Kapitel 3: Matschi und Corax
Als sie aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie war unglaublich froh, dass Wochenende war, denn Klara und Hannes gingen meistens mit ihren Freunden zu deren Eltern in die Stadt, wobei Isabell selbst im Internat blieb. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Zeit, als sie im Internat angekommen waren: Wie sie immer neidisch den Kindern zugehört hatten, wie sie erzählten, was sie letztes Wochenende im Kaufhaus mit ihrer Mutter eingekauft hatten oder was sie nächsten Samstag mit ihrem Vater unternehmen wollten. Zum Glück hatten ihre Geschwister gute Freunde gefunden.
Sie schmiss sich aus dem Bett und schaute auf die Uhr: 11 Uhr. Sie hatte das Frühstück verpasst! Schon wieder! Dabei hatte sie ihre kleinen Nervensägen doch darum gebeten, sie zu wecken. Aber diese waren bestimmt schon über alle Berge. Isabell zog sich schnell um. Als sie fertig war, klopfte es an der Tür.
Sie öffnete. Vor ihr stand Frau Roter, die Pokémonologie- (eine Art Zoologie) und Botanik-Lehrerin des Internats. Sie hatte eine gewöhnliche, hellgrüne Bluse und ein Paar Jeans an. Ihr PokéFriend, ein Blanas, stand zu ihren Füßen und starrte Isabell aus großen Augen an. Frau Roter hatte in den Händen einen Pokéball, dessen obere Hälfte nicht rot sondern rosa war- ein Psychoball.
"Ich bringe dir dein Pokémon!" sagte sie und lächelte. Von allen guten und schlechten Lehrern war Frau Roter Isabells Lieblingslehrerin. Sie machte einen sauguten und interessanten Unterricht und verteilte fast nie Strafarbeiten. Außerdem spielte sie immer Spiele mit der Klasse in der letzten Stunde vor Ferien.
"Danke" murmelte Isabell nur. Sie nahm den Ball entgegen und die beiden verabschiedeten sich. Frau Roter und Blanas entfernten sich den Koridor entlang. Dabei murmelte Blanas etwas, das nur seine Trainerin verstand: "Wird der Tag bald kommen?"
"Oh, ja, das wird er!" sagte die Angesprochene und die beiden bogen um eine Ecke.
Isabell hatte sich unterdessen auf ihr Bett gesetzt und begutachtete den Ball. Wie gut, dass ihre Geschwister in diesem spannenden Moment nicht da waren. Die hätten nur an ihr geklebt und sie ständig gedrängt, den Ball zu öffnen. Das wollte sie ja auch, aber sie zögerte. Dieses Pokémon, das in diesem Ball war, sollte sie ihr ganzes folgendes Leben begleiten und sie auch nach dem Tod nicht verlassen.
Aber ein Trasla? Sie wusste genau, dass es kindisch und kleinlich war, immer nur an Blau zu hängen, vielleicht war es Zeit für Veränderungen. Aber darüber konnte sie nicht nachdenken. Sie musste ihr Trasla herausholen. Jedoch konnte sie es niemals wieder in den Ball zurückrufen, denn das war nur ein Einwegball.
Langsam, und ohne es wirklich zu wollen, als führe das Wesen in dem Ball ihre Finger, drückte sie auf den Knopf des Balls. Er öffnete sich und ein weißer Strahl kündigte das Erscheinen eines Pokémon an. Es stand vor Isabell und weil sie den offenen Ball vor der Nase hatte, konnte sie es nicht sehen. Ganz vorsichtig, als könne das eben Erschienene sie angreifen, schob sie den Blick an ihrer Hand vorbei und hätte am liebsten laut geschrien- schon wieder.
Aber dieses mal war es wirklich aus Freude: Das Trasla, das vor ihr stand, war nicht grün! Es war ein Shiny, und somit blau! Isabell freute sich riesig, schmiss den Ball zur Seite, der an der Verbindungsstelle seiner beiden Hälften zerbrach und nahm Trasla in die Arme. Dieses schien sich nicht so zu freuen. Aber das war auch richtig so: War der Trainer nicht glücklich über seinen PokéFriend, bevor er ihn aus dem Ball holte, war ihre Freundschaft von Anfang an nicht sehr eng. Aber das würde sich noch legen.
Isabell setzte sich auf´s Bett und Trasla neben sie. "Na, wie geht´s dir?" fragte sie, aber das Pokémon wandte sich ab und brachte nur ein enttäuschtes "Tras, Laaah!" hervor. Isabell konnte es nur zu gut verstehen. Aber dann fiel ihr etwas ein: "Du brauchst doch noch einen Namen, stimmt´s?" Sie überlegte kurz. Sie konnte sich sicher sein, dass Trasla weiblich war, denn die PokéFriends hatten immer dasselbe Geschlecht wie ihre Trainer, es sei denn sie hatten von Natur aus kein Geschlecht. "Ich nenne dich... Samanta!" freute sie sich dann. Samanta war der Name des Seedrakings gewesen, das der PokéFriend ihrer Mutter gewesen war.
Samanta schien das nicht zu kümmern. Isabell stand seufzend auf, ihr Pokémon ebenso. Auch wenn sie ihre Trainerin noch nicht mochte, musste sie dennoch in ihrer Nähe bleiben, um keine Schmerzen zu bekommen. Isabell und Samanta gingen in den Flur und dann in den Aufenthaltsraum.
Dieser große Raum war mit Sofas, Tischen, Stühlen, Tafeln und allem möglichen Bücherzeugs ausgestattet. Hier konnte man entspannen und sich mit Freunden treffen, wenn draußen mal schlechtes Wetter herrschte. Aber wegen der Tatsache, dass Wochenende war und die Sonne lachte, befanden sich nur eine Gruppe von drei Viertklässlern im Aufenthaltsraum, die zusammen ihre Hausaufgaben erledigten.
Isabell zog sich mit Samanta in eine Ecke zurück und setzte sich dort auf ein Kissen. Das kleine Trasla neben ihr hatte beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt und das Gesicht abgewandt. Isabell war schon sehr traurig, aber sie konnte auch nichts dran ändern. Sie holte aus ihrer Hosentasche einen Schokoriegel und entfernte langsam das Papier. Auch wenn sie wusste, dass Samanta es nicht annehmen würde, legte sie ein Stück davon zu ihrem PokéFriend und futterte selbst den Rest.
Die Viertklässler waren fertig mit ihren Aufgaben und packten ihre Bücher und Hefte zusammen. Isabell schaute ihnen zu, wie sie ihre Stiftmappen in ihre Ranzen packten und diese dann schulterten. Sie verließen den Aufenthaltsraum und das Mädchen mit ihrem Pokémon blieben alleine zurück.
Doch das blieb nicht lange so. Ein Junge lief am Fenster des Zimmers vorbei und sah Isabell in der Ecke kauern. Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht und er machte riesige Sätze um den Raum herum bis zum Eingang und stieß die Tür auf. Isabell schreckte hoch, stellte aber erleichert fest, dass es nut Matschi war.
Eigentlich hieß er Thomas, aber alle auf dem Internat nannten ihn Matschi, aber wie er zu diesem Spitznamen kam, war im Laufe der Zeit verloren gegangen. Einige behaupteten, dass aus Thomas Thomasi, dann Masi, irgendwann Maschi und dann Matschi geworden war. Aber niemand wusste es so genau. Er war es gewesen, der vor zwei Jahren der erste Schüler war, der mit Isabell gesprochen und Freundschaft geschlossen hatte. Auch er war ein Vollwaise, jedoch schon seit er drei war.
"Hey, Matschi!" begrüßte Isabell ihren besten Freund.
"Yo, Isa!" sagte er nur und die beiden machten ihren gewöhnlichen Gurß- die Fäuste zusammenstecken. "Kraaaaamurrrrrrrx!" machte Corax, der auf der Schulter seines Trainers saß.
"Tach, Corax!" sagte Isabell, stand auf und kraulte Matschis PokéFriend unter dem Schnabel, wo er am liebsten gekrault wurde.
"Und, wie ist es gelaufen?" fragte der Junge.
"Ganz ok." Sie schien verträumt.
"Und was hast du jetzt für´n Pokémon? Ich wollte dich ja noch gestern Abend besuchen, aber du weißt ja, die Heldor, wie die sein kann!" Frau Heldor war die Geschichtslehrerin der beiden und deren Klasse und liebte es, Strafarbeiten zu verteilen. "Und dann musste ich ja noch zu Oberfiesling Nachsitzen!" Oberfiesling war der unter den Internatsschülern gängige Spitzname für Herr Karaus, der ebenso wie seine Kollegin Heldor gerne Nachsitzen erteilte. Er unterrichtete Isabells Klasse in Chemie und Physik.
"Da gibt es ein Patentrezept!" sagte Isabell ankündigend. "Handle dir nicht mehr so viel Ärger ein!"
"Hahaha, ich hab ganz vergessen wie man lacht!" machte Thomas nur.
"Dann lerne es wieder." Isabell kicherte.
"Und was ist jetzt?" fragte Thomas seine Freundin. Anscheinend hatte er Samanta noch nicht gesehen, denn Isabell versperrte ihm die Sicht zu ihr.
Sie ging einen Schritt zur Seite und sagte ankündigend: "Das ist Samanta!"
"Kann man sie auch Sam nennen, der Name ist etwas zu-" aber er brach ab, denn er sah, dass es kein gewöhnliches Pokémon war. "Boah, ein Shiny! Das ist ja krass!"