer, als stehe sie im Flutlicht. Aus einem Impuls heraus versuchte sie über ihre Arme hinweg zu spähen. Sie sah keinen Meter weit, bevor alles in Weiß versank. Nur zwei bläuliche Schleier waren da, die es durchstachen. Von ihnen ergriffen wie von einer Geisterhand wurden plötzlich Omot und Rasaff an ihr vorbeigeschleudert, hätten sie fast mitgerissen. Der Aufschlag der beiden Körper auf dem Boden, wie sie herumliegende Überreste von Bäumen und Sträuchern durchpflügten, klang auf einmal so furchtbar laut, nachdem zunächst so unverhofft alle Geräusche für sie verklungen waren. Wie aus der Ferne kamen dann noch die Stimmen von Carlos und Lydia dazu. Auch sie tauchten urplötzlich aus dem Meer aus Weiß auf, umhüllt von blauen Schlieren, die sie durch die Luft warfen, als seien sie ohne Gewicht. Beide landeten sie zu ihren Füßen. Lydia krümmte sich und hielt sich die Schulter, die mit einem hörbaren Knacken geantwortet hatte. Ihr Partner bog seltsam den Rücken durch und röchelte, da der Aufprall ihm böse die Luft aus der Lunge gedrückt hatte.

    Die bernsteinfarbenen Augen verengten sich. Waren sie also doch noch gekommen.

    Sheila war die erste, die wieder aufzusehen wagte, nachdem ausnahmslos jeder von ihnen gleichermaßen geblendet worden war. Dieses Licht, diese Aura… es blieb nur sehr wenig Spielraum für Vermutungen. Dennoch wollte sie fast nicht glauben, dass sie tatsächlich hier waren. Nach und nach verebbte das Licht und Mila senkte ebenfalls die Arme. Auf ihr Gesicht hatte sich bereits ein weites, unendlich erleichtertes Lächeln gestohlen.

    Zwei Pokémon, fast identisch in ihrer Struktur. Rundliche Körperform mit dünnen, kurzen Armen und ein langer Hals, der in einem kleinen Kopf mündete. Auf dem Rücken zwei lange Auswüchse, die stark wie Flügel anmuteten, doch tatsächlich schwebten die beiden Geschöpfe über dem Boden. Eines war größtenteils Azurblau, war nur am Hals und den Oberarmen hellgrau. Das andere besaß einen Feuerroten Körper, während der Rest in Perlweiß erstrahlte.

    „Es ist genug des Kämpfens“, sang plötzlich eine helle Mädchenstimme. Ein Echo begleitete sie, als sei man in einer Höhle. Sie klang lieblich und sanft, doch erflehte sie beinahe schon ihr Anliegen.

    „Das war mehr Hass und Gewalt, als ich in einer Nacht ertragen kann.“

    Ryan hatte die Augen noch zusammengekniffen und riss sie nun erst auf, da diese Worte an sein Ohr drangen. Sein Ohr? Nein, eher meinte er die Stimme in seinem Kopf zu vernehmen. Dergleichen hatte er bislang nur bei Lugia erlebt. Er musste gar nicht hinsehen. Es war absolut gewiss, wer sie gerade gerettet hatte.

    „Jetzt fall ich gleich vom Glauben ab“, wisperte Andrew fast geistesabwesend neben ihm. Er hätte über kurz oder lang damit rechnen müssen, dass seine Augen einen oder gar mehrere Legendäre erblicken würden. Er war sich auch sicher gewesen, darauf vorbereitet zu sein. Doch nun, da der Moment gekommen war, wart dieser Glauben zersplittert wie Glas. Wie hatte er nur annehmen können, für den Anblick zweier solcher Wesen gewappnet zu sein?

    Latios und Latias waren gewiss nicht die beeindruckendsten oder imposantesten unter jenen Pokémon, die als Legenden galten. Und dennoch faszinierte ihre Präsenz ihn, als sei er ein Kind. Wie ein solches hatte auch die Stimme geklungen, die nach dem Ende der Gewalt verlangt hatte. Es war wohl die von Latias gewesen, da ihr Bruder – die beiden waren nicht grundlos als Zwillingsdrachen bekannt – sich gerade noch ein Stück vor sie, direkt auf die am Boden keuchenden Rockets zu bewegte und seinerseits die Stimme erhob.

    „Wessen Kampfeslust allerdings noch immer nicht gestillt ist, möge vortreten. Ich stehe gerne zur Verfügung.“

    Auch seine Stimme erklang telepathisch in den Köpfen der Anwesenden, war aber weitaus weniger zart. Eher streng und autoritär, aber dennoch sehr jugendlich anmutend. Ryan befand, dass ihre Stimmen sehr zu dem passten, was er sich unter ihnen vorgestellt hatte. Zweifellos waren sie älter als die meisten Geschöpfe auf diesem Planeten. Doch im Vergleich zu ihrem Vater oder Lugia oder anderen legendären Pokémon waren sie tatsächlich noch Kinder.

    Carlos und Lydia starrten mit Stielaugen auf die Zwillingsdrachen. Beide knirschten sie mit den Zähnen, wie tollwütige Magnayen und bei der Furie glaubte Pete sogar eine Ader am Hals hervortreten zu sehen. Sie war fast wieder auf 180. Da war sie so kurz vor ihrer ersehnten Rache gestanden und dann mussten sich diese Plagen einmischen. Mit einem scharfen Aufblitzen in ihren Augen stieß sie sich vom Boden ab direkt auf die Beine. Gerade als sie Omot einen Befehl hatte geben wollen, ließ sie jedoch eine junge Frauenstimme hinter sich verstummen.

    „Denk nicht mal dran.“

    Lydia wandte sich um. Die Agentin des Schwarzen Lotus hatte sich nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegt, wirkte zudem noch absolut beherrscht und völlig ruhig. Natürlich tat sie das. Immerhin hatte sie bereits das Handtuch geworfen.

    „Wir ziehen uns zurück.“

    Es hatte bereits den ein oder anderen Moment gegeben, in dem Lydia ihr die Pest an den Hals gewünscht hatte. Sie nahm nicht gern Befehle von jüngeren entgegen. Schon gar nicht von anderen Frauen. Und schon gar nicht, wenn sie hübscher waren als sie. Letzteres würde sie sich jedoch nicht einmal sich selbst, geschweige denn anderen gegenüber eingestehen.

    Carlos erkannte sofort, dass seine Partnerin wenig Einsicht für diesen Befehl übrig hatte und umklammerte mit einer Hand fest ihren Oberarm.

    „Vergiss nicht, warum wir hergekommen sind.“

    Er kannte sie lange und gut genug, um zu wissen, was gerade in ihr vorging. Er selbst hätte persönlich ebenfalls gerne diesem Carparso die Leviten gelesen. Oder seine Grabrede gehalten. Doch das war nicht ihr Ziel gewesen. Und nun, da Latios und Latias aufgetaucht waren, stand dies auch nicht länger zur Debatte. Hier gab es für sie nichts mehr zu gewinnen.

    So viel sah auch Lydia gerade so ein. Sie hatten beide ihre Waffen verloren und würden nicht einmal einen Schritt auf sie oder die beiden jungen Trainer, die sie so gern eigenhändig beseitigt hätten, zumachen können. Das würden diese verfluchten Drachen zu verhindern wissen, ohne einen Finger zu krümmen. Und ihre Pokémon wären für sie keine Herausforderung.

    Lydia wollten noch eine Drohung loswerden, einen bissigen Kommentar oder einfach nur einen mahnenden Blick in ihre Richtung. Doch sie verkniff es sich mit all ihrer Beherrschung. Sie würde sich vor den beiden nur lächerlich machen. Mit einem giftigen Schnauben wandte sie sich ab. Carlos folgte ihr nach einem sehr kurzen Schulterblick zu den Zwillingsdrachen. Ihr Boss war bereits einige Meter voraus gelaufen. Sie hätte sich vermutlich auch nicht noch einmal umgedreht, wenn das Agentenpaar sich für den Kampf entschieden hätte. Die beiden waren ohnehin nicht mehr als Bauern für sie, die sie jederzeit opfern würde, um an die Dame des Gegners zu kommen. Die war ihr heute entglitten und auch davon abgesehen lief heute nicht alles nach Plan. Doch es genügte vorerst. Wenigstens, um die nächste Phase einleiten zu können. Sie besah sich der Wunde an ihrer Hand. Hätte sie bloß eine Sekunde später reagiert, besäße sie jetzt nur noch eine. Es schmerzte, brannte. Doch lächelte sie fast verträumt und ballte sie Hand zur Faust. Das Blut rann durch ihre Finger und hinterließ eine tropfende Spur auf dem Waldboden. Manchmal fragte sie sich, ob Milas Attentäterin denn auch normales Blut besaß oder ob es eher das Rot ihrer Augen hatte.


    Erst als die Rockets und die Agentin außer Sicht und ihre Schritte verklungen waren, wagte man auf der Lichtung aufzuatmen. Wobei das eher für die zwei Drachen galt, denn die Mehrzahl der Menschen hielt noch immer vor Staunen den Atem. Ryans Herz pochte gar nochmals heftig auf, als sie sich endlich umwandten. Er meinte, sie beide suchten sofort seinen Blickkontakt und mit einem Mal fühlte er sich noch schuldiger als je zuvor. Da sah er Rayquazas meist geliebten Kindern in die Augen, während er sein Herz in seiner Tasche führte. Hätte er damals nur den Hauch einer Ahnung haben können, dass er für seinen Diebstahl dieses Gefühl ernten würde, hätte er vermutlich nie daran gedacht, diesen ominösen Kristall auch nur anzufassen. Doch das sagte sich jetzt, hinterher, so einfach. Das unnatürliche Verlangen danach, ihn zu berühren, aufzunehmen und schließlich nie mehr missen zu wollen, war damals einfach zu stark gewesen und hatte sein rationales Denkvermögen blockiert. Er hätte es vermutlich so oder so getan. Und für diese Tatsache fühlte er sich nicht bloß schuldig, sondern schwach.

    Es glich fast einer Rettung, da Mila plötzlich vortrat und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihre Schritte waren noch immer langsam und erschöpft, doch weit weniger wackelig als zuvor. Als hätte der majestätische Lichtschein der Zwillingsdrachen ihre Pein gelindert.

    „Ihr Kinder Rayquazas“, begann sie leise, aber unerwartet vertraut. Fast als spreche sie mit zwei Familienmitgliedern. Ryan hatte nicht darüber nachgedacht, wie oft sie die beiden denn schon gesehen und mit ihnen gesprochen haben mochte. Aber selbst sie würde wohl kaum häufigen Kontakt zu zwei legendären Pokémon pflegen.

    „Für die Rettung meiner Freunde und Kameraden habt ihr meinen tiefsten Dank“, sprach sie schließlich weiter und verbeugte sich sogar sehr knapp. Die Zwillingsdrachen waren nicht die einzigen, die über die Wortwahl am liebsten getadelt hätten. Die Rettung ihrer Freunde und Kameraden. Ihr eigenes Leben jedoch war ihr nicht wertvoll genug gewesen, sich dafür zu bedanken. Pete und Sandra unterdrückten ein hoffnungsloses Kopfschütteln. Dabei hatte Ryan ihr doch erst neulich das Versprechen abgerungen, mehr auf ihr eigenes Wohl zu achten.

    Latios schickte sich daran, Milas Geste kaum merklich zu erwidern und antworte mit seelenruhiger, wohlwollender Stimme.

    „Dein Dank erfreut uns, ist aber nicht vonnöten. Verzeiht, dass wir euch nicht eher zur Seite standen.“

    Er klang wie ein strikter Jugendlicher an der Schwelle des Erwachsenwerdens, der psychisch jedoch schon viel reifer war. Aufrichtig, umsichtig, aber mit einer gewissen Wärme sprach er jedes Wort. Dagegen war Latias, die man bereits mittels der wenigen, die sie von sich gab, als lebhafte Frohnatur einordnen konnte, wohl das ungleichste Gegenstück, das man sich hätte ausmahlen können.

    „Distanziert wie immer, liebe Mila. Du hast einen zu starken Einfluss auf sie, Bruder.“

    Andrew war sich fast sicher, ein Kichern zu hören, das sie nur beinahe zu unterdrücken geschafft hatte. Die Drächin sah mit großen Augen zu Latios hoch und schien auf eine Reaktion zu hoffen. Doch er wehrte die Spitze nüchtern ab.

    „Dank den Göttern, dass es nicht umgekehrt ist.“

    Latias tat dies bloß mit einem amüsierten Lächeln ab und sah an Mila vorbei, als merke sie jetzt erst, dass sie nicht der einzige anwesende Mensch war. Sofort näherte sie sich Ryan, kam ihm dabei deutlich näher, als dem lieb war. Sie drückte fast ihre Schnauze in sein Gesicht, doch er verbot sich, den Abstand wieder zu vergrößern. Schon der eine, defensive Schritt nach hinten war eigentlich einer zu viel.

    „Du riechst wie Vater“, stellte sie fest. Ihre Stimme klang weder erzürnt noch anklagend. Fast schien es, als sei sie bloß erfreut, diesen Geruch – wenn auch überraschenderweise bei einem Menschen – wahrzunehmen.

    „Bist du es, der sein Herz trägt?“

    Ryan schluckte. Es zu verneinen war weder in seiner Absicht, noch hätte es einen Sinn. Aber bejahen wollte er es aus irgendeinem Grund auch nicht. Dankbarerweise erledigte dies Mila.

    „Ja, ist er“, bestätigte sie und legte Latias eine Hand auf die Flanke. Eine vertraute Geste, die Melody nicht unbedingt erwartet hatte, sodass sie die Stirn runzelte. Natürlich hatten die Zwillingsdrachen einen anderen Status als andere legendäre, wie Rayquaza. Dennoch hatten gerade die ersten Worte, welche die Drachenpriesterin an sie gerichtet hatte, ein distanzierteres Verhältnis vermuten lassen.

    „In diesem Fall…“, schaltete sich nun Latios ein, klang ebenfalls nicht zornig, aber deutlich weniger heiter, als seine Schwester.

    „…möchte ich dir einige Fragen stellen, Mensch.“

    Kapitel 37: Der Hass der Drächin


    Andew fühlte sich, als würde er zusammen mit Melody von einem Schlachtfeld fliehen. Doch man musste es so sagen – dieses Brutalanda machte genau das aus dieser Waldlichtung. Zugegeben, Despotar und Shardrago hatten ebenso viel Anteil daran, doch sie waren es schließlich nicht, die diesen Kampf begonnen hatten. Aber beenden würden sie ihn hoffentlich können.

    „Mila, bist du okay?“

    Melody ließ Andrew, in dessen Jeansjacke sie sich vehement gekrallt hatte, urplötzlich los. Die Drachenpriesterin hatte gerade einen weiteren Aufstehversuch unternommen und war nun endgültig zusammengebrochen. Von daher war die Frage absolut überflüssig, was Pete direkt klarstellte.

    „Sieht das für dich etwa so aus?“

    Während die Rothaarige sich an Milas Seite auf die Knie fallen ließ, hielten Andrew und Psiana die Stellung. Bereit, sie alle von Querschlägern und Fehlschüssen der Kämpfenden zu schützen. Doch insgeheim wollte er viel mehr tun. Nur durfte er hier nicht übermütig werden. Wenn er das täte und einer der drei hier zu Schaden käme, weil er unbedingt in den Kampf eingreifen wollte, würde weder Ryan noch Sandra ihm das je verzeihen. Und er sich selbst auch nicht.

    „Wo zum Henker ist Sheila?“

    Es war ihr nicht ganz klar, welchen Nutzen sie hier haben sollte. Aber vielleicht frage Pete auch aus bloßer Verwunderung, da von ihr seit Rubys erstem Angriff jede Spur fehlte. Es war ohnehin nicht so, dass sie viel für Mila tun konnten. Priorität war nun, sie vor Schlimmerem zu beschützen. Die Verletzung war nicht lebensbedrohlich. Sie würde wieder werden. Vorausgesetzt, es gab eine Chance, Ruby zu besiegen.


    In einem fairen, offenen Match im eins gegen eins gäbe es wohl keine. Ryan registrierte das schnell. Dieses Brutalanda war ein Monster und obendrein rasend vor Wut. Er hatte nur äußerst selten und niemals aus nächster Nähe ein Pokémon getroffen, das kontinuierlich Hyperstrahl nach Belieben einsetzen konnte, ohne danach sichtlich gelähmt zu sein. Despotar antwortete immer wieder mit seinem eigenen, konnte allein jedoch mit Rubys ungeheuerlicher Kraft nicht konkurrieren. Selbst wenn Shardrago mit Drachenpuls ebenfalls dagegenhielt, konnten sie ihre Angriffe nicht überwältigen. Lediglich neutralisieren, was stets für donnernde Explosionen und enorme Rauchentwicklung sorgte.

    Ruby gönnte ihnen keine Pause. Sie feuerte weiter und weiter, wechselte nur ab und zu mal zu ihrem Flammenwurf. Für gewöhnlich keine wirksame Attacke gegen andere Drachen oder Gesteinpokémon, doch steckte so viel Energie in ihren Angriffen, dass Ryan und Sandra einen Gegentreffer auf keinen Fall riskieren konnten.

    Sie mussten diese Angriffswellen unbedingt unterbrechen.

    „Despotar, Sandsturm!“

    Damit würde Ryan der Drächin sicher keinen ernst zu nehmenden Schlag beibringen, ihnen aber zumindest eine Verschnaufpause verschaffen. Mit vorgehaltenem Flügel hielt Ruby den Angriff von ihrem Gesicht fern und mehr brauchte sie auch nicht zu schützen. Doch hier erkannte Sandra eine Lücke.

    „Spring direkt rein und dann Drachenstoß!“, wies sie Shardrago an. Der verstand sofort, was seine Trainerin vorhatte und grollte euphorisch. Das würde ihm gefallen. Mit einem Satz begab sich der Drache direkt in das Zentrum der Böe und nutze den Rückenwind, um seine eigene Attacke zu verstärken. Selbst der aufgewirbelte Sand schien bläulich zu schimmern, als die abstrakte, leuchtende Drachengestalt mit Shardrago in seinem Inneren die Flügel spreizte und Ruby direkt auf das Brustbein traf. Das Licht ging auf sie über und entlockte ihr wütendes Gebrüll, vermischt mit einem durch Mark und Bein gehenden Schmerzensschrei. Doch sie wehrte sich energisch gegen den Angreifer, gab sich ihm auf keinen Fall geschlagen. Shardrago grub seine Füße in den Boden und drückte weiter gegen die eben aufgeschlagene Wunde, versuchte das Brutalanda zu Fall zu bringen. Doch er konnte sie lediglich einige Schritte von der Stelle schieben. Sie krallte sich in die Erde unter ihr und legte ihr gesamtes Gewicht nach vorn.

    Und gerade als klar wurde, dass dieser Versuch gescheitert war, blitzen bereits wieder Rubys Krallen auf. Hierauf weiteten sich Sandras Augen vor Schreck.

    „Zurück Shardrago, weg von ihr!“

    Der Höhlendrache sah alarmiert auf, direkt in die Augen seines Gegners und zum ersten Mal konnte man meinen, etwas wie Angst darin zu erblicken. Dafür würde er sich später selbstverständlich grämen, sich jedoch damit trösten, dass wohl jedes sterbliche Geschöpf beim Anblick dieser tödlichen Seelenspiegel erstarrt wäre. Und damit lag man wohl richtig.

    Wenn Blicke töten könnten – ihrer würde einem wohl die Seele aus dem Leib reißen. Sie hatte endgültig genug von diesem lächerlichen Widerstand. Sie alle sollten verbrennen und in Fetzen gerissen werden.

    Dass sich Shardrago gerade noch von dem Brutalanda abstoßen konnte, hatte ihm eventuell das Leben gerettet. Die Klaue sauste im wahrsten Sinne um Haaresbreite an seinem Kiefer vorbei, sodass der vorbeirauschende Luftzug ihn bereits zurückwarf. Knapper war es wirklich nicht mehr gegangen. Doch die Erkenntnis, dass er diesem Gegner einfach nicht gewachsen war, sowie der daraus resultierende Rückzug, war zu spät gekommen. Das versehrte Hinterbein schränkte Ruby nach wie vor kein Stück ein. So stemmte sie sich auf beide und preschte mit einem ansatzlosen Schlag ihrer Schwingen nach vorn und hob diesmal die rechte Klaue. Sie traf ihn mitten auf die Schädeldecke und schmetterte ihn mit dem Kinn voraus direkt in den Dreck. Rubys Krallen schnitten sich durch die raue Haut und hätten mit etwas mehr Pech gar Knochen zertrümmert. Das Geräusch ließ es beinahe vermuten.

    Shardrago wurde schwarz vor Augen. Es war als wäre er so weit in den Himmel hinaufgestiegen, wie er sehen konnte und dann einfach zu Boden gestürzt. Mit dem Schädel direkt auf eine Bergspitze.

    Sandra schlug eine Hand vor den Mund. So etwas hatte nichts mehr mit einem Pokémonkampf zu tun. Dieser Schlag hatte tödliche Absichten gehabt. Und für einen winzigen Moment hatte sie auch befürchtet, gerade einen ihrer treuesten Freunde verloren zu haben. Doch der schlug sofort die Krallen in die Erde. Ob er davon zu kriechen gedachte oder tatsächlich versuche, sich noch einmal aufzukämpfen, konnte keiner bestimmen. Dazu wirkte der Drache zu desorientiert. Ähnlich wie Mila zuvor, bloß schlimmer. Während er sich mit einem Arm stemmte, schien der andere blind vor sich nach einem Feind oder aber Verbündeten zu suchen und grub sich ziellos durch die oberen Schichten der verbrannten Erde. Irgendetwas, irgendjemand. Ein jämmerliches Keuchen drang dabei aus seinem Maul.

    Der hatte genug, doch Ruby hatte nicht vor, ihn am Leben zu lassen. Er unterstützte den Feind und somit hatte er sich zu einem solchen erklärt. Ihr Maul begann sich langsam zu öffnen und nach Shardrago zu senken.

    Doch plötzlich bebte die Erde unter ihr. Ein Berg schien sich aus selbiger losgerissen zu haben und nun auf sie zu stürmen. Despotar hatte selten so laut gebrüllt und gewütet. Was hier zu geschehen im Begriff war, würde er niemals tolerieren. Dieses Brutalanda hatte einen Gegner geschlagen. Sie hatte über ihn gesiegt, bewiesen, dass sie stärker als dieser war. Und dennoch ließ sie nicht von ihm ab. Zu töten, nur weil man die Fähigkeit dazu besaß, gehörte zu den verabscheuungswürdigsten Dingen, die ein Pokémon tun konnte. Und Darkrai sollte ihn holen, wenn er zuließ, dass so etwas mit seinem Kampfgefährten geschah.

    Ryan hatte das nicht wirklich befohlen, doch war er unendlich dankbar für Despotars Eigeninitiative. Er selbst hatte sich vor Schreck wie gelähmt vorgefunden. Die Felsechse rammte ihr steinernes Haupt gegen Rubys Kinn und begann wild zu fuchteln. Arme, Beine, Schweif und Schädel. Alles schlug und trat nach ihr, verwickelte sie in ein tosendes Nahkampfgefecht. Definitiv keine Stärke dieser Drachengattung, doch so ungestüm durfte er gegen sie nicht vorgehen. Denn da leuchtete bereits erneut die linke Klaue in exakt demselben Blau auf, wie es bei Drachenstoß gewesen war.

    „Drachenklaue!“, warnte Sandra geistesgegenwärtig. Die Kraft in diesem Angriff war vor wenigen Sekunden erst eindrucksvoll bewiesen worden. Diesem Schlag musste Ryan unbedingt entgehen. Nein, ihn parieren!

    „Verbeiß dich mit Knirscher!“

    Gerade als Ruby die Klaue erhob, machte Despotar einen Satz nach vorn und vergrub seine spitzen Eckzähne in den Knöchel. Das Brutalanda kreischte erneut, riss den Kopf einmal hin und her und versuchte vehement, sich loszureißen. Doch es gab kein Entrinnen. Die Kiefer schlossen sich gar noch enger. Dabei waren dies sicher keine Primärwaffen dieses Gesteinpokémons. Das Blut, das bald schon aus seinem Maul rann, war nicht bloß Rubys. Er biss stärker zu, als die Natur es für dieses Gebiss vorgesehen und daher nicht ausreichend hierzu ausgestattet hatte. Doch das war egal. Er ließ um Arceus Willen nicht los. Gar suchte er festen Stand auf seinen kräftigen Beinen und zerrte an ihr, als wolle er das Glied aus dem Gelenk reißen. Wieder protestierte Ruby fauchend und brüllend. Doch gerade, als sie ihr Maul für den Gegenschlag öffnete, vernahm sie ein weiteres Mal eine weibliche Stimme, die das Wort Drachenklaue schrie.

    Nur einen Herzschlag später spürte die Drächin einen stechenden, kalten Schmerz in der linken Flanke, die wegen Despotars Sturheit ungeschützt geblieben war. Shardrago keuchte mühselig und atmete laut, schwer, war zweifellos völlig am Ende. Doch er hatte noch nicht aufgegeben. So startete er einen zweiten Versuch, Ruby niederzuringen. Diesmal mit Despotars Hilfe. Nur ein kurzer Augenkontakt zwischen den beiden und sie rissen ihren gemeinsamen Gegner von den Füßen, zwangen ihn in die Knie. Sie lag auf der rechten Seite, der Flügel unter ihrem eigenen Körper begraben und unbrauchbar. Ihre Vorderklaue war nach wie vor zwischen den unbeugsamen Kiefern der Felsechse gefangen, während sich der Höhlendrache über ihren Rumpf beugte, um sie am Boden zu halten. Seine Klauen stachen noch immer in ihr Fleisch.

    Das Brutalanda schrie weniger vor Schmerz, sondern vor Anstrengung und energischer Sturheit, sich den beiden nicht zu ergeben. Diese zwei hier waren stark. Deutlich stärker als die meisten, gegen die sie gekämpft hatte. Und sie liebten eben das Kämpfen genauso sehr, wie sie selbst. Zwischen all den Knurren, Fauchen, Brüllen und Grollen, verengten sich für einen sehr kurzen Moment prüfend ihre Augen. Diese Pokémon gehörten also zu Milas Verbündeten? Jenen warf sie ebenfalls einen knappen Seitenblick zu, den sie wahrscheinlich gar nicht bemerkten, ehe sie wieder ihre unmittelbaren Gegner musterte. Sie war eine besitzergreifende, geradezu Macht- und Herrschsüchtige Drächin. Niemals hatte sie es akzeptiert, sich jemand anderem als ihrem Vater zu beugen. Was sie als ihren Besitz erachtete, das verteidigte sie stets und wenn sie etwas besitzen wollte, so nahm sie es sich. Das war ihre Natur. Doch die verbot ihr nicht, aufrichtigen Respekt für diese zwei Pokémon zu empfinden.

    Und dennoch würde sie sich nicht beugen. Heute nicht und auch in allen Tagen, die noch folgen würden. Ihre rechtes Vorder- sowie Hinterbein war alles, womit sie sich jetzt noch zur Wehr setzen konnte. Sie ließ alle drohenden und aggressiven Laute ihrerseits verstummen und senkte den Kopf. Mit Zorn kam sie hier nicht mehr weiter. Jetzt musste sie sich konzentrieren, ihre Kraft fokussieren. Sie war nicht irgendjemand. Selbst unter den Drachen nicht. Und sie würde auf keinen Fall einen Kampf verlieren. Niemals hatte sie sich ergeben oder war geflohen. Es gab nur eine Richtung für sie. Vorwärts!

    Unter Zittern und Ächzen begann sich der himmelblaue Drachenkörper von der Erde abzuheben. Despotar und Shardrago verengten sofort alarmiert die Augen und legten gar noch mehr Kraft in ihre Bemühungen. Ryan und Sandra mussten aus allen Poren schwitzen und das sicher nicht durch die Hitze von Rubys Flammenwurf.

    „Reiß sie nieder, Despotar! Komm schon! Komm schon!“

    „Gib alles, Shardrago, zeig wie stark du bist!“

    Das taten sie beide. Sie legten absolut alles in diesen Kampf, was ihnen zur Verfügung stand und mehr noch. Beide begannen wild entschlossen zu schreien. Ein verzweifelter Versuch, noch das letzte bisschen Kraft, das ihre Muskeln opfern konnten, freizusetzen und dieses sture Brutalanda endlich zur Aufgabe zu zwingen. Und – Arceus bewahre – sollte sich das nicht bewerkstelligen lassen, ihr schwerwiegendere Verletzungen oder Schlimmeres anzutun.

    Doch egal was sie taten, Ruby ging nicht zu Boden. Dieser unbeugsame Wille ließ Ryans und Sandras Mund fassungslos offenstehen. Sie würde sich nicht unterwerfen lassen. Nicht noch einmal. Zentimeter für Zentimeter drückte sie sich hoch, ignorierte die schmerzende Flanke und die gefangene Klaue, die wie eiserne Speere ihre Schuppen durchbohrten. Doch Menschen hatten über viele Jahrhunderte hinweg tagtäglich Grausameres mit ihresgleichen angestellt.

    Nur einen Moment, in dem Sie ihren rechten Flügel wieder bewegen konnte. Mehr brauchte sie nicht. Indem sie ihn erhob und mit aller Kraft aufschlug, brachte sie sich in eine kurzweilige Schwebe und über Despotar. Die rechte Kralle leuchtete auf, wie zuvor die, welche noch in seinem Maul steckte. Der Schlag war nicht in Worte zu fassen. Er traf ihn an der Schläfe. Das zinkgrüne Gestein splitterte dort und am Hinterkopf brachen gar einige der stumpfen Zacken ab. Das würde selbst der stärkste Mann nicht einmal mit einem Vorschlaghammer schaffen. Die Bruchfestigkeit dieses natürlichen Panzers wurde nur von wenigen Spezies überhaupt in den Schatten gestellt – und die meisten dieser Pokémon waren Stahl-Typen.

    Despotar gab einen erstickten Laut von sich und seine Augen schienen an einem fernen nichts zu gefrieren. Für eine Sekunde waren sie komplett weiß. Das Maul weit geöffnet und hing noch einige Sekunden offen, als wäre der Kiefer ausgerenkt worden, während er benommen zurücktaumelte.

    Ohne die Klaue zu senken, holte Ruby erneut aus und schlug Shardrago mitten auf die Schädeldecke. Der Höhlendrache klappte augenblicklich völlig zusammen. Die Ohnmacht kam erst sehr langsam, wurde aber durch den nächsten Schlag unweigerlich beschleunigt. Das Brutalanda verbiss sich in seinem Genick und riss ihn einmal um die eigene Achse, als wiege er nichts. Er wurde in eine Reihe alter Bäume geschleudert, die allesamt unter donnerndem Krach zerbrachen. Das splitternde Holz verteile sich tief in den Wald hinein und begrub Shardrago teilweise unter sich. Er war endgültig besiegt. Kein Aufkämpfen, kein Aufbäumen mehr.

    Ruby schenkte nun Despotar ein letztes Mal ihre ganze Aufmerksamkeit. In einer fließenden Bewegung richtete sie sich wieder zu ihm aus und erschuf einen goldenen Energieball in ihrem Maul. Auf dieser kurzen Distanz durchschlug der heiße Strahl den Steinpanzer auf der Brust wie Pappe und hinterließ auch hier tiefe Sprünge. Despotar wurde ganz einfach hinweggefegt und kam erst zum Erliegen, als auch er ein halbes Dutzend Pinien in tausend Teile zersprengt hatte. Es war als würde eine ganze Horde Geowaz rücksichtslos und vandalierend den Wald niederwalzen. Der Körper, der dort im Unterholz lag und nur schemenhaft in der Dunkelheit zu erkennen war, rührte sich nicht mehr.


    Die Gruppe war kollektiv konsterniert. Andrew starrte mit Stielaugen der wüsten Spur, die Despotars Körper hinterlassen hatte, hinterher. Es würde legitim erscheinen, wenn er erzähle ein Meteorit hätte dort im flachen Winkel eingeschlagen. Wie ein solcher war auch Shardragos Schädel gen Boden geschmettert worden. Von diesem Anblick hatte Melody noch immer entsetzt die Hände vor den Mund geschlagen. Selbst Petes Aufmerksamkeit war für einen Moment von Mila losgelöst, die noch immer nur mit seiner Hilfe ansatzweise aufrecht sitzen konnte. Doch der Anblick dieser wahnsinnigen Zerstörung rüttelte sie beinahe wieder gänzlich in die Besinnung. Dies war es, worin sie diese jungen Menschen verwickelt hatte. Der Kampf, der eigentlich ihrer hätte sein sollen und dessen Folgen nun die Partner von unschuldigen Freiwilligen tragen mussten. Selbst in ihrem gegenwärtigen Zustand würde sie sich ohne zu zögern eine Hand abschlagen, wenn sich dadurch ein Sieg erringen und das Leid ihrer Anhänger ungeschehen machen ließe.

    Sandras Oberkörper war so kraftlos und paralysiert, als wäre sie zusammengebrochen und tatsächlich waren auch ihre Beine kurz vor dem Nachgeben. Fast hätte auch die geballte Kraft von Rubys triumphalen Gebrüll dies bewerkstelligt. Sie schrie, als solle alle Welt von ihrem Sieg erfahren, doch genau in diesem Moment holte sie die Tatsache ein, dass sie während dieses Kampfes ebenfalls viel gelitten hatte. Ihre Stimme versagte fast völlig, ging in ein raues Keuchen über und ihre Vorderbeine knickten ein, sodass sie fast zu Boden ging. Dieses verdammte Despotar. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann und durch wen ihr zuletzt so tiefe Wunden beigebracht worden waren. Sie hustete und taumelte – und hasste sich dafür, sich vor diesen Menschen die Blöße zu geben. Doch sie hielt stand, erlaubte sich nicht, vor ihnen zusammenzubrechen.

    Das hätte wohl keiner verübelt. Tatsächlich hätte Sandra niemals gedacht, dass Ruby es nach Milas Altaria und Milotic noch mit Ryan und ihr selbst aufnehmen könnte. Und nun lagen ihre Partner dort. Brutal geschlagen und am Ende jeglicher Kräfte. Solch eine immense Gewalt hatte sie nie zuvor zwischen Pokémon sehen müssen, wenn nicht der Tod involviert war. Von dem war Shardrago glücklicherweise verschont geblieben, wie sie von hier aus beurteilen konnte. Doch würde sie das auch? Oder Mila? Oder Ryan?

    Der vermutlich am allerwenigsten. Es war Sandra nicht entgangen, dass Rubys letzter Blick vor ihrem Angriff ihm gegolten hatte. Das Ausmaß an Zorn und Abscheu, der in jenem gelegen hatte, war erschütternd gewesen. Und nun hatte das Brutalanda noch bewiesen, dass er… nein, sie alle nicht stark genug waren, um den drohenden Krieg zu verhindern.

    Der Krieg, Team Rocket, Ruby, der Drachensplitter – so vieles, um das sich Ryan in letzter Zeit jede Minute den Kopf zerbrochen hatte. Doch in diesem Moment war für nichts davon Platz. Sein Denken wurde nur von einem beherrscht. Despotars Wohlergehen.

    Selten war er so eilig losgerannt. Ein besorgter Ruf nach seinem Partner hallte durch die Nacht, der unbeantwortet blieb. Er achtete gar nicht auf sein Umfeld, auf seine Freunde und Verbündeten und auch nicht auf die Drächin, die ihm nach dem Leben trachtete. Die war nicht gerade erfreut darüber, links liegen gelassen zu werden, als hätte dieser kümmerliche Mensch die Situation in seiner Hand und nicht sie. Abgesehen davon hatte sie mit dem Rest wenig zu schaffen. Er war es, den sie zu verbrennen gedachte. Egal wie geschunden sie auch war, so lange sie stehen konnte, konnte sie auch eine tödliche Flamme speien. Sofern ihr kein Widersacher entgegengesetzt wurde, der stärker war, als Despotar oder Shardrago, würde sie selbst über all ihre anderen Pokémon noch siegreich sein.

    Das Brutalanda musste jedoch große Mühe aufbringen, sich mit einem Aufschlag beider Flügel direkt vor den Jungen zu schwingen. Die Erde zitterte unter ihr, als sie aufsetzte und ihre Muskeln protestierten entrüstet. Ryan stoppte abrupt. Einerseits sah er in der ersten Sekunde gar wütend und empört zu Ruby auf. Als fasse er nicht, dass sie es wirklich wagte, sich zwischen ihn und Despotar zu stellen. Dies registrierte sie unübersehbar und tatsächlich schien sie sehr überrascht, geradezu kalt erwischt von dieser Aufmüpfigkeit. Doch schnell verengten sich ihre Augen und sie entblößte ihre Fangzähne. Der Kopf senkte sich ihm ein Stück entgegen, als lauere sie nur darauf, diese natürlichen Waffen in seinen Körper zu schlagen.

    Das war der Moment, in dem Ryan wieder einfiel, dass die Felsechse nie Rubys erklärter Feind gewesen war. Sondern er selbst. Sie hatte nie jemand anderem gegrollt, als ihm.

    Er würde niemandem weiß machen können, dass ihm in diesem Augenblick nicht angst und bange um sein Leben war. Wie könnte es auch nicht? Ruby hatte zuvor bereits Krallen und Flammen auf ihn gerichtet und ohne die Hilfe der Menschen hinter ihm, sowie der Pokémon, deren reglose Körper sich um das Schlachtfeld herum verteilten, wäre er bereits tot. Doch von dieser Furcht fehlte in seinen Augen gerade jede Spur. Der Grund dafür war einfach. Es gab etwas, das für den jungen Pokémontrainer im Augenblick viel wichtiger war. Etwas, das die Angst verdrängte und ihm geradezu törichten Wagemut verlieh, der ihn zu diesem Ausdruck befähigte.

    Ryan musste zu Despotar. Wollte zu Despotar. Wollte vorbei an der hasserfüllten Drächin, um zu ihm zu gelangen. Nichts anderes zählte gerade. Er stand vor Ruby, als wollte noch immer kämpfen. Wenn nötig mit eigenen Händen. Würde er doch nie Anstalten machen, dieses Monster eigens zu attackieren, strahlte er doch die absolute Bereitschaft dazu aus. Es war kein simpler Bluff. Denn Ryan tat es absolut unbewusst.

    „Ryan!“, rief Andrew aus der Ferne und wollte bereits losstürmen, um ihn fortzuzerren. Was immer dieses wahnsinnige Brutalanda zum Zögern veranlasste, es konnte jeden Moment enden und dann würden sich die Überreste seines besten Freundes in alle Winde zerstreuen. Doch eine kräftige Hand klammerte sich an seine Schulter und das Gewicht von Pete zwang ihn auf die Knie.

    „Du bleibst hier! Bist etwa genauso lebensmüde?“

    Während Andrew wie ein wildes Muntier protestierte, sich jedoch einfach nicht losreißen konnte, versuchte auch Sandra zu ihm vorzudringen. Allerdings ausschließlich verbal, da sie es nicht wagen würde, Ruby auch nur einen Schritt näher zu kommen. Und dafür würde sie sich später in Grund und Boden schämen.

    „Ryan, verschwinde da. Lauf!“

    „Ryan!“

    Der letzte Schrei kam von Melody. Ihre Stimme war unter alles besonders verbittert. Sie fühlte sich wie damals. Macht- und hilflos. Zum teilnahmslosen Zusehen verdammt. Und mit Ryan Carparsos scheinbar unausweichlichen Tod am Ende ihrer Reise.

    Einzig Mila sagte keinen Ton. Doch nicht ihres Zustandes wegen. Tatsächlich sahen ihre Augen zum ersten Mal wieder völlig klar. In ihrer Aufregung und ihrer Angst um das Leben eines Freundes bemerkte es gar niemand. Sie stützte sich mit den Armen und saß weiter auf, um besser sehen zu können, was dort geschah. Und was dort geschah, könnte sich als winziger Hoffnungsschimmer herausstellen. Wie Ryan zu Ruby auf- und sie zu ihm herabsah. Sie wägten einander ab. Und in Rubys Fall konnte es den Hintergrund haben, ob sie ihn anerkannte. Ob sie die Stärke seines Despotar und somit ihn respektieren konnte. Und wenn das möglich war, so wäre es eine Allianz mit ihr ebenfalls.

    Ryan war so fokussiert auf die scharfen Augen des Brutalanda, dass er den Schatten, der hinter ihr aus der Baumkrone hervor preschte, gar nicht kommen sah. Erst, als der auf Rubys Rücken gelandet war, erkannte er die Gestalt der Attentäterin. Wie aus dem Nichts war sie plötzlich erschienen. Doch noch bevor er etwas sagen oder die Drächin sich des Angreifers vergewissern konnte, hatte sie ihre beiden Dolche erhoben. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Was in aller Welt tat sie da?

    Mit dem Eintauchen des Stahls wurde ein wütender Schmerzensschrei entfesselt. Ruby begann zu toben und zu wüten, wandte und schüttelte sich, schlug ihre Flügel auf und ab, ohne sich erheben zu wollen. Sie drehte den Kopf nach dem Angreifer, schnappte nach ihm, versuchte ihn abzuwerfen. Die Gefährtin der Drachenpriesterin! Von selbiger einmal abgesehen, was sie die Letzte unter den anwesenden Personen, von der sie so etwas erwartet hätte.

    „Sheila?“, wollte Ryan sich ungläubig vergewissern. Sie hatte sich auf Rubys Rücken zusammengekauert und hielt sich nur an ihren Dolchen fest, die noch in ihrem Fleisch steckten. Zweifellos bereitete sie dem Brutalanda damit Qualen, doch überwog in ihrem Gebrüll der Zorn gegenüber den Schmerzen. Aber sie war ausgelaugt, abgekämpft und entkräftet. Da erzürnte sie diese Attacke gar noch mehr. Sie verurteilte nicht den feigen Angriff aus dem Hinterhalt. Sie verurteilte den Angriff und nicht zuletzt den Angreifer selbst. Und zwar zum Tode, wenn nicht noch ein Wunder geschehen sollte.

    Jedoch bekam Ruby sie auf diese Weise einfach nicht los. So unterdrückte sie für einen Moment das Stechen in ihrem Rücken und kam zur Ruhe. Was raste und wütete sie hier, wie ein Menki? Mit einem Flammenstrahl über ihren eigenen Körper hinweg würde sie unweigerlich abspringen müssen. Oder verbrennen, was sie gar bevorzugte.

    Doch mehr als diese eine Sekunde brauchte Sheila gar nicht. Sofort zog sie ihre geliebten Dolche heraus und machte einen Satz nach vorn, wobei eine der Waffen in den Schaft ihres Stiefels wanderte, Sie brauchte die freie Hand, um sich an dem langen Hals Rubys festzuhalten. Kaum geschehen, blitzte die Klinge in ihrer rechten bereits auf und wurde an der Kehle der Drächin angesetzt.

    „Lass das!“

    Es war das erste und würde vermutlich auf ewig auch das letzte Mal sein, dass Ryan Sheila anschrie. Aus voller Kehle und nicht nur von Wut, sondern unverkennbar mit einem immensen Maß an Enttäuschung. Und er war sich in diesem Moment nicht sicher warum sie es tat, doch entgegen seiner Erwartung stoppte Sheila tatsächlich, um seinen Blick zu suchen. Das kurze Zögern genügte nun wiederum Ruby, um den Kopf herumzureißen, sodass das Mädchen von ihrer Schulter geworfen wurde. Indem sie ihn nochmals in die andere Richtung wuchtete, schleuderte sie Milas Partnerin satt über den Boden. Der Aufprall war schon beim Zusehen böse und sie kam erst einige Meter weite zum Stillstand, fing sich aber gekonnt ab und brachte sich in eine tiefe Kampfposition. Sofort legten sich die Rubine in ihren Augenhöhlen wieder auf das Brutalanda – ihr Ziel. Doch einen zurechtweisenden Blick in seine Richtung erlaubte sie sich.

    „Was glaubst du, was du hier tust?“, giftete sie, als erinnere sie ihren Schüler an seine Stellung. Gewissermaßen tat sie das auch.

    Was er tat? In erster Linie verhindern, dass ein unschuldiges Pokémon – das streng genommen auf ihrer Seite stehen könnte, sollte, müsste –, sein Leben verlor. Einen konkreten Plan, was er nun tun oder wie es weitergehen sollte, hatte er nicht gefasst. Genau in diesem Augenblick… nun ja, änderte sich das zwar auch nicht, doch kam ihm eine Idee. Ein möglicher Ausweg aus diesem bereits verlorenen Kampf. Er schätzte die Chancen nicht gerade hoch, doch sofern sie über 0 Prozent lagen, würde er mittlerweile alles versuchen.

    Ruby langte mit einer Klaue an ihren Hals und tastete nach einem möglichen Schnitt. Sie musste den Kopf dafür weit senken und verlor für einen Moment den Sichtkontakt zu den Menschen. Sie spürte nur ihr gleichmäßiges, glattes Schuppenmuster. Sie war unverletzt. Doch warum war sie das? Warum hatte dieser fremde Mensch, den sie vorhin noch zu ihrem geschworenen Feind erklärt hatte, die tödlichen Intentionen der mordlüsternen Sheila gestoppt? Das war vermutlich ihre letzte Chance gewesen, sie zu besiegen. Und er warf sie weg?

    Sie spürte kaum die ersten kalten Tropfen, die auf sie nieder gingen. Das Prasseln und die Nässe. Ein sanfter, nächtlicher Regen setzte ein, löschte die letzten, verbliebenen Flammen an Gras, Laub und Ast. Kühlte die Asche und die gebrannte Erde. Doch vermochte er nicht, ihren Verstand zu klären.

    Alles war so schnell gegangen, dass sie nicht sicher sein konnte, ehrliche Sorge um sie in seiner Stimme gehört zu haben. Er hatte schließlich keinen Grund, welche für sie zu empfinden. Bis gerade eben hatte er sie auch noch bis auf´s Blut bekämpft.

    Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Es addierte sich ihrer Erschöpfung hinzu, die ihr mittlerweile Schwindel bereitete. Oder waren ihre Gedanken der Ursprung? Sie verstand nicht. Sie konnte nicht verstehen. Nichts, was hier geschah, ergab plötzlich mehr Sinn. Erst bekämpfen, dann behüten. Das war irrational und unlogisch.

    Fast taumelte die Drächin. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie eine nahende Ohnmacht abzuwehren. Nie hätte sie sich das eingestanden, aber der Kampf hatte sie sehr nahe ans Ende ihrer Kräfte gezwungen. Näher, als jemals in vielen Jahrzehnten. Schwach und kraftlos mühte Ruby ihren Blick schließlich zurück auf ihre Feinde. Waren sie ihre Feinde? War er einer?

    Sie sah die Kapsel nicht heranfliegen. Sie spürte auch nicht, wie diese sie an ihrer Brust traf. Das Brutalanda erkannte lediglich und auch nur im allerletzten Moment, wie sich selbige öffnete und dann ein unwiderstehlicher Sog nach ihr griff. Nicht mit Gewalt oder Zwang. Eher, als führe ein unfehlbarer Wegweiser sie in die richtige Richtung. Raus aus der Konfusion und zurück auf ihren Pfad. Der, den sie blind verlassen hatte, war sie doch schon so lange auf ihm gewandert. Gewiss hatte sie auch auf ihm gekämpft und gelitten. Doch auf diesem verspürte sie zum ersten Mal seit langem keine Angst.


    Noch nie hatte Ryan so sehr gebangt, wenn er auf einen Pokéball gestarrt und sein Stillstehen herbeigesehnt hatte. Er würde so manches dafür geben, dass er es tun würde. Aber bestand überhaupt eine Chance darauf? Bei jedem anderen Pokémon wäre er fast sicher, dass der Fang praktisch schon gelungen war, aber nicht bei Ruby. Sie hatte es alleine mit gleich 4 Gegnern nacheinander aufgenommen und von jedem einzelnen konnte man behaupten, dass sie wussten, wie man kämpft.

    Ryan spürte sein eigenes Herz nicht nur in seiner Brust pochen, er hörte es sogar. Wie ein dumpfes Hämmern, das tief in seinen Ohren lag und alle anderen Laute blockiert. Würde ihn jetzt jemand ansprechen – er würde kein Wort hören können. Doch Sandra, Andrew, Mila, sie alle schwiegen. So lange, bis es auch die Kapsel auf dem Boden tun würde. Oder bis sie aufsprang und einen erneuten Sturm freisetzte.

    Ein leises Klicken. Urplötzlich war das Hämmern in Ryans Ohren verschwunden. Nur das sanfte Prasseln und Rauschen des sommerlichen Sprühregens, der langsam seine Haare, sowie seine Kleidung an Armen und Schultern durchnässte. Er stolperte einen Schritt nach vorn, als würde er sonst zu Boden gehen. Tatsächlich versagten ihm seine Beine den Dienst und der ging in die Knie. Nicht nur die, sondern sein ganzer Körper fühlte sich schwach an und er schluckte ungläubig über den Sieg, den er gerade errungen haben sollte. Zumindest fühlte es sich an, als erkläre die ruhende Kapsel auf dem Boden einen Sieg. Was es wirklich geschafft?

    Schwere Schritte passierten den jungen Trainer. Keine große oder kräftige Gestalt war es, die an ihm vorbei ging. Eher wirkte der Gang so schwer, da die Person gleichermaßen ausgelaugt, erschöpft und vor Erleichterung beinahe fassungslos war. Sandras Stiefel schlurften durch das nasse Gras und stapften achtlos durch die ersten Pfützen. Sie zögerte keine Sekunde, den Pokéball aufzunehmen und machte sofort wieder kehrt. Ryan blickte erst auf, als sie vor ihm stand und ihn stumm aufforderte, den Ball, der Ruby in sich trug, anzunehmen. Mit einem ehrlichen und gratulierendem Lächeln.

    Kapitel 36: Ruby


    Das in regelmäßigen Abständen erklingende Geräusch von scharfem Stahl, der die Rinde eines stolzen Baumes durchbohrte, hatten mittlerweile jeder ausgeblendet. Mit Ausnahme der Person, die das Geräusch verursachte. Für Ryan war es bereits Musik in den Ohren und verkündete den Erfolg, die Technik verstanden zu haben. Lediglich an der Präzision haperte es verständlicherweise noch.

    Was Sheila von seinen Fortschritten hielt, konnte man höchstens mit viel Kühnheit mutmaßen, da sie weder auf die Fehlwürfe noch auf jene, die saßen, eine Reaktion preisgab. Genauso gut konnte man gleich raten, was generell in ihr vorging.

    Andrew und Melody hatten bislang keinen Schlaf gefunden. Dafür waren die Klänge von Ryans Traininf jedoch keineswegs verantwortlich. Es schwirrten bloß zu viele Gedanken in ihren Köpfen umher, weshalb sie es mit dem Schlafen nichteinmalversuchthatten. Und sie einfach beiseite zu schieben, war etwa so aussichtsreich, wie mit einem Gartenschlauch einen Ölbrand zu löschen. Pete hatte da mehr Erfolg gehabt. Der lehnte wieder an einem Baum, der weit in die Lichtung hinein wuchs und hatte den Kopf auf der Brust liegen. Konnte sein, dass es am Schnaps lag, oder aber er ließ die Situation nicht so sehr an sich heran. Wie könnte er auch, waren Ryan und sie beide ihm doch beinahe egal. So vermuteten die beiden zumindest. Jedenfalls hatte er in ihrer kurzen Bekanntschaft nicht gerade ein enges Verhältnis angestrebt. Er war kein Freund. Lediglich ein Verbündeter, der Mila helfen wollte und nicht ihnen.

    Selbige saß im Schneidersitz am Feuer und starrte wie hypnotisiert in die Flammen. Melody wüsste gerade zu gerne, welchen Gedanken sie nachging, doch traute sich nicht zu fragen. Keiner wagte zu sprechen.

    Sandra sah die meiste Zeit stumm zum Nachthimmel hinauf. Sie hoffte, sich am Anblick der Sterne ein wenig zu beruhigen. Doch es waren absolut keine zu sehen. Der Wolkenteppich über ihnen war völlig undurchlässig und würde sie vielleicht gar noch mit einem Schauer übergießen.

    Auch zwischen Ryan und Sheila fand seit Minuten keine Konversation statt, da er gerade einfach nur wiederholte, was ihm bislang geraten und erklärt worden war und dabei versuchte, näher an den Punkt zu zielen, der durch ihre vorangegangenen Würfe deutlich in der Rinde auszumachen war. Es wäre ein Traum, könnte er dieses Niveau erreichen. Er selbst verfehlte bei circa jedem fünften Wurf noch immer gerne mal den Baum. Nur noch eine Handvoll Versuche, schwor er sich zum x-ten Mal, dann würde er es gut sein lassen. Und da landete er völlig unverhofft einen Treffer genau an den Punkt, den er so akribisch zu fixieren versucht hatte!

    Mit dem Eintauchen des Dolches zitterte auf einmal die Erde. Ein dumpfer Donner erschütterte die Lichtung, als ob ein hundert Jahre alter Baum gefällt worden war. Die meisten in der Runde fragten sich, ob sie sich das Zittern der Erde unter ihren Füßen bloß einbildeten. Die Jugendlichen schreckten allesamt hoch, als habe sie etwas gestochen. Pete erwachte ebenfalls und war ruckartig auf den Beinen, um sich umzublicken. Doch Mila und Sheila sahen bloß langsam auf und anschließend einander in die Augen. Ganz ohne Zweifel hatten sie beide denselben Gedanken.

    „Was in aller...?“, fragte Andrew und sprach damit quasi für jeden mit. Ryan eilte sich, wieder in die Gruppe zu gelangen und ließ glatt seinen Dolch stecken.

    „Bildet einen Kreis“, wies Mila geistesgegenwärtig an. Ihre Stimme klang ernst und alarmiert, doch strahlte sie noch eine immense Ruhe und Konzentration aus. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, die akribisch in das finstere Unterholz spähten. Nichts als Pechschwarz lag hinter der ersten Baumreihe und das in alle Richtungen. Aber hören konnte man etwas. Raschelnde Blätter und stampfende Schritte. Doch leider ließ das Echo, das über die Lichtung hallte, die Richtung nur schwer erahnen.

    „Keiner entfernt sich aus der Gruppe“, wies Mila an und stellte sich – soweit sie das richtig einschätzte – zwischen Ryan und was auch immer da lauerte. Der könnte sich in den Arsch beißen, dass er seinen Dolch nicht genommen hatte, bevor er zurückgeeilt war. Ganz gleich, ob er nützlich sein würde, gab er ihm bereits ein leichtes Gefühl von Sicherheit. So öffnete er den Verschluss seiner Pokéballtasche und griff nach der Kapsel von Despotar. Er überlegte noch fieberhaft, wer denn der Angreifer sein könnte. Er wusste in etwa, wie groß Brutalanda waren und schätzte die Gattung nicht gerade als übermäßig geschickt und leichtfüßig ein. Jedenfalls nicht am Boden. Folglich kamen ihm Zweifel, ob das bisschen Rascheln tatsächlich das eines über zwei Meter hohen Drachens sein konnte. Das vorangegangene Krachen erschien dagegen sehr plausibel.

    Ganz egal, wer oder was es war, Ryan blieb so aufmerksam und gefasst, wie es sein Zustand erlaubte. Gemessen daran, dass er sich bis gerade eben noch zum Üben in der Lage gesehen hatte, erging es ihm deutlich besser, als Andrew oder Melody. Letztere hielt sich fest an seiner freien Hand, riss sich aber noch so weit zusammen, dass sie sich nicht ängstlich an ihn drängte. Andrew und auch Sandra fassten ebenfalls einen Pokéball und hielten bereits einen Finger auf den Knopf für dessen Vergrößerung.

    Doch niemand schien beim Befreien eines Pokémon der erste sein zu wollen. Man wartete ab, wollte auf den Angreifer reagieren, anstatt eine aggressive Handlung zu provozieren. Die Laute waren verstummt. Es herrschte nur noch Stille. Und zwar absolute. Nicht einmal das Zirpen und Krabbeln irgendwelcher Käferpokémon war zu hören und auch sämtliche anderen Nachtaktiven Wesen schienen ausgeflogen. Als spürte jedes unter ihnen die Gefahr.

    Sie alle taten dasselbe. Sie schwiegen und spähten, atmeten sehr flach. Es lag etwas in der Luft, das die Alarmbereitschaft kollektiv oben hielt, obwohl niemand den Feind sehen konnte. Mit einer Ausnahme, wie es schien. Sheilas Augen verengten sich ähnlich wie die von Mila, als habe sie etwas erspäht. Ohne den Blick auch nur eine Sekunde in eine andere Richtung zu lenken, machte sie zwei Schritt zurück und ging in die Knie. Sie las einen breiten Ast aus dem Lagerfeuer auf, der gerade erst an einem Ende Feuer gefangen hatte und als provisorische Fackel dienen würde. Mila beobachtete genau, was ihre Partnerin tat. Was immer sie vor hatte, sie wusste, sie selbst würde vermutlich nicht wagen, es zu tun. Doch sie ließ Sheila gewähren, ließ sie schließlich sogar, mit ihrer Fackel in der Hand, den Kreis verlassen. Ihre Schritte waren bedacht, lautlos und vorsichtig. Sie trugen sie deutlich näher an die Bäume heran, als klug sein konnte. Das flackernde Licht der kleinen Flamme bestrahlte sie nur schwach. Es schien, als warte hinter ihnen die endlose, schwarze Leere. Pete malmte mit den Zähnen und beschrie sie in Gedanken, schnellstens umzudrehen.

    Dies tat sich zwar nicht, jedoch stoppte sie immerhin. War diese Annäherung eine Provokation, ein kalkuliertes Risiko oder konnte sie durch den Schleier der Nacht wirklich etwas sehen? Sicher nicht viel mehr, als vom Standpunkt aller anderen aus. Niemand konnte es von ihrer Position aus wahrnehmen, doch Sheila verengte die Augen gar noch ein bisschen weiter, ehe sie eine ausholende Bewegung machte und die Fackel scheinbar willkürlich zwischen die Bäume warf. Die wurden von der mageren Flamme spärlich erleuchtet und warfen mit ihren Ästen und Zweigen unheimliche Schatten ins Unterholz.

    Der entflammte Ast rollte nach seinem Aufprall auf dem Waldboden noch etwas weiter und brachte nun endlich den lauernden Jäger zum Vorschein. Ein langer Hals, sowie ein breiter Kopf mit sechssternigem Zackenmuster ragte aus dem Schwarz hervor. Die wilden Augen schienen auf diese Nähe das Feuer in ebenbürtigem Flackern zu reflektieren. Sie ließen die Gruppe auf ihrer Lichtung alarmiert einen Schritt zurückweichen. Selbst Sheila befand, dass sie sich etwas zu nahe herangewagt hatte und machte, dennochvruhig und unüberstürtzt, ein paar Schritte rückwärts. Mila war die Einzige, die sich dem Drachen gar näherte.

    „Hallo, Ruby“, hauchte sie ernst. Das Brutalanda Weibchen entblößte seine scharfen Fangzähne, die nach Fleisch und Blut gierten und senkte den Kopf. Dieser und der lange Hals allein, der sich fast in horizontaler Position befand, wurden durch die Flamme erhellt und sichtbar. Der massige Körper verschwand bereits wieder in der Nacht. Offenbar frustriert über die Tatsache, dass sie entdeckt worden war, stampfte die Drächin mit einer Vorderklaue auf den Boden, um die Fackel zu erlöschen. Die erneute Stille hielt lediglich für eine Sekunde. Dann wurde die Hölle entfesselt.

    Wie ein Orkan brach der massige Körper aus dem Unterholz hervor, rammte dabei zwei im Weg stehende Bäume, die wie Strohalme brachen und entzwei geknickt wurden. Mit nur einem Schlag der rubinroten Schwingen hatte sich dieses gewaltige Geschöpf nach vorn katapultiert – mit geöffnetem Maul direkt auf Ryan zu. Hätte Sandra ihn nicht geistesgegenwärtig zu Boden gestoßen, wäre er wohl nun buchstäblich einen Kopf kürzer. Das Brutalanda zog eine immens starke Windböe hinter sich her, die Andrew, Melody und Pete von den Füßen riss, sodass sie sich ebenfalls auf der Erde wiederfanden. Mila hatte sich rechtzeitig in die Hocke begeben und Sheila war rechtzeitig zur Seite gesprungen. Ruby hatte alle Klauen in den Boden gegraben, um sich auszubremsen und verharrte nun offen vor ihnen. Sie zeigte der Gruppe die Flanke und hob den Schädel weit in die Höhe, ehe sie ihn nach vorne warf und ein bis ins Mark durchdringendes Gebrüll ausstieß. Man spürte es regelrecht im Brustkorb, als krallte sich etwas in die Organe. Mila und Sheila waren die einzigen, die sich von den aggressiven Drohgebärden – die garantiert mehr als nur Bluff waren – augenscheinlich kein bisschen beeindrucken ließen. Sie kannten dieses Brutalanda so gut, wie man einen Drachen nur kennen konnte. Kein noch so grausames Brüllen oder Toben würde sie einschüchtern können. Tragischerweise genügte das Wissen um Rubys Zerstörungskraft allemal, um selbst in diesen beiden Frauen… nun, vielleicht keine Angst hervorzurufen, doch durchaus etwas, das dem sehr ähnlich war. Und auch nur, weil sie beide schon vor Jahrhunderten gelernt hatten, den Tod niemals zu fürchten.

    Mila ging erneut einige Schritte auf Ruby zu. Langsam und bedacht, strahlte dabei völlige Gelassenheit aus und zeigte offen ihre leeren Hände. Ihre Körpersprache zeigte eindeutig, dass sie nicht kämpfen wollte.

    „Das hier ist nicht nötig, Ruby.“

    Alle sahen sie der Drachenpriesterin hinterher. Keiner wagte auch nur, sich zu erheben und Pete knirschte verbissen mit den Zähnen, weil er es nicht tat. Eigentlich müsste er Mila sofort festhalten. Sie davon abbringen, sich diesem Monster weiter zu nähern. Obgleich sie bekanntermaßen mit diesem Brutalanda eng vertraut war, so erschien es wie die dümmste Idee in der langen, traurigen Geschichte dummer Ideen, ihr so nahe zu kommen. Aber niemand hielt sie auf. Denn ein jeder wusste, Mila war ihre einzige Hoffnung auf einen friedlichen Ablauf dieser Begegnung. Und sie würde nach jedem noch so kurzen Strohhalm greifen müssen.

    „Ich weiß, warum du hier bist“, fuhr Mila fort, stoppte ihre Schritte zu keiner Zeit. Doch je näher sie kam, desto langsamer und vorsichtiger wurden sie.

    „Natürlich spürst auch du Rayquazas Herz. Genau wie jeder deines Volkes.“

    Rubys Augen verengte sich gar mehr und der gezackte Kopf wurde wieder in eine tiefe Lauerstellung gebracht, während ein dunkles Grollen aus der Kehle drang. Eine Pranke machte einen Satz nach vorn, quasi ein eindeutiges Zeichen, dass sie bereit war, die Priesterin anzugreifen. Selbst Ryan, Andrew und Melody erkannten die feindselige Körpersprache sofort, doch Sandra versteinerte fast von Anspannung. Nicht im Traum würde sie daran denken, auch nur einen Schritt auf ein Brutalanda zuzugehen, das diese Signale aussandte.

    „Aber ich bitte dich, zügle deinen Hass. Wir werden alles wieder ins Reine bringen. Und den Drachensplitter zurück an seinen Platz.“

    Sie straffte ihre Haltung, präsentierte sich Ruby stark und stolz mit gerecktem Kinn und festem Stand. Eine nächtliche Brise fing ihren schwarzen Mantel auf und ließ ihn hinter ihr flattern, während aufgewirbeltes Laub Mila und Ruby umtanzte.

    „Auf das wir unserem alten Schwur gerecht werden und der Friede zwischen Menschen und Drachen gewahrt werden kann. Dafür werde ich kämpfen und wenn nötig sterben. Doch in jedem Fall werde ich mein Wort halten. Das Schwöre ich bei Rayquazas Namen.“

    Ryan überkam in diesem Moment eine Gänsehaut. Die Situation ließ nicht zu, dass er sich jetzt mit einem solch unbedeutenden Gedanken befasste, doch später würde er sich fragen, woher sie gekommen war. Hatte er Angst vor dem Brutalanda? Gewiss hatte er das, aber war sie auch der Grund für sein Zittern und Herzpochen? Oder war es viel mehr diese unerschütterliche Opferbereitschaft und das furchtlose Auftreten Milas?

    Wichtiger war jedoch – konnte man diese rasende Drächin denn noch mit Worten besänftigen? Sie schien sich diese Frage gerade selbst zu stellen. So erklärten sich alle zumindest ihr Zögern. Und wenn sie zögerte, so war ihr Entschluss vielleicht noch nicht endgültig.

    Das veranlasste Mila schließlich dazu, ein noch größeres Wagnis einzugehen, indem sie Ruby noch mehr entgegenkam, ihr damit aber gleichzeitig etwas Ungeheuerliches abverlangte. Und zwar, dass sie an der Seite von Fremden kämpfte. Unter Umständen gegen Vertreter ihres eigenen Volkes.

    Die Drachenpriesterin streckte eine Hand aus und blickte mit felsenfester Entschlossenheit, aber auch einem wärmenden, einladenden Lächeln in Rubys Augen.

    „Und wir wären geehrt, dich dabei auf unserer Seite zu wissen. Als Kamerad und Freund im Kampf, so wie vor langer Zeit. Lass uns unser Bündnis erneuern.“


    Jeder Mensch erlebte ab und an Momente, in denen er das Gefühl hatte, die Zeit stünde still. Für Ryan, Andrew, Melody, Sandra, Pete und selbst Sheila fühlte es sich in diesem Moment jedoch so an, als vergingen ganze Tage in diesen wenigen Sekunden. Der Atem von ihnen allen war eins, hatte völlig gestoppt, und egal wie viele Tage sie noch auf die Antwort der Drächin warten müssten, würde doch keiner auch nur im Traum an das Wagnis denken, als erster Luft zu holen.

    Pete war, obwohl er sich dem absolut anschloss, der Einzige, dessen Augen nicht auf Ruby, sondern auf Mila hafteten. Es gab keinen lebenden Menschen, den er länger kannte, als sie. Doch fühlte er sich gerade, als wüsste er nichts von ihr. Denn es war ihm doch unbegreiflich, wie sie den Mut für das hier aufbringen konnte.

    Sich dem Brutalanda allein und offen zu stellen, sich so nahe heranzuwagen, gar Hilfe zu erbitten – und dennoch nicht eine Sekunde lang auch nur einen Hauch Furcht erahnen zu lassen. Schon immer hatte er tiefen Respekt für sie empfunden – was er nicht gerade vielen Menschen gegenüber tat –, doch in diesem Augenblick glaubte er zum ersten Mal, sie wahrhaftig beurteilen und ihre unverschleierte Person erkennen zu können. Und er fühlte, er würde alles tun was sie von ihm verlangen würde, um dieses Ziel, das sie Ruby gerade offengelegt hatte, zu erreichen.

    Nur… würde die Drächin genauso fühlen? Würde sie sich Milas eiserner Tapferkeit anschließen und für den Sieg ihrer Garde, sowie der Drachen kämpfen? Und noch wichtiger – würde sie sich ihren Mitstreitern anschließen?

    Die wilden Augen ließen zum ersten Mal von Mila ab und schweiften über die jungen Menschen, die am Boden kauerten. Milas Partnerin stand weiterhin abseits, doch sie galt es nicht zu einzuschätzen. Jene unter ihnen, die auf die Namen Sandra und Pete hörten, hatte sie ein oder zwei Mal getroffen. Es waren aufrichtige Seelen, die für ehrenvolle Ziele gekämpft und ihrem Volk einen bedeutenden Dienst erwiesen haben. Vielleicht könnte sie sich tatsächlich dazu erbarmen, sie Kameraden zu nennen.

    Doch die Übrigen…

    Angst. Verunsicherung. Misstrauen. Zweifel. Zwiespalt. Schwäche.

    Das waren die Gefährten der Drachenpriesterin? Nein, nicht Gefährten. Nicht nur. Der eine, der mit den schimmernden Augen. Als schienen Vollmonde in seinen Höhlen.

    So viele Makel. So viel Falschheit. So viel Schande.

    Er, der Dieb, der Schänder, der Feind. Er verkroch sich, ließ sich von der Priesterin beschützen. Nicht sie trug das Herz des Drachenvaters, sondern er, war er dessen doch so unwürdig, wie man es nur sein konnte. Zu ihm sollte sie Seite an Seite stehen? Eher würde sie ihn zu Asche verbrennen!

    Ruby hatte sich noch nicht einmal gerührt, ehe Mila bereits gewahr wurde, dass ihr Schlichtungsversuch gescheitert war. Ihre Augen wurden größer, das sanfte Lächeln schwand und ihre Züge zeichneten deutlich ab, wie sie das nahende Unheil erahnte.

    Sehr langsam hob das Brutalanda erneut den Kopf. Diesmal jedoch presste es die Kiefer fest zusammen – und dennoch entkamen ihrem Maul bereits züngelnde Flammen. Jedes menschliche Herz auf dieser Lichtung setzte für einen Schlag aus. Und in dieser Zeit waren sie wie versteinert. Bis auf eine Person.

    Mila machte eine Ruckartige Bewegung mit ihrem linken Arm, womit sie eine kleine Kugel aus dem Ärmel in ihre Hand beförderte. Nur sehr kurz war ein greller, weißer Lichtblitz zu erkennen gewesen, doch der wurde nun bereits von einem alles vernichtenden Flammenwurf verschlungen. Ryan, Andrew, Sandra… sie alle hielten mindestens einen Arm vor das Gesicht und wandten sich ab. Ein reiner Reflex, denn vor dieser Feuerbrunst würde sie nichts beschützen können. Dazu hätten sie die Cleverness besitzen müssen, ihre Pokémon rechtzeitig zu befreien.

    Jeder spürte deutlich, wie die ganze Lichtung von der Hitze eingenommen wurde. Wie die Flammen sie umspielten und ihr Rot sie einschloss.

    Doch es war aus irgendeinem Grund nicht so qualvoll, wie zunächst angenommen. Nicht einmal ansatzweise! Sandra war die erste, die es wagte, wieder aufzusehen. Die gewaltige Drächin spie weiter ihren Flammenstrahl, doch irgendetwas hatte sich schützend vor der Gruppe aufgebaut. Vom Feuer vollständig umschlossen, konnte man es allerdings nicht erkennen. Zweifellos aber, dass es Rubys Angriff zu beiden Seiten ablenkte.

    Nach wie vor war die Zerstörungskraft dieses Angriffs jedoch enorm und setzte einige Bäume in Brand. Es war ein Glücksfall, dass sie in so großen Abständen zueinander aus dem Erdboden ragten. Würden sie dichter wachsen, wäre in null Komma nichts der ganze Wald in Flammen gestanden. Und selbst in einigen Metern Abstand war die Hitze auf der Haut fast unerträglich. Als drücke man sein Gesicht auf eine glühende Herdplatte. Aber das würden sie überleben. Was man von dem, was Ruby mit ihnen angestellt hätte, wäre Mila nicht zur Rettung gekommen, sicher nicht erwarten konnte.

    Auch Ryan hob nun den Blick und versuchte fieberhaft zwischen seine noch immer erhobenen Arme hindurch zu spähen und auszumachen, wer oder was sich da zu ihrem Schild machte. Doch im Flammenmeer erkannte er lediglich eine schillernde Lichtkugel in Naturgrün. Sie konnten es alle nicht sehen, doch Mila zuckte trotz dieses zerstörerischen Angriffs nicht einmal mit der Wimper. Als wüsste sie mit absoluter Sicherheit, dass der Schutzschild halten würde.

    Es dauerte lange, bis auch Ruby zu dem Schluss kam, dass ihre Flammen den Wall nicht überwinden konnten und den Angriff schließlich stoppte. Es folgte ein Augenblickliches Brüllen, begleitet von einem wütenden Aufstampfen ihrer Vorderbeine. Die Gruppe wollte sich gerade wieder erheben, da erzitterte die Erde unter ihren Füßen, dass sie beinahe wieder zu Boden gegangen wären. Ein Schlag mit den rubinroten Schwingen entsandte einen Windstoß, der um ein Haar dasselbe bewirkt hätte.

    „Ich bedaure zutiefst, dass du uns so her hasst, Ruby.“

    Bestimmt richtete sich dieser nicht auf alle Mitglieder ihrer Gemeinschaft. Doch reichte er aus, damit sie einen jeden von ihnen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt hätte, ohne auf jemandes Leben Rücksicht zu nehmen.

    „Bitte steh mir bei, Noah!“

    Zum ersten Mal sahen alle das Pokémon, das Mila in allerletzter Sekunde hatte befreien können. Ein schlangenartiger Körper kräuselte sich auf dem Waldboden. Der größte Teil davon war cremefarben, doch zierten große, ozeanblaue Schuppen den Schweif und bildeten eine Art Fächer. Unterbrochen wurden sie hier und da von schwarzen Linien und korallroten Flächen. In eben diese Farbe waren auch die Strähnen über den Augen, die sicher einen Meter maßen, sowie die geschwungenen Fühler auf dem Kopf.

    Selbst umringt von Brutalandas Flammen strahlte dieses grazile Wesen eine unglaubliche Anmut und erhabene Schönheit aus. Als könnte die Verwüstung um sie herum seiner Vollkommenheit nichts anhaben. Genauso wenig, wie die Drohgebärden der Drächin ihn einzuschüchtern vermochten.

    Andrew kam trotz der Lage nicht umher, seinen Pokédex zutage zu fördern, um mehr über dieses Pokémon zu erfahren. Milotic hieß es und gehörte der Gattung der Wasserpokémon an. Mila hatte es, oder eher ihn, Noah gerufen. Und er sollte nicht allein bleiben.

    Sie vollführte mit der linken Hand dieselbe ruckartige Bewegung wie vorhin noch einmal, offenbarte einen zweiten Pokéball und ließ erneut das bekannte, weiße Licht aufblitzen.

    „Neyla, kämpfe mit mir.“

    Diesmal materialisierte sich daraus ein Vogelartiges Wesen mit langem Hals und kleinem Kopf. Der Schnabel war breit, aber kurz und stumpf. Am Markantesten waren wohl mit Abstand die Schwingen, welche das Wesen stolz spreizte und wodurch es plötzlich viel größer erschien. Man könnte wirklich meinen, es trug Wolken an seinen Flanken. Entgegen des Erscheinungsbildes gehörte dieses Pokémon ebenfalls den Drachen an und hieß Altaria.

    Noah und Neyla also. Niemand hier hatte ernsthaft erwartet, dass Mila auch Pokémon in Pokébällen mit sich führte. Doch genau dieser Moment bewies, dass es weise war, sich in gewissen Situationen ihrer Hilfe sicher zu wissen.

    Ruby wirkte mit dem Erscheinen der neuen Widersacher allgemein, aber Altaria im Besonderen, sehr erbost und taxierte das optisch eher schmächtige Wesen mit verengten Augen. Eine Blutschwester stellte sich gegen sie, obwohl sie doch auf ihrer Seite kämpfen müsste. Das glich einem Verrat!


    Für weitere Spekulationen blieb keine Zeit mehr. Das Brutalanda hatte genug. Der schiere Anblick der edlen Drachendame brachte sie zur Weißglut. Mit einem mächtigen Stoß aus den Beinen, sowie einem ebenso kraftvollen Flügelschlag, raste sie auf Neyla zu, die Klauen plötzlich in bläuliches Licht gehüllt. Es dauerte nur einen Herzschlag, ehe die Distanz überwunden war, doch kreuzte ein gleißender Strahl plötzlich die Flugbahn und zwang Ruby, erneut aufzustampfen, um sich hoch in die Luft zu katapultieren. Sie hatte die immense Kälte sofort gespürt. Freilich, denn sie hasste sie von Natur aus. Noah hatte mit einem Eisstrahl nach ihr gezielt und nur knapp verfehlt. Eine zuvor entflammte Baumkrone trug nun urplötzlich schimmerndes Eis an seinen Ästen. Selbst das Feuer war ihm gewichen. Zapfen hingen, nun ja, nicht herab, sondern zeigten dank der starken Eisböe fast horizontal vom Kampfgeschehen weg.

    „Jetzt Drachenpuls, Neyla“, wies Mila unerwartet ruhig an. Den anwesenden Trainern, die sich so in den Hintergrund geraten fühlten – worüber sie nicht allzu traurig waren, da man zu diesem wutentbrannten Brutalanda kaum genug Distanz wahren konnte – stockte der Atem ob Milas Präsenz und Ausstrahlung. Sie glaubten fast, es fühlen zu können, wie sie die ganze Welt um sich herum ausgeblendet hatte. Als habe sie um sich und die kämpfenden Pokémon einen Mantel gelegt, eine Barriere errichtet, die alle äußeren Einflüsse blockierte und ihren Fokus allein auf das Geschehen vor ihr lenkte.

    Die Drachendame öffnete den kleinen Schnabel, aus dem ein unverhältnismäßig gewaltiger, wirbelnder Energiestrahl in Richtung Ruby entsandt wurde und die Lichtung in eine mystische Mischung aus blau-violettem Licht tauchte. Doch die zornige Drächin wich erneut aus, indem sie einen Flügel einklappte und so auf die Seite rollte und bis knapp über die Baumkronen tauchte. Dann breitete sie beide aus und umkreiste die Ziele, während das Zischen in ihren geweiteten Nüstern einen erneuten Flammenwurf ankündigte.

    „Hydropumpe“, lautete die Anweisung der Drachenpriesterin. Man würde sehr bewusst das Wort „Befehl“ vermeiden. Es war befremdlich genug und zugleich atemberaubend, sie plötzlich in der Rolle einer Trainerin zu sehen, die obendrein eine solche Routine an den Tag legte, sich von der buchstäblichen Hitze des Gefechts kein bisschen beeinflussen ließ und überlegt und souverän agierte.

    Noah öffnete mit einem sängerischen Ausruf seines Namens das Maul und stieß eine Hochdruck Wasserfontäne aus, die mit Rubys Angriff kollidierte. Obgleich man meinen müsste, die Hydropumpe sollte die Flammen zum Erlöschen bringen, hielten sich beide Attacken überraschenderweise die Waage. Mit einem lauten Zischen verdampfte Noahs Angriff in der Luft und vermochte nicht, das Brutalanda zu erreichen.

    „Und nun Himmelsfeger!“

    Die wenigsten in der Gruppe hatten überhaupt bemerkt, dass Neyla aus ihrer aller Blickfeld verschwunden war und auch Ruby war dies entgangen. Außerhalb ihres eigenen Sichtfeldes, nämlich direkt über ihr, begann eine vogelartige Gestalt, in gleißendem Licht zu erstrahlen. Es war von hier unten aus lediglich ein ferner Punkt. Wie in aller Welt war sie so schnell und unbemerkt so weit in die Höhe gestiegen?

    Die Drächin bemerkte es zu spät. Sie sah Neyla nur noch aus dem Augenwinkel heraus, doch da spürte sie schon, wie sie sich, verstärkt durch die Energie der mächtigsten Attacke der Flug-Typen, in ihren Rücken bohrte.

    Noah setzte hier auf die Anordnung seiner Trainerin – sollte man sie denn wirklich so nennen? – zu einem erneuten Eisstrahl an. Die Luft knisterte bereits vor seinem Maul und die Kälte fing seinen Atem auf, sodass kleine Wölkchen davor erschienen.

    Doch so einfach würde sich Ruby nicht überwältigen lassen. Der Treffer hatte sie nur überrascht. Doch von Altarias Kraft war sie kein bisschen beeindruckt. Sie rollte sich auf den Rücken und ließ ihre Klaue erneut aufblitzen. In einer fließenden Bewegung schlug sie die zarte Drachendame von sich und brachte sich wieder in eine stabile Flugposition. Mehr noch, sie ging in eine Schraube über und ließ den Angriff Milotics ins Leere gehen. Dafür wuchs nun ein goldene Energieball in ihrem eigenen Maul.

    „Mit Eisstrahl kontern!“, wies Mila an und Noah kam gehorsam nach. Ruby war enorm stark. Vielleicht war sie eines der stärksten unter den normal sterblichen Pokémon. Aber sie war auch impulsiv. Und in diesem rasenden Zustand würde sie überstürzt und unvorsichtig werden. Dann brauchte es nur einen Volltreffer mit einer der stärksten Eis-Attacken – der größten Schwachstelle eines Brutalanda. Und der Sieg wäre greifbar.

    So kollidierten die Angriffe von Ruby und Noah erneut auf halber Distanz. Nein, das war nicht richtig. Es war als würde ein komprimierter Strahl aus sengender Hitze einen Eiszapfen durchbohren und dahinschmelzen. Mila stockte der Atem und nur einen Zug später traf die geballte Kraft des Hyperstrahls auf Milotic. Im goldenen Licht erkannte man nur schwach seine Silhouette und selbst der Schmerzensschrei drang kaum zu ihnen durch. Denn es fühlte sich an, als wäre ein Komet vor ihnen eingeschlagen, der die Erde erzittern ließ und mit seiner Druckwelle alles in der näheren Umgebung hinwegfegte. Tatsächlich neigten sich glatt die nahestehenden Bäume entgegen des Einschlagpunktes und es wurde plötzlich hell, als blicke man geradewegs in die grelle Mittagssonne. Ryan, Andrew, Melody, Pete, Sandra, sie alle kauerten schon wieder auf dem Boden und versuchten die Druckwelle über sich hinweg fegen zu lassen, sie nicht aufzufangen und von ihr fortgerissen zu werden. Dafür war es in Milas Fall allerdings zu spät. Sie wurde wie ein Blatt im Wind von den Füßen gerissen und mehrere Meter fortgeschleudert, gar am Rest der Gruppe vorbei.

    „Mila“, schrie Sandra ihr entsetzt hinterher, senkte aber gleich wieder den Kopf, um ihr nicht unfreiwillig zu folgen. Ganz im Gegensatz zu Pete. Der richtete sich lediglich bis auf die Knie, ehe er mitgerissen wurde, doch das war ihm gleich. Er musste nach ihr sehen. Wohin zum Teufel war eigentlich Sheila verschwunden? Die war seit dem allerersten Angriff Rubys wie in Luft aufgelöst.

    Brutalanda hielt den Hyperstrahl unnatürlich lang aufrecht. Das konnten nur die allerwenigsten Pokémon. Und nicht nur das, sie konnte selbst währenddessen offenbar alle Sinne nutzen. Denn niemals hätte sie sehen können, wie sich Neyla ihr ein weiteres Mal aus totem Winkel näherte und ihren Kopf nach hinten ziehend zur Attacke ausholte. Ruby musste sie aber gehört oder gar gespürt haben. Sie riss das Maul herum und lenkte den Energiestrahl hoch entlang der Bäume, sprengte diese regelrecht in tausend Kleinteile und zielte über ihre Wipfel hinweg. Mitten in der Luft detonierte er dann an dem Altaria. Begleitet von einem krachenden Knall, wie schon bei Noah, verschwand sie zunächst im goldenen Schein und sodann in einer dunklen Rauchwolke. Aus selbiger fiel nur Sekunden später der regungslose Körper gen Boden.

    Mila bekam dies zunächst gar nicht mit. Sie hatte mit sich selbst zu kämpfen. Nachdem sie von der Druckwelle hinweggefegt worden war, musste sie böse mit dem Kopf aufgeschlagen sein, denn dieser hatte eine üble Platzwunde davongetragen. Pete versuchte gar nicht erst, sie liegend zu halten. Sie würde dem höchstens dann nachkommen, wenn sämtliche ihrer Knochen gebrochen oder gar ihr Leben ausgehaucht wäre. Doch die Drachenpriesterin wankte bereits bedenklich, obwohl sie sich nur in der Hocke befand. Sie tastete nach der Stelle, an der sie das Blut hinab laufen spürte, ihr goldenes Haar rot tränkte und sich über ihre rechte Schulter ergoss. Erst der dumpfe Aufschlag eines zierlichen Körpers, der sich nicht rührte, zog ihren Blick auf sich.

    Milas Pupillen wurden winzig klein. Ein Schreckensschatten legte sich über ihr Gesicht.

    „Neyla!“

    Es war das erste Mal, dass jemand von ihnen sie so heißer aufschreien hörte. Sie wollte sofort los sprinten, nach ihrer Freundin sehen. Doch schon beim ersten Schritt versagte ihr Gleichgewichtssinn und ihr Sichtfeld verfinsterte sich fast vollständig. Hatte man ihr mit einem Hammer auf den Hinterkopf geschlagen? Es fühlte sich jedenfalls präzise so an. Sie konnte sich gerade noch mit einem Arm sowie der Hilfe von Pete, stützen. Fast in Zeitlupe kroch sie sodann zu Neyla. Der ganze Körper des Altaria war mit Brandwunden übersät und die Flügel augenscheinlich gebrochen. Doch schnell erkannte sie ein Zittern und Zucken, das Aufbäumen der Nerven. Sie war am Leben. Das war es dann aber auch mit den positiven Punkten.

    Ein massiger Körper, getragen von vier stämmigen Beinen landete wie ein Felsbrocken direkt vor der Drachenpriesterin. Stellte sich zwischen sie und Altaria. Mila versuchte aufzublicken, kippte jedoch kraftlos zur Seite. Pete eilte erneut zu ihr, ungeachtet des mächtigen Brutalanda, das sie jeden Augenblick zerquetschen könnte. Aus trüben Augen und mit einem vernichtenden Schwindelgefühl konnte Mila schließlich, in Petes Armen liegend, hinauf zu Ruby sehen. Nebenbei erhaschte sie noch einen Blick auf Noah, der sich in exakt demselben Zustand befand, wie Neyla. Etwas fand sie in Rubys Augen, das Mila nie zuvor darin gesehen hatten. Tiefe Verachtung.

    Diese Frau war wirklich die Vertraute Rayquazas – ihres Volkes Vater? Kein Wunder, dass sein Herz verloren ging und nun in den Händen eines Fremden ruhte. Selbst mit zahlenmäßiger Überlegenheit war sie nicht einmal imstande, ihr eine Schuppe zu krümmen. Und das, obwohl sie so viele Verbündete um sich geschart hat. Dieser Frau konnte Ruby unmöglich das Schicksal aller Drachen anvertrauen. Diese Tatsache schmerzte sie, war Mila doch die längste Zeit so etwas Ähnliches, wie eine Freundin gewesen. Doch für solche zartbesaiteten Nebensächlichkeiten war hier wirklich kein Platz. Es zählte nur noch ihr Volk und das Herz ihres Vaters.

    Was Ruby jedoch nicht bedachte, war die Kampfkraft eben jener Verbündeter. Aus dem Augenwinkel nahm die Drächin ein helles Aufblitzen war, dem sie sich nur minder interessiert zuwandte. Mit dem Erlöschen des Lichts sah sie schwere Felsbrocken und spitzes Gestein aus sich zufliegen. Ihr rechter Flügel wurde eng an den Körper gelegt und fungierte als Schild gegen die Geschosse, doch für so etwas waren ihre Schwingen nicht gedacht. Sie knickten böse unter der Wucht ein und Ruby knurrte und fauchte erbost, brüllte gar von Zorn sowie von Schmerz, als sie auch noch am Hals getroffen wurde. Sie röchelte und keuchte, als sei ihr für einen Moment die Luft zugeschnürt worden.

    Das drohende Gebrüll, mit dem sie sich dem hinterhältigen Angreifer zuwandte, musste noch in Graphitport zu hören sein. Auch Mila und Pete suchten nach dem Ursprung der Attacke, während sie weiter wie erschlagen von Ruby kauerten.

    Eine gigantische Felsechse flankierte den Menschen, der Rubys Wissen nach den Drachensplitter trug. Das Geschöpf prustete zornig aus seinen Nüstern und starrte aus verengten, scharf aufblitzenden Augen fest auf das Brutalanda. Dieses erwiderte die Geste aufmüpfig, stieß aus ihren Nüstern glatt kleine Flammen. Doch dieser wandelnde Berg von einem Pokémon war nicht das einzige, das sich Ruby entgegenstellte. Ein weiterer Drache baute sich vor der Frau mit dem blauen Haar auf. Kobaltblau und Blutrot mit sehr rauem Schuppenkleid. Waren ihre Brüder und Schwestern denn alle von Sinnen?

    „Du wirst Mila nicht anrühren“, stellte Ryan klar, was sein Despotar augenblicklich mit einem Fußstampfer bestätigte. Bis hierhin und nicht weiter, so lautete die Botschaft. Sandra gab Pete mit einem möglichst unauffälligen Kopfnicken das Zeichen, er solle mit ihr verschwinden, Abstand nehmen, so lange Ruby abgelenkt war. Es war fraglich, wie lange sie das bewerkstelligen konnten.

    Andew hielt derweil Melody schützend hinter sich. Er könnte sich in diesem Augenblick für seine Machtlosigkeit selbst besinnungslos prügeln. Doch dieses Brutalanda war definitiv eine andere Kragenweite, als seine eigenen Pokémon. Psiana wäre vielleicht die einzige, die eine theoretische Chance gegen die Drächin haben könnte, doch diese hatte zwei überaus imposante Gegner in null Komma nichts geschlagen. Schlimmer noch, sie hätte beide dabei umbringen können. Etwas, das im Falle der fragilen Psychokatze fast ein besiegeltes Schicksal wäre, sollte Brutalanda sie nur ein einziges Mal treffen. Dieses Risiko konnte er einfach nicht eingehen, so sehr er auch wollte. Selbst Ryan und Sandra mit ihren deutlich robusteren Kämpfern konnten eigentlich nicht ganz gescheit sein, sich diesem Vieh zu stellen.

    Noch dümmer war es aus Sicht des jungen Trainers gewesen, Ruby gegenüber derart aufmüpfig zu begegnen. Sie hatte ohnehin eine immense Wut auf ihn, wie quasi jeder andere Drache, dem er begegnete. Und sie würde vielleicht das vollbringen, woran die Garados oder Terrys Maxax gescheitert waren.

    Die Lefzen des Brutalanda kräuselten sich wie bei einem Bluthund und ihre Augen selbst schienen wütende Flammen zu beherbergen, die alles zu Asche zu verbrennen versuchten. Ruby kümmerte sich nicht weiter um Mila. Oder deren Pokémon. Oder sonst irgendjemanden. Sie stand hier inmitten von Feinden. Verbündete von brauchbarer Stärke suchte sie hier vergebens.

    Feurige Zungen und Funken drangen bereits aus den Schmalen Spalten zwischen Rubys Zähnen, noch während sie den Kopf in den Nacken legte. Sowie sie ihn nach vorne warf, rollte eine wütende Feuerbrunst über die gesamte Lichtung.

    „Felsgrab, schnell!“

    Despotar stampfte ein weiteres Mal auf. Diesmal brachen daraufhin mannshohe Felsspitzen aus dem Boden und fungierten als provisorischer Schild gegen den Flammenwurf. Ryan und Sandra mussten dennoch schützend die Arme erheben, da die Hitze des Feuers, das zu beiden Seiten am Felsgrab vorbei und obendrein über es hinweg schoss, noch böse auf der Haut brannte. Es war plötzlich so hell, dass man bei geschlossenen Augen glauben würde, es sein helllichter Tag – und die Sonne stürzte gerade näher gen Erde herab vom Himmel. Ein Schrei, offenkundig weiblicher Natur und von Todesangst erfüllt ließ dann sein Herz in furchtbar unnatürliche Regionen sacken. Melody hatte sich gemeinsam mit Andew unweit hinter ihnen befunden. Etwas abseits, doch unter Garantie nicht weit genug, um Rubys Angriff zu entgehen. Einerseits traute Ryan sich kaum, nach ihnen zu sehen, doch paradoxerweise wandte er den Kopf so schnell herum, dass er einen schwindelerregenden Schlag zu spüren glaubte. Der könnte allerdings auch auf der Furcht vor dem, was er gleich sehen könnte, basieren.

    Der Wald hinter ihnen war unerwarteterweise nicht in Brand geraten. Tatsächlich waren bis auf ein paar unscheinbare Flämmchen kaum etwas zu sehen. Das schloss die Bäume nicht mit ein. Bestimmt über zwanzig Meter weit war kaum noch etwas übrig, das Feuer fangen konnte. Die trockenen Pinien waren kaum noch mehr als verkohlte, schwarze Stämme – wenn denn überhaupt noch etwas von ihnen aufrecht stand. Tiefe Furchen waren in den Waldboden gewütet und dicker Rauch waberte noch in der Schneise der Zerstörung aus der schwarz gebrannten Erde.

    Doch inmitten dieser baute sich widersinnig eine helle Wand aus zartem Licht in wunderschönem Gold auf. Schimmernd und der Todeswalze gänzlich trotzend. Andrews Psiana stand wie die Dirigentin eines Lichtspiels dahinter, ebenso wie sein bester Freund zusammen mit Melody. Beide waren unversehrt.

    Andrew könnte sich ein weiteres Mal selbst schlagen. Wie hatte er nur zögern können, in den Kampf einzugreifen? Seit wann war er denn so feige? Selbst wenn er Brutalanda nicht bekämpfen konnte, so war er mit seinem stärksten Pokémon noch mindestens in der Lage, sich und seine Freunde zu schützen und zu unterstützen. Gleichwohl es Psiana enorm viel Kraft gekostet hatte, diesem Angriff stand zu halten. Ihre Hinterläufe knickten für einen Moment ein und der Lichtschild zersprang in goldenes Funkeln. Vermutlich hatte nie ein einfaches Nicken so viel Erleichterung und gleichzeitig Dankbarkeit ausgedrückt, wie das von Ryan in Andrews Richtung. Melody machte sich darüber hinaus so nützlich, wie sie nur konnte. Pete hatte die Pokébälle von Neyla und Noah aus Milas Mantel gefischt und ihr zugeworfen. Nun sah Ryan noch, wie sie zu den beiden herüber eilte und sie sicher in die Kapseln zurückbeförderte.

    So sehr er auch wollte, konnte, durfte er seine Aufmerksamkeit jedoch auf niemanden außer Ruby konzentrieren. Pete hatte es gerade geschafft Mila in verhältnismäßig sichere Entfernung zu schleifen. Melody konnte gar nicht schnell genug wieder zu ihnen zurück und übergab gleich die beiden Bälle.

    Sandra war es, die Initiative zu ergreifen gedachte. Sie würden Rubys Attacken nicht lange über sich ergehen lassen können. Nicht einmal auf einen einzigen weiteren Versuch würde sie es ankommen lassen wollen. Kein Kampf ließ sich ausschließlich in der Defensive gewinnen und dieser hier schon gar nicht.

    „Wir können sie nur mit vereinten Kräften niederringen. Allein hat keiner von uns eine Chance“, wies sie Ryan an. Fragte sich, ob dieses Vereinen ihrer Kräfte denn ausreichen würde.

    Um nicht zu lange ohne Sichtkontakt zu der Drächin zu bleiben und womöglich einen neuen Angriff gar nicht kommen zu sehen, befahl die Arenaleiterin ihrem Shardrago Drachenstoß. Mit einem beherzten Satz auf die Felsen stieß sich der Höhlendrache in die Luft, unterstützte sich noch mit seinen Schwingen, wie er es schon in seinem Übungskampf gegen Despotar getan hatte und hüllte sich in blaues Licht. Während dieses eine bizarre Drachengestalt annahm, stürzte sich Shardrago wir ein herabfallender Komet auf Ruby. Die tat es dem Angreifer gleich und stieß sich himmelwärts, doch im Gegensatz zu ihm konnte sie dort oben verweilen, so lange es ihr beliebte. Shardrago schlug einen tiefen Krater in die Erde. Es war, als durchpflüge eine Schiffsschraube einen Acker und die Druckwelle ließ das ummantelnde Blau flackern wie Flammen.

    „Wir müssen sie am Boden halten. In der Luft schlagen wir sie niemals!“

    Das hatte Ryan gut erkannt, wie auch die Drachenmeisterin nur unterstreichen konnte. Mit ihrer Mobilität und Geschwindigkeit am Himmel konnten sie nicht mithalten und sie säßen hier unten wie auf den Präsentierteller.

    „Krall dich fest, los!“

    Die gebündelte Kraft in seinen Beinen und Schwingen katapultierte den rau geschuppten Höhlendrachen die mehreren Meter zu Ruby hinauf, sodass er seine Krallen in ihr Bein schlagen konnte. Sie zürnte lauthals darüber und versuchte das Anhängsel abzuschütteln – erfolglos. Shardrago hatte sich fest in ihr Fleisch verhakt, sodass ihm gar einige Tropfen Blut entgegenschlugen, während das Brutalanda in der Luft zappelte.

    „Nochmal Steinkante, Despotar!“

    Ryan schalte sich im Nachhinein dafür, dass er seine monströse Felsechse nicht zur Vorsicht mahnte. Schließlich bestand bei der kleinsten Unachtsamkeit die Gefahr, den falschen Drachen zu treffen. Er hatte sich schon zuvor nicht sonderlich gut mit diesem Shardrago verstanden und wäre beinahe mit ihm aneinandergeraten.

    Doch zu Ryans Freude – und Erleichterung! – schienen sich die jüngsten Zielübungen bezahlt zu machen. Despotar hatte sogar sehr bewusst auf die Flügel gezielt und neben diesen noch einen Treffer an Rubys ungeschütztem Unterbauch gelandet. Die fauchte und zappelte, schlug um sich, als wolle sie einen Biborschwarm verjagen. Doch das zusätzliche Gewicht und die malträtierenden Felsbrocken zwangen sie schließlich zur Landung. Die fiel deutlich gröber und härter aus, als beabsichtigt. Um nicht zu sagen, Ruby stürzte geradewegs ab, Shardrago noch immer im Schlepptau, da der sich so rasch selbst nicht hatte lossagen können.

    Die beiden Schwergewichte, besonders aber das Brutalanda, krachten im Steilflug gen Erde. Wie ihre gewaltigen Körper Bäume zerschmetterten und Furchen in den Boden rissenen, sowie die enorme Erderschütterung gar zu spüren, erinnerte unweigerlich an einen entgleisenden Zug. Sandra musste einen hastigen Sprung zur Seite machen, da sie drohte, unter ihnen zerquetscht zu werden.

    Ruby lag einen Augenblick lang reglos da. Hinter ihr eine tiefe Schneise in der Erde und ihr Körper voller Schrammen, sowie einer blutenden Wunde am linken Hinterlauf.

    Shardrago lag einige Meter entfernt in genau dieser Schneise und mühte sich, sichtlich mitgenommen durch den Sturz, auf die Beine. Zwei weitere, deutlich massigere, traten an die Seite des kobaltblauen Drachen und selbiger sah schließlich hinauf in die gnadenlosen Augen einer zinkgrünen Felsechse.

    Ryan stockte einen Moment der Atem und er suchte Sandras Blick. Der war fast identisch mit seinem und ebenso waren es ihre Gedanken. Oder konkreter, ihre Befürchtungen. Wenn sich einer der beiden in diesem Moment dafür entscheiden würde, den Streit vergangenen Tages neu aufleben zu lassen und tatsächlich anzugreifen, wäre dies wohl das schlimmste Szenario, das man sich ausmalen konnte. Despotar und Shardrago waren wohl die einzigen in ihren Teams, die eine reelle Chance besaßen, Ruby die Stirn zu bieten. Aber nur vereint.

    Der Blickkontakt hielt eine gefühlte Ewigkeit. Doch es folgte kein Angriff, auch keine Drohung oder Provokation. Despotar neigte den Kopf ein wenig und richtete ihn nach vorn. Ryan glaubte die Frage dahinter zu erkennen, ob Shardrago aufstehen könne. Und gleichermaßen meinte Sandra ihren Partner spöttisch grinsen zu sehen, als frage er seinen Gegenüber, ob der das tatsächlich ernst meinte. Wie selbstverständlich erhob sich der Drache ruckartig und legte seinen Fokus wieder auf das Brutalanda. So weit würde es noch kommen, dass er sich hier von so einem kleinen Sturz ausruhte und jemand anderen den Spaß überließ. Despotar gesellte sich zustimmend an seine Seite. Dieser Kampf bot die Aussicht auf genug Ruhm für sie beide.

    Der junge Trainer tauschte erneut einen Blick mit der Arenaleiterin. Ihr Glück war angesichts ihrer Befürchtungen kaum zu fassen. Streit hin oder her, die zwei Pokémon akzeptierten, respektierten einander und waren bereit, zusammen zu kämpfen. Und diese Entschlossenheit, dieser Wille, war absolut ansteckend. Ryan spreizte die ausgestreckten Beine ein wenig und neigte den Oberkörper vor und stützte sich auf den Knien ab, als erwarte er einen Tackle gegen ihn selbst. Sandras Füße schoben sich ebenfalls etwas auseinander, doch straffte sie ihren Oberkörper, um sich zu voller Größe aufzurichten.

    „Wie viele solcher Vorlagen können du und Shardrago uns noch geben, Sandra?“

    Einer ihrer Mundwinkel zuckte nach oben und sie entfernte mit einem Ruck aus ihrem Nacken eine Strähne aus dem Gesicht.

    „So viele ihr braucht, Ryan.“

    Der sah nur aus dem Augenwinkel und über seinen Stehkragen zu der Drachenmeisterin.

    „Wir werden trotzdem so angreifen, als sei die nächste Chance unsere letzte.“

    Das tiefe Grollen aus einer bestialischen Kehle kündigten Rubys Aufbäumen an. Ihre Bewegungen waren sehr langsam, jedoch keineswegs unsicher oder verkrampft. Sie wirkte absolut ruhig und gar unversehrt. Sie hatte allen für den Moment den Rücken gekehrt und man mochte meinen, der linke Flügel verdeckte bewusst einen Seitenblick von ihr. Ein stoßartiges Schnauben, wie bereits zuvor von Flammenzungen aus ihren Nüstern begleitet. Dann riss sie ihren Körper herum und stemmte sich auf die Hinterbeine. Die Wunde am linken beeinträchtigte sie keineswegs. Sowie sie dann mit den Vorderläufen auf den Waldboden stampfte, brüllte sie sich die Seele aus dem Leib, geradewegs Despotar und Shardrago entgegen. Ryans Kleidung sowie Sandras Haare und Umhang flatterten gar und ihre Augen verengten sich. Allem Anschein nach hatten sie selbst und auch ihre Pokémon diese unbändige Entschlossenheit keine Minute zu früh gefunden. Denn nun machte Ruby wohl ernst.

    Kapitel 35: The weight of a blade


    Andrew schluckte, während er eine Hand ausstreckte. Mila sah keineswegs fordernd auf ihn herab, doch wusste er mit Sicherheit, dass sie es verurteilen würde, wenn er jetzt kniff. Zu weit hatte er seine Klappe vorhin aufgerissen. Seine Hände schlossen sich um das feine, schwarze Leder, welches das leichte Metall einhüllte. Seine andere Hand reichte nach dem Knauf und legte sich vorsichtig um den Griff, der scheinbar mit demselben Leder gebunden worden war.

    „Ist es das erste Mal, dass ihr eine Klinge haltet?“ fragte die Drachenpriesterin, wohl ahnend wie die Antwort lautete.

    „Zumindest so eine.“

    Es handelte sich nicht um ein Schwert. Eher um einen Langdolch – vom Knauf bis zur Spitze hatte es nicht ganz die Länge seines Unterarmes.

    Andrew hatte nicht wirklich damit gerechnet, auf seine willkürlich ausgesprochenen Gedankengänge, dass er gerne etwas über Selbstverteidigung gelernt hätte, eine Waffe von Mila zu bekommen. Sogar noch weniger als das tatsächliche Angebot, ihm diesen Wunsch hier und jetzt zu erfüllen. Nicht einmal auf eine ausdrückliche Bitte seinerseits hin hätte er dies erwartet.

    Ryans Blick haftete ebenso fest auf den Waffen – die für ihn bestimmt war, lag noch in Milas linker Hand –, doch presste er im Gegensatz zu seinem besten Freund skeptisch die Lippen aufeinander. Er griff auch nicht sofort danach, als ihm der Dolch angeboten wurde.

    Eigentlich war ja nicht viel dabei. Es handelte sich ja hier nicht um Sprengstoff oder etwas ähnlich Brachiales. Doch je länger Ryan die Waffe anstarrte, desto mehr Ehrfurcht hatte er davor. Mehr noch von der Bedeutung hinter dieser Klinge.

    „Ihr zögert“, stellte Mila fest. Tadel, Frust, Enttäuschung oder Ähnliches erkannte er nicht in ihrer Stimme. Wie so oft war es eine bloße Feststellung, die von den meisten Menschen nur gedacht und nicht ausgesprochen würden.

    „Das ist gut.“

    Nun blickte Ryan mit gerunzelter Stirn auf. Also er konnte seinem Zögern nun wirklich nichts Gutes abgewinnen.

    „Waffen sind für viele Menschen ein Fluch. Sie verändern uns und helfen uns, anderen Menschen zu schaden.“

    Er antwortete nicht darauf. Sah Mila bloß an. Seine Züge zeigten nicht einmal Unsicherheit, Zweifel oder Angst. Lediglich Unentschlossenheit. Doch auch das schien Mila nur allzu gut verstehen zu können. Sie bot Ryan den Dolch weiterhin an, während sie zu einer Erzählung ausholte.

    „Ich will Euch sagen, was mir meine Mutter einst beibrachte.“

    Er entschloss sich weiterhin nicht zu antworten, aber aufmerksam zuzuhören. Obwohl er nicht wusste, ob er an einer Lektion von der Frau, die ihrerseits leichtfertig Menschenleben ausgelöscht hatte, um ihren Schwur gegenüber Rayquaza zu erfüllen, wirklich interessiert war. Er hatte Mirjanas Taten nie als falsch erachtet. Doch so groß der Zweck auch war, dem sie gedient hatten, heiligten sie eben nicht die Mittel. Mord blieb Mord.

    „Um ein Krieger zu werden, gilt es nur eine Sache zu erfüllen. Eine einzige Sache, die man verstehen und verinnerlichen muss. Nämlich, dass oft getötet werden muss, um Frieden zu bringen. Darum gibt es uns Krieger. Weil wir bereit und fähig sind, diese Bürde zu tragen. Nur wer den festen Entschluss in sich trägt, diese Last zu schultern, besitzt das Recht, eine Waffe zu führen. Ihr wisst, dass sich Team Rocket nicht ergeben wird. Doch ihr Untergang ist ein Schritt auf dem Pfad zum Sieg. Dem Pfad des Friedens.“

    Da hörte er tatsächlich eher die erste Drachenpriesterin sprechen. Auf der anderen Seite hielt er Mila nicht für so blind, dass sie einer falschen, unehrenhaften und radikalen Lehre folgen würde, wenn nicht etwas Wahres und Aufrichtiges in ihr steckte. Langsam streckte sich seine Hand nach dem Griff. Er holte tief Luft, bevor er die Klinge ruckartig aus der Scheide zog und seine marineblauen Augen betrachtete, die sich im Metall spiegelten. Es war eine schmale Klinge, wirkte aber edel poliert und ohnehin wohl eher zum Stechen als zum Schneiden. Obwohl man sicher beides sehr gut damit konnte.

    „Es ist richtig, dass Ihr Respekt davor habt, Ryan“, sprach sie wie ein Lob.

    Den verspürte er wirklich. Immensen sogar, doch konnte er immerhin sicher sein, dass er keine Angst hatte, einen Verbrecher damit zu attackieren. Im Gegenteil. Allein die Klinge aus der Scheide zu befreien, entzündete ein heißes Gefühl in seinem Blut und weckte zügellosen Tatendrang. Dabei war es bei weitem keine sehr beeindruckende Waffe.

    „Das Geräusch beim Ziehen erinnert mich an mein Panzaeron, wenn es seine Flügel spreizt.“

    Seine Augen wanderten zu den himmelblauen von Mila und er gab ihr, seines Unbehagens zum Trotz, ein kampfbereites Nicken.

    „Ich liebe dieses Geräusch. Es weckt meine Kampfgeister.“


    Melody beobachtete sie Szene in einigen Metern Abstand. Sie hielt eine Hand mit der anderen umklammert und an ihre Brust gepresst. Eigentlich sollte es sie beruhigen, dass die beiden Trainer eine Möglichkeit hatten, sich selbst zu verteidigen. Die Agenten von Team Rocket trugen oft Schlag- und Stichwaffen bei sich – manchmal gar Gefährlicheres. Und es konnte immer ein Fall eintreten, in dem man nicht auf den Schutz durch seine Pokémon bauen konnte. Dennoch war ihr bei dem Anblick nicht wohl.

    Sandra merkte das. Es war ihr auch sehr offensichtlich anzusehen. Und auch, wenn sie vermutlich nicht imstande war, Melody Mut zuzusprechen, legte sie dennoch eine Hand fest auf ihre Schulter. Sie sah an der Drachenmeisterin hoch und kam in diesem Moment nicht umher, sich zu wundern, warum sie selbst keine Waffe von Mila erhielt. Sie war älter als Ryan und Andrew, darüber hinaus sehr pflichtbewusst und keinesfalls ungeschickt.

    „Was ist mit dir?“

    Sandra langte nur unter ihren Umhang und fuhr ihren Gürtel entlang zu ihrem Kreuz. Schon im nächsten Moment kam ein schwarz lackierter Holzgriff mit einer leicht geschwungenen Klinge daran zum Vorschein. Eigentlich hätte es Melody nicht sonderlich überraschen sollen, dass Sandra so etwas bei sich trug. Zumindest dieser Tage.

    „Willst du den beiden wirklich das Kämpfen beibringen?“, richtete sie an Mila. Sie versuchte nicht zu besorgt zu erscheinen, doch gerade sie würde Melody vermutlich durchschauen.

    „Wohl kaum. Dazu bräuchten wir Wochen, wenn nicht länger. Doch die Grundlagen werden in unserem Falle ausreichen müssen. Zumindest um sich gegen die Agenten von Team Rocket zu verteidigen.“

    „Habt ihr keine Schusswaffen?“

    Alle Augen fixierten Andrew. Besonders die von Ryan wirkten extrem ungläubig. War dem Kerl das Messer nicht bereits genug? Der musste doch spinnen, nach einer Knarre zu fragen.

    Darauf zu antworten, erlaubte sich ausnahmsweise Pete in Milas Namen.

    „Kannst du denn damit umgehen?“

    „Mit der Öffnung auf den Gegner zielen und abdrücken“, meinte er schulterzuckend. Ganz toll.

    „Genau deshalb bekommst du keine. Außerdem ist es nicht so leicht, wie es sich anhört.“

    „Dann wenigstens ein größeres Schwert. Ich bin nicht schwach oder ungeschickt.“

    Er wollte nicht nachgeben. Ryan wusste nicht ganz, ob dieser scheinbar unerschütterliche Wunsch nach einer beeindruckenderen Waffe tatsächlich von seinem Tatendrang rührte. Ebenso war ihm schleierhaft, wie Andrew denn so wenig – praktisch gar keine – Hemmungen zeigte, so etwas in die Hand zu nehmen und sicherlich auch zu gebrauchen.

    „Das nahm ich nie an“, schaltete Mila sich nun wieder ein. Sie trat sogar einen Schritt vor, wirkte zudem etwas beschwichtigend.

    „Doch damit werdet Ihr schneller zurechtkommen und es wird dem Zweck dienlich sein. Vertraut mir, ich habe viele, viele Lehrstunden gehabt und erteilt.“

    Was vor kurzer Zeit noch irrwitzig klang, war für jeden in dieser Gruppe inzwischen absolut selbstverständlich. Sie vertrauten Mila mehr, als den meisten Menschen, die sie kannten.

    Nun gesellte sich erstmals Sheila in die Diskussion, die bislang geduldig, aber offenkundig nicht gerade begeistert hinter ihrer Gebieterin gestanden hatte.

    „Ein Welpe sollte nicht nach den Zähnen eines Alphatieres geizen. Außerdem könntest du eine größere Waffe kaum am Körper verstecken.“

    Da behielt sie sogar Recht. Ryan hatte selbst gesehen, wie viele Messer sich unter ihrer Bluse verbargen. Er versuchte jedoch eiligst die Erinnerung an den Moment, in dem er das und noch wesentlich mehr gesehen hatte, in einer abgelegeneren Ecke seines Gedächtnisses zu vergraben.

    „Und wir sollen ernsthaft mit Sheila trainieren?“, fragte er stattdessen. Wissend, dass sie die beiden keineswegs schonen würde, versuchte er sich so gut wie möglich, auf einige Schmerzen einzustellen. Doch wenn Andrew und er das hier schon machten, dann sollten sie es auch richtig tun.

    „Vergebt mir, aber ich fürchte ihr Weg ist der effizientere, um euch entsprechend vorzubereiten.“

    Sollten sie einmal einen Rocket mit Schusswaffe treffen, so würde dieses Training zwar von geringem Nutzen sein, doch gegen diese Art von Gegner waren sie in jedem Fall schutzlos. Das hier würde zumindest gegen alle leicht bewaffneten Feinde ihre Chancen steigern. Jedenfalls so lange keiner von ihnen auf Bella traf. Die beiden zu töten wäre für sie wohl so einfach wie Brot schneiden.


    „Ihr wollt damit also Feinde töten?“, versicherte sich Sheila mit einem Deut auf die Langdolche der Jungen. Sie hatte ihre eigenen noch nicht gezückt und schien nicht gänzlich sicher, ob sie wussten, wozu sie sich da entschieden.

    „Ich will tun was nötig ist, um sie aufzuhalten.“

    Ryans Antwort war ehrlich. Er wollte sicher niemanden töten und würde es auch nicht, wenn nicht sein Leben oder das von jemand anderem aus dieser Gruppe davon abhing. Für den Fall, dass er gezwungen war, musste er aber vorbereitet sein. Er betete jedoch innerlich zu Lugia, dass er das nie würde tun müssen.

    Andrew dagegen zuckte nur ein weiteres Mal mit den Schultern und schob ein Nicken nach, als sei es selbstverständlich. Wie kriegte der das bloß hin?

    „Eine schwache Antwort. Hast du so große Furcht davor, jemanden umzubringen?“

    „Ich glaube schon.“

    Sheila seufzte frustriert. Das konnte man nur selten bei ihr beobachten. Doch wenn es um ihr Handwerk ging, so würde sie vermutlich noch das ein oder andere Mal aus der Rolle, in der jeder sie sah, herausbrechen.

    „Wie töricht. Als ich in eurem Alter war, konnte ich es nicht erwarten, auf meine Feinde losgelassen zu werden. Wie sich die Zeiten doch ändern.“

    Man hörte wahrhaftig einen Hauch Trauer, aber auch Verachtung aus diesen Worten.

    „Nun gut. Besonders deine Einstellung, Ryan, ist zwar mangelhaft, aber zu deinem Glück ist eure vorübergehende Lehrmeisterin niemand geringeres als ich. Doch bevor ihr auch nur daran denken könnt, Feinde zu bekämpfen, müsst ihr es mit euch selbst aufnehmen.“

    Beide tauschten verständnislose Blicke aus. Welche Stirn sich wohl gerade stärker in Falten legte?

    „Wie darf man das verstehen?“, verlangte Andrew zu wissen. Er war eindeutig eifriger darauf, mit dem Training zu beginnen.

    „Der erste Gegner, den es zu bezwingen gilt, ist das eigene, schwache Selbst.“

    Sheilas Stimme wurde leiser, gespenstischer, als erzähle sie Kindern von etwas, das sie fürchten sollten, damit sie nicht leichtfertig in ihr Verderben rannten. Dabei begann sie, langsam im Kreis um die beiden zu gehen.

    „Menschen sind grundsätzlich schwach. Von Geburt an beginnt der Kampf gegen diese Schwäche, um stark genug zu werden, in dieser Welt zu überleben. Solange nicht sämtliche davon in euch vernichtet ist, habt ihr nichts als den Tod zu erwarten. Doch da uns die Zeit fehlt, um euch vernünftig auszubilden, werde ich mich darauf konzentrieren, diese kindlichen Hemmungen zu überwinden.“


    Es musste sich um Stunden handeln, in denen Ryan und Andrew nach Strich und Faden verprügelt wurden. Nicht dass etwas Anderes zu erwarten gewesen war. Beide hatten längst ihre Jacken abgestreift und waren in durchgeschwitzten T-Shirts. Doch seine Lederhandschuhe hatte Ryan angelassen.

    Begonnen hatte Sheila mit der simplen Aufforderung, bei Jungen sollen sie angreifen. Und zwar mit der Absicht, sie zu töten. Es verstand sich von selbst, dass keiner von ihnen im Entferntesten die Fähigkeiten dazu besaß. Dennoch hatten sie aus natürlicher Reaktion heraus zunächst gezögert. Das war zwar mittlerweile komplett verschwunden, doch das Ergebnis blieb dasselbe wie zu Beginn. Ob sie es einzeln, oder gemeinsam versuchten oder von beiden Seiten angriffen. Sheila hatte immer einen Weg parat, ihre Attacken zu blocken, ihnen auszuweichen und schließlich einen Gegenschlag zu setzen. Und jedes Mal hatte sie einen neuen Fehler zu bemängeln.

    „Wenn ihr schon bloß einen Langdolch führt, seid nicht so dumm, es mit beiden Händen zu tun. Haltet die Waffe mit einer Hand, Klinge immer im Anschlag und stets eine ausbalancierte Position einnehmen. Dabei nicht verkrampfen“, war eine der ersten Korrekturen gewesen. Ryan und Andrew versuchten stets diesen Anweisungen zu genügen, so gut sie konnten. Sheila selbst trug keine Waffe, obwohl sie mit Sicherheit über das Können verfügte, Ryan und Andrew zu keiner Zeit damit zu verletzen. Doch um sie nicht zu verunsichern, hatte sie sich überreden lassen, durch einen Schlag mit der Handkante zu demonstrieren, an welcher Stelle sie ihre Klinge versenkt hätte.

    Es war unwahrscheinlich, dass Ryan und Andrew heute irgendetwas zu Sheilas Zufriedenheit tun würden, doch solange es sie weiterbrachte und später am Leben halten könnte, war das wohl ausreichend.

    Ob die Attentäterin in Lehrerposition die Haltung der beiden als genügend einstufte, konnte keiner von ihnen bestimmen. Sie ließ sich keineswegs durchschauen. Wenn überzeugt, dann zeigte sie ihre Unzufriedenheit offen, geradezu überdeutlich.

    Gerade neigte Sheila den Oberkörper in die Horizontale, um sowohl einem hoch angesetzten Angriff von Ryan, als auch dem Tiefschlag von Andrew zu entgehen und sich gleichzeitig mit einem einzigen Schritt zwischen den beiden hindurch zu schlüpfen. Instinktiv holten beide sofort zu einem Drehschlag aus, um ihr keine Gelegenheit zu geben, den ungeschützten Rücken anzugreifen. Dadurch offenbarten sie jedoch einen wunden Punkt, den Sheila sofort offenlegte. Es brauchte keinen harten Tritt, lediglich einen Stoß gegen den Knöchel aus der Drehung heraus, um ihre kurzweiligen Schüler aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie landeten synchron im Gras.

    „Ein Angriff braucht einen festen Stand“, setzte Sheila zur nächsten Lektion an.

    „Schwingt und stecht also nicht wild und unbeholfen durch die Luft, sonst offenbart ihr so viele Lücken und Schwachstellen, dass sich der Gegner aussuchen kann, wie er euch tötet. Ihr müsst nahe an den Feind heran, um ihn mit diesen kurzen Waffen zu erreichen.“

    Sie lief langsam, geradezu provokant an ihnen vorbei, während sie predigte.

    „Dafür sind es die schnellsten und präzisesten Waffen überhaupt. Merkt euch, dass auf so einer geringen Distanz oft nur eine einzige Chance bleibt, jemanden zu töten, bevor er es mit euch tut. Seid geduldig, handelt überlegt und wartet auf eine Lücke in seiner Verteidigung. Findet seinen wunden Punkt und schlagt zu, wo und sobald er am verletzbarsten ist.“

    Das war ein Rat, den sie gerne früher hätte geben können, wobei er beim erneuten Nachdenken schon irgendwo logisch klang. Man hätte durchaus selbst darauf kommen können. Aber vielleicht hielt sie es für lehrreicher, wenn man erst einmal ein paar Schläge einsteckte, bevor man erfuhr, wie es richtig gemacht wurde.

    Zum ersten Mal seit Beginn des Trainings stahl sich glatt ein Lächeln auf das Gesicht von einem der jungen Trainer. Und entgegen aller Erwartungen war es das von Ryan, der gerade eine Hand auf das aufgestemmte Knie stützte und sich erhob. Was für eine Ironie, dass genau dies seine Strategie im Pokémonkampf war.

    „Die Taktik spielt mir genau in die Karten.“


    Diverse Menschen hatten bereits Witze darüber gemacht, dass man plötzlich Muskeln spüren würde, von denen man nicht einmal wusste, dass man sie habe. Buchstäblich so gefühlt hatten sich allerdings die Allerwenigsten jemals. Heute jedoch waren es zumindest zwei Jungen mehr.

    Ryan und Andrew lagen völlig erschöpft, verschwitzt und heftig keuchend im Gras, die Arme ausgebreitet und würden am liebsten gleich in Ohnmacht fallen. Einfach alles tat weh. Nicht nur vor Erschöpfung und Überanstrengung, sondern auch durch die Schläge und Tritte, die Sheila ihnen beigebracht hatte. Die war noch nicht einmal ins Schwitzen gekommen und hätte den Unterricht von selbst auch noch nicht beendet, obwohl sich der Tag dem Ende neigte. Doch sie sah ein, dass es keinen Sinn machte, zwei halbtote Jungen weiter zu schinden. Mitleid hatte man von ihr nicht zu erwarten. Lediglich der Mangel an Nutzen, den weitere Übungen hätten, veranlasste sie, einen Schlussstrich zu ziehen.

    „Du hättest sie etwas schonen können“, meinte Mila trocken, als ihre Partnerin an ihr vorbeiging. Das veranlasste sie, sich umzudrehen und den Blick ihrer Gebieterin auf das schnaubende Duo zu lenken.

    „Dann hätten sie nichts gelernt.“

    Tragischerweise hatte sie da nicht ganz Unrecht. Morgen früh würden sie die Übungen vermutlich verfluchen und sich kaum rühren können. Doch sobald sie einem Agenten von Team Rocket gegenüberstünden, würden die heutigen Lektionen sicher ihre Siegeschancen erhöhen. Vorausgesetzt, sie erinnerten sich daran.

    Sandra und Melody eilten schleunigst zu den beiden und halfen ihnen, sich zumindest aufzusetzen. Ihnen wurde Wasser gereicht und aufbauendes Lob zugesprochen.

    „Ihr seid zwei zähe Brocken, das muss man euch lassen“, beteuerte die Arenaleiterin und klopfte beiden nacheinander auf die Schulter. Andrew schien das allerdings genau so wenig akzeptieren zu wollen, wie Ryan.

    „Bestenfalls wie Kaugummi“, maulte er selbstkritisch.

    „Neunzig Prozent der Zeit wurden wir einfach bloß verprügelt.“

    Keiner hatte erwartet, dass sie Sheila einen echten Kampf bieten konnten. Die Menschen auf der Welt, die das vermochten, konnte man wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Und wahrlich besiegen konnte sie vermutlich niemand. Wie auch? Schließlich hatte niemand sonst so viel Zeit gehabt und so zielstrebig daran gearbeitet, seine Techniken und Fertigkeiten zu verbessern.

    „Was glaubt ihr, wie ihre ersten Lehrstunden ausgesehen haben?“

    Alle drehten sich plötzlich nach Pete, der noch etwas abseits stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

    „Man hat euch doch von Sheilas Kindheit erzählt, oder?“

    Das hatte man tatsächlich und niemals würde einer von ihnen diese Geschichte vergessen können.

    „Auch sie wurde damals eine Zeit lang einfach nur verprügelt. Und zwar von jemandem, der weit größer war.“

    Sollte das nun eine Aufmunterung sein oder meinte er, sie sollten sich nicht so anstellen? Beides möglich, vielleicht auch beides der Fall. Aber Sandra schien primär von ersterem auszugehen und schlug beiden nochmals sachte auf die Schulter.

    „Seht es doch so. Wenn euch jetzt das nächste Mal jemand angreift, seid ihr schlauer und geschickter als vorher.“

    Auch das setzte voraus, dass sie sich an die Übungen erinnern würden, wenn es soweit war.

    Pete wäre glücklicher, wenn die Mädels aufhören würden, Ryan und Andrew so zu verhätscheln. Sie konnten es sich nicht leisten, nachsichtig zu sein. Eine weitere Gelegenheit für solch ein Training würde es womöglich nicht geben. Das, was sie heute hatten lernen können, musste ausreichen. Zumindest hätten sie mit dieser Einstellung an die Sache rangehen sollen.

    Sandra reichte Ryan die Hand, die er dankbar annahm, um sich auf die wackeligen Beine zu erheben. Andrew stand allein auf, doch seine Schritte waren nicht weniger unsicher. Gemeinsam begann man, sich um das von Mila zuvor frisch angefachte Lagerfeuer zu versammeln. Über den Tag hinweg hatten sie und Pete außerdem zwei breite Baumstämme, die sie in der Umgebung nebst Feuerholz gefunden hatten, hergeschleppt, um sie als Sitzgelegenheit zu verwenden. Allerdings verwendeten sie bloß die Frauen, mit Ausnahme von Sheila. Die hatte sich von der Gruppe mal wieder etwas entfernt und übte ihre Zielgenauigkeit mit den Wurfmessern, die sie an ihrem Körper versteckt hatte. Jeder vernahm stetig das scharfe Eintauchen des Metalls ins Holz.

    Ryan aß kaum etwas an diesem Abend. Er wusste selbst nicht, wieso er keinen Appetit verspürte. Nach den vorherigen Anstrengungen müsste er eigentlich umkommen vor Hunger. Immerhin hatte er seit Stunden nichts gegessen. Stattdessen schielte er immer wieder zur Attentäterin hinüber.

    Andrew dagegen musste von allen ermahnt werden, nicht alles Essbare, das sich noch in seiner Tasche befand, zu vertilgen. Er hatte heute massig Energie verbraucht und brauchte unbedingt Stärkung, sonst befürchtete er morgen früh völlig am Ende zu sein.

    Geredet wurde auch nicht viel. Sandra philosophierte ein wenig über ihre Arbeit in der Arena und verschiedene Herausforderer, die dort angetreten waren. Mehrmals hob sie die beiden anwesenden Trainer lobend, geradezu herausragend hervor. Mila und Melody waren auch sehr offensichtlich daran interessiert, während Pete eher abwesend seinen eigenen Gedanken nachging und nur hin und wieder an einem Flachmann nippte. Er wiederum ermahnte sich selbst, dies nicht so oft zu tun, sonst würde Mila ihn dafür tadeln. Und er brauchte es ja nicht darauf anzulegen.

    „Du übertreibst es total, Sandra“, stellte Anderw felsenfest klar und wirkte nicht wirklich bescheiden oder als würde er Späße machen. Doch die Drachenmeisterin glaubte das besser beurteilen zu können.

    „Meinst du ich hab einen Grund, mich bei euch einzuschmeicheln oder so?“, flachste sie und boxte ihm fast kumpelhaft in die Seite. Sie bemerkte in diesem Augenblick selbst erst, wie vertraut sie mit den beiden inzwischen war. Doch sie sah darin keinen Fehler.

    „Du kannst mir nicht erzählen, ihr zwei wüsstet nicht, wie bekannt ihr seid.“

    Dem konnte man nicht widersprechen. Ryan Carparso und Andrew Warrener waren mit großer Sicherheit jedem in der aktuellen Trainerszene ein Begriff. Selbst letzterer, der noch auf einen Sieg bei einem großen Turnier wartete, war längst über die Grenzen seiner Heimat hinaus kein Unbekannter mehr.

    Aber genau der winkte einfach müde ab.

    „Sag ich ja nicht. Ich sag nur, halt den Ball flach.“

    Er wirkte nicht wirklich so, als sein ihn großartig danach, mit Sandra zu diskutieren.

    Ryan hatte zumeist bloß zugehört und ab und zu mal genickt. Den Mund hatte er allerdings kaum aufgemacht. Das tat er selbst jetzt nicht, als er sich unerwartet erhob und ohne ein Wort der Entschuldigung oder auch nur einen Blick in die Runde eben diese verließ. Er steuerte geradewegs auf Sheila zu, die stetig ihre Messer in den mittlerweile arg lädierten Pinien Baum schickte. Sie reagierte auch kaum auf Ryan, als dieser schon bei ihr angekommen war und er auf der anderen Seite mühte sich auch nicht, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Wenn sie bereit war, ihm diese zu geben, würde sie es von selbst tun. Ein paar Meter weiter am warmen Feuer sah man gespannt und mucksmäuschenstill zu ihnen hinüber. Pete hielt sogar seinen Flachmann wie eingefroren fest, bemerkte nicht einmal, dass Mila nun doch erst den Alkohol und dann ihn mahnend anfunkelte.

    Die letzte der exakt sechs Klingen, die Sheila gerade verwendete, landete zum x-ten Mal an fast genau derselben Stelle. Sie blieb für einen Moment in ihrer Haltung, mit noch ausgestrecktem Arm und gespreizten Fingern, ehe sie sich Ryan zuwandte. Das tat sie sogar mit dem ganzen Körper. Kein gelangweilter Seitenblick oder bloßes, desinteressiertes Neigen des Kopfes. Sie empfing ihn offen, ehe ihr Blick hinab wanderte, zu Ryans linker Hand. In dieser hielt er seinen zuvor erhaltenen Langdolch.

    Der junge Trainer besah sich kurz der Wurfmesser. Alle zusammen steckten sie in einem Radius von nur wenigen Zentimetern. Dann sah er ihr fest in die rubinroten Augen – seine eigenen schimmerten silbrig im Licht des aufziehenden Mondes.

    „Kannst du mir das auch beibringen?“

    In ihrem Gesicht erkannte man überhaupt nichts, woran man ihre Gedanken erahnen könnte. Ihren Mund hatte sie zudem mit ihrem Schal verhüllt, wie sie es meist tat.

    Einige Meter weiter dagegen, wollten die meisten sich die Ohren putzen, weil sie glaubten, schlecht zu hören. Lediglich Mila hob bloß eine Braue, reagierte äußerlich ansonsten gelassen, aber durchaus überrascht und neugierig.

    „Mit einer Klinge dieser Größe wird es nicht leicht“, stellte die Assassine nüchtern klar. So viel hätte er sich denken können. Doch das sollte ihn ja nicht aufhalten.

    „Deswegen wende ich mich an dich.“

    Vor ein paar Tagen erst hatte Sheila ihm gesagt, dass es seine weiseste unter den jüngeren Entscheidungen gewesen war, auf sie zu vertrauen. Nun wollte er das wieder tun, was bedeutete, er hatte ihre Worte nicht vergessen. In diesem Moment war sie froh, sich ein zucken der Mundwinkel erlauben zu können, ohne sich die Blöße zu geben. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie ihm, heranzutreten.

    Mehrere Münder standen bei diesem Anblick offen. Andrew blickte gar drein, als umarme Ryan ein Tannza. Jedem hier war schleierhaft warum und seit wann Ryan und Sheila so gut miteinander auskamen – mit Ausnahme von Mila mal wieder. Ihr war schließlich geläufig, was zwischen den beiden passiert war, sprich welche Gespräche stattgefunden hatten.

    Andrew stützte schließlich seine Schläfe mit der linken Hand. Der Arm lag wiederum auf seinem Knie. Gepaart mit diesem Gesichtsausdruck musste er aussehen, wie ein Idiot, der nicht einsah, dass er Schlaf brauchte. So primitiv würde das eine Frau wie Mila zwar nicht ausdrücken, aber es war dennoch sie, die sich hingezogen fühlte, ihn darauf anzusprechen.

    „Ihr seht müde aus.“

    Die Aussage und vor allem der Themenwechsel kamen sehr unerwartet, sodass er die Drachenpriesterin verwundert anblinzelte, bevor er antworten konnte. Sie tat es jedoch bewusst, wollte sich um einen Hauch Banalität bemühen, um nicht die Nacht hindurch alle verkrampfen zu sehen.

    „Würde mich wundern, wenn nicht.“

    Er drehte das Handgelenk, um auf seine Armbanduhr zu schauen – die Jeansjacke hatte er nach den Übungen mit Sheila nicht wieder angezogen.

    „Vor ziemlich genau dreiunddreißig Stunden hab das letzte Mal ein bisschen geschlafen.“

    „Und Ryan?“, fragte Pete aus heiterem Himmel und zog dadurch seinerseits die Blicke auf sich.

    Das war tatsächlich schwieriger zu beantworten. Als könnte er die Information darin finden, sah er abwechselnd zu Sandra, die nicht weniger daran interessiert schien, sowie Melody, die sich die Antwort ebenfalls ausmalen konnte.

    „Zwei Tage oder so. Vielleicht länger“, antwortete er mit einem tiefen Seufzer. Er hätte ihn vermutlich längst darauf ansprechen sollen. Doch welche Worte hätten schon die Kraft, Schlaflosigkeit zu vertreiben? Vermutlich war der Grund ein psychologischer und auf dem Gebiet kannte Andrew sich nicht wirklich aus.

    Pete sah vielsagend zu Mila herüber. Sie fing den Blick auf und wandte ihn schließlich besorgt in Richtung jenes Pokémontrainers, der sich von der tödlichsten Killerin der Welt die korrekte Technik für das Werfen des Dolches zeigen ließ.

    „Ist euch irgendwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?“

    Der andere Junge schürzte nachdenklich die Lippen.

    „Abgesehen davon, dass er jetzt anscheinend Sheilas bester Kumpel ist, nicht wirklich.“

    „Verstehe“, entgegnete die Drachenpriesterin und sah zu Melody, die bis eben noch grübelnd in den Sternenhimmel geblickt hatte. Sie schüttelte bloß den Kopf.

    Milas Blick wurde ernster und sie fixierte die beiden Übenden erneut. Vielleicht überschätzten sie seine Situation etwas – obgleich solch eine Schlaflosigkeit nach diesen Mengen an Stress und körperlicher Anstrengung unbestreitbar besorgniserregend war. Jedenfalls würde sie das im Auge behalten müssen. Sie fühlte sich nicht gut bei dem Plan, doch sie sollte wohl öfter Ryans Freunde zu seiner Verfassung befragen. So verbissen, wie er in diesem Augenblick aussah, während er erfolgreich seinen Dolch im Stamm des Baumes versenkte, hatte sie ihn wahrlich noch nie gesehen. Ein direktes Gespräch würde wohl wenig nützen. Sie hatte ihn nicht gerade als einen Menschen kennengelernt, der übermäßig Rücksicht auf sich selbst nahm.

    „Davon sollten wir uns nicht anstecken lassen“, meinte sie schließlich wenig überzeugend. Selten hatte man so offen ihre Unsicherheit durchschauen können, was Andrew und Melody synchron die Stirn runzeln ließ.

    „Versucht etwas Schlaf zu finden. Ich werde Sheila anweisen, es für heute Nacht kurz zu machen.“

    Mit eben diesem Vorhaben verließ sie die Gruppe, deren Mitglieder fragende Blicke austauschten. Selbst Pete, der sie deutlich länger kannte und sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ, war sehr offenkundig nicht geheuer, was in ihren grauen Zellen geschehen mochte. Noch weniger, was in Ryan vorging.

    „Auf jedes Übel, kommt direkt das nächste, huh?“

    Pete klang ganz schön zynisch und lachte mit mehr als nur einem Hauch Galgenhumor, während er die Gelegenheit von Milas Abwesenheit ausnutzte und nach seinem Schnaps kramte.

    „Und wir haben noch nicht einmal Zeit, um uns um das jüngste zu kümmern“, fuhr er resignierend fort und hob den Flachmann, als wolle er mit den beiden anstoßen. Andrew verdrehte nur die Augen und hoffte, dass sich der Typ daran verschlucken würde. Meldoy hatte dafür – zum ersten Mal in ihrem Leben – den seltsamen Wunsch, ebenfalls zu trinken.

    Kapitel 34: Zwei Fronten


    Ein bisschen kamen sich Ryan und Melody vor, als würden sie entführt. Noch nie hatten sie erlebt, dass Mila sie hinter sich her schleifte, als seien sie unartige Kinder, die soeben etwas Unverantwortliches getan hatten. Und dann führte sie die beiden vom Pokémoncenter aus auch noch durch zwielichtige Seitengassen, als versuche sie, sämtlichen Menschenmassen zu entkommen und auszuweichen. Sie war jedoch erheblich nachsichtiger als Sheila, deren schraubstockartige Hand Ryans Schulter umklammert hielt und ihn zügigen Tempos unablässig vor sich her schob. Er unterdrückte die Proteste gegen ihren Griff und versuchte sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Im Gegensatz zu Melody.

    „Erklärt uns bitte jemand, was eigentlich los ist? Ist etwas passiert? Hat Team Rocket angegriffen?“

    Mila, die vorausging, bog um eine Ecke, sodass am Ende der Gasse eine schmale Seitenstraße auftauchte. Dort parkte ein schäbiger schwarzer Van, an dessen geöffneter Fahrertür ein sehr unruhiger Pete auszumachen war.

    „Nein, ja und nein“, antwortete Mila jeweils auf die Fragen Melodys. Die konnte sich nicht verkneifen, mit erhobener Braue auf ihren Rücken zu starren, wissend, dass sie sich doch nicht umdrehen würde. Das war nun wirklich nicht die Art, die man von ihr gewohnt war. Weder bat sie um Vergebung für die zumindest verhältnismäßig grobe Behandlung, noch versuchte sie, das Paar zu beruhigen und umging sämtliche Erklärungen. Ihre Augen waren verengt und schienen jeden Moment mit dem Ausbruche einer Katastrophe zu rechnen. Ryan drehte einmal den Kopf, um in die von Sheila zu sehen, doch die wirkten nur finster und kalt, wie eh und je. Allerdings hatte der junge Trainer jüngst begonnen, hinter die blutrünstige Fassade zu blicken, die den Großteil ihrer Persönlichkeit ummantelte und war sich sicher, auch in ihr eine gewisse Unruhe zu erkennen. Doch sie ließ keine ausgiebige Einschätzung zu, drehte seinen Kopf wieder nach vorne und schob noch etwas harscher.

    Als sie aus der Gasse traten, blicke Mila rasch nach links und rechts, prüfte die Straße und umklammerte für einen sehr kurzen Moment Petes Oberarm. Ein Zeichen, dass sie ihm für sein Hiersein und den Göttern für seine Gesundheit dankte. Doch sie wollte Ryan und Melody keinen Anlass geben, das zu vermuten. Es würde die Situation nicht verbessern.

    „Na los, na los! Versteht ihr, was Tempo bedeutet?“, hetzte er sie, obgleich beide unaufgefordert das Fahrzeug bestiegen und versuchte scheinbar, so nüchtern zu klingen, wie nur irgend möglich, doch war dieser Mann nicht so schwer zu lesen, wie die Drachenpriesterin. Ryan schielte ihn im Vorbeigehen zwar nur kurz aus dem Augenwinkel an und ahnte sofort, dass er deutlich nervöser war, als er sich gab. Erneut unterband die Attentäterin in seinem Rücken das Anstellen weiterer Vermutungen, indem sie sich hinter ihm in den Van drängte.

    Pete tauschte einen letzten, kurzen Blick mit Mila, die ihm dankend zunickte, doch ihr Gesicht blieb ernst und kalt. Untypisch für sie, doch so sah wohl jemand aus, der um Menschenleben fürchtete. Der Barbesitzer schwang sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. Noch ehe er die Tür gänzlich geschlossen hatte, rollte der Wagen bereits. Ryan drehte sich verdutzt nach Mila, die am Straßenrand verblieb und ihnen einen Moment lang hinterherblickte, ehe sie kehrt machte.

    „Wo will sie hin? Und wo wollen wir hin?“, fragte er und lehnte sich vor, stützte sich dabei auf den freien Beifahrersitz.

    „Sie stößt wieder zu uns“, antwortete ihm allerdings Sheila, deren Stimme plötzlich sehr angewidert klang. Melody bemerkte, wie sie mit verengten Augen jeden Winkel der Rückbank erkundete und sich eine Hand nahezu krampfhaft in die Ledersitze krallte. Jetzt sollte ihr bloß niemand erzählen, Sheila hasste das Autofahren.

    Pete drückte das Gaspedal fast bis zum Boden durch, woraufhin Ryan Mühe hatte, sich festzuhalten. Doch so einfach würde er sich nicht abwimmeln lassen. Er vertraute Mila und wenn sie Pete vertraute, war er fein damit. Aber er verlangte jetzt Antworten.

    „Wir haben unangenehmen Besuch“, erbarmte er sich schließlich dürftig zu erklären. Doch da Team Rocket bereits ausgeschlossen worden war, blieb die Frage nach der Identität des Besuchers offen. Pete ließ allerdings keine weiteren Fragen zu.

    „Zwing mich bitte nicht, mehrmals dieselbe Erklärung zu liefern. Ihr erfahrt alles, sobald wir Sandra und Andrew treffen.“

    Auf bohrende Fragen wurde im stillen Einverständnis verzichtet. Zumindest vorerst.


    Ryan hatte sich selten während einer Autofahrt so fest in den Vordersitz gekrallt. Sie waren auf der Rückbank hin und her geschleudert worden, wie die Lottokugeln, wobei Sheila noch die größte Ausnahme darstellte. Die anderen beiden hatte bereits strafende Schläge befürchtet, wenn nicht Schlimmeres, wenn sie die Attentäterin ungewollt angestoßen hatten.

    Als der Wagen endlich zu Stillstand kam, lag die Stadt bereits lange hinter ihnen. Selbst die Vororte wären bloß in der Verne auszumachen und auch nir aus erhöhter Position. Ein staubiger Pfad und hügelige Graslandschaft, hinter die sich die Sonne in wenigen Stunden schieben würde, lag hinter ihnen. Voraus lag dagegen ein weitläufiger Pinienwald. Noch abgelegener als ihr üblicher Trainingsplatz, an dem sie vergeblich Team Rocket heranzulocken versucht hatten.

    Der Weg machte hier einen Knick und verlief am Waldesrand entlang. Genau an dieser Stelle warteten bereits zwei Personen auf das Fahrzeug. Andrew stapfte hektisch und offenbar nicht gerade bester Laune auf selbiges zu, kaum dass es gehalten hatte. Pete presste bereits jetzt genervt die Lippen aufeinander und stieg eher widerwillig aus.

    „Ich hab den Kanal voll mit der ständigen Heimlichtuerei“, fuhr Andrew ihn möglichst beherrscht an. Gelang ihm nicht allzu gut. Pete versuchte sich nicht zu sehr auf ihn einzulassen und wandte sich an Sandra.

    „Euch ist keiner gefolgt?“

    „Weder am Boden noch in der Luft.“

    Die Antwort ließ Ryan die Stirn runzeln. Warum sollte man das so formulieren? Mit einem Seitenblick auf Sheila bemerkte er dann, dass sie ebenfalls den Himmel inspizierte, als erwarte sie einen Angriff von oben. Die Frage war nur von wem?

    Er stellte sie nicht, sodass sie nur wenige Sekunden später die Grenze zum Wald passierte und hastig zwischen den Bäumen hin und her huschte. Obwohl sie in sehr großem Abstand zueinander standen, war sie binnen weniger Augenblicke verschwunden.

    „Sie wirft einen Blick voraus. Eure sollten ab jetzt immer nach oben gehen“, empfahl Pete und zündete sich eine Zigarette an.

    „Was hat das zu bedeuten?“

    Sandra wirkte deutlich beherrschter als die jüngeren Trainer, doch auch ihr konnte man die Unruhe anmerken sowie das Drängen auf eine Antwort erahnen.

    „Eine alte Freundin von Mila ist gestern aufgetaucht und hat sich heute sogar in die Nähe der Stadt gewagt.“

    Diesmal legten alle die Stirn in Falten und Melody war es, die die offensichtliche Frage stellte.

    „Und das ist warum schlecht?“

    „Weil diese Freundin euch sehen will. Und zwar blutig.“

    Die Blicke wurden ernster und der Wind umspielte die schweigende Gruppe, zupfte an Haaren, Jacken und Umhängen. Man sah sich einander an, ohne zu wissen, was man zu erwarten hatte. Pete ließ ihnen einen Moment, bevor er fortfuhr. Er wusste, dass diese Botschaft schwer aufzunehmen war, nachdem sie alle für diesen einen Tag versucht hatten, etwas abzuschalten.

    „Konkreter gesagt will sie Ryan. Und sie wird niemanden, der sich ihr in den Weg stellt, mit Samthandschuhen anfassen, wenn ihr versteht.“

    Natürlich verstanden sie das. Zumindest so weit die Erklärung bislang reichte. Nur war das noch nicht weit genug.

    „Wer soll das sein?“, verlangte nun Sandra zu wissen. Pete nahm einen tiefen Zug und hielt den Zigarettenrauch lange inne, ehe er ihn langsam ausstieß.

    „Hat euch Mila je von Ruby erzählt?“, fragte er etwas zögerlich. Er wirkte auf einmal anders, als man ihn bislang beobachten konnte. Stiller, inniger. Allem voran aber besorgt.

    Alle schüttelten den Kopf. Über Mirjana, beziehungsweise ihre Bekannten, so hatten Ryan und Andrew das Gefühl, war ihnen wahrlich nicht mehr, als das Nötigste erzählt worden. Doch wenn selbst Sandra ahnungslos war, dann mochte das etwas bedeuten. Vielleicht, dass es sich um etwas, oder eher jemanden handelte, worüber Mila bislang nicht hatte sprechen wollen.

    „So taufte sie vor was weiß ich wie vielen Jahren ein Brutalanda. Ich weiß auch nicht viel von ihr, außer wie sehr Mila von ihr geschwärmt hat. Wie stark sie sei, wie lange ihre Freundschaft bereits hält und wie sehr sie selbige schätzt.“

    Alle ahnten bereits, woher der Wind wehte. Pete ließ ihnen ein weiteres Mal einige Sekunden, bevor er die Bombe platzen ließ.

    „Und genau die wünscht sich dich als ein Schaschlik“, verkündete er mit einem Blick auf den jungen Trainer.


    Er reagierte nach außen hin überhaupt nicht auf diese Information. Erwiderte einfach den Blick von Pete, der ihn scheinbar zurechtzuweisen versuchte, als wolle er sagen, dass Ryan sich das selbst zuzuschreiben hatte. Das war auch nicht die Unwahrheit und er fasste das, was Pete ihnen hier sagte – und vor allem, wie er es ihm sagte – nicht böse auf. Melody dafür schon, denn die klammerte sich gleich fest an seinen Arm und versuchte ihrerseits Pete mit ihren Augen zu kontern. Als sei sie entrüstet über die Art und Weise, wie er ihn ansah, wie er mit ihn redete. Ryan hatte mehr als genug Reue gezeigt, seit sie ihn wiedergefunden hatte. Dass man ihn schon wieder anprangerte, würde sie unterbinden. Das stand keinem zu und Pete schon gar nicht.

    Doch Ryan zeigte auch auf Melody keine Reaktion. Ihm war selbst noch nicht ganz klar, wie er das hier aufnehmen sollte. Schockiert war er sicher nicht. Ihn hatten bereits Drachen angegriffen, bevor er überhaupt etwas begriffen hatte. Ihm war lange klar, dass weitere solcher Angriffe folgen würden. Lediglich die Umstände waren für ihn neu.

    Sandra verengte leicht die Augen, während sie den Blondschopf ansah. Sie hatten mittlerweile zu Genüge über solche Themen gesprochen und ihr war ebenso klar gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit und des Angreifers sein würde.

    „Ein Brutalanda sagst du?“

    Ryan sprach sehr nüchtern und trocken. Pete tat es ihn fortan gleich.

    „Wenn man Milas Worten glauben mag, ist sie wahrscheinlich eines der stärksten lebenden Drachenpokémon. Und sie würde nicht zögern, dich selbst in der Stadt anzugreifen. Deswegen mussten wir dich dort rausholen.“

    In Sicherheit wäre Ryan hier in der Wildnis sicher auch nicht, aber dafür die Bewohner von Graphitport. So weit durfte es auf keinen Fall kommen, dass sich die Straßen der Hauptstadt rot färbten, bloß weil Ryan sich dort aufhielt.

    „Und für wie lange?“, warf Andrew ein und trat neben Pete. Er hielt seine Umhängetasche fest, geradezu krampfhaft umklammert und versuchte die Nervosität zu unterdrücken.

    „So lange es sein muss. Bis sie uns hier draußen findet kann es Nacht sein oder vielleicht schon wieder Morgen. Aber so lange sie dir nachstellt, dürfen wir auf keinen Fall in der Nähe von anderen Menschen sein.“

    Sie nickten alle langsam und zögerlich, stimmten jedoch absolut zu.

    „Und wie sollen wir dafür sorgen, dass sie mir nicht mehr nachstellt?“

    Andrew, Sandra und Melody blickten erst zu Ryan, der die Frage ausgesprochen hatte, als wüsste er die Antwort bereits, und dann wieder zu Pete. Der blickte jedoch ratlos in die Runde und zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette, ehe er den Kopf schüttelte.

    „Bei fast jedem andere Pokémon würde ich wohl sagen, besiegt es im Kampf. Zeigt, dass ihr stärker seid. Aber, so sehr Mila euch beide auch für eure Fähigkeiten als Trainer gelobt hat…“

    Beinahe war er es, der hilfesuchend von einem Augenpaar zum nächsten wanderte, während er darin eine Antwort zu finden hoffte.

    „Ich kann´s mir echt nicht vorstellen.“

    Es herrschte bestimmt eine ganz Minute lang Stille. Sie wurde nur vom Klang des Windes gestört, der auf dem saftig grünen Laub der Bäume eine sanfte Melody spielte. Keiner wollte so wirklich etwas sagen, aber selbst wenn, würde niemandem in diesem Moment etwas Hilfreiches oder Aufbauendes einfallen. Es war geradezu erlösend, als ein dumpfer Schlag auf der fast nackten Erde, nur ein paar Meter von ihnen entfernt, Sheila in hockender Position auftauchte. Sie richtete sich langsam auf und musterte jedes einzelne Gesicht. Ihr mochte etwas Ähnliches auf den Lippen liegen, wie neulich, als sie die beiden Trainer sowie die Arenaleiterin wachgerüttelt hatte.

    „Nicht weit von hier ist eine Lichtung, die sich gut als Nachtlager eignet. Wir warten dort auf Mila.“

    Erneut wurden untereinander Blicke ausgetauscht. Von Enthusiasmus oder Tatendrang war nicht die geringste Spur. Die Nachricht von diesem Brutalanda namens Ruby war zwar keine Hiobsbotschaft, aber gut war sie ganz bestimmt nicht. Sie hatten schließlich bereits genug Sorgen und ehe man sich um ein Problem hatte kümmern können, war bereits das nächste aufgetaucht.

    Keiner wusste mit Gewissheit, wohin ihr Weg, ihrer aller Entscheidungen sie hinführen würden. Doch so wie jetzt konnte es auf keinen Fall weitergehen.


    „Die Stadt verlassen?“, wiederholte sie. Eine der schmalen Brauen war verblüfft nach oben gewandert, doch ihre Stimme hatte lediglich Neugier verheißen lassen. Sie ging nicht wirklich davon aus, dass Mila vor ihr floh. Noch weniger davon, dass es ein offensiver Zug war, den sie damit getan hatte.

    „Sie sind in nördlicher Richtung in den Wäldern untergetaucht. Vermutlich verstecken sie sich.“

    Die Bernsteinfarbenen Augen der Agentin wirkten etwas müde. Kein Wunder. Tag und Nacht war sie Mila und ihrer Gefolgschaft auf den Versen – oft während sie sich an unterschiedlichen Orten aufhielten. Das ging selbst an ihr nicht ewig spurlos vorbei.

    Die Frau ihr gegenüber lehnte sich nach vorne, stützte einen Ellenbogen auf den polierten Tisch, während sie sich einen Rotwein einschenkte und legte die andere Hand ans Kinn. Die langen, schmalen Halsketten schabten leicht über das glänzende Holz.

    Obwohl diese Bar völlig verlassen war – natürlich, da Team Rocket sie aufgekauft hatte – saßen die beiden in der hintersten Ecke des Raumes, an einem kleinen Tisch für nicht mehr als zwei Personen. Dämmriges Licht sowie eine einzelne Kerze zwischen ihnen stellten die einzigen Lichtquellen dar.

    „Monatelang haben sie uns ausspioniert und Schlüsselpersonen sowie ganze Basen eliminiert, während sie sich uns offen zeigten. Warum sollten sie sich gerade jetzt vor uns verstecken?“

    Weder klang die Frage des Schwarzen Lotus frustriert, noch verärgert, verhasst oder sonst irgendwie belastet. Bella spürte, dass sie sich auf ihre Antworten freute. Dass die Informationen, die sie übermittelte, diese Frau amüsierten.

    „Wer spricht denn von uns?“

    Erneut zog sie eine Braue hoch und das Lächeln wurde noch ein wenig weiter, während die Agentin an ihren Whiskey nippte. Er war überragend, schmeckte tausendmal besser als das meiste, was sie je probiert hatte. Doch sie brachte all ihre Willenskraft auf und hielt sich im Zaum. Es wäre unklug, sich vor den Augen ihrer Klientin zu betrinken.

    „Ich sah neulich ein Bilderbuchexemplar von einem Brutalanda über eben diese Wälder fliegen“, berichtete sie weiter, als sie ihr Glas absetzte und mit einem Finger den Rand entlangfuhr.

    „Und du meinst, das ist der Grund?“

    „Sie konnten es kaum eilig genug aus der Stadt schaffen, nachdem sie Ryan Carparso darüber informiert hatten. Es wäre des Zufalls etwas zu viel, wenn es einen anderen Grund gäbe.“

    Die Frau lehnte sich wieder zurück, starrte verzückt in die Kerzenflamme und griff ihrerseits nach ihrem Glas, das jedoch mit einem edlen Wein befüllt war. Sie zögerte kurz, sah dann über Bella hinweg und begann weit zu grinsen.

    „Ich bin gespannt, ob dieses Brutalanda hält, was du mir von ihm versprichst.“

    Sie hob ihr Glas als wolle sie einen Toast ausbringen und deutete damit dezent in Richtung der Agentin, ehe sie trank. Merkwürdig. Mit einem Mal schmeckte der Wein gar noch besser.

    „Und dieser Carparso ebenfalls.“


    Dieses verdammte Feuerzeug war wie jedes seiner Artgenossen. Kaum wurde es einmal zu etwas Wichtigerem gebraucht, als sich eine Kippe anzuzünden, gab es den Geist auf. Pete fluchte leise und gab sich Mühe, das bisschen Wind, das durch die Bäume und über die Lichtung pfiff, mit der freien Hand abzuschirmen.

    Nach einer Minute, die ergebnislos und ohne einen Funken verstrichen war, blitzte unerwartet etwas Silbernes in seinem Augenwinkel. Ryan war an ihn herangetreten und bot ihm seinen Brennstab sowie sein Taschenmesser an. Es hatte bereits Momente gegeben, in denen er diese Gelegenheit nicht ausgelassen hätte, hämisch oder schadenfroh auf Pete hinabzublicken. Doch er tat es hier nicht, sah ihn ganz nüchtern an und bot seine Hilfe aufrichtig.

    Ebenso danke es ihm Pete mit einem knappen Nicken.

    „Ist ein Feuer wirklich so klug? Ruby wird uns doch spielend finden“, warf Sandra ein, die nachdenklich ihre Runden über das hohe Gras der Lichtung drehte skeptisch auf das Brennholz starrte.

    „Wir verstecken uns nicht.“

    Die Drachenmeisterin wandte sich in Richtung Sheila, die aufmerksam durch die Bäume spähte und mit Sandra sprach, ohne sie anzusehen. Lange würde sie das nicht mehr können. So oft und gerne sie durch Schatten und Finsternis geschlichen war, erlaubten selbst ihre scharfen Augen es nicht, in vollkommener Dunkelheit sehen zu können. Die Sonne war schon am Horizont, was bedeutete, dass nur noch ein paar schwache, rötliche Lichter über die Baumkronen strahlten, die sie von allen Seiten umgaben.

    „Ruby findet uns über kurz oder lang sowieso. Sie könnte bereits wissen, wo wir sind und hat bloß noch nicht beschlossen, uns anzugreifen.“

    Nun drehte sie doch den Kopf leicht, gerade so, dass sie Sandra aus dem Augenwinkel anfunkeln konnte.

    „Wir vermeiden lediglich zivile Opfer.“

    Sandra atmete schwer aus. Sie hatte Mühe, die Haltung zu bewahren und sich möglichst gefasst zu geben. Doch nicht Ruby war es, um die sie sich sorgte. Das wäre für eine Drachenmeisterin auch nicht weniger als eine Schande gewesen. Aber wie schon Tage zuvor hatte sie gegenüber Ryan ihre Gedankengänge und Spekulationen geäußert. Hatte gesagt, was sie an Stelle von Team Rocket tun würde. Und sie würde eine solche Gelegenheit, wenn Ryan gezwungen war, sich einem unmittelbareren Gegner – in diesem Fall einem mächtigen Brutalanda – zuzuwenden, bestimmt ergreifen. Einen besseren Moment zu Angriff würde es für Team Rocket vermutlich nicht geben. Welch Ironie, dass ihr Plan genau dann aufgehen könnte, wenn es für sie am Schlimmsten wäre.

    Pete hatte endlich den Zunder entflammen können und gab vorsichtig kleine Zweige hinzu.

    Während er damit beschäftigt war, dass Feuer zum Wachsen zu bringen, verzehrte Andrew, recht grimmig dreinblickend, einen Apfel. Er hatte sich nach ihrer Ankunft auf einem Baumstumpf niedergelassen und schien die meiste Zeit über ins Leere zu starren. Gesagt hatte er nicht ein Wort. Ryan hatte dagegen kaum aufgehört zu reden. Und zwar mit Melody. Das Paar hatte am anderen Ende der Lichtung an einem der Bäume Platz genommen und lehnte eng umschlungen dagegen. Sie flüsterten fast miteinander, sodass man sie gar nicht klar verstehen konnte. Das taten sie nicht aus Heimlichtuerei, sondern eher, weil es an sich unangenehm war, die Stille so zu durchbrechen. Doch sie mussten einfach miteinander reden. Sonst würden sie vermutlich ausflippen.


    Das tiefe Krächzen eines Vogelpokémon ließ alle im Kollektiv aufblicken. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass sie das nicht aus der bösen Vorahnung, ein wütender Drache würde sich gleich auf sie herabstürzen, heraus getan hatten. Doch die eher kleine Gestalt, mit dem fedrigen Doppelschweif erkannte man leicht als Schwalboss. Andrews Schwalboss.

    Der regte sich selbst jetzt nicht, sondern wartete einfach, dass sich die Vogeldame äußerte. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, was sie zu berichten versuchte. Sie landete direkt vor ihm und flatterte wild, deutete schließlich mit einem Flügel in die Richtung, aus der sie gekommen war.

    „Jemand kommt auf uns zu“, verkündete er. Oder etwas. Beinahe wünschte er sich inzwischen, es wäre Team Rocket. Er hatte die Faxen sowas von dicke. Er könnte jetzt gut ein paar schwarze Sandsäcke gebrauchen.

    Alle machten sie sich bereit. Pete und Melody blieben im Hintergrund. Erstgenannter konnte ebensowenig auf Pokémon zurückgreifen, wie der Rotschopf. Er wusste sich zwar gegen Männer zu wehren, würde hier aber nichts ausrichten können. Sheila machte ein paar Schritte in den Wald hinein und begab sich in eine hockende Lauerstellung. Eine gute Minute verstrich, ohne dass auch nur ein Mucks oder ein Schritt getan wurde. Keiner wagte es gar als erster zu zucken. Nicht, ehe Sheila schließlich entwarnend eine aufrechte Haltung einnahm und ihre Muskeln entspannte.

    Die Person war tatsächlich schwarz gekleidet. Doch handelte es sich nicht um die Uniformen der erwarteten Verbrecherorganisation, sondern um einen langen Mantel mit weinrotem Innenfutter.

    Niemand sagte etwas, als Mila auf die Lichtung trat, doch aus irgendeinem Grund verspürten alle ein geringes Maß an Erleichterung. Nicht etwa, weil keine Gefahr eintraf, – diese sehnte ja besonders Andrew gar herbei. Mehr war man froh, dass sie unverletzt zu ihnen gestoßen war. In den vergangenen Stunden hatte sich jeder bereits das schlimmstmögliche Szenario ausgemalt und bei jedem, das ihnen einfallen konnte, hatte es die Drachenpriesterin getroffen. Genau dann, wenn sie nicht bei ihr waren. Gerade Sheila hätte sich das wohl kaum verzeihen können. Doch es war ja nicht so, dass sie diese Bedenken ihr gegenüber zuvor nicht geäußert hatte. Aber letztendlich hatte ihre unerschütterliche Treue, mehr noch als das Vertrauen, ihr ihren Willen gelassen.

    „Wo warst du so lange?“, fragte schließlich Sandra, noch sichtlich am meisten erfreut, Mila unversehrt wiederzusehen.

    „Verzeiht. Ich habe euch Sorgen bereitet.“

    Ihr Lächeln danke offenkundig für diese, war aber getrübt und bekümmert.

    „Ich versuchte unsere Feinde zu täuschen und in die Irre zu führen. Zu meinem Bedauern, habe ich versagt.“

    Die Mienen wurden sofort wieder ernster und alle traten im Halbkreis an Mila heran. Sie sah präzise in jedes einzelne Gesicht, als könne sie sehen, was alle empfanden, dachten, befürchteten und fühlten.

    „Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben sie zumindest eine ungefähre Ahnung, wo wir uns befinden. Mein Ziel war es, sie auf eine andere Fährte zu locken, damit wir uns für den Moment auf Ruby konzentrieren können.“

    „Moment, Moment“, unterbrach Ryan und trat noch einen Schritt näher an sie. Er wirkte entrüstet.

    „Du willst uns jetzt nicht sagen, du hast dich selbst zu einer Zielscheibe gemacht, damit wir ungesehen aus der Stadt kommen, oder?“

    Mila hielt den Blick weiter geradeaus, sah aber nicht wirklich jemanden oder etwas an. So sie sich auch mühte, ihr falsches Lächeln zu behalten, was sie auch schaffte, befeuchtete sie doch unbehaglich die Lippen und presste sie aufeinander. Daran war erkennbar, wie sehr sie mit einer detaillierteren Erklärung rang. Dann sah sie schließlich doch in Ryans Augen. In der aufkommenden Dunkelheit war bereits ein sehr schwaches, silbriges Schimmern zu erkennen.

    „Ihr verurteilt, dass ich es nicht verraten habe. Ihr hättet mich davon abhalten wol…“

    „Allerdings, das hätte ich!“

    Es geschah nur sehr selten, dass Ryan sie so unterbrach. Wenn er so drüber nachdachte, war es vielleicht gar das erste Mal. Doch er sah sich dazu absolut im Recht, ebenso wie jeden anderen der Anwesenden.

    „Das hätten wir alle“, meinte er mit einem kurzen Blick in die Runde. Er unterstellte es recht eigenmächtig, fragte gar nicht erst bei ihnen nach. Doch Andrew sowie Melody pflichteten stumm mit einem Nicken bei und auch Sandra trat bestätigend an ihre Seite. Lediglich Pete äußerte sich nicht, doch insgeheim stand er hier hinter Ryan.

    Mila registrierte das durchaus, doch versuchte eine Rechtfertigung ihrerseits zu umgehen.

    „Bitte, lasst uns das ein andern Mal diskutieren.“

    Andrew quittierte die Bitte mit einem Schnaufen und zog damit alle Blicke auf sich. Sicher waren seine ohnehin miese Laune und sein zuhauf angestauter Frust die Hauptgründe für das, was er gleich sagte. Doch ganz gleich in welcher Lage war er genau dieser Meinung und tat sie bloß schärfer kund.

    „Du meinst, wenn wir dich tot in einer Gasse gefunden haben?“

    Die Drachenpriesterin wollte bereits etwas erwidern, doch blieb ihr der Mund offen stehen und das Wort im Halse stecken. Während Melody ob der Ausdrucksweise Andrew in die Seite stieß und an seinen Respekt ihr gegenüber appellierte, machte sich Mila – in dieser Sekunde wirklich zum ersten Mal – Gedanken, was hätte passieren können. Sie war allein gewesen. Ohne Schutz, ohne Rückendeckung, ohne Plan und Absicherung. Unbewaffnet war sie zwar nicht, doch zweifelte sie stark daran, dass einen zahlenmäßig übermächtigen Feind hätte bezwingen können. Erst recht, wenn dieser Pokémon oder Schusswaffen eingesetzt hätte. Und nochmals erst recht, wenn Bella diese Gruppe geführt hätte.

    Sie wurde durch den festen Griff einer Hand an ihrem Oberarm aus ihren Gedanken gerissen und blickte erneut in Ryans Augen. Eindringlich war ein unzureichendes Wort für den Ausdruck in ihnen.

    „Du bist zu wichtig, um dich für so etwas zu opfern.“

    Wichtig? Sie? Das würde sie so gerne verneinen können. Sie hatte ihr eigenes Leben nie wertvoller geschätzt, als das eines anderen Menschen. Egal wessen. Und Angst hatte sie vor dem Tod sicherlich keine. Aber sie konnte, durfte noch nicht sterben. Nicht, bevor der Drachensplitter nicht endgültig sicher, Team Rocket besiegt und Rayquazas besänftigt war. Niemals, auf keinen Fall.

    Ryan sah, dass etwas in Mila vorging, doch er vermutete noch immer, sie wachrütteln zu müssen. Morgen würde er sich fassungslos über diese Anmaßung seinerseits schämen, doch im Hier und Jetzt erachtete er es als notwendig.

    „Ich habe mich dazu bereit erklärt, alles zu tun was ich muss. Aber das tue ich nur mit dir und allen anderen zusammen. Hier kämpft nicht einfach jeder seinen eigenen Kampf. Wir ziehen an einem Strang.“

    Er merkte gar nicht, wie fest er mit seiner Hand an ihrem Arm drückte. Sie zeigte keine Reaktion darauf und vermutlich besaß Ryan auch kaum genug Kraft, um ihr unbeabsichtigt weh zu tun. Dennoch war es nun er, der eine Hand spürte, die seine eigene zu bändigen suchte. Es war Sheila, die an ihn herangetreten war. Doch so wie Ryan sie ansah, legte sich seine Stirn in Falten. Das da war nicht die Attentäterin, die er kennengelernt hatte. Die würde ihn jetzt nämlich zurechtweisem, was er sich denn erlaube und dass er nicht in der Position sei, Mila Anweisungen zu geben. Und damit würde sie Recht behalten. Doch Sheila sagte nicht einmal was. Sie blickte einfach nur in seine Augen. Selbst die sonst so tödlich funkelnden Rubine strahlten etwas völlig Anderes aus, als sonst. Es war die simple und überraschenderweise keineswegs drohende Botschaft, dass es genügte. Dass Mila verstanden hatte. Dass er seinen durchaus berechtigten Standpunkt ausreichend dargelegt hatte.

    Ryan sah auf ihre Hand hinab. Selbst die lag sachte und ruhig auf ihm, verdeutlichte lediglich subtil, was sie ihm mitteilen wollte.

    Mila erkannte die Geste und war nicht weniger überrascht von ihr. Jedoch definitiv positiv. Anscheinend hatte das jüngste und sehr lange Gespräch der beiden etwas zwischen ihnen verändert. Doch sie wagte nicht zu schätzen, wie weit diese Veränderung reichte und es war kaum der richtige Moment, darüber zu spekulieren.

    „Ihr habt Recht, Ryan Carparso“, gestand sie schließlich ein und lächelte wieder so, wie man es von ihr gewohnt war. Zumindest fast, denn wenn es niemand von ihnen besser wüsste, würde man meinen, sie dankte dem jungen Trainer für die Lektion. Tatsächlich besser wissen taten es nur Sheila und Pete, doch die behielten es für sich.

    „Also, wie geht´s nun weiter?“, erkundigte sich Sandra und trat in die Mitte der Runde.

    „Haben wir eine Möglichkeit, Ruby zu finden, bevor Team Rocket uns aufspürt?“

    Wohl wissend, dass hier niemand wirklich darauf brannte, sich diesem Brutalanda zu stellen, wäre es doch besser, man brachte es möglichst schnell hinter sich, bevor man sich zeitgleich auch noch um die kümmern musste.

    „Wir haben keine Ahnung, wo wir mit der Suche beginnen sollen. Die Wälder sind groß und wir haben keinen Anhaltspunkt, wo sie sich aufhält“, unterbreitete Pete recht niederschmetternd. Ein weitaus persönlicheres und nicht minder tragendes Argument warf Mila zudem ein.

    „Selbst wenn wir sie finden, würde sie eher den Abstand wahren, als uns entgegenzutreten. Sie wird nicht eher auf uns treffen, bevor sie sich nicht dazu entscheidet.“

    Die Priesterin seufzte niedergeschlagen. Sie wünschte fast jeden Gegner lieber an dieser Stelle, als Ruby.

    „Glaubt mir, ich kenne sie nur zu gut.“

    Andrew seufzte genauso und kratzte sich resignierend am Hinterkopf.

    „Also abwarten und Tee trinken.“

    Das schien es gut zusammenzufassen.


    Die Nächte in Hoenn waren zu dieser Jahreszeit unglaublich mild. Gab es in Johto noch verschiedene Klimazonen, von den verschneiten Gebirgsketten um Ebenholz und Mahagonia City, bis zu den sonnigen Stränden Olivianas, las man auf diesem Inselkontinent auf jedem Thermometer mehr oder weniger dasselbe. Ryan hatte seine Jacke ausgezogen und als Unterlage für seinen Kopf, den er zusätzlich auf seine Unterarme gebettet hatte, zweckentfremdet. Er fand heute wieder keinen Schlaf. So er und auch Andrew und Sandra es sich jüngst noch vorgenommen hatten, wollte der Schlaf einfach nicht kommen. Er sah einfach immer weiter den Funken des noch brennenden Lagerfeuers dabei zu, wie sie zum Sternenzelt aufstiegen. Länger als eine Stunde machte er das nun schon.

    Ryan lag mit dem Kopf direkt an dem Baumstumpf, auf welchem Andrew zuvor noch gesessen hatte und konnte aus seiner leicht erhobenen Position die Lichtung gut überblicken. Melody lag sehr nahe bei ihm und schummerte fest. Etwas daneben hatte sich Andrew breit gemacht, der ebenfalls seine Jacke als Kissen missbrauchte und scheinbar gleichermaßen Mühe hatte und sich sozusagen im Halbschlaf befand. Er versuchte vehement den Schlaf siegen zu lassen, doch wollte der scheinbar gar nicht gewinnen. Pete hatte sich unweit mit verschränkten Armen an einen Baum gelehnt und pennte tatsächlich im Sitzen. Sandra lag auf der anderen Seite des Feuers und selbst Mila war längst nicht mehr wach. Nur er selbst… und Sheila.

    Die Attentäterin saß dicht beim Feuer im Schneidersitz und hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Sie schien mit irgendetwas herumzuhantieren, was Ryan allerdings nicht sehen konnte, da sie ihm den Rücken gekehrt hatte. Er sah kurz zu Melody. Sie wirkte schlafend so unbekümmert. Doch vor allem lag sie nicht so dicht an ihm, dass er sie zwangläufig wecken würde, wenn er sich erhob. Genau das tat er nun sehr vorsichtig. Sie murmelte im Schlaf etwas dahin und drehte sich dann um. Andrew dagegen schielte kurz zu ihm, scherte sich aber nicht weiter um den Grund, der Ryan ans Lagerfeuer lockte. Vermutlich, weil ihn dieselben Probleme plagten. Er versuchte gleich wieder, endlich einzuschlafen.

    Ryan schlurfte sehr langsam an die Feuerstelle, machte sich keine Mühe, Sheilas Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie wusste längst, dass er noch wach war.

    „Soll ich dich vielleicht mal ablösen?“

    Er verzichtete darauf, direkt neben ihr Platz zu nehmen. Das wäre der Nähe etwas zu viel gewesen, ganz gleich wie viel sie einander mittlerweile von sich wissen ließen.

    „Ich bin nicht müde, wenn du das andeuten wolltest.“

    Sie klang bestimmend, fast zurechtweisend, aber immerhin nicht bissig. Und Ryan würde sicher nicht so blöd sein, sie überreden zu wollen.

    „Du bist es schon. Kannst aber dennoch keine Ruhe finden“, stellte sie zudem auf der anderen Seite fest. Das konnte der Trainer nicht verneinen und nickte frustriert.

    „Ich habe sonst nie Probleme damit.“

    „Es ist ja auch nicht alles wie sonst.“

    Auch hier musste Ryan zustimmen. Im Grunde war derzeit gar nichts so, wie in seinem üblichen Alltag. Das bisschen Training, das er und Andrew vorhin, mehr zum Zeitvertreib und zur Ablenkung, absolviert hatten, konnte am ehesten noch dazu gezählt werden. Doch allein die Umstände hatten es unmöglich gemacht, den Kopf frei zu kriegen und wirklich effektiv zu arbeiten.

    Ryans Blick verirrte sich zum ersten Mal auf Sheilas Hände. In einer davon hielt sie ein Messer – keiner ihrer „geliebten Dolche“, wie sie immer sagte, sondern eine banale Klinge, wie Wanderer sie mitführten. Damit schnitzte sie an einem Stück Holz herum, das vermutlich einmal ein Pokémon oder einen Teil von einem darstellen würde. Er schenkte dem Stück jedoch nicht besonders viel Beachtung. Der Anflug eines sanften Lächelns zeichnete sich nebst der Schlaflosigkeit in seinem Gesicht.

    Sheila entging das natürlich keineswegs und sie unterbrach ihr Handwerk auch für einen Moment, um Ryan in die Augen zu sehen. Sie funkelten ob der ruhigen Nacht in silbrigem Mondlicht. Es lag jedoch weder Hohn noch Spott oder Belustigung darin. Was freute ihn so sehr daran, dass sie aus Langeweile etwas schnitzte?

    Vielleicht, so spekulierte der junge Trainer jedenfalls, da er sich dieselbe Frage stellte, wirkte diese skrupellose Attentäterin mit jeder kleinen Marotte, die den Charakter einer Person ausmachte, wenigstens ein bisschen normaler, menschlicher.

    „Ich hätte nicht erwartet, dass du dich so sehr um Mila sorgst.“

    Diese plötzliche Aussage überraschte Ryan in zweierlei Hinsicht. Zunächst einmal, da Sheila eigenständig ein Gespräch zu beginnen gedachte. Gleichwohl sie miteinander ganz gut auskamen, war das mehr als er von ihr erwartet hatte. Zweitens war es der Inhalt dieses Satzes selbst, der ihn verdutzte.

    „Warum sollte ich das nicht?“

    Sheila werkelte unbeirrt weiter, unterbrach höchstens alle paar Sekunden einmal, um das Holz prüfend im Licht des Feuers zu begutachten.

    „Sie hat dir keinen Grund dazu geliefert“, meinte sie sehr überzeugt. Doch ihr Gegenüber zog daraufhin eine Braue hoch, als begreife er nicht, wie sie zu diesem Schluss kommen konnte. Und tatsächlich war dem so.

    „Sie hat mir jede Menge Gründe geliefert.“

    Die Hände kamen zum Stillstand und nachdem sie Sekunden später überzeugt war, sich nicht verhört zu haben, drehte sich Sheilas Kopf wieder in seine Richtung. Ihr Blick war – glücklicherweise! – unverändert. Dennoch eilte sich Ryan, seine Ansicht zu erklären, bevor sie selbige als dreist oder gar beleidigend einstufen konnte. Er war längst nicht so dumm, Mila verbal anzugreifen. Genauso könnte er Sheila eine Ohrfeige geben und damit sein Schicksal besiegeln.

    „Sie ist eine unglaubliche Frau. Das ist wahr. Vermutlich die unglaublichste, die mir je begegnen wird.“

    Sheila lauschte überraschend aufmerksam. Zeigte sie hier offenes Interesse für seine Meinung? So weit wollte Ryan mal noch nicht gehen, aber den Anschein hatte es schon etwas. Ihre Unterarme legten sich je auf eines ihrer Knie, Holz und Messer noch immer in den Händen, aber scheinbar fast vergessen.

    „Allerdings würde ich es ihr nie verzeihen, wenn sie sich wegen uns…, nein wegen mir unnötig in Gefahr begibt und sie…“

    Er hatte durchaus vorgehabt, diesen Satz zu Ende zu sprechen. Doch es wollte nicht über seinen Lippen kommen, dass Mila getötet werden könnte. Nicht einmal vorstellen wollte er sich das.

    So brach er ab, seufzte schwer und ließ den Blick einmal über die Lichtung schweifen.

    „Wie töricht.“

    Fast schon musste Ryan auflachen. Diese Worte mussten zu ihren liebsten gehören. Aber er hatte sich an sie gewöhnt und nahm sie längst nicht mehr persönlich.

    „Sie ist weit stärker als du.“

    „Was Anderes hab ich nie geglaubt. Nur ist sie nicht unverwundbar. Und ihr wisst vermutlich noch besser als ich, über welche Mittel Team Rocket verfügt. Hätten sie Milas Köder geschluckt und hätten sie erwischt, was glaubst du, wäre passiert?“

    Es war sehr offensichtlich, was in so einem Fall mit ihr geschehen wäre. Doch Sheila schien, so sehr und so oft sie ihre Gebieterin bereits verteidigt und ihr eigenes Leben für sie riskiert hatte, selbst diesem Gedanken noch etwas abgewinnen zu können.

    „Dann wäre ich meine Zügel los. Und hätte obendrein den besten Grund überhaupt, um einen blutigen Rachefeldzug zu führen.“

    Nachdem Ryan nun mehrmals so vertraulich mit ihr hatte reden können, hätte er beinahe vergessen, wozu Sheila fähig war. Oder eher, was sich in ihr verbarg. Selbst bei ihren ersten Begegnungen hatte sie nicht so finster, unheilvoll, mordlüstern und gleichzeitig so erfreut geklungen. Wie ein Teufel, der gerade eine Möglichkeit gefunden hatte, auf die Welt losgelassen zu werden, um sie zu seinem Reich des Chaos zu machen. Die Flammen schienen dabei in Sheilas Augen auf den Rubinen zu tanzen, die selbige weiter näherten, sodass ein blutroter Schein in der Iris lag. Es stand dem Leuchten von Ryans silbernen Augen in nichts nach. Doch es war als vergleiche man Himmel und Hölle.

    Es waren einige Sekunden sowie fast all ihre Selbstbeherrschung vonnöten, um dem verlockenden Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Sich solchen Gelüsten hinzugeben war ihr von Kindestagen an abtrainiert worden. Über die Jahrhunderte war sie einigen Lehren ihrer Kindheit weitestgehend entwachsen, doch ihre Disziplin verbot es, sie gänzlich zu vergessen. Es würden zwangsläufig weitere, wichtigere Lektionen folgen und sie selbst schon bald nicht mehr die tödlichste Waffe der Welt sein.

    Für ein paar Sekunden schlossen sich Sheilas Augen und wirkten beim erneuten öffnen bereits wieder normal. Zumindest nach ihrem Maßstab. Für jeden anderen Menschen wären sie noch viel zu kalt und bedrohlich. Sie suchten nach der silbernen Iris Ryans und fanden einen skeptischen Blick vor. Sie erahnte seine Gedanken und gestattete sich nur unter dem verhüllenden Schal ein kleines, spöttisches Lächeln.

    „Du denkst, ich überschätze mich. Du denkst, ich würde Mila auf diesem Wege nur folgen.“

    Selbst wenn, so wäre das für sie in Ordnung. So lange sie nicht allein der Überzahl, sondern der Klinge eines würdigen Gegners unterlag.

    „Du liebst das Kämpfen genauso wie die Herausforderung, ist schon klar. Aber bei so einem Gewaltmarsch kommt im besten Fall ein…“

    „Im besten Fall?“, unterbrach sie ihn, erneut mit etwas Spott, da er ihr offenbar Wunschdenken unterstellte.

    „Ich gehe immer vom schlimmsten Fall aus.“

    Diese Lektion sollte doch selbst den Menschen der heutigen Generation geläufig sein. Ein Unglück kam nicht allein. Das Unglück bringt seine Freunde immer mit.

    „Rechne immer mit dem verheerendsten Ereignis, das du dir vorstellen kannst, dann wird dich nichts überraschen oder schockieren. Du wirst für alles gewappnet sein und kannst dem Schicksal, gleich wie es letzten Endes aussehen mag, reuelos ins Gesicht sehen.“

    Ryan hatte die Lippen geschürzt. Er konnte der Assassine durchaus folgen. Vermutlich hatte diese Denkweise ihr in der Vergangenheit – vor allem in der fernen – oft das Leben gerettet, da nie ein Szenario eingetreten war, für das sie keinen Plan gehabt hatte. Doch was, wenn etwas noch Schlimmeres geschah, als das Schlimmste, das sie sich vorstellen konnte? Allein da sich ihm sofort diese Frage stellte, könnte er diese Einstellung nicht unterstützen. Aber das war bekanntermaßen bei weitem nicht die einzige, welche die beiden nicht teilten. Und auch hier würde Ryan nicht versuchen, sie Sheila auszureden.

    Es gab ab hier nichts mehr, das er ihr zu sagen hätte und umgekehrt galt vermutlich dasselbe. Zudem hatte dieses Gespräch ihm vermutlich genügend Stoff zum Nachdenken gegeben, sodass er sich daran müde grübeln oder zumindest die Nacht über seine Gedanken damit beschäftigen konnte, falls seine Schlaflosigkeit anhielt. Daher stemmte er sich träge auf die Beine und wandte sich bereits zum Gehen. Nur etwas wollte er noch loswerden, versuchte dabei vorsichtig zu klingen und nicht weiter zu gehen, als Sheila zustimmen würde.

    „Dann hoffe ich umso mehr, dass Mila weiterlebt und du dich nicht Hals über Kopf in deinen glorreichen Tod stürzt. Ich fang nämlich an, deine Gesellschaft mehr und mehr zu schätzen.“

    Diesmal verbarg Sheila ihr Lächeln nicht einmal. Zwar hatte der Schal noch immer ihren Mund verhüllt, doch hörte man es deutlich aus ihrer Stimme. Es lag natürlich keinerlei Wärme oder Güte darin.

    „Wie töricht.“

    Ryan hörte es, stoppte aber nicht mehr. Er schluderte wieder an seinen Schlafplatz und hoffte, doch noch ein wenig Ruhe zu finden. Als habe jemand dort draußen seine Gedanken gehört und wollte sie sofort zerschlagen, erklang von weit her ein geradezu entsetzliches, brutales Brüllen. Andrew, der ebenfalls noch immer wach lag, schreckte hoch und sah alarmiert auf. Ryan stand vor ihm und sah mit leicht offenem Mund in den Nachthimmel. Der Rest schlief nach wie vor, sodass sich die beiden Trainer bloß stumm ansahen. Dem Echo nach musste die Quellen des Gebrülls Kilometerweit entfernt sein. Es gab nur sehr wenige Pokémongattungen, die einen so mächtigen Schrei ausstoßen konnten.

    Sheila sah nur kurz aus dem Augenwinkel zu ihnen rüber. Anschließend betrachtete sie das Stück Birke, an dem sie geschnitzt hatte. Es war unfertig, doch allein von der Form her unverkennbar der Kopf eines Brutalanda.

    „Gute Nacht Ruby.“