Kapitel 52: Der Märtyrer
Andrew wusste nicht so recht, wie er Ryans jüngste, persönliche Erfolge einstufen sollte. Neidisch war er definitiv, dass sich in so kurzer Zeit gleich zwei seiner Pokémon entwickelt hatten. Missgunst verspürte er aber keine. Wieso denn auch? Weil sie schon in der nächsten Runde seine Gegner sein könnten? Dieser Grund wäre lächerlich. Er hatte schon immer den Kampf gegen starke Widersacher gesucht. Von den Schwächeren lernte man nichts und er verspürte auch ganz einfach keinen Spaß. Andrew mochte Herausforderungen und noch lieber meisterte er sie. Psiana und Kangama hatten zudem weit mehr Erfahrung vorzuweisen, weswegen es keinen Grund gab, sich vor Guardevoir und Sumpex in die Hose zu machen.
Was also nagte bezüglich seines Kumpels an ihm? Wäre es arg vermessen, wenn er das Gefühl hätte, Ryan würde ihm hier die Show stehlen? Ihm den Rang ablaufen? Das wäre eine Möglichkeit, die er sowohl seinem Wettkampfeifer als auch seinem Ego durchaus zutrauen würde. Und wenn das der Fall war, gab es glücklicherweise einen ganz einfachen Weg, das gerade zu rücken.
Sein Gegner war diesmal zuerst aufgerufen worden und erwartete Andrew bereits, als er den Weg zu seinem vorgewiesenen Platz zurücklegte. Das tat er, Jamie Gregory, nicht gerade mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. Klar waren sie Konkurrenten, aber bei Arceus, der sah ihn an, als wolle er nicht gegen seine Pokémon kämpfen, sondern sie klauen. Er war abermals eine kräftige Gestalt, allerdings nicht so, wie Dan Hayes. Der war gebaut gewesen, wie ein Fitness Coach. Gregory dagegen wie jemand, der einen solchen ganz gut brauchen könnte. Traurigerweise musste er hierauf an einen der beiden Blindgänger denken, die auf ihrer Überfahrt nach Hoenn Zoff mit ihm und Ryan angefangen hatten. Ein wenig Unrecht tat er seinem Gegner damit dann doch, denn der strahlte unbestreitbar Konzentration und Scharfsinn aus und sein im Rival-Check eingesehenes Portfolio ließ vermuten, dass er wenigstens ein bisschen was von seinem Handwerk verstand. Er rückte eine knallrote Mütze aus dünner Wolle auf seinem Kopf zurecht, unter der einige dunkle Dreadlocks hervorlugten, während eine Brise den Saum seines grauen Sweatshirts auffing. Dieses zeigte eine Ansammlung verschiedener, recht böse dreinblickender Pokémon im Graffiti Design. An dunklen und sehr weiten Jeans hingen mehrere Ketten herab.
„Wenn du schlau bist, drehst du dich wieder um“, hieß er Andrew willkommen und machte einen entschlossenen Schritt nach vorn, worauf jene Ketten mit einem Klimpern einstimmten. Erinnerte etwas an die Ringe, die Terry am Handgelenk trug. Das förderte die Sympathie genauso wenig, wie es seine Worte taten.
„Sicher, dass du das willst? Du würdest mein charmantes Gesicht verpassen“, konterte Andrew und platzierte sich lässig in seiner auf dem Kampffeld markierten Zone. Gregory schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf. Auf ein verbales Gefecht schien er sich allerdings nicht einlassen zu wollen. In dem Fall musste man sich fragen, was er denn mit diesem Satz hatte bezwecken wollen. Hatte er echt gedacht, Andrew damit einschüchtern oder verunsichern zu können?
„Hat´s dir schon die Sprache verschlagen?“
Während Andrew seinerseits etwas stichelte – das tat er ohne böse Absichten oder ihn ernsthaft Schmähen zu wollen – holte sein Gegenüber bereits einen Pokéball hervor. Dabei spuckte er abfällig auf den Boden.
„Ha-llo-o, hast du was an den Ohren?“, erkundigte sich Andrew weiter, der keine große Eile hatte, sich kampfbereit zu machen. Der gejagte, mürrische Blick von Gregory sowie dessen nette Begrüßung hatten den Wunsch geweckt, ihn etwas zu provozieren.
„Oder liegt die Problemzone eher dazwischen?“
Damit schien er ihn am Haken zu haben.
„Du quatscht wirklich so viel und so dumm, wie die Leute behaupten.“
Ganz klar, der Typ kannte Andrew bereits und war ihm nicht wohlgesonnen. Für seinen Geschmack nahm er das hier jetzt schon etwas zu ernst und verbissen. Welch Ironie hinter diesem Gedanken seitens Andrew steckte, für den es doch bei diesem Turnier um weit mehr ging als für die meisten anderen Teilnehmer. Gregory würde im Schlimmsten Fall eine Niederlage gegen einen der Toptrainer Johtos, der nie etwas getan hatte, das diese Abneigung rechtfertigte, zu verkraften haben. Es gab bestimmt frustrierende Möglichkeiten. Er selbst dagegen stünde womöglich noch einem erbitterten Rivalen oder sogar einer regelrecht verhassten Feindin einer kriminellen Organisation gegenüber. Und selbst unter diesen Umständen fand Andrew noch einen Weg, das Ereignis ein bisschen zu genießen. Tja, manche hatten Probleme...
„Gleich geht´s los und ich kann euch sagen, ich bin angespannt wie ein Tauros. Gregory oder Warrener, wer gesellt sich unter die besten vier?“, gab Cay zum Besten, als Andrew endlich einen Pokéball aus seiner Umhängetasche fischte. Selbige wurde dann zu seiner Rechten einfach gen Boden fallen gelassen, da er den zweiten in verkleinerter Form bereits jetzt ganz unauffällig in die Jackentasche schob. Musste keiner wissen, dass die Wahl für beide Pokémon seinerseits schon feststand. Das Grinsen auf Andrews Wangen war von vorfreudiger Natur. Jetzt stand für ihn nämlich erst einmal eine weitere Prämiere bei diesem Turnier an.
„Auf geht´s, Scherox!“
Ryans Aufmerksamkeit erhöhte sich, als der Lichtblitz des Pokéballs ein insektenartiges, aufrechtstehendes Wesen preisgab, dessen gesamter Körper mit einer blutroten Metallpanzerung überzogen war. Vier große Käferflügel, schmale Gliedmaßen, die in wuchtigen Scheren endeten, für welche die Spezies weitreichend bekannt war. Ein durchstechender Blick zeugte von Kampfeslust und einer gewissen Skrupellosigkeit. Natürlich war Andrews Scherox nicht völlig brutal oder gnadenlos, aber es gab keinen Grund, den Gegner nicht in diesem Glauben zu lassen.
Gregorys Pokémon war ein großer Geist von betongrauer Farbe. Auf dem Bauch zeichnete eine gelbe Musterung eine fiese Fratze. Der Kopf war unnatürlich schmal, kaum mehr als ein Docht auf dem ansonsten sehr massigen und breiten Geisterkörper. Dieser besaß, wie bei vielen Vertretern dieses Typs, keine Beine, sondern nur einen Geisterzipfel. Aus einer finsteren Höhle starrte ihn ein einzelnes, rot leuchtendes Auge an.
„Zwirr-finst“, raunte das Wesen unheilvoll.
Cay schien die Paarung sehr zu gefallen. Wie überraschend. Der würde vermutlich sogar einem Kampf zwischen Mirapla und Dummisel mit Euphorie entgegenfiebern.
„Gregory tritt mit einem Zwirrfinst an. So eins hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Warrener schickt Scherox an den Start. Heißt, kein Typenvorteil, aber jede Menge Kampfkraft.“
Wohl nicht das treffendste Wort. Beide konnten ordentlich austeilen, das stimmte, aber während Scherox mehr auf handfeste Gewalt setzte, würde sein Gegner den direkten Kontakt nicht allzu häufig suchen. Geister kämpften bevorzugt anders. Hinterlistiger und verwegener. Sicher stellte Zwirrfinst keine Ausnahme dar.
„Beide Trainer bereit? Der Kampf beginnt.!“, eröffnete der Schiedsrichter und Gregory fackelte nicht lange, den ersten Zug zu machen.
„Fang an mit Irrlicht.“
Über den riesigen Händen entflammten drei blaue Fackeln, die Zwirrfinst zu umkreisen begannen. Dieses schien zu einem Wurf auszuholen. War diese Bewegung wirklich nötig?
„Antworte mit Agilität.“
Tatsächlich sausten die Flammenkugeln erst auf den Metallkäfer zu, als Zwirrfinst die Hände in dessen Richtung streckte. Genauso gut hätte Gregory versuchen können, eine Sternschnuppe zu treffen. Scherox war eine Sekunde lang für das menschliche Auge komplett verschwunden und tauchte in einigen Metern Entfernung wieder auf. Um den Gegner zu verwirren, ließ Andrew dies einige Male wiederholen, um bloß keine Angriffsfläche zu bieten. Sollten sie dennoch angreifen, würde der Poltergeist niemals imstande sein, als erster seinen Schlag auszuführen.
„Jetzt Fluch!“, befahl Gregory dann plötzlich, was Andrews Theorie nichtig machte. Mit diesem Angriff konnte Zwirrfinst nicht verfehlen und er ihm auch nicht dazwischenfunken. Er richtete sich nämlich gegen den Anwender selbst. Aus dem Boden stieg ein dunkelvioletter Ring empor, der schwarzen Nebel absonderte und mit einigen kryptischen Runensymbol gezeichnet war. Zwirrfinst war direkt im Zentrum dieses Kreises. Und sogleich entluden sich mehrere Schattenblitze aus diesem Konstrukt direkt auf das Geistpokémon.
„Oh, das ist fies. Falls ihr es nicht wusstet, das ist einer der Gründe, warum man den Burschen Märtyrer nennt. Der nimmt keine Rücksicht auf Verluste und Scherox wurde gleich zu Beginn mit einem Fluch belegt. Klingt verrückt, ist aber so.“
Besten Dank für die Analyse, Cay. Andrew würde den Kampf nun unter Zeitdruck austragen. Sein Gegner hat sich durch den Einsatz von Fluch zwar selbst geschwächt, aber je länger Scherox nun kämpfte, desto mehr würden dafür seine Kräfte schwinden. Fragte sich, ob man einen Geist-Typen denn so flott ausnocken konnte. Hätte er mal Magnayen gewählt. Mit seiner erhöhten Geschwindigkeit würde er jedoch im Vorteil sein und auch die Schlagkraft dieser Gattung war nahezu unerreicht. Er musste nur ein einziges Mal nahe an Zwirrfinst herankommen.
„Mach Tempo, Scherox und dann Metallklaue!“
Noch einmal demonstrierte das Käfer- und Stahlpokémon seine Schnelligkeit, hastete von links nach rechts, hinter seinen Gegner und gar direkt vor dessen Nase, nur um den Abstand nach einem Wimpernschlag wieder zu vergrößern. Das Surren der Insektenflügel hörte man trotz des ständigen Verschwindens unablässig, ließ jedoch unmöglich den genauen Standort erahnen. Jamie Gregory zeigte sich wenig beeindruckt.
„Wir bleiben ruhig. Doppelteam.“
Just in dem Moment, als Scherox eine silbern aufblitzende Schere in seine Seite hatte schlagen wollen, duplizierte sich Zwirrfinst um ein Vielfaches. Das Trugbild verschwand, bestimmt zehn weitere verblieben und umzingelten Scherox.
„Jetzt wieder Irrlicht!“
Diesmal gab es kein Entrinnen. Andrew konnte nicht riskieren, den Kreis aus den Ebenbildern des Geistes einfach blind zu durchbrechen. Er würde Tür und Tor für einen weiteren, verheerenderen Angriff öffnen. Die blaue Flamme traf direkt auf die gepanzerte Brust. Für eine Sekunde ging sie auf den ganzen Körper über und brannte mit höllischer Erbarmungslosigkeit. Als wäre das nicht genug, erschien urplötzlich ein Ring um Scherox, der einen schwarzen Nebel absonderte und den Effekt von Fluch verdeutlichte. Violette Blitze schlugen in seinen Leib, ließen die Nerven unkontrolliert zucken und zerrten Scherox mit einer unsichtbaren Kraft gen Boden. Nur mit Mühe konnte er sich auf den dünnen Beinen halten. Es fühlte sich an, als würden seine Muskeln und Organe gequetscht und er zudem gleich ersticken. Nur in den schlimmsten Alpträumen würde man dieses Gefühl nachvollziehen können. Gnädiger Weise hielt es nur für einen Atemzug an, obwohl Scherox Wahrnehmung ihm etwas Anderes erzählte.
Cay erläuterte Andrews missliche Lage für die weniger kundigen Zuschauer, während er nach einem Ausweg suchte. Natürlich wartete Gregory nicht geduldig ab, bis sich ein solcher fand und befahl Finsterfaust. Das kam nicht unerwartet. Fast jedes Pokémon des Typs Geist konnte diese Attacke erlernen und sie war äußerst zuverlässig. Man konnte ihr im Grunde unmöglich ausweichen, sie höchstens abblocken. Na, was ein Zufall, dass Stahlpokémon hierfür etwas in der Hinterhand besaßen.
„Eisenabwehr!“
Ein metallischer Glanz legte sich über das eigentlich matte Rot von Scherox Körper, während die wuchtigen Scheren vor der Brust gekreuzt wurden. Zwirrfinst hätte genauso gut auf einen Amboss einschlagen können. Die Schattenfäuste, sie sich von seinen eigenen lösten hatten nicht das Geringste bewirkt. Und für den Angriff hatte Gregory die Deckung durch Doppelteam aufgeben müssen. Der bemerkte nun seinen Fehler und schluckte.
„Metallklaue, gib´s ihm!“, rief Andrew aufgepeitscht. Es fühlte sich immer befriedigend an, einen wendigen und tückischen Gegner endlich eins reindrücken zu können. Der erste Schlag wurde mittig auf dem Körper platziert, ehe die zweite Schere mit einem Sprung gegen die Schläfe geschmettert wurde. Zwirrfinst polterte über den sandigen Boden, während Scherox geschickt wie ein Athlet landete. Die beeindruckende Pose wurde jäh unterbrochen, als sein Körper ein weiteres Mal von einer blauen Flamme entzündet wurde und den Chitinpanzer ansengte. Der Schrei konnte diesmal unterdrückt werden, doch der Käfer sank auf ein Knie und keuchte ein paar Male schwer. Es war noch zu früh für eine Pause. Er musste den Schmerz ertragen, durfte nicht zulassen, dass er ihn lähmte. Ein violetter, runenverzierter Ring erschien urplötzlich, kaum dass Scherox sich unter Zähneknirschen aufgerichtet hatte und malträtierte ihn mit Schattenblitzen.
„Warrener schlägt zurück und das mit Schmackes. Aber Irrlicht und Fluch zehren an Scherox. Er muss das hier schnell über die Bühne bringen, wenn er Runde eins gewinnen will.“
Überflüssig, aber korrekt festgehalten. Andrew brauchte eine satte Schlagkombo, mit der er Zwirrfinst sofort Matt setzen konnte, oder er durfte bald einem Rückstand hinterherlaufen. So sicher er auch war, das Ding selbst in diesem Fall noch rumreißen zu können, würde er natürlich einen Teufel tun, sich so einfach kleinkriegen zu lassen. Wurde Zeit, dass Gregory lernte, was für ein Sturkopf ihm gegenüberstand.
„Schwerttanz, los!“
Scherox konnte schon im Normalzustand böse austeilen. Mit der Stärkung durch Schwerttanz wurde das Pokémon zu einem Abrisskommando. Erneut wurden die Scheren vor dem Körper gekreuzt und ein Kreis aus Lichtpunkten zeichnete sich sogleich auf dem Boden ab. Mehrere leuchtende Schwerter erhoben sich daraus und umkreisten ihn in zunehmendem Tempo. Der nächste Angriff musste nun verheerend für Zwirrfinst enden. Dieses schüttelte sich kurz und begab sich rasch wieder in die Schwebe.
„Jetzt steig hoch.“
Auf der Gegenseite wurden die Augen skeptisch verengt. Warrener musste doch klar sein, dass mit dem nächsten Effekt von Irrlicht und Fluch Scherox sicher abstürzen würde. Gerade letzterer bewirkte mit jedem Mal größere Schmerzen und in Bälde dürften sie gar für eine Ohnmacht sorgen. Er wollte wohl auf´s Ganze gehen und die erste Runde mit diesem Angriff entscheiden. Sollte er nur. Eben noch war Gregory zu unbeholfen gewesen, war zu überhastet in die Offensive gewechselt, ohne die Abwehrmechanismen des Gegners in Betracht zu ziehen. Jetzt aber musste er selbst nicht mal einen starken Treffer landen. Allein Scherox für ein paar Sekunden länger zu bedrängen, bis die Zeit die restliche Arbeit erledigte, wäre genug.
„Zwirrfinst, nimm Schattenstoß!“
Auch damit war zu rechnen gewesen. An sich war diese Pokémon Gattung nicht gerade schnell, doch Schattenstoß glich die natürliche Schwäche aus. Audrey hatte auf denselben Trumpf gesetzt, um Sandra in die Parade zu fahren. Der graue Geisterkörper versank im Boden, wo nur noch ein schwarzer Schatten die Position verriet. Diesen anzugreifen würde sich genauso aussichtsreich gestalten, wie den Wind einzufangen. Obwohl sich Scherox in der Höhe befand, würde einer schnellen Attacke wie dieser nicht zu entrinnen sein. Nur war es nicht in Andrew Sinne, wegzulaufen oder auszuweichen.
Der Schatten löste sich vom Boden. Schneller als das Auge folgen konnte war er direkt vor Scherox und blähte sich zu der massigen Gestalt von Zwirrfinst auf, eine geballte Faust bereits im Anschlag.
„Patronenhieb!“
Scherox dagegen brauchte gar nicht erst ausholen. Seine natürlichen Primärwaffen verschwammen für das menschliche Auge fast völlig in diesem überwältigenden Hagel aus Schlägen, von denen sich jeder wie mit einem Morgenstern anfühlte. Zwirrfinst war überrumpelt worden. Patronenhieb war ebenfalls eine Technik, die blitzschnell angewandt werden konnte. Addiert mit der ohnehin wahnsinnigen Geschwindigkeit des Metallkäfers war dieser noch um eine Vielfaches schneller als sein Gegner, selbst wenn der Schattenstoß anwandte.
„Geh über zu Metallklaue!“, schrie Andrew in den Himmel. Es musste aus dem Momentum alles rausholen, was ging. Jede Sekunde konnte Fluch ihn ausbremsen und Zwirrfinst eine Angriffschance bieten, was vermutlich gleichbedeutend mit Scherox´ K.O. wäre. Immer und immer wieder sauste er an dem zunehmend hilflosen Zwirrfinst vorbei und hieb mit seinen riesigen Scheren in die Seiten. Gregory versuchte Anweisungen zu geben, aber die schienen gar nicht anzukommen. Kein Ausweichmanöver, kein Gegenangriff. Es folgte ein gewaltiger Hieb direkt auf den dünnen Schädel, der das Geistpokémon gen Boden schmetterte. Von den Tribünen aus konnte man das mit bloßem Auge nicht bestätigen, aber der Klang ließ erahnen, dass der Einschlag einige Spalte in das Kampffeld gerissen hatte. Das war die perfekte Position. Andrew battle die Faust und deutete an, sie eigens auf Zwirrfinst niedergehen zu lassen.
„Jetzt machen wir den Laden dicht. Kreuzschere!“
Die tödlichen Klauen von Scherox kreuzten sich vor der Brust, doch dann entflammte der Körper auf einmal wieder mit hellblauem Feuer. Ein kurzer Aufschrei, dann war der Schmerz schon wieder vorbei. Aber Scherox taumelte bedenklich in der Luft, konnte sich kaum noch oben halten.
„Oh, ganz bitter. Das hätte der entscheidende Schlag werden können, aber Irrlicht funkt Warrener dazwischen.“, beobachtete Cay aufmerksam. Ja, Irrlicht hatte Gregory einen Moment Luft verschafft. Nur reichte ihm dieser nicht ansatzweise aus, um den Kampf herumzureißen. Der nächste Effekt von Fluch ließ noch auf sich warten. So eine Scheiße.
Zwirrfinst hörte zudem seine Kommandos kaum noch und konnte sich anscheinend nicht mehr in der Schwebe halten. Der wuchtige Körper zitterte noch immer am Boden und kam nicht hoch. Dann blieb ihm nur eine Option. Und mit dieser musste er sich sputen, denn Scherox war trotz der jüngsten Schwächung durch Irrlicht weiter im Anflug! Mit einem energischen Krampfgebrüll sowie einem anspornenden Ruf seines Trainers begleitet schickte sich das Insekt daran, die angeordnete Kreuzschere auszuführen.
„Abgangsbund!“
Zwirrfinst öffnete doch noch einmal das Auge, schlug die Hände ineinander und streckte sie mit einer weit ausholenden Bewegung von sich. An seiner Brust glimmte ein violetter Lichtpunkt auf und fast im selben Augenblick erschien ein zweiter direkt auf Scherox´ Körper. Wie ein flimmerndes Fernsehbild erschien eine Kette aus schwarzem Nebel, die beide miteinander verband. Später würde Andrew überlegen, ob es in diesem Moment besser gewesen wäre, abzubrechen, aber die Entscheidung war hinfällig, da der Einschlag erfolgte, noch ehe er hierfür Luft geholt hatte. Diesmal konnte man sicher sein, dass Zwirrfinst im wahrsten Sinne in den Boden gestampft worden war. Bis der gemeine Zuschauer sich dessen vergewissern konnte, musste man sich jedoch gedulden, bis die Wand aus dickem Staub sich legte. Cay hielt das Warten kaum aus. Er schwärmte von der Kraft dieser Kreuzschere sowie dem eisernen Durchsetzungsvermögen und sprang vermutlich in seiner Kabine auf und ab. Ein weiteres Mal zehrte der Effekt von Fluch an Scherox Kräften und ließ ihn mit einem Knie gar auf den Boden sinken. Er weigerte sich aber unbeugsam, hier zu fallen.
Gregory stieß einen tiefen Atemzug aus und rümpfte die Nase. Er wusste selbst, wie das Resultat aussah.
Zwirrfinst war tatsächlich in einen Spalt hinein geprügelt worden, der sich unter ihm aufgetan hatte. Die Arme und ein Stück vom Unterleib ragten noch daraus empor – allerdings regungslos, genau wie der restliche Körper. Als der Schiedsrichter dann gerade eine Fahne erhob, wurde urplötzlich das Nebelband wieder sichtbar, das Zwirrfinst eben noch mit Scherox verbunden hatte. Der Käfer sah verdutzt an sich herab.
Für den Beobachter schien weiter gar nichts zu geschehen. Das Pokémon aber stieß einen fürchterlich erstickten Laut aus und warf den Kopf in den Nacken, als wolle es schreien. Die Arme verkrampften kurz, wurden dann sogleich taub und hingen lasch herunter. In den sonst so kühlen, scharfen Augen stand plötzlich ein Grad an Erschöpfung geschrieben, dem eigentlich nur noch die sofortige Ohnmacht oder gar Schlimmeres folgen konnte, da man längst alle Grenzen des Körpers und der Vernunft weit hinter sich gelassen hatte. Schließlich kippte Scherox zur Seite und blieb liegen, als sei sein Leben ausgehaucht. Kein Zucken, Kämpfen, Klagen oder Jammern. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man Scherox glatt für tot halten.
So melodramatisch es auch aussah, so einfach war der Ausgang jedoch erklärt. Eben den machte der Unparteiische nun offiziell.
„Zwirrfinst und Scherox können beide nicht mehr weiterkämpfen!“, rief er mit einem Wink beider Fahnen.
„Wir haben ein doppeltes K.O.!“
Damit hatte Cay, der die Situation für alle weniger Bewanderten im Publikum sogleich genauer erörterte, nur in Teilen Recht. Gregorys Pokémon war definitiv zuerst kampfunfähig gewesen. Abgangsbund nahm jedoch den Gegner gnadenlos mit sich, wenn der Anwender unmittelbar danach das Bewusstsein verlor. Wären dies die beiden letzten Pokémon gewesen, die den Trainern zur Verfügung standen, so würde Andrew nun als Sieger ausgerufen werden. So weit war man aber in diesem Match noch nicht.
Andrew schnaufte mitgenommen und strich sie die Haare zurück, ehe er beide Hände in die Seite stemmte. Eigentlich hätte er auch damit rechnen sollen. Nach allem, was er im Rival-Check über Jamie Gregory gelesen hatte, war ob seiner Entscheidung, mit einem Geistpokémon anzutreten, der Einsatz von Abgangsbund von Anfang an nur eine Frage der Zeit gewesen. Eben bis zu dem Moment, als Scherox mit Kreuzschere angegriffen hatte. Das Blatt zu wenden hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt und somit hatte er sich entschieden, wenigstens ein Unentschieden rauszuholen. Taktisch clever. Aber offen gesagt stieß diese Taktik bei Andrew auf eine enorme Portion Missachtung. Klar lernten seine Pokémon Attacken wie diese oder auch Explosion und Finale von selbst und waren somit fester Bestandteil ihrer Natur. Aber unter Vorsatz darauf zu spielen, sie gezielt einzusetzen, sie zum Dreh- und Angelpunkt seiner Strategie zu machen, war ihnen gegenüber einfach bloß ungerecht und respektlos.
Apropos Respekt – für seinen aufopferungsvollen Einsatz erhielt Zwirrfinst kein Wort des Lobes oder Dankes. An der Art, wie Gregory die Lippen schürzte, vermutete Andrew eher, dass er sich ein paar tadelnde Worte verkniff, als er seinen Partner zurückrief. Wohl, um sich vor seinem Gegner keine Blöße zu geben. Idiot. Für seinen lächerlichen Stolz sollte sich kein Trainer jemals zu schade sein, die Leistung seiner Pokémon angemessen zu würdigen. Andrew versuchte jedoch, sich nicht allzu lange mit Gregory zu beschäftigen. Seine Gedanken mussten klar und fokussiert bleiben.
„Ein guter Kampf, Scherox. Gönn dir die Pause.“
Er war mit dem, was er beobachtet hatte, sehr zufrieden. Größere Bedenken, Scherox könne dem Niveau des Summer Clash nicht gewachsen sein, hatte er zwar nicht gehabt, aber sein Anruf in die Heimat war doch arg kurzfristig gekommen. Nur eine kurze Einheit hatte er gestern mit Scherox trainieren können, um den Rost abzuschütteln. Von Null auf Hundert, sozusagen. Aber so eine kämpferische Natur lag selbst abseits seines Trainers nicht bloß auf der faulen Eisenhaut. Scherox konnte sehr wohl eigenständig trainieren und besaß zudem den ebenso eisernen Willen, sich stetig zu verbessern. Er hatte seinen Job hier gut gemacht. Den Rest konnte er Psiana überlassen. Sein Blick senkte sich in heißblütigem Tatendrang und Eifer. Auch in dieser Runde wollte er eine Kampansage an Bella senden.
Andrew wartete nicht länger, die Prinzessin auf´s Kampffeld zu rufen. Dabei hätte er laut Regelwerk durchaus warten können, bis auch sein Gegner wieder einen Ball in den Händen hielt. So aber lud er diesen ein, eine möglichst vorteilhafte Wahl zu treffen.
„Oho, ist das Selbstverstrauen, oder hat Warrener jetzt gepennt? Er hat sich sehr schnell für Psiana als zweites Pokémon entschieden.“
Wenn hier gleich einer einpennt, dann du, Cay – so antwortete der Johtonese in Gedanken und stellte sich vor, wie er ihm sein Mikro auf den Kopf schlug. Gregory sollte mal hinne machen. In solchen Unterbrechungen war es schwieriger, den Stadionsprecher zu ignorieren.
Dieser schmunzelte hämisch, als bedaure er den Idioten, der sich gerade ins eigene Fleisch geschnitten hatte. Er holte seinen nächsten Pokéball nur äußerst langsam hervor.
„Bist ein ganz schöner Angeber, Warrener. Du weißt was, man über Hochmut sagt?“
Wollte der jetzt mitten in ihrem Duell wieder ein verbales Gefecht beginnen? Oh, für sowas war Andrew wirklich jederzeit bereit.
„Tu nicht so, als könnte jemand wie du mich belehren. Du weißt ja vermutlich nicht mal, wie man Wasser aufkocht.“
Diese arrogante Antwort nahm Gregory als Bestätigung war.
„Genau das meine ich.“
Schade, dass sie beide sich nicht schon in den Katakomben über den Weg gelaufen waren. Hätte sicher Spaß gemacht.
„Wenn´s dir nicht passt, dann mach was dagegen“, spottete Andrew und winkte ihn zu sich heran. Psiana schloss sich der Geste an und ging in eine tiefe Lauerstellung, die allerdings mehr Spieltrieb als Kampfeslust verdeutlichte. Eine eindeutige Geste, dass sie den Gegner nicht ernst nahm. Dass sie sich bestenfalls Unterhaltung von ihm erhoffte.
„Der Fall wird für dich umso härter, je mehr du quatschst“, betonte Gregory noch, als er seinen Ball vergrößerte. Eine wütend herausspringende Ader an seinem Hals schenkte nun wiederum Andrew süße Bestätigung.
„Bronzong, mach dich bereit!“
Das Pokémon, das Jamie Gregory gewählt hatte, mutete wie eine große Glocke in verschiedenen Blautönen an. Es schwebte über dem Boden und ließ jedem Ton, jedem Ruf seines Namens einen langen Schall folgen, genau wie eine echte Glocke, wenn man sie läutete. Zwei Verlängerungen an den Seiten der Oberkante kam den Eindruck von Armen nahe und reichten hinab bis zu den leuchtend roten Augen.
„Gregory schickt Bronzong ins Rennen. Dieses Viertelfinale wird also zwischen zwei Psychopokémon entschieden.“
War dies also das Pokémon, das sich der Märtyrer stets bis zum Schluss aufhob, um eine Reihe an Unentschieden in einen Sieg zu lenken? Entsprach irgendwie nicht dem, was Andrew erwartet hatte. Aber er musste gestehen, dass die Wahl keineswegs eine schlechte war. Bronzong waren unglaublich zäh, wie fast alle Stahlpokémon und konnten sehr viel einstecken, besaßen aber auf der anderen Seite auch selbst eine enorme Feuerkraft. Hätte er jedoch einen Unlicht-Typen gegen Psiana in der Hinterhand gehabt, wäre seine überdeutliche Zuversicht weit nachvollziehbarer gewesen. Bronzongs Ausdauer war weit überlegen, während Psiana den Vorteil der Schnelligkeit besaß. Somit herrschten hier sehr ausgeglichene Grundverhältnisse, sodass Gregorys feistes Lächeln eine mahnende Skepsis hervorrief, die zur Vorsicht riet.
Andrew biss sich entschlossen und voller Vorfreude leicht auf die Unterlippe. Vorsicht gewann keine Titel.
„Bereit, meine Süße? Dem Typen ziehen wir die Locken glatt“, meinte er noch rasch, ehe die zweite Runde dieses Matches eröffnet wurde.
„Bronzong, fang an mit Lichtkanone!“
Es war etwas verwunderlich, dass Gregory mit einem primär defensiv orientierten Kämpfer die Initiative übernahm. Soweit Andrew das beurteilen konnte, hatte er während des bisherigen Turniers bevorzugt den Gegner zuerst kommen lassen. Die Schwerfälligkeit und das Gewicht – Bronzong wogen sicher an die 200 Kilo – sah man dem Pokémon in der Schwebe keineswegs an. In einer geradezu unnötig überschwänglichen, fließenden Bewegung hievte es den Körper hoch und rotierte einmal flott, richtete dann die Öffnung am unteren Ende direkt auf die Psychokatze. Das Schwarz darinnen wurde plötzlich mit weiß- silbrigem Licht erhellt und ein Energiestrahl abgefeuert, der die Zuschauer in den ersten Reihen blendete. Andrew wies an, einfach auszuweichen. Solch unkreative Angriffe wären ein Klacks für die flinke Prinzessin. Die erwartete den Einschlag in aller Gelassenheit, saß ruhig und entspannt an Ort und Stelle und ließ den Doppelschweif sanft hin und her peitschen. Erst im allerletzten Moment spreizte sie alle Pfoten und sprang geschickt über den Energiestrahl hinweg. Bronzong hielt ihn ein paar Sekunden Aufrecht und schwenkte zur Seite, doch Psiana entging einem Treffer spielend ein zweites und auch ein drittes Mal.
„Der kleine Fellball ist echt auf Zack. Andrews Psiana hat keine Mühe, Bronzongs Lichtkanone auszuweichen“, beobachtete Cay, wies aber gleich darauf hin, dass Andrew auch mal selbst angreifen musste. Was ein Genie.
„Brems Psiana aus. Erdanziehung!“, befahl Gregory dann und deutete mit einer flachen Hand gen Boden. Über Bronzong knisterte plötzlich eine lila Energiemasse, wie ein Kugelblitz, der nach wenigen Sekunden verebbte. Mit seinem Verschwinden wurde Psianas feliner Körper auf einmal schwer. Es war, als sog der Boden sie an, wie ein Magnet ein Stück Metall. Sie konnte kaum noch die Füße anheben.
Andrews Augen verengte sich etwas. Manche Trainer setzten Erdanziehung gerne ein, um schwebende oder fliegende Pokémon auf den Boden zu zwingen, wo sie leichter zu schlagen waren. So leichtfüßige Geschöpfe wie Psiana wurden in ihrer Geschwindigkeit arg eingeschränkt, wodurch Bronzong einen natürlichen Nachteil ausgleichen konnte. Das Glocken-Pokémon wurde zwar ebenfalls gen Boden gesogen, schwebte nur noch sehr knapp über diesem, doch das brauchte Gregory wenig bis gar nicht zu kümmern. So lange keine wirksame Boden-Attacke zu erwarten war, gewann er durch den Einsatz von Erdanziehung deutlich mehr, als er einzubüßen hatte.
„Jetzt Gyroball!“
Bronzong begann, um die eigene Achse zu wirbeln. Die Arme wurden ausgestreckt und zeichneten einen Lichtring in die Luft. Eben mit diesem wurde nun nach Psiana gezielt, während es auf sie zuschoss. Durch Erdanziehung konnte es sich nur seicht vom Boden abheben, doch der blaue Stahlkörper pflügte unaufhaltsam durch den Sand, wiebelte ihn auf, riss Schlaglöcher in die Erde, wo die Unterkante sie streifte, ohne an Tempo zu verlieren. Von einem rollenden Felsen zerdrückt zu werden wäre vermutlich ein milderes Übel, als Bronzongs Gyroball zu spüren. Andrew hätte einfach mit Teleport das Weite suchen können, doch der Einsatz dieser Technik bedurfte jedes Mal viel Energie und einmal in Fahrt konnte so eine Gyroball-Attacke fast ununterbrochen fortgeführt werden. Weglaufen stellte also keine Option dar, mit der er einen Vorteil erreichen konnte. Naja, dann ging er eben gleich in die Offensive.
„Psychokinese, los!“
Die klugen Augen leuchteten bläulich auf, ehe eine gleichfarbige Auge Bronzong einhüllte. Gregory rümpfte spöttisch die Nase. Was dachte sich der Idiot denn dabei? Natürlich war Psychokinese in den meisten Fällen eine sehr starke Attacke, doch abgesehen von Unlichtpokémon, an denen sie überhaupt keinen Effekt zeigte, war sie gegen nichts so ineffizient, wie Stahlpokémon und eben anderen des Typs Psycho. Bronzong sollte von der Energie nicht einmal erfasst und fortgeschleudert werden und selbst wenn, würde sein robuster Körper das spielend wegstecken können. Tatsächlich geschah überhaupt nichts. Das eiserne Geschoss in Glockenform hielt unbeeindruckt auf Psiana zu und würde sie in wenigen Augenblicken aus dem Weg fegen, wie ein Tornado das gefallene Herbstlaub.
„Jetzt!“, rief Andrew dann plötzlich, worauf die Prinzessin mit einem scharfen „Psi-“ antwortete. Bronzong neigte sich unerwartet zur Seite und geriet außer Kontrolle. Seine Balance ging vollkommen verloren, sodass der nächste Kontakt mit dem Boden es zunächst straucheln ließ, bevor es sich dann unmittelbar vor Psiana wild überschlug. Die vermochte trotz der erhöhten Schwerkraft einen raschen Schritt zur Seite zu machen und einer schwerwiegenden Kollision zu entgehen, während Bronzong unkontrolliert über das Kampffeld polterte, wie ein sich überschlagender PKW. Der dumpfe Lärm des Metallkörpers ließ einen bei jedem Aufschlag zusammenzucken. Oben in einer verglasten Kabine schlug ein gewisser Stadionsprecher gar eine Hand vor das Gesicht und wagte kaum, den Crash mit anzusehen.
„Ooooh nein, das ging voll nach hinten los. Bronzong hat Psiana verfehlt und ist gestürzt.“
„Was?“
Gregory wirkte ungläubig und weigerte sich, die Realität zu akzeptieren. Psycho-Attacken waren fast wirkungslos gegen Bronzog. Wie stark war bitte dieses Psiana, dass ihre Psychokinese es dennoch aus der Bahn werfen konnte? Wenn er seinen Grips mal anstrengen würde, so war sich Andrew sicher, würde selbst er auf die Antwort kommen. Fakt war, dass die Psychokatze kaum einen Effekt hatte erreichen können, doch während des Einsatzes von Gyroball war es völlig ausreichend gewesen, Bronzongs Bewegung nur leicht anzuzwicken. Einen Sprinter in vollem Lauf brauchte man nicht mit einem wuchtigen Schulterstoß zu Fall zu bringen. Es genügte schon ein leichter Schubser oder das Stellen eines Beines. In so einer rasanten Bewegung war man einfach extrem anfällig für solche Nadelstiche.
So böse der Sturz auch ausgesehen und vor allem geklungen hatte, konnte das Glocken-Pokémon solche Einschläge über den halben Tag verkraften. Gregory versuchte durchzuatmen, seinen Verstand zu klären und die Konzentration wiederzufinden. Alles war okay, es war praktisch nichts passiert und nichts verloren. Er war doch gar nicht gezwungen, proaktiv zu handeln. Es genügte, den Kampf in die Länge zu ziehen und Psiana ein einziges Mal kritisch zu treffen, sobald sie müde und langsam wurde. Auch das war eine Taktik des Märtyrers. Bronzong war ausdauernd genug. Psiana konnte von ihm aus den ganzen Tag drauf feuern.
Eben Bronzong hob nun wieder vom Boden ab, aber nur für einen Moment, da die eigene Erdanziehung noch aktiv war. Die würde auch verhindern, dass Psiana die Distanz für einen schnellen zweiten Angriff aus nächster Nähe rechtzeitig überbrücken konnte. Einen solchen würde es schon brauchen, um mehr als nur Kratzer anzurichten. Zu Fuß brauchte Andrew es gar nicht erst versuchen. Hatte er aber auch nicht nötig.
„Jetzt Teleport, geh direkt unter Bronzong“, ordnete er an. Er klang hämisch und aufgeregt, freute sich jetzt bereits diebisch auf das, was gleich passieren würde. Der blaue Stahlkörper senkte sich gerade wieder herab, sodass die Gestalt der lavendelfarbenen Katze nur für einen Moment unter ihm erschien, ehe sie bis auf die Beine gänzlich darunter verschwand. Bronzong merkte das zu spät. Ebenso wie Gregory Andrews Plan erkannte.
„Spukball!“, schrie er mit geballter Faust. Unter Bronzong knisterte es bereits und Staub wurde aufgewirbelt. Als sich die von Psiana erschaffene Energiekugel gänzlich entlud, konnte man meinen, eine Landmine wäre hochgegangen. Das eigentlich so schwergewichtige Pokémon – 200 Kilo! – wurde in die Luft geschleudert, als sein es ein Pappbecher. Aus der unteren Öffnung rauchte es schwarz und violett. Zum zweiten Mal wirbelte Bronzong herum, überschlug sich, flog in einem hohen und weiten Bogen durch den halben Luftraum des Prime Stadiums.
„Au Mann, oh Mann, was war denn das? Psiana hat die verwundbarste Stelle getroffen und Bronzong nen Freiflug beschert!“ johlte es aus den Stadionlautsprechern, wurde von überwältigten Aufschreien aus der Menge begleitet. Manch einer sah fast mit einem Hauch Entsetzen, was diese kleine Katze mit ihrem Gegner angestellt hatte. Gregory zählte definitiv zu ihnen. Augen und Mund waren weit aufgerissen und aus letzterem drang lediglich ein fassungsloses Jauchzen. Das sollte ein Spukball gewesen sein? Vielleicht von Darkrai, aber doch nicht von einem Psiana. Auch Cay schloss sich der Meinung an, dass diese Kraft ans Lächerliche grenzte. Nebenbei bemerkte er, dass dieser Verlauf eher an ein Match von Ryan Carparso erinnerte. Ein, zwei Mal geschickt ausgewichen, den Gegner aus dem Konzept gebracht, seinen Angriff abgelenkt und mit einer einzigen verheerenden Attacke genau dort getroffen, wo es richtig weh tat. Ja, das erinnerte mehr als nur ein bisschen an den Kampfstil seines besten Kumpels. Hoffentlich ritt der später nicht drauf rum.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Bronzong endlich wieder mit dem Boden vereint war. Der Aufschlag war an jedem Ort des Stadions nicht nur deutlich zu hören, sondern auch zu spüren. Sein Trainer drehte sich, da es weit hinter ihm landete und zuckte fest zusammen, als habe er einen Stromschlag erlitten. Seine Beine zitterten. In seinem Kopf vibrierte alles. Ein dröhnender Gong lag in seinen Ohren und würde glatt seine eigenen Worte unhörbar machen. Die Arme wurde ob der aufgeschlagenen Erde schützend erhoben, wogen aber plötzlich dreimal so viel. Alle Fans, die Bronzongs Einschlagsort am nächsten waren, drücken rasch beide Hände auf die Hörorgane, aber das Schütteln und Vibrieren, dass diese Wellen noch selbst dahinter sowie in der Brust auslösten, mussten sie alle kompromisslos ertragen. Himmel, selbst die
Technik protestierte empört mit einem hohen Fiepen und Ächzen, als habe Cay sein Mikrofon einfach fallen gelassen. Von all diesen Auswirkungen war selbst in den Katakomben noch etwas zu merken. Während Ryan und Sandra sie allerdings an sich abprallen ließen und gespannt das Resultat dieser Attacke erwarteten, war Terry zum ersten Mal baff über Andrews Fähigkeiten. Und diese Tatsache machte ihn fast sauer. Was hätte dieses Psiana bei ihrem ersten Treffen wohl mit seinem Maxax anrichten können, hätte er sie nur ein einziges Mal richtig zum Angriff kommen lassen? Was wäre geschehen, wenn Andrew ihn durch ihren raschen Sieg über Washakwil nicht unterschätzt hätte? Abseits dieser drei regierte Bella auf diese Kraft gar mit einem zufriedenen Grinsen und nahm wieder mal einen genüsslichen Schluck. Von beidem wollte sie mehr.
Die Sicht wurde langsam wieder klar und das quälende Dröhnen ließ endlich nach. Der Einschlag hatte einen Krater in das Kampffeld geschmettert, in welchem sein Trainer sitzend komplett verbuddelt werden könnte. Sand war allerdings nachgelaufen, wodurch Bronzong tatsächlich diagonal mit dem oberen Körperviertel fest im Boden steckte. Der Schiedsrichter zögerte noch einige Sekunden und versuchte die Nachwirkungen in seinem Körper abzuschütteln, eilte sich dann aber schleunigst, Gregorys Pokémon für kampfunfähig zu erklären.
„K.O. nach nur einer Attacke! Un-glaub-lich!“ grölte Cay überwältigt, fast ungläubig, kaum dass das Resultat verkündet worden war. Streng genommen war es ihr zweiter Angriff gewesen, aber so kleinlich musste man jetzt nicht sein. Der Lärm, der von den Rängen ertönte, war primär ehrfürchtigen und fassungslosen Ursprungs. Sie alle hatten heute bereits viele Attacken, Manöver und Spektakel beobachten können, denen das Wort beeindruckend noch nicht gerecht wurde. Doch ein solcher Knaller von so einem kleinen, unschuldig dreinblickende Geschöpf…
Es war schwer, ein angemessenes Adjektiv auszuwählen. Aber Manche Dinge brauchten keine detaillierte Analyse. Hier brauchte es nur Beifall – in Massen.
Andrew drehte sich einmal, forderte vom Publikum zunächst die Aufmerksamkeit und Anschließen den Applaus. Beides, so gestikulierte er deutlich, sollte in aller Großzügigkeit seinem Psiana gespendet werden, die sich entspannt die Pfote leckte. Er wusste allerdings ganz genau, dass ihr der Jubel gefiel, doch eine Prinzessin musste schließlich die Etikette wahren.