1.5 Die Kraft eines Digimon
Wenige Augenblicke zuvor waren sie noch am streiten, was sie wohl als nächstes tun sollten. Rai wollte trotz seiner Verletzung unbedingt dem Dieb des Spirits hinterher. Ash hingegen fand die Idee zu gefährlich - wie eigentlich alles, das Rai vorschlug - und wollte sich von dem Digimon fernhalten, um ein Gegengift zu finden.
Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen, als außerhalb der Höhle, in der sie sich ausgeruht hatten, Schritte zu hören waren. Vorsichtig lugte Tory um die Ecke und verzog skeptisch sein Gesicht. Einen Ritter hätte er am wenigsten erwartet. Als das Digimon, welches vollkommen in eine silberfarbene Rüstung gehüllt war, die Menschen erblickte und sich wieder in Bewegung setzte, schwand Torys Optimismus, dass es gutmütig sein könnte.
„Knightmon, Level Champion“, zeigte das Digivice warnend an.
Während ihr Gegner sein überdimensionales Schwert zückte, welches so groß war wie Ash und mindestens das Zehnfache wog, griff Rai nach der Hand seines zierlichen Begleiters und zerrte Tory tiefer in die Höhle hinein.
Sowohl auf Knightmons Brust, als auch auf seinem großen Schild, welches es nun in die Hand nahm, die durch einen Eisenhandschuh geschützt war, glühte ein orangenfarbenes Zeichen. Während das Zeichen einem Kolibrikörper glich und von dessen 'Kopf' drei Zacken weg gingen, fanden sich diese auch unterhalb des 'Kolibrikörpers'.
Den Sinn hinter dem Zeichen verstand Tory nicht, aber es war ihm in dem Moment auch egal. Das orangene Licht erhellte die Höhle hinter ihnen und nahm ihnen den Vorteil, ungesehen zu sein. Zwar waren sie sichtlich schneller als der Feind, doch an ein Entkommen war nicht zu denken. Zu gering war die Chance, dass dieses felsige Grab einen zweiten Ausgang hatte.
Wie es so kommen musste, teilte sich der Gang in drei und stellte der Gruppe die Frage, welche Richtung sie einschlagen wollten. Rai wusste, Ash hätte seiner Idee zu kämpfen nie zugestimmt, weswegen er unter dem Vorwand, sich aufzuteilen - um Knightmon zu verwirren - vorschlug, in verschiedene Richtungen zu rennen.
Selbst Rai musste zugeben, dass es reinster Wahnsinn war, sich diesem Ding entgegenstellen zu wollen, doch tat er es, um mehr über sich und die Spirits herauszufinden.
Als Tory und Ash endlich in der Dunkelheit des linken und des mittleren Ganges verschwunden war und auch ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, zeigte Rai sich dem Knightmon und versuchte, es in seinen Gang zu locken. Zu seiner Freude - oder auch seinem Pech - folgte der Gegner der Provokation. Trotz seiner schweren Rüstung, legte das Digimon eine hohe Geschwindigkeit an den Tag. Viel zu lange für Rais Geschmack ging die wilde Verfolgungsjagd. Er hatte längst die Orientierung verloren und hatte alle Mühe, nicht vor Sauerstoffmangel Tempo einzubüßen. Als die Decke plötzlich höher und höher wurde und er einige Stalaktiten von der Decke hängen sah, stoppte er kurz. Die Höhle war um einiges größer, als sie von außen aussah. Ein ganzes Labyrinth schien in ihr verborgen zu sein.
"Schachmatt..." Ratlos stand der keuchende Digiritter vor einer Felswand. Er war geradewegs in eine Sackgasse gerannt; hatte die falsche Abzweigung des Labyrinths genommen. Ein kalter Schauer lief über Rais Rücken. Digitieren konnte er in seinem Zustand nicht. Nur die Ruhe bewahren, sagte er sich und zwang sich, den Kloß im Hals herunter zu würgen. So aufrecht er - nach Luft schnappend - stehen konnte, versuchte er vor Knightmon selbstsicher zu wirken.
"Ich habe keine Angst vor dir", behauptete er, glaubte es aber selbst nicht ganz.
"Lass Knightmon die Wand hinter dir zerstören!"
Rai staunte nicht schlecht, als er plötzlich die Stimme eines ihm fremden Wesen durch das Digivice hörte. "Einen anderen Plan habe ich nicht, also hoffen wir, dass das eine gute Idee ist!"
Angespannt wartete Rai bis das Digimon sein riesiges Schwert erhob und zum Schlag ausholte.
Als dieses mächtige Eisen sich in Bewegung setzte, sprang er zur Seite.
Hinter ihm erstrahle ein blendendes Leuchten. Knightmon wich einige Schritte zurück - fast als würde es diese Macht verletzen.
"Ravemon ist ein Freund von mir. Es wird sich um das Knightmon kümmern."
Rai verstand überhaupt nichts mehr. Wer war diese Stimme, wieso half sie ihm und wieso wusste sie überhaupt, wo er war? Doch das war in dem Moment egal. Hinter dem Jungen erschien ein weiteres Digimon.
Ein schwarzer Helm mit rotem Visier legte sich schützend um den Kopf des Digimons und eine dünne, blaue Rüstung umschloss seinen Körper. Die rechte Hand bestand aus einer Rabenklaue, während die linke Hand nur ein Handschuh zierte und ein Katana hielt. Den Rücken zierten Rabenflügel. Der linke komplett in schwarz gehalten und der rechte weiß an der Flügelspitze. Das Digivice bezeichnete den Neuankömmling als „Ravemon“, rückte aber keine genaueren Informationen heraus.
Das Digimon in Ritterrüstung zeigte sich weniger beeindruckt. Wieder erhob es sein Schwert, doch dieses mal deutete es auf den Rabenkrieger.
"Ich nehme das Duell an." Ravemon allerdings hatte nicht vor einen Schwertkampf mit seinem Feind auszutragen. Sein Katana würde in Windeseile zerbrechen. Aber seine Wendigkeit konnte er in dieser engen Höhle auch nicht nutzen und ein Angriff von hinten kam gegen die schwere Panzerung nicht in Frage. Keine ideale Ausgangssituation also.
"Folge dem Digimon, es wird dich aus der Höhle führen."
Langsam aber sicher manövrierte Ravemon das Kampfgeschehen zurück durch den Gang in Richtung eines größeren Raumes. Zuvor hatten Rai die Tropfsteine, die von der Decke ragten, wenig interessiert. Aber jetzt erkannte er einen Nutzen in ihnen. Das seltsame Digimon hatte scheinbar eine ähnlich Idee.
Geduldig wartete Ravemon bis das langsam ebenfalls erschöpfte Ritterdigimon den großen Raum betrat. Es schien wenig begeistert davon, dass Ravemon über ihm - außerhalb seiner Reichweite - flog. Knightmon zückte deswegen sein Schwert, welches es zum Leuchten brachte und schleuderte eine Welle aus Energie auf den Raben.
In letzter Sekunde realisierte Ravemon den Fernangriff und wich zur Seite aus. Die Felssäule über ihm wurde regelrecht zerschmettert und fiel in Einzelteilen auf den dunklen Höhlenboden. So hatte er es sich nicht gedacht. Ravemon brauchte eine komplette Säule und keinen Säulenpüree.
Den nächsten Angriff beschloss Ravemon mit seiner sich drehenden Kralle abzuwehren. Diese war sogar so schnell, dass die Energie aus Knightmons Angriff einfach an dieser zerschellte und in viele kleine Partikel geteilt wurde.
Mit dieser 'Wirbelnden Rabenklaue' flog er anschließend auf seinen Gegner zu und fügte der Rüstung einen beachtlichen Schaden zu. Knightmon hatte keine Chance, den flinken Raben zu treffen und musste die Angriffe über sich ergehen lassen.
Einen Trumpf hatte es aber dennoch in der Hinterhand. Ravemon bemerkte nicht, wie sich aus dem leuchtenden Zeichen auf der Brust des Ritters ein gebündelter Energiestrahl bildete. Diese Explodierte direkt vor Ravemon und schleuderte es quer durch den ganzen Raum. Auf der anderen Seite krachte es von Schmerzen geplagt gegen eine Felswand.
Rai hatte die Zeit damit verbracht, zur anderen Seite des Raumes zu laufen. Sein Gegner hatte dies offensichtlich ebenfalls bemerkt, hatte es sich immerhin schon in Bewegung gesetzt. Knightmon hatte bereits die Hälfte des Raums durchquert. Zielsuchend marschierte es weiter auf Rai zu und beachtete seine Umgebung nicht.
"Das ist die Chance. Energieschwert!" Mit einem kraftvollen Schlag durchdrang Ravemons Schwert auf der anderen Seite des Raumes den steinigen Boden. Dort breitete sich jetzt eine grüne Macht aus, die schließlich die Form eines Pfeils annahm und auf den Fels über Knightmon zuschoss. Fein säuberlich trennte der messerscharfe Windpfeil den Stalaktit von der Decke der Höhle. Die Schwerkraft tat den Rest und der Ritter wurde von oben durchbohrt.
***
Ein Mensch, etwas jünger als Rai - komplett vertieft in Gedanken - lag auf dem roten Dach eines kleinen Spielzeughauses aus Bauklötzen. Seine Arme hatte er hinterm Kopf verschränkt. Eine rote Weste benutzte er dabei als Kopfkissen. Mit seinen schwarzen Turnschuhen stützte er sich von der Regenrinne ab, um nicht die Steigung herunter zu rutschen.
Eigentlich war es ja sein Auftrag, ins unterirdische Labyrinth einzudringen und die neuen Digikrieger abzufangen. Er hielt es jedoch für eine bessere Idee, in der Nähe des Ausgangs zu warten - so seine Ausrede - um die anderen abzufangen, sollten sie den Ausgang zur Spielzeugstadt nehmen.
"Könnten es wirklich Menschen sein?", murmelte er noch immer nachdenklich und zupfte sich sein orangenes T-Shirt zurecht. Langsam wurde ihm kalt, da er sich die ganze Zeit nicht bewegt hatte.
"Vielleicht sollte ich mir die Sache genauer ansehen, statt zu faulenzen."
Motiviert setzte sich der Junge auf, zog seine Weste wieder an und hüpfte dann vom niedrigen Dach. Unten angekommen überprüfte er die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans. Irgendwo hier musste doch sein D-Tector gewesen sein. Als er ihn endlich gefunden hatte, öffnete er die Kartenfunktion. Das orangene Gerät erinnerte an ein Digivice, war jedoch ein wenig größer und hatte ein rotes, sechseckiges Display und ebenfalls rote Halterungen, die den Grip verbesserten. Eigentlich wollte er nach jemand Anderen suchen, doch wurde seine Aufmerksamkeit von einem fremden Punkt in Anspruch genommen.
"Rai! Ash!"
Nicht weit außerhalb der Stadt lief ein ziemlich aufgewühlter, zierlicher Junge vorbei. Zwar suchte er aktiv nach seinen Freunden, doch war seine Körperhaltung ziemlich passiv und zurückgezogen. Fast schon schutzlos. Entweder er hatte kein gutes Selbstbewusstsein, oder er fühlte sich alleine und verloren.
Der Blondschopf wusste, wie es sich anfühlte, ein Digimon zu werden. Hätte dieser Junge einen Spirit gehabt, hätte er viel leichter Mut fassen können. War er also noch nicht in der Lage dazu, zu digitieren?
Neugierig lief der größere Junge über den grünen Spielzeugteppich, der eher wie ein Rasen aussah, in die Richtung des Suchenden. Die offene Fläche außerhalb der Stadt schien endlos und ein angenehmer Wind strich an dem Digiritter vorbei. Dieser grinste über beide Ohren. Zu groß war die Vorfreude, eine neue Person in dieser Welt kennen zu lernen. Eine Person, der er keine Rechenschaft schuldig war.
"Kann ich dir irgendwie helfen?"
Als der fremde Junge sich erschreckte und sich panisch umdrehte, fühlte er sich schuldig. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf:
"Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Arian, aber nenn mich Airi. Und wie heißt du? Kann ich dir irgendwie helfen?"
Der Blondschopf fürchtete, zu direkt zu sein, erhielt zu seiner Freude aber doch eine Antwort.
"Ich bin Tory.“, dann stockte er kurz, unsicher, ob er weiter reden sollte, „Du könntest wirklich helfen. Hast du hier vielleicht irgendwo weitere Menschen gesehen?"
Jetzt war es an Tory einen neugierigen Blick aufzusetzen, mit dem er seine vorige Frage ergänzte:
"Was machst du hier eigentlich alleine? Und bist du auch ein Digikrieger? Hast du schon deinen Spirit gefunden?"
Bevor sich Airi der ganzen Fragen annehmen konnte, wurde er von Torys Magen knurren unterbrochen. Er konnte gerade noch ein Lachen unterdrücken, scheiterte aber kurz darauf, als dieser rot anlief.
"Wenn du möchtest, lade ich dich auf einen Snack ein. Es hilft deinen Freunden sicher nicht, wenn du völlig entkräftest bei ihnen ankommst."
Dabei wedelte der Blondschopf mit einem schwarzen Geldbeutel. Tory beobachtete diese Geste nur verwirrt, folgte aber dem ihm fremden Jungen, der in Richtung der Spielzeugstadt deutete.
"Du bist also schon länger hier in der Digiwelt?"
Worauf Tory diese Aussage stützte? Nun, Airi kannte sich scheinbar viel besser aus, hatte sogar Geld, welches in der Digiwelt zählte und schien nicht halb so aufgeregt oder verloren, wie Tory es war.
Airi zögerte kurz.
Wie viel konnte er erzählen, ohne verdächtig zu wirken? Andererseits wollte er auch nicht lügen.
"Eine Weile."
Tory hatte sich scheinbar mehr erhofft, denn er sah bedrückt auf sein Digivice. Jetzt tat es dem Blondschopf Leid, ihn so abgewimmelt zu haben. Dann bemerkte er etwas:
"Dein D-Tector sieht ja ganz anders aus."
Schulterzuckend verglich Tory beide Geräte.
„Die von Ash und Rai sehen genauso aus wie meins. Nur in anderen Farben. Oh, und wir nennen sie Digivice.“
Nachdenklich spekulierte Airi in Gedanken, was das zu bedeuten hätte.
So vertieft in seine Gedanken, bemerkte er nicht einmal, dass Tory das Restaurant bereits gesehen und vor gelaufen war, weswegen Airi alleine vor dem Stadttor stand und auf seinen D-Tector starrte.
"Du musst schnell kommen!"
Das war wieder Tory. Fast schon panisch sprintete er in Airis Richtung. Skeptisch beobachtete er die hastigen Schritte seines Gegenübers.
"Ich muss herausfinden, was das zu bedeuten hat..."
Tory, der endlich bei Airi angekommen war, aber vor lauter Luft schnappen nicht reden konnte, wisperte nur ein "Bitte was?"
Ablenken ließ er sich trotzdem nicht. Tory nahm einmal tief Luft und fing an, das Problem zu schildern:
"Irgendein böses Digimon greift die Spielzeugstadt an! Es hat irgendetwas von Daten geredet und dass es jeden auslöscht, der nicht kooperiert."
Für halbe Theorien war jetzt keine Zeit mehr. Airi musste sich schnell entscheiden und eine Seite wählen. Sauer blickte er in die Richtung, aus der Anzeichen von einem Kampf zu hören war. Sie wagten es, die Stadt des Ewigen Anfangs anzugreifen? Viel wusste der Blondschopf ja nicht, aber dass dies ein heiliger Ort war - der einzige Ort in der Digiwelt, an dem neue Digieier entstanden - wusste sogar er.
"Dieses Gebiet ist tabu!"
Tory konnte nur noch zusehen, wie Airi zum Kampf entschlossen los stürmte.
"Ist der jetzt total durchgeknallt? Zuerst sieht er so aus, als hätte er einen Geist gesehen und dann lässt er mich hier zurück, um sich kopfüber in Gefahr zu stürzen. Also ich weiß ja nicht so recht, was ich davon halten soll."
Als Tory endlich wieder bei Atem war, folgte er dem 'verrückten' Jungen, ließ es sich aber nicht nehmen, nebenbei die Bäume zu bewundern. Zuvor schon war ihm aufgefallen, dass Spielzeug an diesen hing. Jetzt aber hoffte er auf eine Art Waffe. Ein Zauberstab oder eine Wasserpistole. Irgendetwas, was ihn auch nützlich erscheinen ließ.