Kapitel 1 ~
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Ich erhebe mich. Es ist kein erhebendes Gefühl. Kann man es dann noch als Erheben bezeichnen? Vielleicht geht es ja nicht um das Subjektive, sondern um das Objektive. Wenn mir jemand dabei zuschauen würde, würde er bestimmt sagen, dass ich mich erhebe. Außer wenn er nicht viel über seine Wortwahl nachdenkt, dann würde er vielleicht sagen, ich stünde auf. Das passte vielleicht auch besser. Aber es macht keinen Sinn, darüber nachzudenken, was jemand sagen oder denken würde, wenn er mich in diesem Moment dabei sähe, wie ich aufstehe oder mich erhebe. Ich bin allein. Mein Vater liegt irgendwo auf der anderen Seite der Welt. Als er die dringende Mitteilung vom Bund erhielt, dass er nach Afrika soll, hatte er nur noch kurz Zeit, seine Sachen zu packen und sich von uns zu verabschieden. Das Flugticket lag zusammen mit dem Schreiben in dem harmlos erscheinenden Brief. Die Abreise meines Vaters war genau geplant, es wurde keine Minute zu viel Zeit gelassen. Hätte er den Brief nicht sofort vom Postboten erhalten und geöffnet, wäre er vielleicht zu spät gekommen und jetzt noch hier. Aber das war sicherlich alles geplant. Darüber nachzudenken, ob er noch hier wäre, wenn er den Brief nicht sofort vom Postboten erhalten und geöffnet hätte, ist allerdings müßig. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Die Strömung des Flusses der Zeit ist zu stark, als dass irgendwer oder irgendwas dagegen ankäme. Sie reißt uns mit. Die schönen Momente gehen schnell vorbei, das wird immer so gesagt. Die langweiligen und traurigen Momente vergehen langsam. Da kann man die grauenvollen Seiten des Lebens in ihrer Vollständigkeit erleben. Für mich ist die gesamte Zeit gleich langsam.
Der Mann kam vor einigen Tagen. Er teilte uns mit, dass wir nicht mehr damit zu rechnen hätten, dass unser Gemahl und Vater je zurückkäme. So eine unpersönlich überbrachte Nachricht hatte ich vorher noch nie gehört. Wahrscheinlich kannte der Mann meinen Vater kaum. So ist das wohl, wenn man Jemanden aus der unbekannten Masse pickt und ihm sagt, er solle eine Nachricht vom Tod eines Mannes überbringen, den er nicht kennt. Er stieg wieder in sein Auto und fuhr auf derselben Straße weiter, auf der er gekommen war. Wir gingen denselben Weg, den wir zur Tür gegangen waren zurück und kauerten uns in einer embryonalen Haltung auf dem Sofa hin. Meine Mutter schwieg. Sie war schon seit Vaters Abreise traurig gewesen, doch waren ihre Hoffnung und ihr Lebenswille bis vor kurzem noch offen sichtbar gewesen. Jetzt war das Gegenteil in ihren Augen zu erkennen. Ich fragte sie, ob ich die grauenvollen Blumen, die uns der Mann gebracht hatte, in eine Vase stellen sollte. Sie antwortete nicht. Ich ließ die Blumen liegen. Die abgeschnittenen Stängel waren in einem kunstvollen Papier eingewickelt und so vor Blicken verborgen. Man sollte nicht sehen, dass ihre Hälse durchgeschnitten, ihre Leben geraubt wurden, um anderen einen schönen Moment zu bescheren. Die Blumen hätten mit Sicherheit länger gelebt, als unser Glück über ihre Blüten anhielt. Wir freuten uns nicht.
Durch das vor einer Stunde von meiner Mutter geputzte Fenster sah ich unsere Einfahrt. Eine kaum definierbare Mixtur aus Schnee, Regen und Hagel schlug auf die kalten Steine nieder und füllte den Boden mit einem kalten, unreinen Weiß. Ich beschloss, dass es nicht nötig wäre, den Niederschlag anschließend wegzufegen, da er eh bald schmelzen würde. Alte Erinnerungen von meinem Vater drangen in meinen Kopf. Ich schaute angestrengt auf die Einfahrt, um die Bilder zu vertreiben. Ich wollte nicht an ihn denken. Ich wollte nicht diese leeren Augen meiner Mutter haben. Ich stand auf. Ich spürte, dass ich dringend die Toilette aufsuchen musste, wenn das Desaster nicht noch größer werden sollte. Der geflieste Raum war kalt. Meine Mutter muss vorhin das Fenster geöffnet haben, um zu lüften. Danach hatte sie es natürlich vergessen. Das kam öfter vor. Ich schloss das Fenster und wischte die wenigen Wassertropfen, die den flüssigen Aggregatzustand des unangenehmen Wetters verkörperten, vom Fensterbrett. Als ich wieder aus dem Raum kam, war meine Mutter nicht mehr im Wohnzimmer. Nach kurzer Suche fand ich sie in der Küche neben dem Regal, wo wir die hochprozentigen Alkohole lagerten, mit denen meine Mutter gerne buk und kochte. Abgesehen von einigem Bier im Keller hatten wir keine weiteren alkoholischen Getränke im Haus. Wir tranken nicht und die wenigen Gäste, die uns besuchten, wollten selten ein Bier.
Das Regal war hoch angebracht, unzugänglich für kleine Kinder - wie mich vor einer als groß empfundenen Menge an Jahren. Die erste Flasche stand bereits leer auf dem Boden, meine Mutter saß daneben, schlaff an ein Tischbein des Küchentisches gelehnt. Ich war sicher, dass sie innerhalb der nächsten Stunden keine weitere Flasche erreichen würde. Augenscheinlich war das auch nicht nötig. Die Flasche auf dem Boden war die Größte in dem Regal gewesen. Jetzt war sie nicht mehr im Regal. Meine Mutter hatte sie aus der Menge genommen. Hätte die Flasche eine Seele, einen Geist und hätte sie irgendwie mit den anderen Flaschen im Regal kommunizieren können, wären sie befreundet gewesen, und dann hätte meine Mutter einen Freund von seinen Freunden weggerissen. Vielleicht waren die Flaschen auch eine Familie. Aber so war es nicht. Ich habe gelernt, dass Gegenstände keine Seele haben.
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So, das ist das erste Kapitel meiner Geschichte. Es ist nicht allzu lang, aber das ist ja zweitrangig. Ich würde mich sehr über ein paar nette Antworten freuen. :) Falls wer benachrichtigt werden möchte, sobald das nächste Kapitel fertig ist, reicht ein einfacher Pinnwandeintrag oder ein Beitrag in diesem Thema.
MfG Diregram