Quietschend öffnete sich die Tür, die in den Pferdestall führte. Mit raschen Schritten begab sich Feliks zu seiner Ponystute Hoi und streichelte ihr über das braune Fell.
„Schau mal, was ich dir mitgebracht habe!“
Er präsentierte einen der Äpfel, die er aus der Küche mitgenommen hatte. Hoi verschlang diesen glücklich. Die anderen beiden Früchte legte der Pole auf den Boden vor sein Pony, ehe er sich nach dem Striegel umsah. Noch während er suchte, hörte er jemanden den Stall betreten und als er sich umdrehte, sah er seinen Vater.
„Was ist?“, fragte er und suchte in einer Kiste, aus der er Zügel, Bänder und ähnliches zu Tage förderte, aber keinen Striegel.
„Mein Sohn, ich habe tolle Neuigkeiten!“
„Welche?“ Nun wendete Feliks seine komplette Aufmerksamkeit seinem Vater zu.
Stolz verkündete dieser: „Ich habe dich an einer Kampfschule in Niesamowite angemeldet!“
Entsetzen stand Feliks ins Gesicht geschrieben. „Niesamowite?! Das liegt doch an der Grenze! Nein, das mache ich nicht, da sind bestimmt nur Fremde!“
„Aber Feliks, sieh es doch so: Du lernst bestimmt eine Menge neuer Freunde kennen“, versuchte Herr Łukasiewicz seinen Sohn zu beruhigen, doch sein Gesprächspartner steigerte sich nur noch mehr in die Situation rein: „Ich will aber niemanden kennen lernen! Nein! Das wird schrecklich! Ich will hierbleiben! Bei dir, Mutter und Hoi, mich mit Liet und Liza treffen und nicht mit Fremden meinen Alltag verbringen!“
„Feliks! Jetzt beruhig dich doch mal! Toris wird doch auch mitkommen.“
„Was?“ Das änderte die Situation. Wenn Toris mitkommen würde, müsste Feliks sich nicht mit anderen unterhalten, vielleicht könnte er sie komplett meiden. Und mit seinem besten Freund wäre es vermutlich auch ganz spaßig, zu trainieren.
Er schaute zu seiner Stute, die gemütlich ihre Äpfel fraß. Hoi würde wohl auch ohne ihn zurechtkommen, und sein Vater würde ihn vermutlich so oder so wegschicken…
„Von mir aus. Wann geht es los?“
„Meine Teuerste, auch ich...“
Wummms.
„...bin der Meinung, dass es...“
Bumm.
„...dass es für Jungen gut ist, sich bereits in der Kindheit körperlich zu ertüchtigen.“
Womm.
„Was verursacht denn ständig diese störenden Geräusche?“
Lediglich ein Seufzen kam über die Lippen der Angesprochenen. Nicht einmal zu ihrer Teegesellschaft im Stadthaus der Familie Laurinaitis in Warschau war ihr eine Pause gegönnt.
„Das ist mein Ältester, Toris.“ Erneut seufzte sie. „Er übt sich im Kampf.“
Ein weiteres Mitglied der Runde zog die Augenbrauen hoch. „Muss er das denn unbedingt jetzt tun?“
„Er nimmt das sehr ernst. Wir befürchten zwar alle, dass der Krieg bald unser Land ergreifen möge, aber Toris stellt uns noch in den Schatten“, gab die geplagte, doch stolze Mutter zur Antwort. Sie war zu froh darüber, dass ihr Sohn, der sonst eher ein Bücherwurm und Zimmerhocker war, diese Beschäftigung für sich entdeckt hatte.
Aber das Glück war mit ihr, denn auch der Vater des ambitionierten Kampfsportschüler hatte am andauernden Lärm Anstoß genommen. Er mochte ihn gleichfalls nicht recht
verbieten, wo es doch einem guten Zweck gewidmet war und es wirklich keine Garantie dafür gab, dass Polen-Litauen sich auf Dauer aus den Konflikten im Westen und Norden würde heraushalten können. Aber eine andere Idee hatte sich Gott sei Dank rasch aufgetan, eine Idee, von der sie alle profitieren würden.
Mit einer anderen Ankündigung auf den Lippen trat er also hinaus in den Garten zu Toris, der gerade wieder die zu Übungszwecken verwendete sandgefüllte Puppe aufrichtete, und legte
ihm eine Hand auf die Schulter, bevor der nächste Schlag erfolgen konnte.
„Sohnemann“, begann der alte Herr, „ich habe mehr über die Kampfschule in Erfahrung gebracht, von der du erzählt hast. Es schien mir wie eine gute Sache und es waren noch Plätze frei... um es kurz zu machen, am zweiten Freitag im Juli brichst du auf nach Niesamowite.“
Zufrieden wartete er die Reaktion des Sprösslings ab. Eigentlich war er ja kein großer Redner, aber das eben war doch gut gewesen.
Dieser strahlte regelrecht. „Wirklich? Vielen Dank!“, rief Toris aus und wäre beinahe schon losgelaufen, um seine Sachen zu packen, wenn er sich nicht rechtzeitig erinnert hätte, dass es Juli geheißen hatte und nicht Juni.
„Noch eins, Toris. Wahrscheinlich geht dein Freund Feliks auch dorthin.“
Besser konnte der Tag nicht mehr werden, nicht für Toris und erst recht nicht für seine Familie. Auf andere hingegen sollte eine weniger schöne Überraschung warten...
Feliks ließ sich in das Gras um den kleinen See herum, an dem er sich häufiger mit Elizabeta und Toris traf, fallen. Nach der Ankündigung seines Vaters, dass er und Toris in drei Wochen nach Niesamowite fahren würden, wollte er unbedingt mit seinen Freunden darüber reden.
'Ob Liza wohl auch mitkommt?, fragte er sich und versuchte, in den Wolken Formen zu erkennen. 'Mit ihr und Liet wäre es perfekt!'
Den ganzen Morgen war er durch die Stadt gerannt, hatte versucht, die beiden zu finden. Das Naheliegenste waren natürlich ihre Häuser, doch kaum angekommen, hatte Feliks jedes Mal zu hören bekommen, dass die Gesuchten nur wenige Minuten vor seiner Ankunft ausgegangen waren und umkehren müssen.
Ein wenig faul, wie er nun mal war, hatte er dann beschlossen, es mit dieser Wiese zu versuchen. Seit Jahren nutzen die drei diesen abgeschiedenen Ort als Treffpunkt, wenn sie mit ihren Familien in Warschau waren. Nur sehr selten kam jemand vorbei, fast die ganze Zeit waren sie ungestört, und gleichzeitig war der Platz von jedem aus gut zu erreichen.
Früher waren es von der Abenteuerlust kindlicher Gemüter beseelte konspirative Treffen gewesen, die die Freunde hier vor Eltern, Geschwistern und dergleichen Plagegeistern mehr verborgen hatten, mittlerweile kamen sie auch hierher, wenn sie einfach mal eine Auszeit brauchten und jemanden, bei dem man sich ungeniert beschweren konnte. Toris und Elizabeta stellten sich sicher bald hier ein.
Hoffentlich auch bald genug, um Feliks' stets schnell aufkeimender Ungeduld den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Und tatsächlich tauchte Toris keine drei Minuten später auf. Er hatte sich sichtlich beeilt, kaum, dass er beim anderen angekommen war, blieb er stehen und stützte keuchend die Hände auf die Knie.
„Liet! Da bist du ja endlich!“, rief Feliks aus und sprang aufgeregt auf. Noch während sein Kumpel nach Atem rang, sprudelten aus die Worte nur so aus ihm heraus.
„Weißte, diese Kampfschule da, ich fahr da auch hin! Also, du und ich auch, meine ich! Hast du das schon gehört? Toll, oder?“
„Ja, weiß Bescheid“, brachte Toris hervor, ließ sich rücklings ins Gras fallen und schielte zu Feliks hoch. Dieser legte sich ebenfalls hin, ohne seinen Redefluss groß zu unterbrechen.
„Liza müssen wir das auch noch erzählen! Ich finde das so super, dass wir da zusammen hinkönnen! Dann sind da nicht nur lauter Fremde. Was sie wohl dazu sagt?“
Toris drehte den Kopf zur Seite und sah seinen besten Freund an. „Ich glaube fast, sie wird wütend sein“, mutmaßte er. „Sie ärgert sich doch immer so, wenn sie zu solchen Veranstaltungen nicht mitdarf, und flucht dann, das sei nur, weil sie ein Mädchen ist. Erinnerst du dich nicht an den Fechtkurs?“
Feliks schlug sich an die Stirn. „Ach, stimmt! Ich hatte das ganz vergessen. Ich hoffe trotzdem, dass sie mitka-“
Von einem lauten „Verdammt!" wurde er unterbrochen. Elizabeta stapfte wütend auf die beiden zu, wobei sie weiter schimpfte: „Ich kann das nicht glauben! Was soll dieser Mist eigentlich! Nie darf ich irgendwas machen! Nie! Das ist so unglaublich gemein, verdammt!"
„Hey Eliza, was ist denn passiert?“, fragte Toris nach, obwohl er den Grund für ihre Wut bereits kannte, zumindest erahnte.
„Ich darf nicht mit! Meine Mutter will das nicht, 'feine Damen kämpfen nicht'!“, äffte sie die Stimme ihrer Mutter nach, „ich will aber keine 'feine Dame' sein, ich wäre viel lieber ein Krieger! Warum sollen Mädchen überhaupt nicht lernen zu kämpfen? Sollen wir, wenn ein Krieg beginnt, zuhause rum sitzen und Tee trinken?“
„Und du kannst wirklich nichts machen, um sie zu überzeugen?“, erkundigte sich Feliks.
„Nein, die bleiben stur bei ihrer Meinung, ich hab schon alles versucht! Aber selbst wenn ich sie umstimmen könnte: In die Kampfschule dürfte ich trotzdem nicht mit. Und das nur, weil ich ein Mädchen bin! Dabei bin ich mindestens so stark wie du, Feliks, wahrscheinlich sogar noch stärker! Das ist so bescheuert! Ich will auch mitkommen!“
Feliks überlegte: „Warte, das heißt, dass du nich' mitdarfst, weil da keine Mädchen erlaubt sind, stimmt´s? Was wäre aber, wenn du ein Junge wärest, wie sähe es dann aus?“
Toris stöhnte. „Bitte sag mir, dass du jetzt nicht das sagst, was ich denke, was du sagst!“
Der Andere grinste, als er stolz sagte: „Ich hab da ´ne tolle Idee…“ Er winkte Elizabeta zu sich heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Toris, der aus Erfahrung wusste, dass er keine Chance hatte, mitzuhören, versuchte stattdessen den Gesichtsausdruck des Mädchens zu interpretieren. Die Ergebnisse waren recht mager, doch immerhin musste Feliks etwas gesagt haben, dass ihre Freundin beruhigte. Das war eine respektable Leistung.
„Also, gehen wir?“, wandte Feliks sich mit geheimnistuerischem Unterton an Elizabeta, die ihn kurz nachdenklich ansah und dann entschlossen nickte.
Toris runzelte nur die Stirn. „Erfahre ich was los ist?“, fragte er, obwohl er sich keine großen Hoffnungen darauf machte.
Die beiden grinsten ihn an. „Später, Liet. Später“, gab das Mädchen karg Auskunft, drehte sich plötzlich um und eilte davon. Feliks blieb gerade noch so viel länger, dass er dem Zurückbleibenden lachend „Aber nicht sehr viel später! Komm nachher zu meinem Haus!“ zurufen konnte, bevor auch er verschwand.
Eine gute halbe Stunde voller Arbeit einerseits und Rätselei andererseits waren die drei Freunde in Feliks' Zimmer wieder versammelt. Mit von der Partie war zudem noch ein großes unförmiges Paket, das etwas mit der Heimlichtuerei zu tun haben musste.
Toris richtete nur einen fragenden Blick auf seine beiden Freunde, die sich ständig bedeutungsvolle Blicke zuwarfen, aber leider keine Anstalten machten, die Sache aufzuklären. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, einfach zu warten. Es brachte ja nichts, sich deswegen jetzt verrückt zu machen.
„Also gut, wie ich gesagt habe, ja? Vergiss nicht wieder die Hälfte!“, wies Feliks Elizabeta an, die nur „Jaa.“ entgegnete, sich das Päckchen unter den Arm klemmte und den Raum verließ.
Eine Nachfrage konnte sich Toris doch nicht mehr verkneifen. „Was wird das?“
„Bleib ruhig, Liet. Wirst schon sehen. Komm, wir reden über was anderes, solange Liza beschäftigt ist.“
„Über was denn?“
„Was du willst! Bücher. Ponys. Damenfrisuren.“
„Feliks, ich habe keine Ahnung von Frisuren.“ Toris zog eine Augenbraue hoch und guckte seinen Kumpel skeptisch an.
Der lachte nur. „Ich doch auch nicht.“
Mangels eines Gesprächsthemas, das sie wirklich fesseln konnte, verstummten sie und versanken beide in Gedanken an die Dritte im Bunde und was sonst auch immer ihnen einfallen wollte. Durch ein Fenster links der beiden erhellte Tageslicht das große Zimmer, es war noch nicht einmal Nachmittag. Wenn man so früh bereits so aktiv war, bekam man schnell den Eindruck, die Tageszeit müsste weiter fortgeschritten sein.
Gerade als Toris eine Bemerkung dazu machen wollte, öffnete sich die Tür wieder und Elizabeta kam herein, ging langsam um die beiden anderen herum und stellte sich vor sie hin.
„Also, ich weiß ja nicht. Komme ich damit wirklich durch?“
„Ja sicher.“
„Das... das ist nicht euer Ernst!“