Es war ungewöhnlich still in der Wohnung. Normalerweise waren die anderen nicht zu überhören, aber das einzige, was Kiandi wahrnahm, waren die Geräusche, die schwach von der Straße heraufdrangen. Sie konnte trotzdem nicht schlafen. Die Wärme war mal wieder unerträglich und das Fenster verrammelt. Das Mädchen hatte das Gefühl, kaum atmen zu können, aber zum einen scherte das die Mitglieder der Gang sowieso nicht und gerade schien sowieso keiner da zu sein. Obwohl – irgendjemanden hatte Blair bestimmt als Wache dagelassen. Kiandi wälzte sich auf den Rücken und streckte Arme und Beine von sich. Das half nur mäßig, aber immerhin. So lag sie einige Zeit lang da. Bis sie auf einmal doch ein Geräusch hörte. Sie schreckte hoch und sah zur Tür, die sich einen Spalt weit öffnete. Licht schimmerte vom Flur herein und Kiandi atmete auf, als sie Mitch erkannte, der sich hindurchschob.
„Keine Sorge, ich bin's nur“, wisperte er. „Ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt.“
„Was willst du?“, fragte Kiandi statt zu antworten. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie wachgelegen hatte, aber es war vermutlich sehr spät, wohl eher mitten in der Nacht. Mitch kam näher und hockte sich neben das Bett. Bildete Kiandi sich das nur ein oder war er noch stärker als sonst darauf bedacht, so leise wie möglich zu sein?
„Ich komm gleich zum Punkt. Ich bring dich hier raus.“
„Was?“ Kiandi hätte beinahe vergessen, zu flüstern. Bis die Worte des Jungen zu ihr durchdrangen, dauerte es einen Moment. Und auch dann konnte sie noch nicht glauben, was sie da hörte. Wie um zu bekräftigen, dass sie nicht träumte, fasste Mitch sie an der Hand und fügte hinzu:
„Du hast richtig gehört, wir hauen ab.“
„Bist du high?“ Kiandi entzog sich seinem Griff.
„Wenn ich high wäre, hätte ich mir nicht so Mühe gemacht, keinen Mucks zu machen“, entgegnete Mitch. „Und bevor du fragst, was mit den anderen ist: Die feiern drüben im Schizophrenia. Gordon hat Geburtstag oder so.“ Er richtete sich wieder auf und warf einen kurzen Blick zur Tür.
„Du bist doch nicht der einzige, der hier geblieben ist“, vermutete Kiandi. Ihr fiel auf, dass Mitch einen Rucksack geschultert hatte. Verdammt, der Typ meinte es anscheinend wirklich ernst.
„Deswegen müssen wir ja mucksmäuschenstill sein“, erklärte der Junkie. „Rick und Martin sind in der Küche und sehen sich irgendeinen Scheiß in der Glotze an.“
Als Kiandi immer noch nicht reagierte, nahm seine Stimme einen flehenden Ton an. „Bitte, so einen Chance kommt nicht so schnell wieder. Ich hab mir voll Mühe gegeben, ich hab … Shit. Jetzt komm, mach schon.“ Was sollte sie jetzt tun? Mitch klang aufrichtig. Wenn sie diese Gelegenheit ausschlug, würde sie sich das verzeihen können? Andererseits hatte das Mädchen Angst. Die Idee klang hirnrissig und wenn sie es nicht schafften, würde das mehr als nur Ärger bedeuten.
Fuck it, dachte Kiandi und rappelte sich von ihrem Bett auf.
Es sah nicht so aus, als ob die beiden Männer sie gehört hatten. Aber das musste nichts heißen. Noch hatten sie ja nicht mal das Gebäude verlassen. Trotz der Stille im Treppenhaus war Kiandi angespannt. Das kam alles so plötzlich und sie hatte Angst. Wenn irgendetwas schief lief, konnten sie sich auf etwas gefasst machen. So viel war sicher. Brad, der Anführer der Bande, war nicht gerade für Nachsichtigkeit bekannt. Die beiden Jugendlichen hasteten die letzten Stufen hinunter und zur Eingangstür. Angenehm kühle Nachtluft stieß Kiandi entgegen. Von der anderen Straßenseite drang noch eine Ahnung von Musik aus dem Schizophrenia herüber. Genau genommen Schizophren, denn der Rest der Leuchtreklame war ausgefallen. Ein paar Gestalten taumelten gerade heraus. Vermutlich, um eine zu rauchen.
„Komm“, raunte Mitch und zog sie mit sich. „Nichts wie weg hier.“ Das musste er nicht zweimal sagen. Kiandi folgte ihm die Straße hinunter.
„Hey!“, rief plötzlich jemand hinter ihnen. Wahrscheinlich einer der Betrunkenen vor dem Schizophrenia. Das Mädchen versuchte, nicht darauf zu achten. Das würde sie nur noch nervöser machen. "E-He-Ey!"
Kiandi merkte, dass auch Mitch unruhig war. Er lief jetzt schneller und warf einen kurzen Blick über die Schulter.
„Diese kleinen Mistgören!“
Der Junge erstarrte, als ihn die Erkenntnis traf.
„Verdammt! Das sind welche von Brads Leuten!“ Mit einem Mal kam das Adrenalin. Sofort rannten die beiden los. Es war zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass ihre Verfolger sie sofort einholen würden. Dazu waren sie viel zu dicht. Doch sie würden Alarm schlagen und das war gar nicht gut. Von Angst getrieben hetzten die zwei Teenager durch die Straße, Mitch voran. Kiandi konnte ihm nur blind hinterherrennen. Zu mehr war sie gerade nicht im Stande. Nur weiter, weg von den Männern, die sie die letzten Monate über gefangen gehalten hatten, getrieben von der Furcht, was sie mit ihnen anstellen würden, wenn die Flucht nicht gelang. Aber wo sollten sie hin? Ihr Befreier führte sie im Zickzack durch die Straßen. Kreuzung um Kreuzung ließen sie hinter sich, doch Kiandi ging langsam die Puste aus.
„Wir brauchen … ein Versteck“, stellte Mitch fest.
„Die … haben … das Auto, oder?“
Er zögerte.
„Ja, verdammt. Ja, haben sie.“ Der junge Mann sah sich ein wenig hilflos um. Kiandi kam der Verdacht, dass er die Aktion nicht so wirklich gut geplant hatte. „Wir müssen weg von der Straße, dann verlieren sie uns.“
„Und wie?“, wollte sie wissen.
„Hast du Lust, zu tanzen?“
Es war laut und eng in dem Club, von der Luft ganz zu schweigen. Doch im Moment war das perfekt für sie. Die beiden Flüchtigen drängten sich durch die Menge bis in die hinterste Ecke des Raumes.
„Ich hoffe wirklich, die finden uns hier nicht.“
„Ach Quatsch, wie denn?“, versuchte Mitch sie zu beruhigen. „Wir bleiben jetzt einfach bis morgen früh hier und dann machen wir, dass wir ins Zentrum kommen. Die werden dann sowieso irgendwann aufgeben.“
Kiandi war sich da nicht so sicher, aber sie hielt die Klappe und versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie könnte ihre Eltern wiedersehen. Seltsamerweise fühlte sie nichts bei diesem Gedanken. Wollte sie überhaupt zurück? Aber wo sollte sie sonst hin? Die Bässe dröhnten in ihren Ohren, die Zeit schien nur sehr träge dahinzufließen und das Mädchen fühlte sich müde und kraftlos.
„Ich hol uns was zu Trinken.“ Mitch stand auf und ging Richtung Bar. Er kam schneller zurück als erwartet. Allerdings ohne Getränke.
„Steh auf, schnell!“
„Was ist los?“
„Ich weiß nicht wieso, aber sie sind hier.“ Dieser Satz genügte. Kiandi war sofort hellwach und die Angst zurück. „Durch den Eingang kommen wir nicht mehr raus. Komm mit.“ Sie huschte Mitch hinterher in einen Flur, der vom Hauptraum abzweigte. Ein Pfeil mit der Aufschrift Toiletten prangte an der Wand. Sie folgten dem Gang bis zum Ende. Mitch öffnete die Tür mit dem Mädchen-Symbol und lugte hinein.
„Und was jetzt?“, fragte Kiandi.
„Durch das Fenster.“ Tatsächlich gab es eine kleine Öffnung, weit oben in der gefließten Wand. Der Raum war nicht besonders hoch und mit ein bisschen Hilfe könnte man an den Griff rankommen. So zumindest die Theorie. Allerdings war das besagte Fenster klein. Um nicht zu sagen sehr sehr klein.
„Das passt schon“, war Mitchs Einschätzung. Mit diesen Worten zog er sie in den Raum hinein. Kiandi folgte ihm in Ermangelung irgendeines anderen Auswegs. Der Junge nahm Anlauf und zog sich am Sims hoch. Dann stütze er sich ab, packte den Fenstergriff und riss ihn herum. Das Fenster schwang auf. Mitch ließ sich wieder nach unten fallen und wandte sich dann an Kiandi:
„Ok, ich helf dir hoch. Keine Widerrede – du zuerst.“
Es gab kein wenn und aber. Sie mussten sich mehr als beeilen. Kiandi ließ sich von ihm hochhelfen und schaffte es unter unmenschlichen Anstrengungen, sich durch die Öffnung zu ziehen. Es schien viel zu lange zu dauern, bis sie es aus dem Kellerraum nach draußen geschafft hatte. Sie stemmte sich vom Boden hoch und packte den Rucksack, den Mitch durch das Fenster nachreichte.
„Ok, jetzt du. Ich helf dir“, sagte sie und streckte ihre Hände nach ihm aus. Das Mädchen erschrak, als sich der Ausdruck auf seinem Gesicht änderte. Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf.
„Mitch!“
„Es tut mir Leid. Lauf weg, ja? Lauf weg!“ Er drehte sich um und rannte hinaus. Das Geräusch der zufallenden Tür knallte Kiandi die Realität ins Gesicht. Sie wollte das nicht!
„Lauf weg!“, hallte es noch in ihren Ohren. Wie in Trance rappelte sie sich auf, warf sich den Rucksack über die Schulter und lief los. Es gab kein zurück.
Durch das Fenster war Kiandi in den Hinterhof des Gebäudes gelangt, von dem aus eine schmale Gasse wieder zur Straße zurückführte. Bevor sie diese allerdings betrat, spähte sie kurz nach beiden Seiten. Es war mehr als wahrscheinlich, dass ein paar ihrer Verfolger draußen geblieben waren. Nur wenige Autos parkten am Straßenrand, sonst wirkte alles recht ruhig. Ricks Wagen konnte sie nirgendwo entdecken. Aber das musste nichts heißen. Trotzdem wagte die Teenagerin sich hinaus und wandte sich um, weg von dem Club. Sie beschleunigte ihren Schritt und als sie ohne weitere Probleme bei der nächsten Straßenecke angelangt war, fiel sie in einen leichten Trab. Sie hatte keine wirkliche Ahnung, wo sie sich befand und lief einfach immer weiter, bog hier ab, bog da ab. Kiandi war einfach zu müde und fertig von all dem, was passiert war. Sie konnte sich nicht mal mehr wirklich darauf konzentrieren, welchen Weg sie eigentlich nahm. Nur weiter. Nach wenigen Minuten musste sie anhalten.
Die Straße, aus der das Mädchen gekommen war, mündete in eine wesentlich größere. Hier war auch mehr los, immer wieder zischten Autos vorbei. Auch ein Lastwagen donnerte vorüber. Kiandi musste einen Moment innehalten. Da kam wie aus heiterem Himmel ein Motorrad vor ihr am Straßenrand zum Stehen. Sie konnte den Typ wegen des Helms nicht erkennen, war sich aber sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Verwirrung machte sich in ihr breit. Doch gleichzeitig kam ein weiteres Gefühl dazu. Ein Gefühl, dass sie bisher nur in Gegenwart einer einzigen Person gespürt hatte. Aber es konnte nicht Mitch sein. Das war völlig unmöglich. Diese Tatsache versetzte Kiandi einen Stich. Aber bevor sie weiter darüber oder über den Unbekannten vor ihr nachdenken konnte, wurde sie durch etwas anderes abgelenkt.
"Da ist sie!", hörte sie jemanden rufen. Kiandi wirbelte herum und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie Rick und einige andere Männer erkannte.
"Verdammt!", entfuhr es ihr. Doch fast im selben Moment hörte sie den Motorradfahrer sagen:
"Hey, steig auf, Schwester!"
Es gab nichts groß zu überlegen. Dieser Fremde wollte ihr anscheinend helfen. Und auch wenn Kiandi immer noch nicht wusste, wer dieser Typ war und warum er ausgerechnet in diesem Moment auftauchte - sie hatte irgendwo eine Ahnung, dass sie das Richtige tat, als sie sich hinter ihm auf den Sitz hievte. Keine zwei Sekunden später brausten sie davon.
Die Lichter der Stadt flogen an ihnen vorbei, was für Kiandi den Eindruck verstärkte, dass die Zeit jetzt auf einmal viel schneller floß. Bald hatten sie die hell erleuchteten Straßen hinter sich gelassen und düsten über den Highway. Nur eine Minute später - oder so kam es der völlig ausgelaugten jungen Frau vor - bogen sie auch schon wieder in eine Ausfahrt ein.
Sie hielten nur kurz auf einem Rastplatz. Der Fremde ließ Kiandi kurz absteigen und zauberte irgendwo einen zweiten Motorradhelm hervor. Er wies sie an, den aufzusetzen, und dann wieder hinter ihm Platz zu nehmen. Wie mechanisch führte das Mädchen aus, was er ihr sagte. Dann ging es weiter durch die Nacht.
Irgendwann verließen sie den Highway. Kiandi hatte kein Zeitgefühl mehr. Sie fuhren noch eine Weile, dann drosselte der Fahrer die Geschwindigkeit. Vor ihnen ragte ein Tor in die Höhe, dass sich nur wenig später öffnete. Der Typ sprach kurz mit einigen Männern, dann passierten sie die Einfahrt und hielten schließlich vor einer Garage. Kiandi war einfach nur erschöpft. Sie registrierte, wie der Unbekannte ihr vom Motorrad half und ihren Helm abnahm. Da schallte auf einmal eine Stimme über den Hof.
Eine Frau kam von dem Gebäude aus über den Hof auf sie zugelaufen. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie vermutlich gerade aus dem Bett geholt worden war, dann sie trug über dem Schlafanzug einen Morgenmantel und hatte ihr Haar zu einem festen Zopf geflochten. Schon bevor sie die beiden Ankömmlinge erreichte, musterten sie das Mädchen und ihr Blick schien betrübt. Nein das war es nicht, es schien eher, als würde ihr Kiandis Erscheinung ehrliche Sorgen bereiten. Und tatsächlich steuerte sie auch direkt auf das Mädchen zu und legte ihr die Hand auf den Arm.
„Du siehst aus, als hättest du einiges durchgemacht und das nicht nur heute“, stellte sie fest und stich Kiandi über die Wange, „Aber keine Sorge, du hast es jetzt überstanden und bist endlich zu Hause. Mein Name ist Alicia, ich bin hier die Heimleiterin. Du hast sicher viele Fragen, aber, wenn ich dich mir so anschaue, denke ich, diese können auf morgen warten. Dingender scheinen mir eine warme Dusche, ein spätes Abendessen und ein weiches Bett. Komm mit ich zeige dir dein neues Zimmer. Hast du Gepäck…?“
Sie Blickte den Jungen, der das Mädchen mitgebracht hatte an, doch dieser schüttelte nur den Kopf und konzentrierte sich nur darauf seine Maschine in eine der Garagen zu schieben. Also schob Alicia kurz entschlossen das Mädchen in Richtung des Gebäudes, aus dem sie gekommen war.
Kiandi konnte kaum glauben, was sie da hörte! Die Frau, die sich als Alicia vorgestellt hatte, lotste sie durch das Haus und das Mädchen folgte ihr einfach. Während sie einige Gänge und ein Treppenhaus durchquerten, schwirrten im Kopf der jungen Frau die Worte der Heimleiterin herum. Sie war zu Hause? Ein warmes Gefühl durchströmte Kiandi, als sie daran dachte. Gleichzeitig war sie verwirrt. Was hatte das alles zu bedeuten? Und was war das für ein Heim? Mit neugierigem Blick musterte die Fünfzehnjährige ihr neues Zuhause. Alicia hatte gesagt, sie würde ihr alles erklären. Solange würde sie schon warten können, beschloss Kiandi und folgte der Frau in einen Flur. Vor einer Tür mit der Nummer zwei blieben sie stehen.
Alicia meinte, das sei ihr Zimmer. Zögerlich betrat Kiandi den Raum. Alles war ordentlich hergerichtet und wirkte einladend. Sie fragte sich, ob das nicht vielleicht ein Traum war. Wenn ja, wollte sie erstmal nicht aufwachen. Zwar befanden sich hier zwei Betten, aber es schien im Moment nicht so, als ob hier noch jemand wohnte.
"Du kannst dir eins von den Betten raussuchen", sagte Alicia und forderte sie dann auf, sie zum Badezimmer zu begleiten. Dort drückte sie Kiandi ein Handtuch in die Hand und wollte wissen, ob sie Hilfe bräuchte.
"Äh, ich denke nicht, aber danke", stammelte das Mädchen. Daraufhin ließ die Heimleiterin sie vorerst allein. Nach einer kurzen Starre, in der Kiandi sich noch einmal ungläubig umsah, duschte sie so ausgiebig wie schon lange nicht mehr. Das konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Schon allein die Auswahl an Pflegeprodukten, die auf einer Ablage aufgereiht waren, schien dem Mädchen nach den letzten Monaten absurd. Als sie schließlich fertig war, fand sie neben der Duschkabine einen säuberlich aufgeschlichteten Stapel mit Kleidung, einen Bademantel und Schlafbekleidung. Fix machte sie sich zurecht und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Dort erwartete Kiandi die nächste Überraschung. Auf dem Tisch standen eine Thermoskanne, sowie Teller mit geschnittenem Obst und belegten Broten. Die Teenagerin strahlte und machte sich gleich mit dem Inhalt der Thermoskanne vertraut. Der Duft von Kräutern stieg in ihre Nase und Kiandi seufzte glücklich. Einige kleine Beutel neben der Kanne enthielten offenbar Zucker zum Süßen. Mit dem Entschluss, das Hier und Jetzt anzunehmen und völlig zu genießen, ließ Kiandi sich in einen Stuhl fallen und machte sich über das Essen her. Zufrieden kuschelte sie sich schließlich in eins der Betten und war - welch Wunder auch - nur einen Moment später eingeschlafen.
Es war, als wäre kaum Zeit vergangen. Kiandi blinzelte und tauchte langsam aus den dunklen Weiten des Schlafs auf. Tageslicht flutete den Raum. Der Raum - sie brauchte einen Moment, um in die Gegenwart zu finden und die Erinnerungen zusammenzusetzen. Was war alles passiert? Sie dachte an Mitch, der ihr geholfen hatte und daran, wie sie zusammen abgehauen waren. Und dass er jetzt nicht da war. Bei diesem Gedanken wurde dem Mädchen erst einmal schwer ums Herz. Wie sehr sie es sich auch hätte einreden wollen, Kiandi wusste, dass es ihm nicht gut gehen konnte.
Hoffentlich ist er noch am Leben!, flehte sie innerlich. Immerhin hatte er eine wertvolle Fähigkeit und im Gegensatz zu ihr beherrschte er sie auch halbwegs. Aber wer konnte schon wissen, was diese Typen machen würden? Kiandi spürte den Drang, Mitch zu helfen. Irgendwie.
Eine andere Frage war, wo sie sich jetzt genau befand. Bilder von der letzten Nacht stiegen in ihrem Kopf auf (Oder hatte sie länger geschlafen? Sie hatte keine Ahnung). Die Fünfzehnjährige erinnerte sich an den Jungen auf dem Motorrad, der sie an diesen Ort gebracht hatte. Sie waren ziemlich lange unterwegs gewesen. Und dann war da noch - wie hieß sie gleich? Irgendwas mit A - Alice? Nein, Alicia. Genau. Sie hatte gesagt, dies hier wäre Kiandis Zuhause. Und dass sie zu gegebener Zeit ihre Fragen beantworten würde. Die Teenagerin hatte eine Menge Fragen, soviel war sicher. Aber zuerst hatte sie vor allem eins: Hunger. Ihr Magen meldete sich mit einem Rumoren.
Das Mädchen richtete sich auf und wollte gerade ein paar Dinge zusammensuchen, um sich zurechtzumachen. Da fiel ihr Blick auf den Tisch. Die Sachen von letzter Nacht hatten einem kleinen, aber feinen Frühstücksbuffet Platz gemacht. Wie spät es auch immer war, das war jetzt egal. Kiandi gönnte sich die Mahlzeit und machte sich dann fertig. Sie entschied sich für ein schlichtes T-Shirt und eine bequeme, dunkle Hose, sowie dazupassende Socken.
Dann ging sie zur Tür. Erst zögerte die Fünfzehnjährige. Ein wenig scheute sie sich davor, den Raum zu verlassen. Doch sie gab sich einen Ruck und trat hinaus auf den momentan leeren Flur. Erleichert machte sie sich zum Badezimmer auf. Als Kiandi auf dem Rückweg an den anderen Türen vorbeikam, fragte sie sich, wer hier sonst noch lebte. In diesem Haus schienen noch einige Leute zu wohnen. Diese Fragezeichen in ihrem Kopf mussten weg. Unbedingt. Aber dazu musste sie ja zuerst Alicia finden. Wo auch immer die wohl war. Das Gebäude schien zumindest sehr groß zu sein. Kiandi seufzte auf. Aber es half ja nichts. Wenn sie Antworten finden wollte, musste sie zuerst suchen.
Und so wagte die junge Frau sich weiter in den Flur vor.
„Ah du bist wach“, stellte eine Stimme fest und eine Jugendliche mit glattem, schwarzem Haar, den mandelförmigen Augen des ardonanischen Kontinentes und ebenmäßigen Gesicht näherte sich durch den Gang dem Neuankömmling. Eine wellenförmige Zeichnung in Blau prangte genau auf ihrer Schläfe. „Du bist die Neue, die letzte Nacht angekommen ist.“ Das war ganz offensichtlich keine Frage. „Mein Name ist Kasumi Young. Ich bin Alicias Adoptivtochter und sowas wie das gewöhnliche Empfangskomitee. Mum lässt sich entschuldigen, sie ist noch im Unterricht. Ich wollte eigentlich gerade nach dir sehen. Wie ich sehe, passen dir die Sachen. Sollen wir dir erst einmal noch ein paar Klamotten zusammensuchen, damit du etwas Vorrat hast? Keine Sorge, ich beantworte dir alle Fragen die du hast, auch unterwegs, also, was meinst du?“ Sie lachte und grinste die andere an, wartete aber erneut nicht auf eine Antwort.
„Die ersten Fragen kenn ich schon, das sind bei jedem die gleichen, du musst sie mir also nicht stellen: Wo sind wir hier? Also das hier ist die Morgan-Fox-Anstalt. Offiziell eine Resozialisierungseinrichtung für straffällig gewordene Jugendliche. Wir jedoch nennen diesen Ort ein Heim, Internat, Zuhause, oder wie auch immer in der Richtung. Du musst wissen, in Wahrheit ist das hier ein Ort, der den Menschen, bis auch wenige Ausnahmen verboten ist zu betreten, wo Kids wie du und ich also ungestört leben und einfach das sein, was wir wollen können. Hier sind wir die Normalen und die Menschen die Sonderlinge.“ Erneut erklang das Lachen der Andornarierin als sie Kiandi direkt ins Gesicht sah.
„Zweite Frage folgt auf dem Fuß: Wer sind denn bitte ‚wir‘? Nun das ist einfach zu erklären: Erstens.“
Mit einem Mal lösten sich ihre Konturen auf und zerflossen zu Nebel. Das Mädchen verwandelte sich nicht vollständig in die zarten Schleier, doch zumindest schmolzen ihre Umrisse und umhüllten ihre schlanke Gestalt. Dann setzte sie sich nach einigen Sekunden aber wieder grinsend zusammen. Diesen Teil der Begrüßung schien sie zu lieben. „Wir haben Superkräft. Zweitens:“ Sie deutete auf ihre Schläfe. „Wir haben am Körper ein farbiges Zeichen unbekannter Herkunft und drittens: Menschen mögen uns nicht. Sprich, ich bin genau wie du! Man nennt uns Erleuchtete. Und JETZT bist du dran. Schieß los!“
Nachdem ihre kleine Vorstellung vorbei war gab sie der andern nun ein Handzeichen, dass sie ihr folgen sollte.
Auf einmal hörte Kiandi eine Stimme durch den Flur schallen. Bei der dazugehörigen Person handelte es sich um eine junge Frau, die offenbar aus Ardona stammte. Viel auffälliger als das waren allerdings drei blaue, wellenförmige Linien an ihrer linken Schläfe. Kiandi dachte an das seltsame Zeichen das sich von ihrer Wange bis über den Hals zog und an das Symbol, das Mitch ihr einmal kurz gezeigt hatte. Und da fiel ihr auch auf, dass sie in Gegenwart der Fremden nicht das Unwohlsein empfand, wie es normalerweise in der Nähe von anderen Menschen (ausgenommen Mitch) der Fall war. Es musste also eine Verbindung zwischen ihnen geben, welche auch immer das war. Diese Entdeckung war so absurd, dass die Fünfzehnjährige erst einmal gar nichts sagte und einfach nur zuhörte.
Die Andere stellte sich als Kasumi vor und erklärte, sie sei die Adoptivtochter der Heimleiterin. Außerdem schlug sie vor, noch ein paar Sachen zum Anziehen rauszusuchen. Gut, dagegen hatte Kiandi nicht das Geringste einzuwenden und tat das mit einem Nicken kund. Aber viel wichtiger war, einige dringende Fragen zu klären, um endlich alles zu verstehen. Das hatte sich Kasumi offenbar schon gedacht und fing sogleich mit einigen Erklärungen an.
Kiandi hörte aufmerksam zu, als sie die Anstalt beschrieb. Ein Ort für besondere Menschen? Ein Zuhause? Das klang nach großartigen Aussichten. Vor allem aber implizierte das eins: Aus irgendeinem Grund war sie wirklich besonders. Und nicht nur sie. Und hier konnte sie das sein, was sie war. Was auch immer das sein mochte. Aber auch dazu sollte sie sofort mehr erfahren. Als sich Kasumis Konturen plötzlich auflösten, blieb Kiandi der Mund offen stehen. Sie wusste eigentlich selbst über ihre und Mitchs seltsame Fähigkeiten Bescheid, aber das war eine beeindruckende Vorstellung. Das Mädchen musste sich echt kurz zusammenreißen, um nicht zu verpassen, was die andere dann sagte. Und das Puzzle, was sich nun langsam Stück für Stück zusammensetzte, musste sie auch erst einmal auf sich wirken lassen.
Sie gehörte zu einer besonderen Gruppe Menschen.
Mit Superkräften.
Und einem farbigen Muster am Körper.
Menschen kamen nicht mit ihnen klar.
Sie waren hier zu Hause.
Erleuchtete.
Für einen Augenblick war Kiandi tatsächlich fassungslos.
"Und JETZT bist du dran. Schieß los!", forderte Kasumi sie auf und bedeutete ihr dann, mitzukommen.
"Ich ... äh", stammelte die Fünfzehnjährige. "Wow!", rutschte ihr dann einfach heraus. Erst war sie ein wenig verlegen. Dann musste sie plötzlich grinsen.
"Das ... das ist einfach unglaublich. Ich wusste, dass ich nicht die einzige bin, aber ... das hätte ich nie erwartet." Dabei musste die Erleuchtete wieder an Mitch denken.
"Kasumi, ich kenne noch einen Typ mit Superkräften. Aber ... " Kiandi schluckte. Einen Moment lang konnte sie nichts sagen. "Der steckt in argen Schwierigkeiten", presste sie dann heraus.
Kasumi wandte sich auf dem Absatz um und ihr Gesicht war ernst, als sie Kiandis Gesicht musterte. "Du kennst jemanden, der wie wir ist?", hakte sie nach und der Spaß ihrer Vorführung mit der sie die Neue zum Staunen gebracht hatte, war verflogen, "Dann erzähl bitte. Ich schätze das sollte uns beiden mehr am Herzen liegen, als unter Schwestern herumzuscherzen. Was ist mit unserem Bruder und bist du dir sicher, dass er einer von uns ist?"
Als das andere Mädchen sich wieder umdrehte, war ihr Ausdruck plötzlich ernst. Kiandi ließ sich nicht zweimal bitten und teilte ihr so kurz und prägnant wie möglich mit, was sich in der letzten Nacht ereignet hatte.
"Ich bin mir ganz sicher", sagte sie bestimmt. "Er hat auch so ein Symbol, wie wir und er kann Leute aufspüren. Seit wir uns getrennt haben, weiß ich nicht, was mit ihm passiert ist. Aber die haben ihn bestimmt geschnappt. Er war für die Gang immer wertvoll, weil er seine Kräfte kontrollieren kann. Aber wer weiß, was die mit ihm machen werden." Kiandis Stimme versagte. Sie fragte sich, ob sie überhaupt etwas tun konnten.
"Verstehe, in dem Fall würde ich eine Planänderung vorschlagen: Wir beide gehen zu Alicia, holen sie aus dem Unterricht und erzählen ihr deine ganze Geschichte, mit allen Einzelheiten, zum Beispiel, warum du glaubst, dass er in Gefahr ist, was genau mit dir passiert ist und wer diese Gang ist, von der du gesprochen hast. Alicia wird dann vermutlich ein Sucherteam aussenden. Es ist nicht besonders schwer für uns einen Bruder zu finden. Jeder Erleuchtete hat, wenn er es trainiert, die Fähigkeit, andere Erleuchtete aufzuspüren, wenn wir nahe genug heran kommen, um sie wahrzunehmen. ein paar von uns sind inzwischen durch unser Training hier in der Lage auf mehrere hundert Meter oder sogar auf mehrere Kilometer andere Erleuchtete zu erspühren. Wir beide jedoch können erst einmal nichts machen und werden nach dem Gespräch mit Alicia alles ihr überlassen, für dich eine Klamotten-Grundausstattung besorgen und uns die Schule ansehen. Zudem werden wir dann ganz in Ruhe zusehen, dass wir alle deine Fragen beantwortet kriegen", schlug Kasumi sachlich vor, "Ist das ein Deal? Nebenbei, auf dem Weg zu Mum können wir gerne schon anfangen, dass du mir ein paar Details erklärst, damit ich es Mum nachher schnell, klar und prägnant erklären kann, du wirkst ja etwas aufgewühlt. "
Sucher? Das würde erklären, wie der Junge auf dem Motorrad einfach so aufgetaucht war. Anscheinend war er auch einer dieser Sucher und hatte sie ebenfalls gespürt. Das gab Kiandi zumindest einen Funken Hoffnung. Diese Leute hier schienen gut organisiert und wussten, was sie taten. Wenn jemand Mitch helfen konnte, dann Alicia und ihr Team. Also nickte die junge Erleuchtete und antwortete:
"Ja, ich denke, da hast du recht." Dann fügte sie noch hinzu: "Es war wirklich etwas viel. Aber ich werde alles erzählen, so gut ich kann."
Dann folgte sie Kasumi.
Der Rest des Tages schien rasend schnell zu vergehen. Gut, vielleicht lag es daran, dass es zum "Beginn" bereits Mittag war. Die Heimleiterin war schnell gefunden und Kiandi berichtete alles nach bestem Vermögen. Dann suchte sie gemeinsam mit Kasumi viele neue Klamotten aus. Während sie die Kleidungsstücke sortierten und Kiandi Verschiedenes anprobierte, fragte sie die andere Erleuchtete über alles Mögliche aus. Irgendwann musste Kasumi ihre Schwester allerdings bremsen. Die Informationsflut hätte sie sonst wohl kollabieren lassen. Das Gehörte musste Kiandi erst einmal verarbeiten. Trotzdem zeigte Kasumi ihr noch die Anstalt. Es war einfach unglaublich. Je mehr Zeit hier verging, umso mehr verstand die junge Erleuchtete, dass dies kein Traum war und sie fühlte sich endlich Zuhause - ein Gefühl, von dem sie nicht mehr gehofft hatte, sie würde es jemals wirklich spüren.
In den folgenden Tagen erkundete Kiandi die Anstalt, richtete sich ein und lernte alles ein bisschen näher kennen. Auch an ein paar Unterrichtsstunden nahm sie teil. Diese spannende und schöne Zeit wurde ein wenig überschattet von ihrer Sorge um Mitch. Geduld zu haben war in dieser Situation sehr schwierig für die Heranwachsende. Aber Kiandi versuchte ihr Bestes, sich auf all die neuen Dinge hier in der Anstalt zu konzentrieren. Im Moment konnte sie ohnehin nicht viel tun.
Es war ein sehr schöner Abend gewesen. Kiandi hatte sich erst ein wenig vor der Party gescheut, aber sich dann doch entschieden, ein wenig mit dabei zu sein. Eine gute Entscheidung, wie sich im Nachhinein herausstellte. Zwar war die junge Erleuchtete eher etwas im Hintergrund geblieben, doch Spaß hatte sie auf jeden Fall gehabt und hier und da ein kurzes Gespräch mit einem Bruder oder einer Schwester geführt. Kiandi war immer noch etwas zurückhaltend, allerdings bemerkte sie, dass der Umgang mit den anderen Erleuchteten sich wirklich komplett von dem Gefühl gegenüber normalen Menschen unterschied. Sie fühlte sich hier wirklich besser.
Allzu spät war sie aber auch nicht ins Bett verschwunden und so war die Jugendliche schon recht früh wieder wach. Mit Neugier auf den neuen Tag machte sie sich zurecht und ging zur Mensa. Dort gab es mal wieder ein herrliches Frühstücksbuffet. Kiandi schnappte sich einen Teller, lud ein paar Brötchen, Belag und etwas Obst darauf und suchte sich einen freien Platz. Sie zögerte, wo sie sich hinsetzen sollte. Dann fasste die Erleuchtete sich ein Herz und setzte sich neben ein anderes Mädchen. Kiandi begrüßte ihre Schwester mit einem herzlichen "Guten Morgen". Bevor sich aber eine Unterhaltung entwickeln konnte, betrat Alicia den Raum.
Kiandi lauschte den Neuigkeiten. Von Jimmy Coleman hatte sie schon gehört, aber im Gegensatz zu einigen anderen Mädchen in der Mensa hielt sich ihre Reaktion in Grenzen. Trotzdem war sie im Stillen sehr gespannt auf den Unterricht bei ihm.
Doch die andere Nachricht wühlte sie auf. Als Alicia Erleuchtete in Not erwähnte, schoss ihr sofort ein Gedanke in den Kopf. Sie musste mit der Heimleiterin sprechen, unbedingt! Ein paar andere meldeten sich bereits für die Mission. Kiandi haderte mit sich. Nicht, dass sie nicht sofort helfen wollte, aber konnte sie das denn? Das Mädchen hatte bisher kaum Unterricht gehabt und sie beherrschte ihre Kräfte gar nicht. Was nützte das schon?
Ihre Tischnachbarin stellte inzwischen ein paar Fragen an Alicia und meldete sich ebenfalls freiwillig. Die Antworten gefielen Kiandi gar nicht. Egal ob es hier vielleicht um Mitch ging oder nicht - das durfte diesen Erleuchteten auf keinen Fall passieren! Da stimmte sie Alicia sofort zu. Als sich eine weitere junge Frau zu Wort meldete und dem anderen Mädchen am Tisch ermutigend zuzwinkerte, überwand Kiandi sich, ihre Tischnachbarin anzusprechen. Anscheinend war sie schon bei einer gefährlichen Mission dabei gewesen. Es konnte ja sogar sein, dass es um die Ereignisse der letzten Tage ging, von denen Kiandi sporadisch etwas mitbekommen hatte. Wenn dem so war, konnte diese junge Frau ihr vielleicht bei ihrer Entscheidung helfen.
"Hey, ähm. Ich würde sehr gern mithelfen", begann sie leise. "Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich eine Hilfe wäre. Ich kann meine Fähigkeiten überhaupt nicht kontrollieren. Alles, was ich kann, ist ein bisschen Selbstverteidigung. Du scheinst ja schon mehr Erfahrung zu haben, oder?"
OT: Hi alle zusammen! ^-^ Mit dieser Wall ist Kiandi auch mit dabei. Ich freu mich sehr! Vielen Dank an dieser Stelle an @Sheewa für die tolle Unterstützung und die Geduld. :D
@Espeon Kiandi hat sich jetzt einfach mal dreist zu Leira gesetzt und quatscht sie erstmal an. ^^