Gareth akzeptierte Lyrissas Antwort vorerst, auch wenn ihm nicht entgangen war, dass sie allen Fragen mehr oder weniger auswich. Sie hatte zwar vielfältige Einsatzmöglichkeiten genannt, aber war dabei niemals ins Detail gegangen und hatte keine Beispiele genannt.
Aber er wurde ohnehin gerade von etwas ganz anderem abgelenkt.
Es wäre ihm nicht einmal aufgefallen, wenn Xana ihn nicht darauf hingewiesen hätte... ein winziges, kaum spürbares Detail in Shirleys Stimme, als sie ihrerseits eine Frage an Lyrissa gestellt hatte. Ein kaum wahrnehmbarer Vorwurf, den das aufmerksame Traunfugil als solchen identifiziert hatte. Ein Vorwurf, das Arbeitsverhältnis mit Alodran aufgegeben zu haben? Vorwurf bedeutete eine Sympathie für Alodran - und das bedeutete... Verrat! Xana und Gareth kamen gleichzeitig zu dieser Schlussfolgerung.
Gareth wusste, dass es aussichtslos wäre, jetzt einen gruppeninternen Zwist heraufzubeschwören, auch wenn er vielleicht Zerqu dabei auf seine Seite ziehen konnte. Was er brauchte wäre ein Beweis, aber der konnte nur von einer Person erbracht werden. Von Shirley selbst. Und damit begannen die Schwierigkeiten. Shirley würde ganz sicher nicht so unvorsichtig sein, sich noch einmal zu verraten. Uns sich selbst belasten würde sie schon gar nicht, das war Gareth sich ebenfalls sicher. Vielleicht stachen solche kleinen Fehler wie unkontrollierte Emotionen deshalb so sehr bei ihr hervor, weil ihr sonstiges Auftreten in einer annähernd perfekten Weise nichtmenschlich war, kontrolliert, diszipliniert, distanziert. Im Grunde ihm ganz ähnlich.
Wie sollte er ihren Verstand durchsuchen können?
Wieder brachte Xana eine Idee ein, wie die Festung gestürmt werden würde. Nicht durch die Gewalt einer Belagerungsarmee, wie Zerqu es versucht hatte, sondern durch ein Messer im Dunkeln, einen lautlosen Infiltrator, der keine Spuren hinterließ. Er erinnerte sich deutlich daran, wie Xana Zerqus Erinnerungen infiltriert und extrahiert hatte. Dieser hatte ihr bewusst Einlass verschafft und ihr auch praktisch die passenden Erinnerungen bereitgelegt, aber würde dies auch bei jemandem gelingen, der unkooperativ und möglicherweise mental stark genug war, sich zu wehren? Nun, zumindest würde der Angriff sie unvorbereitet treffen, weshalb sie sich vermutlich ein paar Sekunden kaum würde wehren können, und das würde sich vielleicht schon als völlig ausreichend erweisen.
Wieder einmal erwies sich die mentale Verbindung als unschätzbar wertvoll. Statt, wie ein gewöhnlicher Trainer, seinem Pokemon nun den Plan erklären zu müssen - und damit unweigerlich Shirley zu warnen - , brauchte Gareth Traunfugil nur gedanklich den Befehl zur Ausführung zu geben, und das schattenhafte Geistpokemon schwebte zur Decke der Höhle hinauf, wo es dunkel genug war, um ihre undeutlichen Konturen verlöschen zu lassen. Auf die Distanz von knapp drei Metern waren ihre psychischen Sonden immer noch in der Lage, Shirley zu entdecken, die momentan offenbar eher von Lyrissa abgelenkt war; ohnehin achtete niemand aus der Gruppe auf Traunfugil oder Gareth.
Sie stieß ihre psychischen Sonden in Shirleys Bewusstsein und zapfte den Strom an Gedanken und Emotionen an, der dort ablief. Dann öffnete sie ihre Verbindung zu Gareth weit und ließ Shirleys Gedanken einfach durch sich hindurch zu Gareth strömen.
Dieser stellte sich seitwärts, sodass er sowohl Lyrissa als auch Shirley im Auge behalten konnte. Die Gedanken der Trainerin und ihre Gefühle bildeten sich in ihm, als wären es seine eigenen. Er spürte ihre kalte, nachdenkliche Art, die sich nach dem Hass von vorhin seltsam anfühlten.
Viele Länder? Johto, Kanto sowieso, auch wenn Aerion auf der Basis zurückgeschlagen wurde und Exaris sich auch gerade in einer unglücklichen Situation befindet. Aber wer außer diesem Haufen Idioten soll bitte Team Sacrim sonst infiltrieren? Auf den Spuren von Cobra, welche im Untergrund arbeitet, bitte... die schaffen das nie, nie. Der Gedanke selbst bereitet einem irgendwie Kopfschmerzen... jedenfalls habe ich welche.
Ihre spöttischen letzten Gedanken schienen von einem leichten Unwohlsein abgelöst zu werden. Gareth spürte in der Tat die Schmerzen… doppelt so schlimm wie sonst, da er die von Shirley mitertragen musste. Aber die Gedanken waren jetzt viel zu interessant, um die Verbindung durch so eine Lappalie abzubrechen.
Hoenn könnte auch sein, aber was gibt es noch...? Jetzt… jetzt hört sie auf zu reden... Und lässt meine Frage einfach außen vor? Dann äußert sie schon SOETWAS und lässt die Gegenfrage dann mit lautem Knall fallen?
Ihre Emotionen veränderten sich von kühl zu zornig. Kaum weniger hasserfüllt als Gareth, aber sie schien sich ein wenig besser unter Kontrolle zu haben als er vorhin. Offenbar war dieses Gefühl nichts neues für sie.
Man sollte ihr die Haut abziehen, ihr Gehirn wie ein Tuch ausquetschen und ihr die Fingernägel ausreißen und damit durch das Herz schießen. Dann wäre sie nicht nur eine elende Verräterin, sondern eine elende blutige Verräterin...
Gareth hätte unwillkürlich gelacht, wenn ihn das nicht verraten hätte. Die anschaulichen Bilder, mit denen Shirley ihre wütende, stumme Hasstirade untermalte, trafen seinen Geschmack, auch wenn er vermutlich anders zu Werke gegangen wäre.
Also wenn sie nicht bald damit rausrückt... Zerqu könnte sie gerne zerquetschen, ich mach mir nicht die Hände schmutzig... aber spätestens Alodran wird sie schon kriegen und dann hat sie nichts mehr zu lachen. Mädel, wie du hier vor dich hinlaberst... es gibt Sachen mit denen sollte man sich nicht messen.
Plötzlich stockte sie. Ihr Blick hatte in der Dunkelheit die leuchtenden Augen des Geistpokemon gesehen.
DU verursachst bei mir starke Kopfschmerzen, verdammt!
Sie fuhr sich mit der linken Hand mehrmals durch die Haare und sah sich mit einem leichten Anflug von Panik nochmals um.
Das... Moment... das kommt nicht von Lyrissa... das ist anders... Gareth...? Lass die Befürchtungen nicht wahr sein...
Xana erkannte die Gefahr rechtzeitig und zog sich tiefer in die Schatten zurück und sank langsam zu Gareths Schulter zurück. Shirley starrte an den Fleck, an dem Xana eben noch geschwebt hatte, und ihre Gedanken wurden panikerfüllter, aber auch verschwommener, da Xana die Verbindung kaum noch halten konnte.
Wo ist … Teil? Was kann es? Ist es an mir dran? Verdammt, … Furcht … schon immer berechtigt... Verschwinde! Du hast … nichts mehr zu suchen, ich … Glumanda auf dich! Wenn … es war müsste … jetzt … weg sein... bitte nicht... Ich … die Krise wenn sie das gelesen hat…
Die Verbindung riss. Gareth holte erleichtert leise Luft, als die Schmerzen nachließen.
Jedes Wort, das Shirley gedacht hatte, hatte er sich eingeprägt. Sie sah sich immer noch besorgt um, um sicherzugehen, dass Traunfugil verschwunden war, und Gareth erlaubte sich ein dünnes Lächeln.
Er war erfüllt von der Vorfreude auf ein Gespräch zwischen ihnen beiden, wenn der Rest der Gruppe gerade nicht in der Nähe war. Sie hätte einiges zu erklären, und in ihrem eigenen Interesse hoffte Gareth, dass sie kooperativ sein würde. Sonst würde er dem Rest der Gruppe
erzählen, was er erfahren hatte.
Mit einem Seitenblick zu Surion verschloss er seine Erkenntnisse tief in sich. Er wollte nicht riskieren, durch einen unbedachten Gedanken über eine eventuell wieder auftretende Synchronisierung ihm etwas davon zuzuspielen.