Passanten mussten gestern meinen Weg gekreuzt haben, denn zwischen den Kopfschmerzen machten sich immer wieder dieselben Worte breit. „Lauft einfach weiter, bevor er uns anspricht“. Es war die Stimme einer Frau. „Das sowas bei uns in dieser Stadt herumlaufen darf“. Obwohl es fremde Stimmen waren, kamen mir diese Worte nur allzu bekannt vor. Abschaum, Gesindel. Als wäre Armut eine Krankheit, mit der man sich anstecken konnte. Aber das war nun mal so, wenn man an der West-Side von Stratos City lebte, hier war das Pflaster etwas härter als auf der Promenade, auf der sich die Reichen und Schönen tummelten. Die Sonntage waren bei mir Zuhause immer besonders friedlich, denn jeder schlief bis in den späten Nachmittag oder stahl sich noch vor allen anderen aus dem Haus. Noch bevor es Stress gab, wenn man etwas Dummes angestellt hatte und das passierte mir doch recht häufig. Zufälligerweise passte keine von den beiden Varianten zum heutigen Sonntag.
Durch die immer stärker werdenden Kopfschmerzen war langes Ausschlafen nicht drin, vorher würde mir der Schädel explodieren. Außerdem kam ein Duft von Frühstück durch mein Zimmer, keiner würde das Frühstück verpassen. Seitdem ich mich gestern von meinem Essen unfreiwillig verabschiedet hatte, fühlte sich mein Magen doch sehr leer an. Aus Angst im nächsten Augenblick zu erblinden, öffnete ich meine Augen nur langsam. Doch ich hatte Glück, nur sehr leicht schien das Licht durch die Schlitze der Rollläden und durchflutete das Zimmer gerade so, dass man alles erkennen konnte (ohne gleich blind zu werden). Ich stellte fest, dass ich ganz alleine im Zimmer war, das Bett meines um ein Jahr jüngeren Bruders Luca, mit dem ich dieses Zimmer teilte, war verlassen. Keiner würde mich wecken, selbst wenn es ein Frühstück am Sonntag gab, denn hier in diesem Haus galten besondere Regeln. Regel Nr. 1: Solange kein Blut floss oder offene Brüche zu sehen waren, wurde niemand geweckt.
Mit einem Ruck und ein paar Ausgleichungsschwankungen hievte ich mich aus meinem Bett und machte mich auf den Weg nach unten, um meinen wahnsinnigen Hunger zu stillen. Kaum hatte ich die Küche erreicht, kam aus allen Richtungen ein „Guten Morgen“ oder irgendein unverständliches Murmeln, welches man halbwegs als ein „Morgen“ durchgehen lassen konnte.
„Welche Bäckerei habt ihr diesmal überfallen?“, fragte ich als erstes, als ich den ungewöhnlich überfüllten Tisch sah.
„Die Familie Graham die vor ein paar Wochen zwei Blocks weiter eingezogen ist, ist gerade im Urlaub“, antwortete meine kleine Schwester Anni beiläufig.
„Und?“
Sie verdrehte die Augen. „Sie haben einen automatischen Lieferservice, der ihnen jeden Morgen die Brötchen bringt. Naja sie scheinen vergessen zu haben, ihn abzustellen, jetzt haben wir eine Woche lang Gratisfrühstück“, verkündete sie erfreut. „Sehr gut gemacht“, lobte ich sie und zerzauste ihre Haare. „Du wirst so langsam zu einer richtigen Bannett“
Mit einer frisch aufgebrühten Tasse Kaffee und einer Zigarette (mein tägliches Ritual) setzte ich mich zu meiner Familie an den Küchentisch. In meinem Leben gab es nichts Wichtigeres, als meine Familie, wir gaben uns gegenseitig Halt und Kraft, man sollte meinen, das ist normal, verständlich. Aber nein, hier in dieser Gegend gingen viele Ehen in die Brüche, es war also keine Seltenheit, dass die meisten Kinder getrennt in verschiedenen Patchworkfamilien aufwuchsen. So etwas würde ich nie zulassen, wir waren eine Einheit, wie ein eingespieltes Team. Wir hatten zwar nicht alle denselben Vater, jedoch eine Mutter, die uns alle miteinander verband. Mein kleinster Bruder mit neun Jahren war wohl noch der harmloseste in unserem Wurf, bis auf ein paar Schlägereien auf dem Schulhof hatte er noch nichts angestellt. Anni hingegen hatte es faustdick hinter den Ohren, wenn sie gerade nicht dabei war, die Nachbarschaft aufeinander zu hetzen, klaute sie deren Zeitungen, Pakete und sonstige Sachen, welche sie achtlos im Garten rumliegen ließen. Hin und wieder war auch mal etwas Nützliches dabei. Mein zweiter Bruder Luca, mit dem ich das Zimmer teilte, war wie ein Maschock, jede freie Minute nutzte er zum Trainieren. Ich konnte schon recht viel einstecken, er konnte viel einstecken und noch viel mehr austeilen. Außer, dass er blonde Haare hatte und das komplette Gegenteil von uns allen war, gab es nicht sehr viel über hin zu sagen. Er machte seine Hausaufgaben regelmäßig…
Dann war da noch meine ältere Schwester, sie lebte hier schon lange nicht mehr, nachdem sie den größten Deppen dieser Stadt geheiratet hatte, war sie ausgezogen, aber sie besucht uns gelegentlich. Mit anderen Worten meine Familie.
Ich schnappte mir das Schokobrötchen und biss einmal ordentlich hinein.
„Ian! Das war meins, verdammt!“
„Da stand aber nicht dein Name drauf, Paul“
„Ich hab es schon vorher abgeleckt“, ein verzweifelter Versuch mich davon abzuhalten.
Lachend nahm ich genüsslich einen weiteren, großen Bissen.
„Was gibt’s sonst Neues?“, erkundigte ich mich in der Runde.
„Rechnungen“, war die knappe Antwort meines blonden Bruders.
„Also wir haben letzte Woche in der Schule ein Quaxo seziert, das war ziemlich cool“, das Schokobrötchen hatte er längst aufgegeben oder bereits vergessen.
„Rechnungen, hey, hört sich gar nicht gut an, zeig mal her.“
„Stromrechnung“, er warf mir den blauen Briefumschlag direkt vor die Brust. Im Fenster des Briefes stand die Firma Elevoltekwerk GbR und darunter war feinsäuberlich unsere Adresse und der Name unserer Mutter gedruckt. Mist, das konnten wir uns zurzeit überhaupt nicht leisten. Aber was sollten wir tun, wir brauchten den Strom, wir waren zwar arm, aber wir mussten trotzdem unsere Wäsche waschen und auch hin und wieder etwas zu Essen kochen.
„Wo ist sie?“, fragte ich.
„Sie ist oben, sie schläft noch, hat eine Nachtschicht beim Pokémon-Markt eingelegt. Muss wohl daran liegen, dass in letzter Zeit viele Trainer hier in der Stadt unterwegs sind.“ Meine Schwester Anni war mal wieder bestens informiert. Der Pokémon-Markt hatte immer, egal ob zu Weihnachten, Silvester, Ostern, anderen Feiertagen und sogar, wenn die Welt untergehen würde, genau 24 Stunden offen.
„Viele Trainer, sagtest du?“
„Ja, sie kommen von überall her. Soweit ich es mitbekommen habe, findet auf dem Marktplatz heute Mittag eine Parade statt.“
Wie konnte mir das nur entgehen? Jedes Jahr veranstaltete die Stadt eine große Feier, beziehungsweise eine Parade. Gesponsert wurde das Ganze durch die Stadt, die Veranstalter waren die Arenaleiter und die Besucher eben die Pokémontrainer, welche von den abgelegensten Winkeln dieser Erde kamen, um an diesem großen Spectaculum teilzunehmen. Wenn ihr mich fragt, feierten sie sich alle nur selbst. So eine Zeit- und Geldverschwendung, normalerweise mied ich solche Orte, aber heute kam es mir wie ein gefundenes Fressen vor.
„Ich weiß wie ich an Geld komme, ich brauche aber einen zweiten Mann dafür.“
Ich wusste, es würde ein schwieriges Unterfangen werden, dort überhaupt aufzukreuzen.
„Ich würde es machen“, meldete sich Paul freiwillig und mit voller Begeisterung.
„Nein, ich will niemanden aus der Familie da mit reinziehen“, das konnte ich nicht zulassen, womöglich konnten sie im Knast landen.
„Hat sich Mike schon gemeldet?“, erkundigte ich mich. Da wir Sonntags immer für die Schule lernten, wusste ich, dass er heute hier auftauchen würde. Um es richtig zu stellen: Er lernte und ich half ihm dabei.
„Er hat vor einer halben Stunde angerufen und nach dir gefragt, ich denke, er wird schon auf dem Weg hierher sein“, erklärte mir Anni, während sie das Geschirr vom Tisch abräumte.
„Ok, danke dir, du brauchst heute nicht den Abwasch zu machen, das übernehme ich. Bitte und das gilt für alle, macht eure Hausaufgaben und räumt hinterher eure Zimmer auf, wir sind zwar arm, aber hier muss es nicht gleich danach aussehen.“ Ein allgemeines Raunen und Stöhnen ging durch die Küche. „Das ganze bitte sofort und etwas leiser“, setzte ich lachend nach.
Ich wusste, keiner hatte wirklich Lust auf Schule und in dieser Hinsicht war ich garantiert nicht das beste Beispiel, aber ich wusste auch, sie würden es erledigen. Ich nahm alle Teller und Tassen, stapelte das Geschirr im Spülbecken und ließ heißes Wasser darüber laufen. Solche Tätigkeiten machte ich unverständlicherweise gerne, Gehirn ausschalten und einfach gedankenlos vor sich hinarbeiten, die alltäglichen Sorgen einfach einmal fallen lassen. Das war nicht immer so, aber wenn unsere Mutter nicht hier war oder einfach nicht die Verantwortung über ihre fünf Kinder übernehmen wollte, musste ich eben einspringen und das brachte eine Menge Arbeit und Sorgen mit sich.
Das Geräusch der Haustür riss mich aus meinen Gedanken, in der Ferne hörte ich, wie sie geöffnet wurde und jemand hinter sich wieder zuzog. Es brauchte eine Weile, bis Mike an der Küchentürschwelle auftauchte. Ich wusste, dass er es war, nicht jeder kennt unser Schlüsselversteck. Falls man sich mal ausperrte.
„Was war gestern los mit dir?“, fragte er gleich nach. „Du bist so plötzlich, wie von einem Tentantel gestochen, verschwunden.“ Mit verschränkten Armen lehnte er sich lässig in den Türrahmen und wartete erwartungsvoll auf eine Antwort.
„Ich habe mir mein Essen ein zweites Mal durch den Kopf gehen lassen, nichts Wildes, ich wollte sowieso nach Hause“, erklärte ich ihm kurz und bündig.
„Ian, warum sagst du mir nichts?“
„Was? Dass ich kotzen muss und du mir meine Haare heben sollst, damit sie nichts abbekommen?“, entgegnete ich ihm leicht genervt. Nicht das ich lange Haare hätte, ganz im Gegenteil. Wenn ich schon mal über den Durst trank, brauchte ich sicherlich kein Kindermädchen, das auf mich aufpasste.
„Du weißt, dass ich das nicht meinte“, redete er sanft auf mich ein, damit ich mich wieder beruhigte.
„Was willst du dann?“
„Ich will, dass du nicht alleine nach Hause läufst!“, jetzt war er derjenige der lauter wurde.
„Und warum nicht, sehe ich aus wie deine Freundin, hast du Angst, dass ich vergewaltigt werde?“
„Nein, das wäre mir ziemlich egal, ich will nur nicht, dass dich wieder irgendwelche Leute windelweich prügeln, nur weil du deine Klappe nicht halten kannst“.
"Quatsch, das ist doch bis jetzt nur einmal...", ich musste kurz überlegen. "Sechs- oder siebenmal passiert."
Jetzt da ich darüber nachdachte, musste ich eingestehen, dass er doch Recht hatte. Ich mochte nicht, dass er Recht hatte, vor allem nicht auf mich bezogen. Aber nur weil es stimmte, hieß es noch lange nicht, dass ich in irgendeiner Form Personenschutz brauchte.
Dadurch, dass er seine Arme vor der Brust verschränkte, machte er deutlich, dass er wusste, dass ich wusste, dass er Recht hatte. Geschlagen ließ ich den Kopf hängen und konzentrierte mich weiter auf den Abwasch. Es war wohl doch mehr Geschirr angefallen, dachte ich mir, um mich ein wenig abzulenken. Doch das Ende war schon langsam in Sicht. Selbst nachdem ich die letzte Tasse in den Schrank geräumt hatte, hatte er kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt. In der Zwischenzeit hatte sich Mike sogar an den Küchentisch gesetzt und war gerade dabei, seine kompletten Bücher und anderen Schulkram darauf auszubreiten. Den Rucksack, den er vorher über der Schulter trug, schmiss er rücksichtslos in die nächstbeste Ecke. Ich beobachtete ihn sogar dabei, wie er schon anfing in dem ein oder anderen Buch nachzuschlagen. Das Schulsystem hier in Einall war sehr einfach gestrickt. Mit sechs Jahren wurde man bekanntlich in die sogenannte Vorschule geschickt, die man dann, wenn es gut lief, vier Jahre besuchte. Danach ging es weitere vier Jahre in die Mittelstufe, bis man diese (normalerweise) mit vierzehn Jahre verlässt, um Pokémontrainer zu werden, wenn man reiche Eltern hatte und das nötige Kleingeld besaß. Und dann gab es wiederum in meinem Fall, wenn man das wollte, die Oberstufe, welche keine Pflicht war, aber man trotzdem besuchte, wenn man etwas aus sich machen wollte. Mich hatte es dort hin verschlagen, da ich eine dumme Wette gegen meine Mutter verloren hatte. Dazu ein andermal mehr.
Nicht, dass ich Mike gerne vom Lernen abhalten wollte, aber es gab jetzt einfach Wichtigeres zu tun.
"Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne erst heute Abend mit dir lernen, ich habe leider noch etwas vor", unterbrach ich sein Vorbereitungs-Ritual, welches er immer vollzog, wenn ein neuer Unterricht begann. Ich schwang das Küchentuch zum Trocknen auf den Stuhl direkt vor mir. Der Abwasch war getan.
"Was?! Und das sagst du mir erst, nachdem ich alles ausgepackt habe?", genervt lehnte er sich auf seinen Stuhl zurück.
"Außerdem hast du mir versprochen, dass wir heute lernen, was kann denn so viel wichtiger sein?" Ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten setzte er fort. "Dir ist schon bewusst, dass es nur noch ein paar Wochen bis zu den Weihnachtsferien sind und jeder verdammte Lehrer an unserer Schule noch Arbeiten schreiben möchte?" Er legte wieder eine Pause ein, strich sich gestresst durch seine dunkelblonden Haare und hinterließ sie völlig zerzaust. Er tat mir schon ein wenig leid, mit der jetzigen Frisur sah er ein wenig so aus wie ein Irrer kurz vor seinem Nervenzusammenbruch. Warum machte er sich immer nur so verrückt, die Arbeiten liefen doch nicht weg.
"Beruhig dich einfach, der Tag ist noch lang und ich sagte ja, ich helfe dir später", war meine knappe Antwort auf sein ewiglanges Gezetere. "Außerdem brauche ich dich noch für mein Vorhaben", setzte ich noch ganz selbstverständlich hinzu. Auf eine Reaktion seitens Mike musste ich nicht lange warten. Mittlerweile saß er gerade auf seinem Stuhl und verschränkte seine Arme vor der Brust, wie er es immer tat, wenn es um ernste Themen ging. Sein bereits finsterer Blick begegnete meinem und versuchte verzweifelnd herauszufinden, was ich im Schilde führte. Jedoch anscheinend mit wenig Erfolg. „Was hast du vor?" fragte er mit fester Stimme.
Jetzt lag es an mir, es ihm so schonend wie möglich beizubringen. Wenn ich sofort damit herausrückte, würde er möglicherweise direkt nein sagen.
"Erinnerst du dich noch...", ich versuchte zwischen meiner Erklärung Pausen zu lassen, damit ich ihn nicht gleich überforderte, ich wusste wie schnell seine Launen änderten, es war schon fast wie bei einem kleinen Kind.
"...an die Sache vor vier Jahren, auf dem Weihnachtsmarkt, als wir..."
"NEIN!"
"Ich war doch noch gar nicht fertig", brachte ich empört hervor.
"Ist mir egal, ich mach es nicht, wir machen es nicht, erinnerst du dich noch, dass wir geschworen haben, wir würden es nie wieder versuchen?!", erwiderte er aufgebracht und benutzte dabei meine eigenen Worte. Nun saß er schon längst nicht mehr, sondern schnappte völlig aufgebracht nach seiner Tasche und war gerade dabei seine gesamten Bücher wieder einzupacken. Verdammt, das war vielleicht doch zu schnell, dabei hab ich mir solche Mühe gegeben vorsichtig an die Sache ran zu gehen. Irgendwas musste ich unternehmen um ihn davon abzuhalten, abzuhauen. Eventuell schaffte ich das mit den richtigen Worten.
"Ich hab aber sonst niemanden, den ich fragen könnte."
"Was ist mit deinem Bruder Luca?", fragte er beiläufig, als würde jeder Mensch dafür in Frage kommen. Er hatte den größten Teil seiner Sachen schon vom Küchentisch geräumt, bald würde er sich aus dem Staub machen, dabei brauchte ich ihn, er war mein bester Freund. Schon seit der Vorschule, wo wir uns kennen gelernt hatten, war auch ich sein bester Freund. Wir teilten uns eine lange und verrückte Kindheit, wer kam da sonst in Frage? Nicht mal er selbst kannte seine guten Seiten und seine komischen Macken so sehr wie ich, wenn es hart auf hart kam, konnten wir uns aufeinander verlassen, wir konnten uns vertrauen. Genau das war es. Vertrauen.
"Ich brauche aber jemanden, dem ich blind vertrauen kann", ich sprach die volle Wahrheit aus meiner tiefsten Seele und anscheinend zeigte das bei ihm Wirkung, denn er hielt für einen Moment inne.
Jawohl, der Fisch hat angebissen, jetzt muss ich ihn nur noch vorsichtig an Land ziehen.
"Das wird bestimmt lustig", versuchte ich es weiter.
Zunächst dachte ich, er würde direkt zustimmen, aber dadurch, dass er von einem Fuß auf den anderen hin und her wippte, konnte ich erkennen, dass er tatsächlich über mein Vorhaben nachdachte. Er ließ sich wieder energielos auf den Stuhl zurück fallen, als hätte er den längsten Marathon hinter sich.
"Für was brauchst du das Geld?“, fragte er interessiert.
Noch hatte er mir nicht eingewilligt zu helfen, trotzdem kamen wir der Sache näher.
Ich nickte Richtung Küchentisch, auf dem der blaue Briefumschlag noch ungeöffnet lag.
"Stromrechnung", machte ich Luca nach.
"Der Brief ist ja noch gar nicht auf", bemerkte Mike, als er meinem Nicken folgte. Noch bevor ich den Tisch erreichte, um den Brief an mich zu nehmen, kam Mike mir zuvor und setzte mein Vorhaben in die Tat um. Ich lehnte mich über ihn, um alles mitlesen zu können. Ich hasste Rechnungen, warum wollten die immer nur alle Geld von einem.
Da wir den Strom nur einmal im Jahr bezahlten, rechnete ich schon mit dem Schlimmsten. Mike faltete das Stück Papier bereits auseinander.
"Um Himmelswillen, Ian!", brachte Mike entsetzt hervor.
Was war los, sah er etwas, was ich nicht sah? Auf der ersten Seite konnte ich zumindest noch keine Summe feststellen.
"Was ist los?“, fragte ich verwirrt.
Angewidert zog er seinen Pullover über die untere Hälfte seines Gesichtes, "Verdammt, wann warst du das letzte Mal duschen? Du stinkst ja echt brutal."
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
„Kann nicht jeder so gut duften wie du“, war meine Antwort darauf.
Wen interessierte hier gerade mein natürlicher Körpergeruch, verdammt. Ich wollte die Summe der Rechnung auf der Stelle wissen, nicht, wann ich das letzte Mal geduscht hatte. Ich riss ihm das Stück Papier aus der Hand, da er anscheinend viel zu sehr damit beschäftigt war, seinen Pulli über der Nase zu halten.
Kaum hatte ich es in der Hand, drehte ich die Rechnung auch schon um und in fetter Schrift schrie mich die belastende Zahl auch schon an.
"Was zur Hölle,.. sechstausend Pokédollar! Wer zahlt hier denn so viel für Strom, ich glaube, die haben sie nicht mehr alle", schrie ich fast. Wie konnten die es wagen, überhaupt so viel zu verlangen, soweit ich wusste, wurde dieser Strom von Pokémon produziert und schließlich mussten die Anbieter im Prinzip nur den Unterhalt jener Pokémon bezahlen. Dass sich das Ganze auf so eine unverschämt hohe Summe verlief, gab mir fast den Rest. Die Chancen standen echt schlecht, solch eine Summe in der, wie ich dem Zahlungsziel direkt darunter entnahm, vorgegeben Zeit von vier Tagen zusammenzutreiben. Selbst wenn unser Vorhaben gut lief, wer wusste schon wie viel wir überhaupt zusammenkriegen konnten. Vielleicht konnte ich auch noch ein paar Leute anschwatzen, die mir sicherlich ein wenig Geld leihen würden. Einen Kredit bei der Bank würde ich auf keinen Fall bekommen, dass die dort nicht schon ein Hausverbot oder Steckbrief mit meinem Gesicht aufgehängt hatten, war auch schon alles. Verdammt, ich wollte mir gar nicht ausmalen, wenn wir es nicht rechtzeitig schafften, die Rechnung zu bezahlen. Ohne Strom da zu sitzen und das an Weihnachten. Mein Mund wurde ganz trocken. Instinktiv griff ich nach der Schachtel Zigaretten und zündete mir eine an.
"Muss das jetzt sein?" Ich gab Mike darauf keine Antwort und zog ein weiteres Mal demonstrativ an der Zigarette. Er war Nichtraucher und hasste es, wenn Leute in seiner Nähe eine qualmten, normalerweise versuchte ich auf sowas Rücksicht zu nehmen, aber ich hatte gerade keine Lust darauf. Zu sehr störte mich der Gedanke, dass wieder mal alles an mir hängen blieb. Dass meine Mutter oben lag und wieder von nichts wusste. Selbst wenn ich sie weckte, würde das überhaupt nichts bringen. Sie hatte das Geld genau so wenig wie ich und das Traurige dabei war, dass ich das zu einhundert Prozent wusste. Viel zu schnell geraucht, drückte ich den Rest mit einer routinierten Handbewegung im Aschenbecher aus. Sie hatte mich keineswegs in irgendeiner Form beruhigt. Das Problem war genauso da, wie vorher auch. Jetzt kam ich mir ein wenig lächerlich vor, der Gedanke daran, wie ich vorhin versucht hatte, Mike in die ganze Sache mit einzubeziehen. Ich schämte mich schon fast. Dabei wusste ich, dass ich das nicht brauchte, schließlich kannte er mich nicht anders. Trotzdem entwickelte das Ganze sich gerade zu einer für mich peinlichen Situation. Wie konnte ich auch nur so etwas von ihm verlangen? Ich strich mir meine ungewaschenen schwarzen Haare von der Stirn.
Fast schon zu laut für die Stille, die in der Zwischenzeit eingetreten war, äußerte sich Mike als erster. "Eine ordentliche Summe, hä?" Erwartete er wirklich eine Antwort von mir? Wollte er, dass ich ihm die Rechnung unter die Nase rieb?
Aber keines von beidem musste ich tun, denn seine nächsten Worte brauchten keine Antwort.
"Ich helfe dir." Ich wagte es nicht, drauf etwas zu sagen.
"Aber nur, unter einer Bedingung", sagte er.
Egal was es war, ich würde sowieso darauf eingehen. Schon alleine der Gedanke daran, dass er mir doch helfen wollte, entflammte in mir erneut meine Euphorie.
"Welche?" ächzte ich. Ich hatte schon fast meine Stimme verloren.
"Du gehst vorher duschen, sonst riechen dich die Fukanos meilenweit gegen den Wind", sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. Und schon fiel die komplette Anspannung, die ich die ganze Zeit aufgebaut hatte, in wenigen Sekunden. Mein ganzer Körper lockerte sich und selbst ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich wollte es nur noch durchziehen und diese vier Wände, zumindest für eine Weile, hinter mir lassen.
"Gib mir fünf Minuten", sagte ich erfreut und war schon dabei die Treppen nach oben zu sprinten.
"Ich geb dir auch gerne zehn! Arceus sei Dank, dass ihr wenigstens die Wasserrechnung bezahlt habt!", rief er mir noch hinauf.
Nicht mehr lange und wir würden Kopf und Kragen riskieren, um an das Geld zu kommen. Aber komischerweise hatte ich ein gutes Gefühl dabei.