Prologue
„Sichtung des Roten Ritters verhindert.“ Die Überschrift warmit der Hand in einer alt aussehenden Schrift auf das brüchige Papieraufgetragen worden. Sie war datiert auf „Siebenter Tag des fünften Monats imJahre 1831 AD“.
Christopher begutachtete das alte Schriftstück sorgsam. DieSeiten der gelblichen Blätter waren ausgefranst und wellig. Es fiel ihm schwerdie Schrift zu lesen, war sie doch anders als jene, die er in der Schulegelernt hatte. Schon die Überschrift war kunstvoll ausgeschmückt und mit roterFarbe hinterlegt. Glücklicherweise war der Rest des Textes in schwarz gehaltenund nicht ganz so verschnörkelt.
Christopher legte seine Hände auf die Tastatur derSchreibmaschine und tippte die Überschrift ab. Das Rattern der Schreibmaschineverstummte, als er überlegte, ob er das Datum in ein heute übliches Formatübertragen sollte, oder doch den alten Text einfach nur abzutippen hatte.
Die Tür seines Zimmers öffnete sich vorsichtig. Christopherdrehte sich um sah die alte Frau. Ihr Gesicht war faltig und das Haar mehr grauals braun. Die Frau legte einen Stapel gebügelte Kleidungsstücke auf dasordentlich gemachte Bett.
„Dein Vater erwartet dich. Er will gleich mit dir los“, sagtesie zu ihrem Enkel, als sie ihm die runzeligen Finger auf die Schultern gelegthatte. „Diese Schreibmaschinen machen es euch heute doch einfacher, dieSchriften zu übertragen“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Danke, Oma. Ich bin gleich unten“, antwortete Christopher kurzgebunden. Vorsichtig nahm er das alte Pergament und legte es zu den anderen Zeugnisseneiner vergangenen Zeit in die hölzerne Truhe zurück.
Die Großmutter verließ das Zimmer, nicht, ohne ihrem Enkel zusagen, dass er sich beeilen sollte. Christopher stand von seinem Stuhl und dem durchgesessenenKissen auf. Er blickte aus dem Fenster zum sich langsam rosa färbenden Himmel.Bald würde die Sonne untergangen sein und den warmen Sommertag für beendeterklärt haben. Christophers Lust hielt sich in Grenzen, doch half es nicht. Ernahm die Kleider vom Bett, trug sie zum Kleiderschrank und räumte sie ein. Eheer den Schrank schloss, zog er ein langärmliges, schwarzes Oberteil heraus. Eröffnete die Knöpfe seines Hemdes, schlüpfte heraus und in das schwarze Stückhinein. Es war ihm fast schon zu eng. Noch ein paar Wochen zuvor hatte er esgut tragen können, doch sein Körper hatte sich schnell verändert, seitdem ersein Training intensiviert hatte.
Der Himmel dunkelblau gefärbt und mit hellen Punktengesprenkelt. Es war fast Neumond und so spendeten nur die kleinen, fernenSterne ein wenig Licht in dieser Nacht. Die Wärme des Tages war noch nicht ganzverflogen, hier zwischen den alten Bäumen und duftenden Sträuchern des Waldes.
Die feuchtwarme Luft strömte in Christophers Lungen, während erüber moosbewachsene Baumstämme stieg und sich durch dichtes Gestrüpp kämpfte.Die Geräusche des Waldes, das Schlagen zarter Insektenflügel, das Raschelnflinker Mäuse, ja gar das Plätschern des fernen Baches, mochten vielen Menschenin der Dunkelheit Angst einjagen, doch Christopher hatte seine Angst verloren.Vor zehn Jahren noch, zum Beginn seiner Ausbildung, fürchtete er die fremdenSinneseindrücke. Mittlerweile jedoch gab es in kaum einem Wald der Welt nochetwas, vor dem er sich fürchten musste.
Und doch: er hasste es. Er wollte nicht seiner Bestimmungnachkommen. Er wollte den Samstagabend verbringen wie seine Freunde; mit seinenFreunden. Bei einer Feier in einem stickigen Lokal, mit einem Bier in der Handund den Mädchen hinterherguckend. Doch er hatte seine Verpflichtung und konntesich dieser auch nicht entziehen. Ihm war bewusst, wie wichtig er sein könnte.
Christopher sah auf sein Handgelenk. In der Dunkelheit konnteer kaum was erkennen, doch die Nadelspitze seines Kompasses leuchtete und hobsich so von der Schwärze hervor. Zumindest stimmte die Richtung. Seufzendlehnte er sich an einen Baum, legte seinen Rucksack halbseitig ab, öffnete ihn undgriff hinein. Er spürte die Verpackungsfolie und zog den Proviantriegel heraus,riss die Folie mit seinen Zähnen auf undnahm einen großen Bissen. Noch gut einen Kilometer, dann müsste er angekommensein. Orientierung war nicht sein liebstes Fach, aber immerhin kam er ausdiesen Unterrichtsstunden ohne blaue Flecken oder gebrochene Knochen heraus. Nacheinem zweiten und letzten Biss verstaute er die silberne Verpackung in seinerHosentasche und setzte seine Wanderung durch die stille Dunkelheit der Nacht fort.
Stille. Erst jetzt bemerkte er, dass die nächtlichen Geräuschedes Waldes verstummt waren. Er hörte nicht einmal mehr den sanften Wind, wie ersich durch die Baumkronen kämpfte. Christopher hielt inne. Er konnte seinenAtem sehen; kalte Luft hatte sommerliche Wärme vertrieben. Der junge Mann hattesich geirrt — in diesem Wald gab es etwas, vor dem er Angst haben sollte.
Sein Herz schlug schneller in seiner Brust. Es konnte keinZufall sein, dass sie gerade jetzt, im Unterricht, hier auftauchten. War es derPlan seines Vaters gewesen, ihn mit den Geschöpfen der Kälte zu konfrontieren?Christopher konnte das kaum glauben, schließlich waren sie zu stark und zugefährlich für ihn.
Er sah kaum etwas, denn das spärliche Sternenlicht konnte dieBaumkronen nicht durchdringen. Schwarz, dunkelblau und grau war die Umgebung,die vor wenigen Stunden noch in saftigem Grün und warmem Braun beschriebenworden wäre. Mit vorsichtigen Bewegungen tastete sich der junge Mann voran,streifte eine eiskalte Baumrinde. Erschrocken legte er seine Hand auf das Holz,nur um sich zu vergewissern und spürte die eisige Kälte auf seiner Haut. Errieb die Finger aneinander, Eiskristalle schmolzen in seinen warmen Händen zuWasser. Es gab keine Zweifel. Es musste einer von ihnen sein.
Als Kind hatte Christopher in den Überlebens- undGefahrentrainings gelernt sich aus der Gefahrenzone zu begeben, leise undunauffällig, damit sein Vater ohne Acht den Kampf bestreiten konnte. Doch seinVater war nicht hier. Er wartete am Wagen darauf, dass Christopher das im Waldversteckte Etwas borg. Gehörte die Kreatur doch zu der Trainingseinheit?
Eine unbeschreibliche Kälte umfasste seinen Körper. EisigerAtem fiel auf seinen Nacken, der seine Härchen gefrieren ließ. Christopher,noch den Blick auf den Baum gerichtet, dessen Umrisse er kaum ausmachen konnte,überlegte einen Moment zu lange, da spürte er schon die gewaltige Hand gegenseinen Oberarm schlagen. Die Kraft des Hiebs warf ihn zur Seite, in das kalteGeäst. Er spürte Schmerz in seinem Arm, nicht weil das Wesen fest zugeschlagen hätte,sondern von der Kälte, die der Kontakt mit diesen Kreaturen brachte: der Ärmeldes engen Pullovers war zugefroren. Mit der Hand des anderen Armes griff er denStoff und riss ihn ab, befreite so seinen Arm vom Eis, während er aufstand undzu dem großen Wesen aufblickte. Etwas größer als zwei Meter schien ihm derRiese zu sein, zumindest deutlich größer als Christopher selbst.
Er sah die riesigen Hände nicht auf ihn zukommen, spürte aber,wie sie die Luft in Schwingung versetzten und reagierte darauf mit einem Sprungnach hinten, landete jedoch auf einem moosigen, glatten Stamm und rutschteerneut zu Boden. Ohne zu zögern rollte er sich zur Seite, über die von einerEisschicht überzogenen Blätter und Äste. Der Riese stampfte nur eine Sekunde zuspät auf die Stelle, an der Christopher gerade noch zu Boden gegangen war.
„Reifriesen sehen sehr viel besser als wir“, erinnerte sich Christopher.Auch wenn er das Geschöpf nur an seinen Umrissen erahnen konnte: der Riese sahihn. Christopher war im Nachteil. Er wusste nicht, wie er es mit einemReifriesen aufnehmen sollte. Er konnte nur ausweichen, denn jeder Treffer desRiesen hätte schwere Gefrierwunden zufolge gehabt.
Christopher machte noch einen weiten Sprung, hinüber zumnächsten Baum. Er hörte den Riesen hinter sich herlaufen, die breiten Füße zermahltendas Unterholz. Christopher drückte sich vom Boden ab, sprang hoch und griffnach einem Ast, den er nur erahnen konnte. Beide Hände hatten den Ast gegriffenund mit aller Kraft zog Christopher seinen schweren, muskulösen Körper hinauf.Er suchte nach einem weiteren Ast, in der Hoffnung von Baum zu Baum springen zukönnen, so wie er es als Kind so oft getan hatte. Doch er war kein Kind mehr.Der Ast auf dem er stand beugte sich unter seinem Gewicht gefährlich hinunter.
Ein lauter Knall schreckte durch die Dunkelheit. Christopherverlor fast sein Gleichgewicht, als der Baum zu fallen begann. Gerade nochstieß er sich von dem Ast ab und landete erneut auf dem kalten Boden. Er spürte,wie warmes Blut seinen nackten Arm benetzte. Ein Stock oder ein Ast musste sichbeim Aufprall in seine Haut geschnitten haben, doch dafür hatte er jetzt keineZeit.
Christopher sah hinauf, zu dem Umriss des großen Kopfs übersich. Die gewaltige Hand raste hinab und auf sein Gesicht zu. Seine eigenenHände schnellten vor seine Brust, um den wuchtigen Schlag abzufangen,wohlwissend dabei gefrieren zu können.
Doch soweit kam es nicht. Wärme erfüllte die Luft, Hitze gar.Rötliches Licht erfüllte den Wald, brachte Grün und Braun zurück, wenn auch voneiner dünnen, weißen Frostschicht bedeckt. Der Riese lag im Laub, Flammenhockten auf ihm und malträtierten seinen gewaltigen Körper. Christopher saherst jetzt die graue, schrumpelnde Haut des Ungeheuers.
„Lauf zum Wagen. Warte nicht auf mich, fahr sofort heim!“,sprach die vertraute, doch strenge Stimme der Person, die Christopher so geradedas Leben gerettet hatte. Das metallische Klirren der Autoschlüssel erklangneben dem Jungen. Er packte sich die Schlüssel, sprang auf und lief los.