>>Kapitel III Das Haus am Stadtrand<<
Juli
Die Uhr zeigte sechs. Uhren logen nicht, sie wahren erbarmungslos, ohne Gnade. Juli blinzelte, dann stöhnte sie genervt. Mist. Verdammt. Sie musste aufstehen. Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch ihr Fenster, hüllten den Raum in ein warmes Licht. Was war passiert? Hatte sie geträumt? Sie hatte Noel getroffen, ein wirklich seltsamer junger Mann. Von draußen hörte die Vögel zwitschern. Ihre Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Steh auf Juli! Träge streckte sie ihre Hand in Richtung ihres Nachtisches aus und ertastete mit den ihren Fingerspitzen einen Knopf. Für einen Moment ruhten sie nur dort. Nur noch eine Minute. Vielleicht auch zwei. Nein. Das Piepen stoppte und sie blinzelte. Sehr gut und jetzt-. Schwerfällig erhob sie sich aus ihrem Bett. Auf dem Boden, Bett und Schreibtisch - überall lagen ihre Unterlagen verteilt. Sie hätte nicht mehr lernen sollen. Es war eine schlechte Idee gewesen, aber wenn sie das Semester nicht bestand, was dann? Mit einer schnellen Handbewegung fischte sie einen Block und Stift aus ihrem Bett und verstaute ihn in ihrer Tasche. Im ganzen Haus herrschte eine gespenstische Stille. Für einen Moment machte ihr Herz einen Satz. Schlief ihre Mutter noch? Leise bewegte sie sich durch den Flur. Fast geräuschlos öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. Da war sie. Ganz seelenruhig saß ihre Mutter am Wohnzimmertisch. Ihr Blick klebte am Bildschirm des Laptops, also schlich sich Juli, so leise, wie es ihr nur irgendwie möglich war, zum Kühlschrank, öffnete ihn und griff gezielt nach den Resten von gestern.
„Du, schon wach? Heute nicht verschlafen?“ Juli wirbelte herum. Ihre Mutter sah in ihre Richtung und grinste. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Sie hat heute wieder nicht geschlafen? Richtig?
„Ich eh...hab ich dich gestört? Tut mir leid.“
„Nein, nein, keineswegs. Ich wollte sowieso gerade eine Pause einlegen. Willst du einen Kaffee?“ Sie war gerade im Begriff aufzustehen, da winkte Juli schnell ab.
„Nein, bleib sitzen. Du hast schon genug zu tun. Ich mach uns Kaffee.“
„Aber ich kann-.“
„Schon gut.“ Schnell griff sie nach dem Kaffeefilter und kramte den Milchaufschäumer aus einer der Schubladen hervor. „Latte?“ Juli sah ihre Mutter nicht an, vielleicht weil sie ihren Blick schon kannte und wusste, was sie dort finden würden, noch ehe sich ihre Augenbrauen zusammenziehen könnten.
„Das wäre nett.“ Die Milch zischte, doch bevor sie anbrennen konnte, drehte Juli schnell die Flamme runter. Sie schäumte die Milch auf und goss den Milchschaum zum Rest des Kaffees.
„Hier.“ Die Tasse schlitterte über den Tisch, ehe sie ihre Mutter erreichte.
„Das ist lieb Schatz.“ Ding Dong. Ein Klingeln löste Juli aus ihrer Starre. „Machst du bitte auf? Ich musst noch-.“
„Natürlich.“ Wer zum Teufel konnte das sein? Um halb sieben?! Als sie den langen Flur durchschritt, schüttelte sie den Kopf. Sie zog Türe auf, dann blinzelte sie irritiert und rieb sich die Augen. Träume ich noch? „Noel du-“
Tatsächlich, dort stand Noel O´Neil. Richtig, sie hatte ihm gestern noch ihre Adresse gegeben. Er hatte sie sich gemerkt? Heute trug er einen braunen Mantel mit grünen Streifen. Seine Augen waren wach und musterten sie aufmerksam, während seine Mundwinkel nach oben huschten. Sie hatte nicht geträumt, diesen Noel gab wirklich. Als sie die Tür aufzog, winkte er ihr zu. Sie traute ihren Augen immer noch nicht. Er stand mitten im Hausflur des Wohnkomplexes.
„Guten Morgen Juli.“ Noel grinste, sah allerdings an ihr vorbei, geradeaus in die Wohnung. „Hier wohnst du also.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Worüber denkst du jetzt schon wieder nach? „Schade.“
„Wie?“
„Naja. Ich dachte es wäre etwas-.“
„Was dachtest du?“
„Naja, etwas ausgefallener...abgedrehter.“ Seine Augen wurden zu Schlitzen. „Lebst du alleine?“
„Wieso?“
„Nur so aus Interesse.“
„Meine Mutter wohnt mit mir, aber sie ist beschäftigt.“
„Du wohnst also mit deiner Mutter zusammen? Das ist toll. Muss schön sein mit jemanden zusammen zu leben.“
„Ja.“ Er hatte recht. So hatte sie das nie betrachtet. Und dennoch wünschte sie sich nur ein wenig mehr Selbständigkeit in ihrem Leben. Vielleicht alleine in einer Wohnung zu leben, so wie ihre Kommilitonen, die ihr schon um so viel voraus waren, die ihre eigene Familie hatten und so viel mehr erreicht hatten. „Es ist halb sieben.“ Sie konnte es immer noch nicht so recht glauben.
„Hm?“ Noel legte den Kopf schief und warf ihr einen fragenden Blick zu. „Und?“
„Naja...also...ist es nicht zu früh, um zu klingeln?“
„Ist es das? Ich weiß es nicht, ich wollte nur sichergehen, dass wir die Vorlesung nicht verpassen.“
„Du willst heute schon die Vorlesung besuchen?“
„Ja. Und jetzt komm mal in die Pötte. Ich warte hier schon seit ner halben Stunde. Moment...zu direkt?“ Noel kratzte sich am Kinn.
„Um Himmels Willen.“ Ihre Augen wurden groß. „Seit 30 Minuten?!“ Was zum Teufel-. „Was hast du dir dabei gedacht?! Und was hast du die ganze Zeit überhaupt gemacht?“
„Was ich gemacht habe? Also...die meiste Zeit habe ich gelesen. Ich weiß ja nicht wann wann die Vorlesung beginnt, also wollte ich auf Nummer sicher gehen. Ich habe da ein paar tolle Bücher in der Bibliothek gefunden, willst du sie auch einmal lesen?“
„Nein, also...ich meinte nur-.“
„Schade, sie sind echt lesenswert.“
„Hm. Vielleicht.“ Zögerlich sah er erst zu ihr, dann wieder auf den Boden.
„Also...ich weiß nicht wieso du hier noch herumsteht, aber meinst du nicht das wir langsam losgehen sollten? Ich meine, von mir aus können wir hier auch noch weiter im Flur stehen, aber ich bin mir nicht sicher ob das-.“
„Oh stimmt ja.“ Julis Gesicht wurde heiß. Wie peinlich. „Natürlich.“ Sie eilte wieder durch den Flur, griff hastig nach ihrer Tasche und dem Lunchpaket, sagte noch ein flüchtiges „Tschüss Mum-“ und war auch schon wieder im Begriff zu gehen.
„Du hast es aber heute eilig Schatz? Ist das da draußen ein Freund von dir?“ Ihre Mutter hatte nicht aufgesehen, als sie die Frage gestellt hatte. Ihre Augen fixierten immer noch den Bildschirm. Ihre Stimme war abwesend.
„Ein Bekannter. Ich zeige ihm nur die Uni.“
„Dann viel Spaß euch beiden.“ Wieso nur? Juli warf sich ihre Tasche und einen Mantel über ehe die Tür auch schon in ihre Angeln fiel. Wieso strahlt sie nur so? Ihr muss etwas äußerst Gutes widerfahren sein. Was das wohl sein konnte. Sie schmunzelte.
„Das ging jetzt aber schnell.“ Noel stand immer noch an der gleichen Stelle. Was hatte sie erwartet? Das er einfach verschwinden würde? Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, als sie das Treppenhaus hinunter gingen und durch die Tür ins Freie traten.
„Lass uns einfach schnell gehen“, brummte Juli. Vielleicht war sie ein Morgenmuffel. Ja, ganz bestimmt war sie ein Morgenmuffel, ganz im Gegensatz zu Noel. Der pfiff gut gelaunt irgendeine Melodie, während sie den Weg entlang schlenderten.
„Sag mal was studierst du eigentlich?“
„Hm?“
„Naja darüber haben wir noch gar nicht geredet.“ Sie gingen an einem Bauernhof vorbei. Ein Fluss begleitete ihren Weg.
„Was mit Geschichte. Nichts Besonderes schätzte ich. Die meisten studieren das hier.“ Ihr Blick wanderte, während sich ihre Lieder schwer anfühlten. Sie war ganz entsetzlich müde. Noch war die Luft kühl und weckte ihre trägen Sinne.
„Hm.“ Er schien etwas zu überlegen, rieb sich am Kinn und nickte dann. „Dann werde ich mich zu dir in die Vorlesung setzten. Ich kann bestimmt noch etwas lernen. Oh und Mathe, Physik, Biologie, Kunst...meinst du das sie das auch anbieten?“ Seine Augen waren ganz groß geworden, fast wie bei einem Kind, während sich seine Stimme fast überschlug.
„Ich...also ich weiß es nicht. Du überschätzt unsere Uni. So viel gibt es da nicht...aber du kannst dir ja mal den Vorlesungsplan ansehen.“
Aus einzelnen Häusern wurden Reihen aus Wohnkomplexen, die immer dichter zueinanderstanden - aus dem Schotterweg unter ihren Füßen eine geteerte Straße. Je näher sie der Stadtmitte kamen, desto mehr Läden tauchten am Straßenrand auf. Kleine Süßigkeitenläden, Antiquitätenläden oder Kleidungsgeschäffte, später auch Clubs und Restaurants, zu den sie nur zu oft gegangen war, wenn sie einmal keine Lust gehabt hatte, etwas zu kochen. Sie kannte den Weg in- und auswendig, kannte die schmalen, verwinkelten Gassen, die zu kleineren Läden führten, ja sogar die urige Shishabar, die ihre Kommilitonen öfter besucht hatten. Juli und Noel blieben erst stehen als sie an einem großen, weißen Gebäude ankamen. Die Wände des Erdgeschosses und des ersten Stockes waren aus Glas und wurden von weißen Säulen getragen. In großen Lettern konnte man die Aufschrift „Universität“ lesen. Die oberen Stockwerke lösten die Glaswände durch weiße Wände ab. Auch heute schien die Sonne erbarmungslos auf das Gebäude. Letztes Jahr zur selben Zeit hatte sie in einer der Säle gesessen, war noch jünger und naiver gewesen. Die Studenten hatten sich kleine Fächer aus Papier gebastelt, dabei war es nicht einmal Sommer gewesen und die heißesten Monate hatten noch vor ihnen gelegen. Sie stöhnte.
„Alles in Ordnung?“
„Das Wetter, es ist schrecklich.“
„Du magst wohl Sonne nicht so gerne?“ Noel schien es allen Anschein nichts auszumachen.
„Nein, das ist es nicht. Ich mag gutes Wetter, aber in einem Hörsaal ohne Klimaanlage zu sitzen ist was anders. Es ist schrecklich...kaum ertragbar.“
„Also ich mag das Wetter.“
„Das würde ich auch sagen, wenn ich nicht in nem Raum mit Glaswand bei 40 °C für mehrere Stunden sitzen müsste.“
„So schlimm?“
„Nein, noch nicht, aber es ist ja auch noch nicht richtig Sommer. Nächster Monat ist schon wieder Juni, dann wird es schlimm werden Noel.“ Sie musste wieder an letztes Jahr denken. Es war geradezu unerträglich gewesen - die Luft war stickig gewesen, man hatte förmlich an den Sitzen geklebt und das Gefühl gehabt gleich zu dehydrieren. Hatte sie ihre Flasche dabei?! Die Temperaturen waren harmlos, das wusste sie. Sie waren nur ein milder Vorbote von dem, was noch kommen würde. „Lass uns schnell reingehen.“ Juli öffnete die Tür und augenblicklich kam ihr ein kalter Windstoß entgegen. Sie wusste das, dass nicht so bleiben würde, aber für den Moment gab es ihr die Zuversicht einen Schritt vor den anderen zu tun, bis sie vor einer grauen Eisentür stehen blieb. „Das hier“ und deutete auf die Tür, „ist mein Vorlesungssaal. Jedenfalls für diese Vorlesung.“
„Ihr wechselte also die Räume?“
„Genau.“ Sie lachte und nickte.
„Soll ich“, zögerlich deutete er auf die Tür, „soll ich klopfen?“
„Nein. Man muss nicht klopfen, die Vorlesung hat ja noch nicht begonnen. Und selbst wenn sie begonnen hätte. Man klopft nicht.“
„Nicht? Das muss ich mir merkten.“ Er schloss die Augen und nickte, dann drückte er die Klinke hinunter. Moment. Plötzlich wurde sie blass. Erst jetzt wurde ihr ihr Fehler bewusst. Noel O´Neil. Was würden die anderen denken, wenn sie mit ihm hier auftauchen würde? Sie würden bestimmt anfangen zu reden. Ich bin so dumm. So verdammt blöd. Die Gerüchte, die man sich über ihn erzählten, waren richtig übel. Und all das wird auf mich zurückfallen. Natürlich. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie ihn unruhig, dabei beobachtete, wie er die Türklinke herunterdrückte. Es war zu spät, sie konnte nichts tun, konnte nur zusehen, was als Nächstes passierte.
„He, was macht denn der hier?“, hörte sie jemand giftig aufstoßen. Es war der gleiche Hörsaal wie gestern. Die gleichen abgestuften Klapptische, die gleichen Bilder an den Wänden und die gleiche Tafel, die immer von den Professoren benützt wurde. Nur Oliver war nicht da. Sie bemerkte es sofort als ihren Blick durch den Raum schweifen lies, und atmete erleichtert auf, ehe ihre Augen zu Noel huschten. Er war einige Schritte in Richtung ihrer Kommilitonen gegangen – viel zu schnell, viel zu voreilig. Sei nicht dumm Noel. Seine Mimik war aufgeweckt, als er sie anstrahlte. Du bist irre. Sie werden dich für irre halten. Aber einen Noel störte das nicht. Er griff viel zu früh nach den Händen von einem der Studenten und schüttelte sie, ohne dass er überhaupt dazu aufgefordert worden war. Sag nichts, bitte, erwähne nicht meinen Namen. Das war so-. „He freut mich euch kennen zu lernen. Ich bin Noel. Ich bin mit Juli hier. Ihr müsst die Kommilitonen von ihr sein. Ich werde jetzt wohl auch ab und zu hier vorbeikommen, also hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit.“
Ihr Hals wurde trocken, als sich ihre Muskeln anspannten und ihre Hände zu einer Faust wurden. Das ist so...so entsetzlich peinlich. „Ich würde den Stoff, denn ich verpasst habe gerne nachholen. Also wenn ich mir Mitschriften ausleihen könnte, dass wäre super. Wobei, ich glaube die würden mir wohl nicht weiterhelfen.“ Noel schüttelte den Kopf. „Aber ein Buch wäre schon hilfreich. Vielleicht könnt ihr mir ja eins empfehlen?“ Die junge Frau, die neben den Jungen stand, den er just in dem Moment angesprochen hatte, stolperte zurück. Sie schrie, während der Andere ihn immer noch fassungslos anstarrte, fast als ob er einen Geist gesehen hätte. Hör auf Noel! Ihr Gesicht glühte und ihr Blut brodelte. Natürlich, natürlich würde Noel “Noel“ sein und ihr nur Ärger bereiten.
„War doch logisch das der Creep was mit Juli zu tun hat. Aber musstest du ihn auch noch hierherbringen? Musst ja echt verzweifelt gewesen sein!“, spuckte die Brünette und warf ihr einen giftigen Blick zu, der Juli zusammenzucken lies.
„Wovon redet ihr?!“ Noel sah eilig hin und her. Er hob die Hände in die Höhe und wollte etwas erwidern. Hör einfach auf Noel. Bitte. Halt einfach deinen Mund.
„Ich.“ Ich- was hatte ich mir dabei gedacht?! Sie schluckte. Ich bin so dumm. So verdammt, verdammt dumm. „Ich…ich kenne ihn eigentlich nicht.“ Eine Lüge. „Wir haben uns erst gestern getroffen. Das ist alles.“ Das war die Wahrheit.
„Lüg nicht.“ Die Brünette funkelte sie immer noch an. Wie war ihr Name noch mal? Nein, das war jetzt nicht wichtig.
„Ich kenne ihn doch eigentlich nicht“ , wiederholte Juli mit noch mehr Nachdruck. Bitte glaub mir doch.
„War doch logisch das sie sich mit diesen Typen was am Laufen hat.“ Abscheu, Ekel, die Stimme der Frau bohrte sich tief in das Herz von Juli. Sie war so eine Idiotin. Plötzlich drehte sich alles um sie herum. Die Luft war so dünn, dass sie das Gefühl hatte gleich zu ersticken. Sie musste hier raus. Sofort.
„He warte.“ Sie hörte Noels Stimme, doch es kümmerte sie nicht. Wieso ausgerechnet ich? Wieso musste er ausgerechnet mich ansprechen? „Alles in Ordnung?“ Er hatte nach ihrem Arm gegriffen. Sie sah ihn nur für ein Bruchteil von Sekunden an, dann riss sie sich los.
„Nein.“ Das war seine Schuld. Wegen ihm werde ich-, schoss es ihr in den Kopf. Sie war nie beliebt gewesen, aber sie hatte es zu mindestens geschafft, unauffällig zu sein – ein Schatten, den man keine Aufmerksamkeit widmete. Studium war nicht wie Schule, man sprach weniger miteinander, hatte weniger miteinander zu tun. Es war ihre Chance gewesen neu anzufangen. Und jetzt? „Wieso musstest du mich ansprechen?! Hättest du nicht irgendjemand anderen Fragen können? Und wieso musstest du mitkommen wegen dir-“ Tränen kullerten über ihre Wange. Jetzt würde man sich wieder über sie lustig machen. Sie hörte die anderen schon reden. Und am meisten hasste sie sich selbst. Was hatte sie sich dabei gedacht? Vielleicht war er doch ein Creep. Vielleicht hatten die anderen doch recht gehabt. Sie kannte ihn doch nicht einmal richtig. Wie naiv kann man sein?!
„Ich dachte wir sind Freunde.“ Seine Stimme war dünn, fast wie ein Flüstern.
„Nein Noel. Wir...wir kennen uns nicht einmal. Weißt du, vielleicht ist es meine Schuld. Vielleicht habe ich falsche Signale gesendet. Ich hätte schon Nein sagen sollen als du mich heute früh gefragt hast. Siehst du? Wir haben vielleicht einmal miteinander geredet.“ Sie lachte bitter und sah zu Boden. Juli konnte ihn einfach nicht in die Augen sehen. „Wir kennen uns doch eigentlich nicht einmal.“
„Dein...dein richtiger Name ist Rosemarie, richtig?“ Er senkte seinen Kopf. „Stimmt das? Ich habe mich gefragt wieso du-.“ Ihr Hals war ganz heißer, ihre Augen gerötet. Das kann ja wohl jetzt nicht sein Ernst sein?
„Von allen Dingen, die du mir hättest sagen können, fragst du mich ausgerechnet das? Du bist so kindisch Noel. Du wirst nie erwachsen. Vielleicht halten dich deshalb andere für seltsam. Weißt du?! Ich habe mir darüber schon den Kopf zerbrochen, du tust es ja nicht.“ Noel wollte etwas erwidern, da hatte sie ihm allerdings schon den Rücken zugedreht. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, schneller und schneller ehe sie begann zu rennen. Die Welt konnte untergehen, konnte mit einem Mal verschlungen werden. Ein Unwetter konnte aufkommen und jeden einzelnen Baum aus seinen Wurzeln reißen. Es kümmerte sie nicht mehr. Alles, was sie jetzt noch wollte, war sich in ihrem Zimmer einzuschließen und nicht mehr rauszukommen.
~+~
Sie hatte ihr Zimmer tatsächlich nicht mehr verlassen - den ganzen Vormittag nicht - aber jetzt, wo sie langsam wieder zu Verstand kam, da fühlte sie sich schlecht.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht?! Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie hatte Noel verletzt und das hatte er bei aller Liebe nicht verdient. Er hatte ihr nichts getan und sie? Vielleicht war es richtig gewesen, dass sie ausnahmsweise an sich selbst gedacht hatte. War es denn so verwerflich, zur Abwechslung einmal akzeptiert werden zu wollen?! Ja. Ja ist es. Wenn du jemand anderen dafür verletzten musst, dann ist es das. Sie schmunzelte. Es war schon urkomisch, da machte sie ihm Vorwürfe, sich kindisch zu benehmen, und was machte sie? Was war sie dann? Juli umklammerte ihr Kissen noch fester, presste es an ihren Körper. Ich bin das Kind. Den ganzen Vormittag über hatte sie sich in ihrem Zimmer verkrochen, hatte sich ganz leise ins Haus geschlichen, weil sie nicht gewusst hatte, wie sie es ihrer Mutter hätte erklären können. Doch jetzt war sie sich sicher. Sie musste sich entschuldigen. Sie war kein Kind mehr. Als vorsichtig durch den Türspalt linste, war niemand zu sehen. Wie auf Zehenspitzen, schlich sie am Wohnzimmer vorbei, warf noch einen flüchtigen Blick hinein, nicht genug allerdings, um zu sehen, ob ihre Mutter noch immer dort saß, dann zog sie sich ihren roten Mantel über. Sie straffte ihre Schultern und atmete noch einmal tief ein und aus. Ich entschuldige mich. Das muss ich. Kaum hatte sie den Entschluss gefasst, viel auch schon das Schloss in die Angeln.
~+~
Noel wohnte nicht weit von Juli. Sie war ungerecht gewesen? Nicht? Jetzt schämte sie sich dafür. Sie sah zu ihrer Rechten, wo einzelne Kühe auf einer weiten Wiese grasten. Dort wo die Weide endete, begann ein weiteres Feld, dann noch eins. Je näher sie dem Haus kam, desto nervöser wurde sie. Hatte sie ihn überhaupt gefragt? Vielleicht wollte er auch gar nicht, dass sie ihn besuchte. Sie könnte es ihm nicht verübeln.
„Ich dachte wir wären Freunde“ Juli hatte sich echt idiotisch verhalten. Es war schon fast zum Lachen. Sei nicht albern. Wer würde schon mit ihr befreundet sein wollen? Das Haus war immer noch genauso beeindruckend, wie sie es im Gedächtnis hatte. „Wieso zwei Schornsteine?“ Weil es hübsch ist. Ihre Mundwinkel zuckten. Stimmt schon, das hat schon was. Das ganze Gebäude war kunterbunt bemalt, die ganzen unterschiedlichen Fenster ließen es nur noch chaotischer wirken, fast wie aus einem Märchen. An den Wänden kletterten Pflanzen hinauf. Der Garten wucherte regelrecht, überall blühten bunte Blumen. Sie entdeckte einen Apfelbaum, der wohl vor langer Zeit dort gepflanzt worden war, und einen kleinen Garten. Ein Steinweg führte zum Haus hinauf und wurde auf seinem Weg dorthin von Laternen begleitet. Es war schon etwas ganz Besonderes. Am ungewöhnlichsten war jedoch das riesige Loch in der Wand des Gebäudes. Es gab einen Blick ins Innere frei – lies das Haus fast wie eine Ruine aus einer alten, vergessen Zeit erscheinen. In ein paar Töpfen waren Tomaten gepflanzt worden. Ein wenig beneidete sie ihn schon. Wie oft war ihr ihre Tomaten eingegangen, die sie mit so viel Mühe gesät hatte. Ein heftiger Sturm hatte über das Land gefegt und weg war ihr kleines Gewächshaus, in das sie so viel Zeit und Liebe investiert hatte.
„Soll ich klopfen?“, hatte Noel sie heute früh gefragt, jetzt fragte sie sich dieselbe Frage. Sie biss sich auf die Lippe, dann berührten sie mit ihren Fingerknöcheln ganz vorsichtig die raue Oberfläche der Holztür. Nichts rührte sich. Sie klopfte erneut. Wieder keine Reaktion. Was jetzt? Ihre Augen musterten den Eingang. Eine Klingel. Neben der Tür war ein eiserner Löwenkopf angebracht, an dem ein Hebel - nein, eine Art Seil, an dem man ziehen konnte – befestigt worden war. Wieder zögerte sie. Soll ich-? Einen Moment haderte sie mit sich selbst, aber dann schluckte sie und nickte zaghaft. Sei kein Feigling. Sie kniff die Augen zusammen und zog an der Vorrichtung. Ihr Herz schlug unregelmäßig gegen ihre Brust. Ein seltsames Geräusch ertönte - eines das ihr durch Mark und Bein ging. Eine Melodie? Ein Laut eines Tieres? Wie sonderbar. Juli zuckte zusammen. Vielleicht sollte sie noch einmal klingeln? Ihr Herz machte einen Satz. Die Tür öffnete sich und Noel stand vor ihr. Sie blinzelte irritiert und traute ihren Augen nicht.
„Du-.“ War er wütend?
„Ja“, presste sie hervor und schnitt ihm das Wort ab. „Ich, ich wollte...also... ich wollte mich für heute Morgen entschuldigen. Es tut mir leid. Ich hätte nicht-. Ich hatte das nicht sagen sollen. Die Einzige, die sich danebenbenommen hat, war ich und das tut mir leid. So, so unglaublich leid! Ich bin eine echte Idiotin. Ich-“
„Du kommst mich besuchen?“ Seine Mimik war entspannt, seine Haltung locker. Wieso? „Ich muss dir unbedingt mein Haus zeigen. Warte kurz.“ Er strahlte förmlich, griff nach ihrem Handgelenk, ehe er sie ins Innere zog. Seine Worte überschlugen sich. Was passierte hier nur? Wieder schlug ihr Herz schneller. Ihre Augen wurden groß, als sie die Luft einsog. Sie kamen in einen völlig überfüllten Flur. Überall lagen Sachen auf einen Stapel. Kein einziger Fleck der Wand war nicht bedeckt. Bunte Bilder schmückten diese, während mehrere Schuhpaare auf dem Boden lagen. Zu ihrer Rechten war eine Garderobe, an den einige Mäntel hingen.
„Das ist ja-.“
„Ziemlich beeindruckend. Nicht?“ Er führte sie durch einen weiteren Raum, der völlig überwuchert war. Es war der Raum, den sie von draußen gesehen hatte. Die Fliesen hatten Sprünge bekommen und Gras kämpfte sich durch die einzelnen Risse.
„Den Teil habe ich nicht renovieren lassen. Ich fand ihn hübsch also habe ich ihn so gelassen.“
„Aber es regnet rein.“
„Nur in diesen Raum“, Noel zuckte mit den Achseln „den benütze ich eh kaum. Jetzt wo dus sagst. Ich könnte ein paar Topfpflanzen reinstellen.“ Er kratzte sich am Kinn und rieb sich die Nase. „Das könnte ich machen.“
„Aber Einbrecher-.“
„Bis jetzt ist noch niemand eingebrochen.“ Als Nächstes kamen sie in einen Raum voller mechanischer Geräte. Ein Teelicht war unter einen Miniaturkessel mit Wasser gestellt worden. Der Wasserdampf wurde über ein Rohr in einen Zylinder geführt. Immer wieder klackten Ventile und der Kolben im Zylinder schoss abwechselnd in die Höhe und wurde wieder abgesenkt. Was war das nur alles? Sie hielt den Atem an. Das ist unglaublich. Juli konnte es nicht fassen. Der Raum war voll mit seltsamen Apparaturen. Einige kannte sie, einige auch nicht. Als Letztes kamen sie in einen etwas kleineren Raum an, der voll mit Gerümpel vollgestellt worden war. Wertvolle Gemälde hingen an den Wänden, Schmuck lag auf den Regalen und einen teuer aussehenden Kronleuchter hing von der Decke. Der Raum war prunkvoll, fast schon überladen. Bunt gewebte Teppiche schmückten den Boden. Ihr ganzes Leben hatte sie und ihre Mutter sich immer irgendwie durchgekämpft. Als es besonders knapp geworden war - damals hatte ihre Mutter ihren alten Job verloren - da hatte sie selbst für ein paar Wochen jobben müssen. Schule und Arbeit war nicht immer einfach auf die Reihe zu bekommen, aber schlussendlich hatten sie selbst diese Krise überstanden. Vielleicht faszinierte es sie deshalb so sehr. Noch nie hatte sie so viel teures Zeug auf einem Platz gesehen. In einer Ecke stand ein Klavier. Sie hätte gerne ein Instrument gespielt, aber für so etwas war selbstverständlich nie Geld übrig gewesen. Wie es wohl war, sich nie Gedanken machen zu müssen, ob man über die Runden kam oder nicht?
„Du spielst Klavier?“
„Nein, aber ich fand es hübsch, deswegen habe ich es in diese Ecke gestellt. So habe ich es immer im Blickfeld, wenn ich den Raum betrete und gleichzeitig steht es auch nicht im Weg rum.“ Er besaß ein Klavier, nur weil er es hübsch fand. Wie gerne würde sie in seiner Welt leben. Schluss jetzt. Was machte sie da? Juli ertappte sich dabei, wie Neid in ihr aufkeimte. Stopp Juli. Sie war gekommen, um sich zu entschuldigen.
„Hmm.“ Auf den Tisch vor ihnen waren ein paar Stoffe ausgebreitet. In einen Wäschekorb am Boden waren mindestens ein Dutzend Instantnudeln aufgestapelt worden. Ernährte er sich denn von nichts anderen? Das konnte unmöglich gesund sein. „Vielleicht sollte ich nächstes Mal Obst mitnehmen?“, murmelte sie abwesend. Mit einem Male wurde Noels Gesicht blass. Was, hatte sie etwas Falsches gesagt?
„Obst.“ Seine Stimme klang dünn und langgezogen.
„Magst du denn kein Obst?“
„Nein. Viel zu gesund.“ Er zog eine Grimasse.
„Oh.“ Das war ihr jetzt doch etwas peinlich. „Das ist schade. Also eh-.“ Was sollte sie dazu erwidern? „Du magst echt kein Obst?“
„Nein, ganz bestimmt sogar nicht.“ Ein angewidertes Gesicht verriet ihr, dass er nicht log. Das war jetzt schon fast amüsant. „He lachst du mich etwa aus?“
„Nein. Das würde ich nicht machen.“ Juli ertappte sich dabei, wie sie angefangen hatte zu grinsen.
„He hör mal, nicht jeder kann das Zeug mögen außerdem-.“ Rechtfertigt er sich gerade dafür? Ihre Augen wanderten zu dem Stapel Stoffen, während sich ihre Gedanken immer weiter vom Gespräch entfernten. Noels Stimme war nur ein weiteres Geräusch im Hintergrund. Was hatte er nur mit all dem Zeug vor und was war das überhaupt für ein seltsamer Raum? Ob er wohl hier aß? Es sah fast so aus wie eine Mischung aus Wohn- und Esszimmer, ähnlich wie es bei ihr Zuhause auch war. „Und deswegen ernähre ich mich auch nicht ungesund, sondern sehr ausgewogen. He, sag mal hörst du mir überhaupt zu?!“
„Hm?“
„Also doch.“
„Sag mal. Wo isst du überhaupt Noel? Oder wie findest du überhaupt etwas in dem Durcheinander?“
„Durcheinander? Das ist kein Durcheinander! Ich darf doch schwer bitten. Dieses Chaos hat eine perfekte Ordnung. Ich weiß genau wo was zu finden ist. Oh, ich weiß was. Lass uns ein Spiel spielen.“ Er strahlte.
„Ein Spiel?“
„Ja genau. Du sagst mir einen Gegenstand und ich sag dir, wo er zu finden ist.“
Ein Gegenstand? Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Gut. Wie wäre es mit Tellern?!“
„Pff“, er grinste siegessicher, „zu leicht.“ Mit einer schnellen Bewegung hob er den Stapel Tücher hoch. „Gewonnen.“
„Oh.“
„Und ich kann sogar noch mehr.“ Er griff nach dem Teller und ließ in von seiner Hand über die Schultern zur Anderen rollen. „Ich kann sie auch jonglieren.“ Er zog aus einem Regal einen weiteren Teller hervor und warf erst den Einen, dann den Anderen in die Luft. „Siehst du Juli? Ziemlich cool nicht?!“ Ihre Augen wurden groß. Er grinste breit und lachte dabei.
„Noel ich denke nicht-.“
„Und noch einer.“ Diesmal zog er einen Teller unter einen Stapel Bücher hervor. Ein weiterer Teller flog durch die Luft. Jetzt waren es schon drei. „Siehst du das Juli?“, gluckste er.
„Noel-“, ihre Mundwinkel zuckten. Ihr Atem stockte. Was war das?! Hier war noch jemand?! Wieso bemerkte sie es erst jetzt? Ein Kind stand im Türrahmen - ein kleiner Junge, dessen Mund zu einer seltsamen lachenden Fratze verzogen war. Der Junge hatte schulterlange Haare, sah nicht älter als 11 aus und trug einen weiten Pullover. Juli schnappte nach Luft.
„Was ist los?“ Noel drehte sich ruckartig um und zuckte zusammen. Alles passierte plötzlich ganz schnell. Erst war ein lautes Krachen von Porzellan zu hören und im nächsten Moment lagen die Teller in Scherben auf dem Boden. Seine Mundwinkel huschten nach unten. „Oh nein.“ Was war das für ein Kind?! Er hatte ihr nie davon erzählt, dass ein kleiner Junge bei ihm wohnte? Sie wurde nervös. Sei nicht albern Juli, das ist doch nur ein Kind! Doch offenbar kannte Noel das Kind. Dieses stand immer noch im Türrahmen und starrte sie beide an. Oder nein, vielmehr sah es durch sie beide hindurch. Sie schluckte. Juli bemühte sich um ein zaghaftes Lächeln. Der Junge ließ seinen Blick nicht von ihnen ab. Sie hatte das Gefühl, Klauen würde sich um ihren Körper legen, die sie nicht mehr losließen. Ein Kind, es ist nur ein Kind. Und dennoch. Bitte, schau wo anders hin. „Die schönen Teller. Das waren meine letzten Porzelanteller. Erdschreck mich doch nicht immer so!“
„D-du kennst das Kind?!“, war das Einzige, dass sie unter zusammengepressten Lippen hervorbrachte.
„Achso, du meinst Astor.“ Was passierte hier gerade?
„A-Astor?“
„Über den brauchst du dir keine Gedanken machen. Der streift nur durch das Haus. Das ist alles. Er verdient sich ein wenig dazu in dem er mir ab und an etwas unter die Arme greift.“ Astor zog eine Grimasse und streckte ihm die Zunge raus. „He, das weiß ich selber. Machst du dich etwa über mich lustig?“, brummte Noel. Er stemmte die Hände gegen die Hüfte. „Ja, ich hätte sie nicht fallen gelassen, wenn du hier nicht einfach im Türrahmen gestanden hättest. Denk mal drüber nach. Also ist es nur indirekt meine Schuld. Siehst du?“ Was ging hier gerade ab? Dennoch konnte sie nicht anders, als zu schmunzeln. Seltsam, hatte sie nicht eben noch Angst gehabt?
„Ihr scheint euch ja prächtig zu verstehen.“
„Hm.“, Noel zögerte, „es geht so.“ Er warf Astor einen flüchtigen Blick zu. „Um die Teller ist es jedenfalls echt schade, dabei wollte ich dir gerne etwas zu Essen anbieten.“
„Oh. Das macht doch nicht.“ Sie hob beschwichtigend die Hände vor ihren Körper. „Ich brauche nichts.“
„Es seiden...“ Er schlug seine Faust auf seine flache Hand. „Ich habs. Siehst du den Teppich? Schiebe ihn mal zur Seite.“ Der Teppich? Tatsächlich, sie standen auf einem Teppich. Bilder waren hinein gewebt worden. Er war bunt und aus ganz unterschiedlichen Fäden gewebt. Als sie ihn gerade zur Hälften aufgerollt hatte, kam eine Luke zum Vorschein. Verdutzt blinzelte sie. „Nun mach schon auf“, drängte Noel. Sie schob ganz vorsichtig die beiden Riegel an der rechten Seite auf. Noel wippte nervös von einem Bein auf das Andere. Was ist das?! Sie konnte nicht anders als irritiert von der Luke zu ihm hinaufzuschauen und blinzelte, doch Noel strahlte bereits wieder.
„Das sind... Teller. Du hast Teller hier unten verstaut?“
„Ja, genial, nicht? Stell dir das mal vor, später, viele 100 Jahre später, werden Leute hier vorbeikommen und in das mittlerweile verlassenen Haus gehen und sich denken: Hey vielleicht gibt es Schätze. Und dann werden sie diese Luke unter dem Teppich finden. Vielleicht werden sie einen Schatz dort unten vermuten? Aber weißt du, was sie stattdessen finden werden?“
„Teller.“ Sie griff in das Loch und zog zwei Teller hervor. Er hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass er genau wusste, wo sich was befand. Irgendwie gab es in diesem wirren Haus tatsächlich eine schräge Art von Ordnung. Man konnte alles finden, man musste nur wissen wo.
„Wirklich?“
„Nein. Natürlich nicht. Ich hatte noch keine Schränke, also habe ich die Luke benützt und es dabei belassen. Aber, ich mag die erste Version mehr.“ Seine Mundwinkel hatten bei der Lüge nicht einmal gezuckt.
„Du bist schon merkwürdig.“
„Ich?“ Noel zeigte auf sich selbst. Sie lachten Beide. Moment, was machte sie da eigentlich? Deswegen war sie nicht hier. Ihr Hals wurde plötzlich trocken. Sie hatte sich schon wieder ablenken lassen.
„Ich- es tut mir so leid wegen dem, was ich gesagt habe. Das hätte ich nicht sagen sollen. Eigentlich war ich es ja die sich kindisch benommen hat.“ Sie wandte ihren Blick nicht vom Boden ab. „Ich-“, wieder brach ihre Stimme ab. Sie könnte es ihm nicht verübeln, wenn er sie jetzt hasste, wagte es aber nicht, ihren Kopf zu heben. Wie sein Gesicht jetzt wohl aussehen würde? Bestimmt war er wütend und sie könnte es verstehen.
„Willst du Instantnudeln?“
„Noel-.“
„Ich mein ja nur. Wäre schade, wenn sie schlecht werden würden.“
„Ich...jetzt tu doch nicht so als ob ich mich nicht wie die letzte Idiotin benommen hätte. Ich- ich war echt-.“ Erneut konnte sie den Satz nicht beenden. Reiß dich zusammen. Wieso ist das nur so schwer?! Sie straffte ihre Schultern. Ich muss mich entschuldigen. Ich muss-.
„Mach dir keine Gedanken. Ich bin es nicht anders gewöhnt. Die Leute reden gerne alles Mögliche über mich. Was macht es schon, wenn es noch jemand mehr tut?“
„Ist- ist dir denn vollkommen egal was andere über dich denken?! Es muss doch unglaublich schrecklich sein.“ Wie konnte er nur so etwas sagen?! Noel öffnete den Deckel der Verpackung.
„Hm...nein, wobei die Gerüchte momentan schon übel sind, nicht?“ Er lächelte schwach. Noel kratzte sich am Kinn und ließ die Verpackung der Instantnudel von einer in die andere Hand fallen. „Gibt es eine Sorte, die du gerne magst?“
„Chili.“
„Sehr gut. Die mag ich nicht.“
„Und du hast sie trotzdem gekauft?“
„Ich wollte sie ausprobieren. Hat allerdings nicht gut für mich geendet.“ Er zog eine Grimasse. „Das `scharf´ auf der Verpackung ist kein Witz. Das Zeug ist schrecklich.“
„Aber du isst sie trotzdem?“
„Essen kann man ja wohl schlecht, schlecht werden lassen.“
„Stimmt“, sie grinste. „Weißt du was?“ Juli zögerte, schlucke und biss sich auf die Lippe. „Ich bin eigentlich sogar recht froh, dass wir uns getroffen haben. Tut mir leid. Ich glaube, wenn dich die Leute nur etwas besser kennen würden, dann würden sie dich bestimmt auch mögen.“
„Hmm.“ Noel antworte nicht. Seine Hände zitterten plötzlich. Mit einem Mal wurde sein Gesicht blass, als sein Lächeln wackelte. Was ist los?
„Du Juli... könntest du bitte gehen? Ich habe mir es anders überlegt.“ Seine Mimik wirkte locker, seine Haltung jedoch steif und dann presste er seine Lippen aufeinander. „Lass uns das mit den Instantnudeln wann anders machen.“ Von einen auf den anderen Moment kippte die Stimmung. Er lachte nicht mehr, vielmehr war sein Mund zu einem schmalen Strich geworden. „Ich zeig dir natürlich, wo der Ausgang ist.“ Er war bereits aufgestanden.“ Seine Beine wackelten. Also doch. Er war doch sauer. Seine Hand baumelte an seinem Körper. Habe ich... habe ich was Falsches gesagt? Tut mir leid. Alles ging so schnell vorbei und ehe sie sich versah, war sie schon fast wieder draußen. Er führte sie zur Haustür, schoss die Tür vor ihr und verschwand ins Innere des Hauses. „Ich muss noch etwas erledigen“, hatte gesagt, ehe er verschwunden war. „Es tut mir leid.“ Es gab nichts zu entschuldigen. So war ihr Besuch ganz abrupt beendet worden. Sie sah zu dem Gebäude hoch. Das hier war das Haus am Stadtrand. Noel O´Neils Haus.