Reges Treiben erfüllte die Straßen mit Stimmen, Schritten und metallischen Geräuschen, die von Autos und Motorrädern von den Straßen und alten Karren auf den Bürgersteigen kamen. Die Menschen drängten sich aneinander, zogen sich bei kleinsten Bewegungen einzelner Passanten auseinander, wenn sich einige im Schritt umdrehten, weil sie etwas vergessen hatten oder an einem Geschäft vorbeigelaufen waren, während die große Mehrheit weiterging. Niemand fiel in dieser Menschenmasse auf.
Wirklich, die Menschen verloren in dieser Situation jeden Individualismus und wurden zum Teil der laufenden, grauen Menge. Für einige war es wohl eine langweilige Situation. Doch sie war perfekt für jene, die nicht auffallen wollten. Immer nur in eine Richtung gehend, immer leise.
Und Miranda war eine dieser Personen, die gerne in der Menge untergingen. Ein Flüchtling des Lebens, von der Vergangenheit und all den Vergehen, die in der Zeit begangen wurden, verfolgt. Ja, das passte bei ihr haargenau.
Langsam lief sie mit der Menge, die über die Straßen der großen Stadt gingen und voller Hast ihren Zielen entgegenstrebten.
Alle Wunder, die die Zeit von Natur aus in sich barg, hatten diese Menschen überwunden und nun vergaßen sie sogar ihr Glück ein normales Leben leben zu können zu würdigen. Wie konnte man nur so schnell vergessen, was einem geschenkt wurde?
Dinge, um die Miranda all diese normalen Menschen nur beneiden konnte.
Wie gerne wäre sie ein Teil der Vergessenden. Ein Teil der normalen Welt.
Aber das war ihr nicht mehr möglich. Wie auch? Sie war eine Verbrecherin des Lebens, die nicht gewusst, nein, nicht erkannt hatte, was sie für eine Schandtat beging. Eine von vielen, die vom Charisma der Intrigen, der Schönheit des Unrechts geblendet worden war, willenlos der Vorstellung, etwas Dauerhaftes und Großartiges zu erzeugen und vor allem eine bessere Welt zu schaffen, gefolgt war. Allen Wesen ein besseres Leben ermöglichen war ihr offenkundiges Ziel gewesen.
Doch diese Blendung war eben auch nur ein Zustand, der es so an sich hatte, dass selten etwas Gutes darauf folgen konnte.
Viel zu spät erst erwachten sie aus den Träumereien, denen sie erlegen waren, nachdem das Charisma der Person, die sie alle so leicht überzeugen konnte, wie ein Vorhang einer Theaterbühne gefallen war, gescheitert war und das wahre Angesicht des Mannes zum Vorschein kam.
Alte Erinnerungen, die die Geblendeten für lange Zeit verdrängt hatten, flackerten wieder in ihren Köpfen auf und so langsam erkannte jeder von ihnen die Missetaten, die sie im Namen der falschen Gerechtigkeit begangen hatten. Nicht nur Miranda, sondern viele andere ebenso. Ihre Schwester. Ihr Bruder. Viele ihrer Freunde.
Die gläsernen Wände der Hochhäuser erhoben sich weit in die Höhe und überstiegen sogar noch die Wolken über Mirandas Kopf.
»Sogar der Champ war schon hier und hat für sich und seine Pokémon Eis geholt! Es ist also wirklich große Klasse!« ... »Okay, ein einzelnes Stratos-Eis oder gleich eine Packung mit zwölf davon?« ... »Okay, einen schönen Tag wünsche ich noch!«, rief eine Dame hinter einem Verkaufsstand, an dem in großen Buchstaben „Stratos-Eis – sogar der Champ genießt es“ stand. Ein erinnerungsreiches Lächeln zog sich über die Lippen der jungen blonden Frau, die Miranda war, und sie schaute sich den kleinen Jungen an, der ein wenig überfordert die große Packung Eis in den Händen hielt und immer wieder fröhlich „Der Champ! Der Champ war auch hier!“ murmelte.
Der Champ. Einalls stärkster Trainer.
Inzwischen war es ein Jahr her, seitdem sie aus der Illusion erwacht waren. Und das waren sie nur wegen dieses jungen Mannes, der mit seinen Pokémon nicht nur ihren Bruder, sondern auch ihn besiegte. G-Cis. Mirandas Vater.
Ein Jahr zuvor...
Der goldene Thronsaal hatte schon bessere Zeiten erlebt. Die riesigen Kronleuchter leuchteten nur noch wenig, viele Lampen waren beim Kampf zerstört worden. Die nun dämmernde Wirkung ließ das Bild vor ihren Augen wirr und wenig real wirken. Hinzu kamen die andauernden Rufe von dutzenden Männern und Frauen, die immer wieder etwas wie „Schnell raus hier, das Schloss stürzt ein!“ schrien und jedes Mal stehen blieben, wenn sie sahen, was sich in diesem einen Saal abspielte.
Der grünhaarige, junge Mann war besiegt, seine Pokémon hatten nicht gegen die des Trainers gewinnen können, dessen Augen Besonnenheit und Güte zeigten.
Dies war kein Kampf des Kampfes willen gewesen. Dies war ein Kampf, der alles entscheiden sollte. Ein Kampf, der allen zeigen sollte, wie die Welt sich verändern würde. Und sie würde sich nach dem Ausgang dieses Kampfes auf ewig ändern. Der Traum der Trennung von Mensch und Pokémon war geplatzt, all das Bestreben der Vereinigung nun ohne Nutzen.
Mit traurigen Augen schaute Miranda in Richtung ihrer Schwester, Amanda, deren pinkes Haar im dämmernden Licht so viel farbloser erschien als es eigentlich war. Auch sie schien hoffnungslos zu sein, doch das sollte nicht die Emotion sein, die die junge Frau von diesem Tag behalten sollte.
Langsam gingen die Schwestern einige Schritte in Richtung ihres Bruders und Vaters. Doch sie sollten nicht so schnell bei den beiden ankommen...
Ein lautes Geräusch weckte Miranda aus ihren Gedanken.
Inzwischen war sie aus dem Zentrum der Stadt raus und im großen Nationalpark der noch größeren Stadt angekommen, mit dem sich die Bewohner von Stratos City gerne schmückten. Denn trotz der vielen Menschen, die in dieser Stadt lebten, war dieser Park stets ruhig und nur wenige Menschen waren in der Nähe. Das konnte aber auch daran liegen, dass es zu regnen begann.
Woher jedoch war das Geräusch gekommen?
Sie drehte sich langsam um und erschrak. Mit einer Sekunde schwanden alle Gedanken, die in ihrem Kopf herumschwirrten.
»Miranda! Da bist du ja! Wir haben dich so lange gesucht und nun haben wir dich endlich gefunden«, rief ein Mann in dunkler Kleidung, die sie bereits gut kannte, die an militaristische Uniformen erinnerte und an deren linker Brusttasche die Insignie ihrer verfluchten Vergangenheit prangerte. Das Logo von Team Plasma.
Ihr Herz begann sofort zu rasen. Sie konnte nicht mehr entkommen. Sie hatten sie gefunden. Aber das hieß nicht, dass sie aufgeben würde. Ganz im Gegenteil.
»Ihr habt mich nicht gefunden. Ich hab euch hierher gelockt«, sprach Miranda selbstsicher, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatte die letzten Monate nur gehofft, dass dieser Moment nie kommen musste, aber dafür war es nun zu spät.
»Los, Tiny, zeig ihnen, dass wir keine Angst vor kleinen Rüpeln haben!«, rief sie nun etwas lauter, zog ihren Pokéball aus der rechten Tasche ihres weiten, hellgelben Kleides und ließ sofort darauf das Blitza erscheinen. Nebenbei nahm sie noch einen Armreif ab, den sie neben sich zu Boden legte, damit der nicht während des Kampfes verschwand.
Die spitzen Nadeln des Fells knisterten und ließen starke elektrische Ladung erahnen. Jetzt konnte der Kampf beginnen.
»Dann mal los, Rokkaiman!«, meinte der Rüpel spöttisch und lachte höhnisch. Er schien sie tatsächlich zu unterschätzen, obwohl er wusste, wer sie war und woher sie kam. Hastig fügte er hinzu: »Setze dein Erdbeben ein und mach schnell kurzen Prozess!«
»Tiny, Ladungsstoß gegen den Baum hinter Rokkaiman, solange dieses seine Attacke einsetzt und sich nicht bewegen kann«, hieß es von ihr daraufhin nur.
Wie sie gesagt hatte, tat das Blitza es auch sogleich. Schnell sprang es in die Luft, fokussierte den Strom auf einer Stelle und peilte damit direkt den Baum an einer niedrigen Stelle an, welche beinahe sofort zu brennen begann und dann auf das Boden-Pokémon fiel. Schlagartig stoppte das Erdbeben und der Rüpel schaute wütend seinem ohnmächtigen Pokémon hinterher.
Ohne sein anderes Pokémon zurückzurufen, zückte er den nächsten Pokéball aus seiner Tasche und schrie: »Nun bist du dran, Hydragil!«
»Jetzt konterst du also mit Geschwindigkeit? Das ist schlauer als es mit den groben Typvorteilen zu versuchen, aber auch das wird dir nicht helfen«, erklärte Miranda mit echter, freundlicher Stimme, mit einer Emotion also, die anderen in dieser Situation wohl niemals einfallen würde, und fügte kurz darauf hinzu: »Blitza, setze Agilität ein und dann Donner.«
Der Regen, der schon seit einigen Minuten die Umgebung mit Wasser nährte, wurde immer stärker und die Attacke, die sonst so eine hohe Fehlerquote hatte, würde nun mit Sicherheit treffen. Jetzt war es soweit, Blitzas wahre Stärke zu zeigen.
Ein lautes Knurren ertönte aus der Kehle des Pokémon, das immer schneller und schneller wurde und erneut hochsprang, um die Elektrizität zu bündeln und mit einem gezielten Angriff auf das Käfer-Pokémon abzufeuern.
»Rihornior, fang den Angriff ab.«, ertönte eine männliche Stimme, die Mirandas Haare zu Berge stehen ließ. Die Stimme war von einem von ihnen.
Aquilus, der Weise des Westens.
Er war nicht nur schon einer der ältesten Weisen, sondern auch einer der grausamsten. Außerdem war er neben Violaceus der einzige, der von Anfang an wusste, welche Absichten G-Cis wirklich hatte.
»Blitza, halte ein und setze deinen Doppelkick ein!«, rief sie nun etwas unsicherer. Sie durfte nicht verlieren, aber dieser Kampf würde umso schwerer werden.
»Hol dieses Vieh aus der Höhe und beerdige es in deinem Sandgrab«, sagte der Mann, der inzwischen neben dem Rüpel aufgetaucht war und diesem mit der rechten Hand auf die Schulter klopfte. Der Rüpel war nur ein Ablenkungsmanöver gewesen und dafür würde er sicherlich reichlich belohnt werden.
Das Rihornior war für seine Masse unglaublich schnell, sprang einen Meter in die Höhe und schlug das Blitza mit seinem riesigem Arm zu Boden, um einen kleinen Sandsturm um dieses Pokémon zu bilden, der sich nicht ausbreitete, sondern sich nur auf einen Punkt konzentrierte – der Rücken ihres Partners.
Lautes Jaulen, das von schrecklichen Schmerzen kündete, entfuhr seiner Kehle nur. Jetzt konnte sie nichts anderes mehr tun und den Tränen nah schrie Miranda: »Hör auf, ihm wehzutun! Ich komme mit euch..«
»Das wollte ich doch nur hören.«
Ein breites, zahnloses Lächeln breitete sich auf den faltigen Zügen des bärtigen Manns aus, der ein braunes Gewand aus sehr festem Material trug, das sich wohl sehr gut für Kämpfe eignete, an denen der Mann aber eigentlich nur von außerhalb mitwirkte.
Gemächlich schritt er um den Sandsturm herum, peilte auf sie zu und meinte dann schlicht: »Dann legt ihr mal die Handschellen um.«
Hinter ihr erschienen sofort zwei weitere Rüpel, die ihre Hände in kapselförmige Objekte einschlossen, welche wie Magnete zusammenschlugen und sie somit fesselten. »Nun befreie meinen Partner auch von seinen Schmerzen, du widerwärtiges Monster!«, fauchte sie den Weisen an, während ihr eine Träne die Wange hinunterrollte.
Der Mann lachte daraufhin nur und sprach: »Dabei ist es gerade so interessant. Aber okay.
Rihornior, du kannst es beenden.
Ach, und verbindet ihr noch den vorlauten Mund.«
Die Rüpel nickten und noch ehe Miranda schreien konnte, war ihr Mund mit einem bitter schmeckenden Tuch geknebelt, das mit Sicherheit in irgendein Mittel getaucht worden war.
Das Rihornior schlug mit seinem Arm noch einmal auf den liegenden Körper ein. Das Fiepen hörte auf.
Mirandas Lider wurden schwer.
»Hättest du deinen Vater nicht verraten, wäre dir das erspart geblieben«, gab er höhnisch von sich. Langsam schlossen sich ihre Augen und sie begann zu schlafen.
Zwölf Jahre zuvor...
Die kleine Miranda war gerade zehn Jahre alt geworden und saß an einem Tisch neben Amanda in einem großen, leeren Raum. Vor sich fand sie einige Stifte, ein Heft zum Schreiben und ein Buch, auf dessen Vorderseite „Komplexe Zahlen und die Evolution der Mathematik aufgrund dieser“ stand. Ihr Vater hatte sie gezwungen, dieses Buch durchzuarbeiten und wollte am Abend eine Erklärung hören, warum „e hoch i mal Pi“ -1 ergibt.
Doch wie es für ein Mädchen ihres Alters üblich war, verstand sie nicht, was das Buch ihr hierbei erklären musste. Stattdessen ließ sie ihre Beine baumeln und zeichnete ein Zoroark in das Heft, in dem die mathematische Aussage stand, aber sonst nichts anderes. Künstlerisch hatte Miranda schon immer mehr Talent gehabt als logisch, aber ihr Vater wollte das nicht anerkennen.
»Ich versteh das einfach nicht!«, motzte das kleine Mädchen und lehnte ihren Kopf auf ihre Handinnenfläche, rollte ein paar Stifte hin und her und schaute auf die Tür, denn es klopfte.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein Mann in einem braunen Gewand, edel und feierlich, kam in den leeren Raum. »Aquilus, bitte, hilf mir! Ich weiß, mein Papa hat gesagt, du sollst uns nicht helfen, weil wir sonst nichts lernen, aber ich verstehe es nicht und will ihn nicht enttäuschen!«, sprach Miranda flehend und schaute ihn umso eindringlicher an.
Kurz überlegte der Mann mit den dunkelgrauen Haaren und nickte dann.
»Aber sag deinem Vater davon nichts!«, mahnte Aquilus das kleine Mädchen und setzte sich neben sie, während Amanda still an ihren Aufgaben saß. Sie war schon immer die lernwilligere der beiden Schwestern gewesen.
Auch Miranda nickte und setzte sich dann direkt an das Buch, das der Mann nun auf Seite 21 aufgeschlagen hatte.
»Also, „e hoch i mal Pi“ ergibt -1, weil „e hoch i mal phi“ genau das Selbe meint wie „Cosinus von Phi plus i mal der Sinus von Phi“, wobei Phi eben eine variable Zahl ist. Sobald Phi den Wert von Pi erreicht, rechnest du also „Cosinus von Pi plus i mal der Sinus von Pi“, wobei der Cosinus dabei den negativen Wert von Eins erhält und i mal der Sinus Null, denn i² ergibt ja ebenso Null. Und -1 plus Null ergibt am Ende dann eben -1, denn wenn ich Null addiere, kommen null Werte mehr dazu und wir sind noch immer an derselben Stelle wie zuvor. Verstanden?«, fragte der Mann freundlich und schaute dem blonden Mädchen in die Augen.
Miranda erwiderte: »Nein, ganz und gar nicht, aber ich hab es mir notiert, also kann ich das ja so vortragen. Vielen Dank! Du bist der Beste, Aquilus!«
Während Amanda belustigt kicherte, drückte Miranda den alten Mann.
Ja, sie mochte Aquilus von allen Weisen am liebsten, denn er half ihr immer, wenn sie Probleme hatte.
Ihre Augen öffneten sich wieder.
Miranda fand sich in einem Hubschrauber wieder, dessen Boden mit rotem Samt ausgelegt war, goldene Verzierungen an manchen Stellen besaß und allgemein sehr edel wirkte. Sie selbst saß auf einem gepolsterten Sofa, das in einem bordeauxroten Stoff eingebunden war, ihre Hände immer noch in den Kapsel eingesperrt.
»Das Prinzesschen ist also wieder wach. Das freut mich. Bald nämlich sind wir auch schon zu Hause. Dein Vater wird sich mit Sicherheit auf dich freuen, meine Teuerste«, sprach Aquilus, dessen Stimme in ihrem Kopf nur Schmerz und Panik auslöste.
»Dann können wir ja nun reden, denn, wie du weißt, bist du nicht die einzige Person, die wir finden wollen, auch wenn du zu den fünf höchsten Prioritäten auf Platz Drei zu finden bist«, setzte er fort, als würde er gerade eine Information vermitteln wollen, die Miranda sowieso schon lange wusste, was auch stimmte, doch sie traf die Kälte in diesem Moment sehr.
»Wo ist deine Schwester? Wo ist N?«, fragte er eindringlich und meinte zu einem Rüpel mit braunen Haaren und blauen Augen: »Nimm ihr mal den Knebel ab, jetzt hört sie eh niemand mehr schreien.«
Vorsichtig trat der junge Mann auf sie zu und kniete sich zu ihr runter, blickte traurig auf den Knebel und schnürte den Knoten auf, der sich inzwischen in den Nacken Mirandas gebohrt hatte. Es schien ihm beinahe Leid zu tun, dass sie geknebelt war.
»Von mir erfährst du nichts, du ekelhaftes Stück Dreck«, erwiderte Miranda mit einer bedrohlichen Intensität in der Stimme, die davon zeugte, wie sehr sie den alten Mann vor sich verabscheute.
»Und so etwas schimpfte sich „Muse des Friedens“. Benimm dich deinem Titel also anständig und sprich! Dir wird dann auch nichts passieren«, führte der Mann weiter ausgeglichen aus und hatte noch immer einen Anflug des höhnischen Spotts auf seinen Zügen. Wenn eines klar war, dann die Tatsache, dass nicht sicher war, wer wen hier mehr verabscheute, auch wenn Miranda noch eine Nasenlänge voraus schien.
»Wie kannst du erwarten, dass ich meine Prinzipien übergehe und dir so etwas sage? Im Gegensatz zu dir besitze ich noch Ehre, denn mir war immer nur das Wohlergehen der Lebewesen unserer Welt von Bedeutung. Dir jedoch ging es nur um Macht und du hast sogar eine falsche Miene aufgesetzt, als du uns geholfen hast. Es ging dir nie um uns. Es ging dir immer nur um dein Ansehen bei G-Cis, damit du auch deine Machtposition behalten kannst. Aber du hast nie auch nur ansatzweise an Violaceus heranreichen können und das weißt du. Aber dennoch versuchst du es immer weiter. Ekelst du dich eigentlich nicht manchmal vor dir selbst? Ich an dei...-«
In diesem Moment war der alte Mann voller Wut aufgesprungen und hatte ihr mit seiner Hand ins Gesicht geschlagen. Die Riemen des metallischen Handschuhs, den er trug, gruben sich in die Wange der jungen Frau und hinterließen eine sengende Hitze in ihrem Fleisch. Tränen stiegen in ihr hoch und sie konnte sich nur schwer halten, nicht zu wimmern vor Schmerz. Sie konnte jetzt keine Schwäche zeigen. Nicht jetzt.
Inzwischen saß Aquilus schon wieder und sprach mit wenig aufgebrachter Stimme weiter: »Fein, wenn ich die Informationen nicht aus deinem kleinen Mund erhalte, dann wird es dein Vater wohl umso besser können. Du weißt ja, wie gut er mit unsittlichen Menschen kann. Das wird aber sicherlich kein Spaß für dich. Umso mehr aber für mich. Und notfalls finden wir sie einfach selbst, indem wir ihnen ein Mahnmal schicken. Mir fiele da jetzt auf Anhieb schon eine Menge ein.«
Ein Tag zuvor...
»Bist du dir wirklich sicher, dass du alleine nach Stratos City solltest? Wir werden noch immer gesucht und es scheint nicht, als würden sie jetzt gerade aufgeben wollen. Es wäre viel sicherer, wenn ich mit dir kommen würde. Oder zwei der Hüter. Wir sind zwar weniger als die Rüpel, aber wir sind stärker. Aber auch nur, weil wir zusammenhalten. Also lass einen von uns mitkommen!«, redete Amanda in das Gewissen ihrer Schwester, die gerade angekündigt hatte, in die größte Stadt zu gehen, um dort einige Erledigungen zu machen und einen alten Freund zu treffen, was keinen der Anwesenden, ganz besonders Amanda nicht, sonderlich begeistert hatte.
»Ich sag es einfach noch mal: Mit Tiny und Lilium bin ich geschützt genug, wenn du mitkommst und wir angegriffen werden, ist jede Hoffnung, Team Plasma zu vernichten, dahin, und wenn zu viele Hüter mitkommen, fällt es auf. Alleine bin ich einfach schneller und falle weniger auf. Außerdem wurde Regen angesagt, da ist es eh unwahrscheinlich, dass ich auffalle. Du darfst mir ruhig etwas mehr zutrauen, Amanda«, antwortete Miranda ihr aufmunternd.
Diese nickte nur, setzte sich hin und erwiderte: »Fein, aber pass auf dich auf und ruf an, wenn du angekommen bist, damit wir sicher sein können, dass alles gut ist!«
»Werde ich machen, Schwesterchen«, meinte Miranda, umarmte ihre Schwester und ging aus dem Haus, das in Marea City stand, hinaus.
»Ich werde trotzdem aufpassen«, flüsterte Amanda.
»Gib ihr aber eine Stunde Vorsprung, damit du ihr nicht so stark auffällst. Du wirst schon früh genug wieder in ihrer Nähe sein«, meinte Rubius, einer der beiden Weisen, die aus Team Plasma ausgetreten waren, nachdem die Wahrheit ans Licht gekommen war.
Widerwillig nickte Amanda und blieb sitzen.
Währenddessen lief Miranda die Klippe hinunter zur Straße, ließ ein Taxi anhalten. Durch den Einallsee-Tunnel ging es schneller als über die Brücke.
»Zielperson gesichtet. Erwarte weitere Instruktionen vom Hauptquartier.«
Der Hubschrauber war zehn Minuten vorher abgehoben, als Amanda ankam. Sie sah zwar eine zerstörte Fläche, einen umgerissenen Baum, der an einer Stelle verbrannt war, und übermäßig viel Sand, doch keine Spuren von Menschen.
Ihr Herz wollte nicht aufhören zu rasen und mit leicht zitternden Händen nahm sie den Pokéball aus der Gürteltasche und wisperte: »Los Psiana, hilf mir, Miranda zu finden.«
Kurz darauf erschien im blauen Licht das pinke Pokémon, dessen Juwel in seinem Kopf sofort blau zu leuchten begann. Es dauerte einen Moment, doch bald jaulte das Psiana laut auf, sprang hinter den umgefallenen Baum und verweilte dort.
Amanda folgte ihr und als sie sah, was sich dort befand, hielt sie sich die Hände vor ihren Augen. Es war Tiny, Mirandas Blitza, das auf grausame Weise dort liegen gelassen wurde, verletzt und mit nur noch wenig Leben in den Adern.
Neben ihm lag ein Armreif, der ganz klar Miranda gehörte. Sie war also hier gewesen. Und jetzt war sie es nicht mehr. Es musste also auf jeden Fall etwas mit ihr passiert sein, denn sie hätte Tiny nie zurückgelassen. Niemals.
Ohne zu zögern zog Amanda einen weiteren Pokéball aus dem Gürtel und rief damit ein Heiteira, dessen Augen grün leuchteten und von Weisheit und Stärke sprachen.
»Danke für die Suche, Amaryllis. Dandya, benutz Weichei und hilf Tiny. Es darf nicht zu spät sein«, flehte Amanda Dandya und ebenso das Leben an. Tiny war ein langjähriger Partner von beiden Schwestern und auch wenn Tiny der Pokémon-Partner ihrer Schwester war, hatte sie das Blitza auch lieben gelernt, denn es war immer für sie da gewesen.
Das Heiteira hielt seine Hände an den zitternden Körper des Elektro-Pokémon und gab ihm etwas der großen Kraft, die es besaß. Und, Amanda dankte Arceus dafür, es funktionierte.
Doch es würde nicht überleben, wenn es nicht in Sicherheit gebracht wurde.
»Dandya, renn nach Marea City mit Tiny und bring es zu Rubius. Er wird wissen, was passiert ist. Danach komm zum Ort unserer Vergangenheit. Dort werden wir Miranda finden, da bin ich mir sicher«, sprach Amanda. Das Heiteira nickte, nahm das Blitza auf die Arme und rannte los. Wenn ein Pokémon den Weg in kurzer Zeit schaffen konnte mit Zusatzgewicht, dann war es Dandya.
»Amaryllis, wir werden uns nun schon aufmachen. Tiny wird durchkommen«, fuhr sie fort und hebte ihren Kopf gen Himmel: »Wir retten dich aus seinen Fängen. Das verspreche ich dir, Miranda.«
Es wird weitergehen...