„Ähm, 'Tschuldigung, ist der Platz hier noch frei?“
Verdutzt sah ich sie an, bevor ich den Stuhl ansah, ihn hochhob, nur um ihn kurz darauf wieder ab zu stellen. Verwirrt sah mich die Brünette an, unsicher, ob sie wieder gehen sollte.
„Ich habe kein Namensschild gefunden“, antwortete ich schließlich, „dass heißt hier ist wohl noch frei.“ Ich zuckte mit den Schultern, was meinem Gegenüber ein leichtes Schmunzeln entlockte.
„Gut, dann sollte ich da später vielleicht noch meinen Namen drauf schreiben, nicht, dass der nächstes Mal schon vergeben ist. Darf ich einen Stift haben?“
Ich zuckte erneut mit den Schultern, bevor ich ihr einen Eding reichte. Wenige Augenblicke später zierte die Unterseite des Stuhles ein in kursiv geschriebener Name: „Keksi“.
„Achtung, Einfahrt vom Regional Express Richtung Donauwörth auf Gleis 3“.
Leise schlich ich katzenartig über das Gleis des Bahnhofes, während die Geräusche der Fahrgäste langsam in meinen Ohren zu verklingen begannen. Nicht, dass ich sie vorher wahrgenommen hätte, nicht dass es mich interessieren würde, was sie zu sagen hatten. Das hatte es noch nie.
„Ich weiß wirklich nicht, wie du das machst. Du bist hoffnungslos, Keksi“.
Kopfschüttelnd sah ich ihr nach, wie sie fast durch die Hallen der Bibliothek flog, ihre Augen jede Ecke abscannten.
„Bist du sicher, dass du deine Campus Card hier verloren hast?“, fragte ich erneut, auch wenn sich die Antwort in den letzten 5 Minuten kaum geändert haben konnte.
„Ich schwöre ich mache das nicht mit Absicht“, jammerte sie, zum dritten Mal unter den Mülleimer sehend.
Seufzend trat ich an sie heran, bevor ihr ihr meine Hand auf die Schulter legte.
„Komm, ich kau dir ein Bounty und dann gehen wir zur Studienkanzlei und sagen, dass du deine Karte wieder verloren hast.“
Ihre Augen sahen mich so traurig an, dass ich dem Drang widerstehen musste, ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.
Inzwischen hatte ich den Bahnhof hinter mir gelassen, während mich die Decke der Nacht warm umschmiegte. Niemand hatte bemerkt, wie im Gebüsch verschwunden war, wie ich leise den Gleisen folgte, die in die Landschaft hinaus führten. Hinaus aus dem Bahnhof, hinaus aus der Stadt, hinaus. Einfach hinaus.
„Also ich weiß wirklich nicht, wieso jeder so einen großen Wirbel um diesen Film gemacht hat. Ich hab noch nicht mal einen Penis gesehen“.
„Man sagt nicht Penis, dass ist so … „, unterbrach mich Keksi.
„...autonomisch korrekt?“, lachte ich, was dazu führte, dass sie bockig die Arme verschränkte.
„OK, wie würdest DU es denn nennen, wenn Penis ein so böses Wort ist?“
„Banane?“, schlug sie vor. Sie sagte das so blitzartig, dass ich mich fragte, ob sie sich regelmäßig mit so etwas beschäftigte? Dachte sie über so etwas nach, bevor sie schlafen ging? Wenn sie gedankenverloren aus dem Fenster sah? Wenn sie einen Keks aß?
„Ich weiß nicht, wie du die Fortsetzung überleben willst. Da haben sie ja noch mehr Sex“.
„Es gibt eine Fortsetzung?!“, schrie sie, die Augen der anderen Kinobesucher auf uns ziehend.
Ich wusste nicht einmal wieso, doch das war die Aussage, die mich zum Lachen brachte. Das war die Aussage, die mir den Abend zum Highlight machte. Und das war die Aussage, die mich dazu brachte, mental bereits Karten für Fifty Shades of Gray 2 zu reservieren.
Sollte ich mich in den Dreck setzen oder stehen bleiben? Wie lange musste ich noch warten? Ich spielte damit mein Handy heraus zu holen, war mir aber nicht sicher, ob ich es überhaupt eingesteckt hatte. Wie spät war es noch einmal auf der Uhr im Bahnhof? Halb elf? Konnte das stimmen? Im Prinzip spielte es sowieso keine Rolle mehr, ob ich nun dreckig wurde oder nicht. Es spielte keine Rolle ob ich stand, ob ich mich hin legte.
Trotzdem wollte ich meine Jacke nicht dreckig machen. Also stand ich und wartete auf meinen Zug.
Hatte ich mich verhört? War ich sicher, verstanden zu haben, was ich dachte vernommen zu haben? Ich meine vielleicht hatte ich eine zu große Fantasie? Tagträume? Nahtoderfahrung? Koma? Das waren alles Möglichkeiten, die ich nicht außer Acht lassen konnte und sollte.
Also fragte ich erneut, wobei meinen Mund wohl nur ein komischer Laut entfuhr, der in der deutschen Sprache wohl als „Eh?“ aufgefasst werden konnte.
„G...gehst du mit mir aus? Ich meine… du musst nicht und – nur wenn du willst – und … also … weißt du was, es war eine dumme Idee. Vergiss es einfach. Ich meine … also … weißt du...“
In der nächsten Sekunde drückte ich sie an mich, ihr nicht mehr die Möglichkeit lassend, auch nur ein Wort heraus zu murmeln, auch nur einen Gedanken zu fassen.
„Ja“, hauchte ich. „So was von ja“, bestätigte ich, nur um sie etwas fester an mich zu drücken.
„Ich muss aber noch atmen, sonst wird das mit dem Date nichts mehr“, flüsterte sie.
„Atmen wird überbewertet“, lächelte ich, bevor ich mich dazu entschied meinen Griff zu lockern.
Zuerst war ich mir nicht sicher, was für seltsame Geräusche meine Jacke machte, bis ich realisierte, dass es mein Handy war, das gepiept hatte.
Sie haben eine neue Nachricht von Keksi
verkündete es mir stolz. Einen Moment sah ich mein Handy an, bevor ich es wieder in die Jacke stopfte. Keksis Nachricht blieb ungeöffnet.
„Sie müssen sich irren. Es … es liegt ein Fehler vor. Sind sie sicher, dass das Labor meine Ergebnisse nicht einfach vertauscht hat? Dass kann immerhin passieren…
„Hören Sie, es tut mir wirklich sehr Leid, doch es liegt ganz sicher kein Fehler vor. Vielleicht sollten sie erst einmal gehen, und mit Uschi einen neuen Termin ausmachen. Verarbeiten Sie es erst einmal. Ich bin sicher, es … [...]“
Den Rest hörte ich nicht mehr, da ich aus der Praxis stürmte.
Ich saß 15 Minuten im Auto, ohne mich zu bewegen. Dann schrieb ich Keksi:
„Falscher Alarm. Der Arzt sagt es geht mir gut :) „
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, fing ich an zu weinen.
Inzwischen lief ich auf und ab, während ich bereute keine Wärmere Jacke mitgebracht zu haben. Beim verlassen des Hauses schien es mir unwichtig, doch nun erkannte ich, dass der Wind stärker war, als gedacht. Man müsste meinen, es sei mir egal. Zu Tode frieren wollte ich aber nicht, also fing ich nun an herum zu hüpfen. Half nicht viel.
„Wir könnten immer noch versuchen … „
„Würde es etwas bringen“, unterbrach ich.
„Es besteht die Chance, dass …“
„Ob es etwas bringen würde“.
„Dass kommt drauf an, wie ...“
„Lügen Sie mich einfach nicht an!“
Ich wandte mich ab, drückte die Tränen zurück, die sich in mir bildeten, sodass ich die Antwort meines Arztes fast verpasst hätte.
„Nein“.
Ich war sicher, das Handy bereits seit Stunden an zu sehen, während ich damit rang, ob ich die Nachricht öffnen sollte oder nicht. Es war nicht so, als ob der Inhalt jetzt noch eine Rolle spielte, oder? Es war nicht so, als ob ihre Worte mich noch retten konnten, oder? Es war nicht so, als wollte ich, dass sie etwas änderten, oder?
Fluchend tippte ich die Nachricht an:
„Ich gehe ins Bett. Bis morgen :-) Hab dich lieb ♥ „
„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“
In der Dunkelheit des Zimmers konnte ich ihre sonst so schönen Augen nicht erkennen, konnte nicht sehen, wie sie mich musterten, wie sie glänzten. Ich sah nur ihre Figur, die neben der meinen lag.
„Wieso fragst du?“, hauchte ich.
Sie antwortete nicht. Ich glaubte schon, sie sei eingeschlafen, als mich ein leises Flüstern vom Gegenteil überzeugte.
„Ich liebe dich“.
Sie warf es einfach so in den Raum. So, wie man jemand nach dem Wetter fragt. So, wie man sich nach den Sportergebnissen erkundigt.
„Ich dich auch.“
Um 22:49 packte ich mein Handy wieder in meine Tasche. Aus der Ferne konnte ich bereits das herannahen meines Zuges vernehmen, das Quietschen der Gleise hören, das Schlagen der Steine, das Schreien des Windes.
Ich schloss die Augen und machte einen Schritt.
Mein Zug fuhr vorbei.
Nach einem Augenblick drehte ich mich um und lief zurück.
Als ich das Auto erreichte schrieb ich Keksi:
„Bis morgen :-) Ich dich auch ♥ „