Happy End
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► Informationen.
Dann will ich euch auch gar nicht lange warten lassen und präsentiere euch hiermit meine erste Kurzgeschichte. Sie ist eine der längsten, die ich jemals geschrieben habe - vierzig Seiten um genau zu sein. Ebendeswegen werde ich sie nicht in einen kompletten Post packen, da es einfach eine unglaubliche Menge an reinem Text wäre, sondern ich benutze dieses tollte Tab-Menü. Somit könnt ihr euch gemütlich Kapitel für Kapitel durch die Geschichte kämpfen und werdet nicht gleich zu Beginn verrückt, wenn ihr die Länge des Textes erkennt.
► Zur Kurzgeschichte.
An Happy End habe ich drei Jahre geschrieben. Dabei sind Charaktere ausgetauscht worden, der Schauplatz ist um die Welt gereist und fünfzehn Enden wurden geschrieben. Letztendlich sind Worte übrig geblieben, die oftmals meine eigene Meinung zu den Themen Leben, Tod und Vergänglichkeit widerspiegeln und sich in 5 Kapiteln über die gesamte Kurzgeschichte verteilen.
► Inhalt.
Der Protagonist heißt Michael. In seinen Augen ist das Leben nur eine Illusion. Er glaubt nicht an ein Happy End oder das ewige Zusammensein mit einem anderen Menschen. Heuchelei und Einsamkeit bestimmen seinen Alltag und er möchte nur noch fliehen. An das Meer …
► Genre.
Das ist schwer zu sagen. Ich würde es als dramatische Liebesgeschichte bezeichnen.
► Copyright.
Jenes liegt selbstverständlich bei mir. Ihr dürft den Text weder verändern noch als euren eigenen ausgeben.
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[tab='Kapitel 1']
Das größte Geschenk, welches einem Menschen zuteilwerden kann ist das Leben. Ich war mir dessen nie bewusst.
Drei Worte haben mein Leben für immer verändert. Drei Worte haben meine Zukunft neu geschrieben. Drei Worte haben mich gelehrt, was es bedeutet zu leben. Ich wünsche niemandem, dass er diese Worte jemals in seinem Leben hören muss. Ich aber habe Sie gehört. Von dem Menschen, der mein Leben für immer verändert hat.
Ich traf Emily das erste Mal im November. Es hatte geschneit und die Straßen waren mit einem weißen Schleier überzogen. Überall liefen Menschen geschäftig durch die Stadt und torkelten mit vollen Tüten von Laden zu Laden. Ich hatte mir lediglich ein wenig die Beine vertreten wollen. Die kühle Winterluft tat mir gut und ich genoss es, sie in meinem Gesicht zu spüren.
Als ich den Park erreichte, hatte es angefangen zu schneien. Die Flocken tänzelten zu Boden und blieben letztendlich auf dem Asphalt ruhig liegen. Meine Füße trugen mich zum See, wo ich eine Bank sauberwischte und mich setzte. Die Ruhe war angenehm. Ab und an konnte man Autos von der Straße her hören, aber wenn man sich konzentrierte gab es nur dich und die Natur.
Emily: Ist da noch frei?
Ihre Stimme klang warm und weich. Ich drehte mich um und blickte Emily das erste Mal in die Augen.
Ich: Natürlich.
Ich wischte mit meiner Hand auch noch die linke Seite der Bank sauber. Emily lächelte und setzte sich neben mich. Ich weiß nicht wie lange wir dort, schweigend, nebeneinander saßen und die Ruhe auf uns wirken ließen. Meine Augen schielten immer wieder zu Emily und als ich bemerkte, dass sie die Augen geschlossen hatte, tat ich es ihr gleich.
Emily: Ist es nicht wunderschön? Wenn Sie ganz ruhig sind, dann können Sie sogar Ihren Herzschlag hören.
Ich: Sie haben Recht.
Emily: Ist das nicht verrückt? Die Stille kann uns zeigen, dass wir leben. Gleichzeitig zeigt sie uns aber auch was Vergänglichkeit bedeutet.
Ich: So habe ich das noch nie gesehen.
Emily: Viele Menschen leben, damit sie leben. Sie hinterfragen nicht, was das Leben eigentlich bedeutet.
Ich: Ich schätze, dass sie einfach keine Zeit haben.
Emily: Eben. Ist das nicht traurig? Gerade in der Weihnachtszeit, die vor Hektik nur so trieft, sollten die Menschen sich doch darüber bewusst werden, was das Leben für sie ausmacht.
Ich: Was macht das Leben denn für Sie aus?
Emily: Diese Frage versuche ich noch für mich zu beantworten. Und für Sie?
Im Grunde hatte ich mir noch nie die Gedanken darüber gemacht, was das Leben für mich ausmacht. Plötzlich lachte Emily und steckte mich an.
Ich: Warum lachen Sie?
Emily: Es ist lustig zu sehen, wie Sie versuchen eine Antwort zu finden. Und warum lachen Sie?
Ich: Ich weiß es nicht.
Emily: Ich denke, dass man manchmal einfach lachen muss.
Ich sah Emily an – sie lächelte.
Ich: Und was ist, wenn Sie in der falschen Situation lachen.
Emily: Es gibt keine falsche Situation, wenn der Grund stimmt.
Ich: Der Grund?
Emily: Angenommen, Sie fangen bei einer Beerdigung an zu lachen. Alle Leute werden Sie wütend anschauen, aber wenn sie wüssten, dass der Grund für Ihr Lachen die Tatsache ist, dass Sie sich an ein lustiges Ereignis mit dem Verstorbenen erinnern, dann würden sie es Ihnen gleich tun.
Ich: Da haben Sie vermutlich Recht.
Emily: Die meisten Menschen betrachten das Lachen als eine Form der Fröhlichkeit, aber man kann in dem Moment auch trauern.
Ich: Das ist ein schöner Gedanke.
Ich stand auf und klopfte meine Hose ab. Emily pustete sich ein paar Strähnen aus ihrem Gesicht, die sofort in dieselbe Position zurückfielen. Ich lächelte.
Ich: Ich muss dann auch schon wieder. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.
Emily: Ihnen auch. Und danke für das schöne Gespräch.
Ich: Sehe ich auch so. Ciao.
Ich hob meine Hand zum Abschied, dann drehte ich mich um und stapfte durch den Schnee zum Ausgang des Parks und zurück in die Welt – ohne mich noch einmal umzudrehen. Weihnachten war schon immer meine liebste Zeit im Jahr. Der Geruch von frisch gebackenen Plätzchen, die ruhigen Weihnachtslieder, der Schnee, das Wiedersehen mit meiner Familie. Während dieser Zeit fühle ich mich am wohlsten.
Die Überraschung war umso größer, als mich meine Mutter anrief und mir mitteilte, dass sie und mein Vater über die Feiertage verreisen und ich somit Weihnachten alleine feiern müsste.
Da saß ich also an Heiligabend und wusste nicht so recht, was ich tun könne. Da schien der Einfall – in den Park zu gehen – die beste Idee zu sein.
Es ist ein komisches Gefühl an diesem Tag durch die nächtlichen Straßen zu gehen. Überall sieht man Kerzenlicht in den Fenstern und kleine Kinder, die Lieder für ihre Familien singen. Im Park war es noch ruhiger als sonst. Ich konnte nur meine eigenen Schritte im Schnee hören.
Ich sah die Person, welche auf der Bank vor dem zugefrorenen See saß, schon von weitem. Zunächst überlegte ich mir weiterzugehen, aber dann erkannte ich im schwachen Schein der Straßenlaterne Emily, wie sie die Augen geschlossen hatte und ruhig atmete.
Ich: Feiern Sie auch alleine?
Emily öffnete ruhig Ihre Augen – sie hatte mich wohl schon kommen gehört.
Emily: Ja. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Ich: Meine Eltern sind verreist.
Emily: Oh.
Ich: Darf ich mich zu Ihnen setzten?
Emily nickte und befreite die rechte Hälfte der Bank vom Schnee. Ich musste ein wenig lachen und Emily schloss sich mir an. Ich setzte mich und schloss meine Augen.
Emily: An diesem Tag kann man sein Herz noch besser hören.
Ich: Ja, es ist viel ruhiger als sonst.
Emily: Alle Menschen feiern. Heute haben sie keine Zeit für Hektik.
Ich: Haben Sie die Frage schon beantwortet?
Emily: Nein. Ich versuche es immer noch, aber es fällt mir schwer. Wie steht es bei Ihnen?
Ich: Ich habe mir ein paar Gedanken darüber gemacht, aber es ist schwerer als ich dachte.
Emily: Ich denke, dass die Erkenntnis einfach kommt. Irgendwann werden Sie es einfach so wissen und verstehen.
Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass Emily mich anschaute. Die Strähne hing immer noch in ihrem Gesicht, das traurig wirkte.
Ich: Stimmt etwas nicht?
Ich hatte ein ungutes Gefühl dabei eine fremde Person nach ihrem Befinden zu fragen, aber es kam mir in dieser Situation richtig vor.
Emily: Ist es nicht traurig, dass wir an Heiligabend hier draußen sitzen?
Ich: Ich schätze schon. Warum feiern Sie nicht bei Ihrer Familie?
Emily: Ich habe schon seit zwei Monaten nicht mehr mit meinen Eltern gesprochen.
Ich: Warum nicht?
Emily: Ich weiß es nicht. Es ist etwas passiert und ich habe Angst meinen Eltern davon zu erzählen.
Ich: Das tut mir Leid.
Emily nickte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
Ich: Wollen wir vielleicht zusammen feiern?
Ich erschrak. Warum hatte ich das gefragt?
Ich: Es … es tut mir Leid. Ich hätte nicht …
Emily: Gerne.
Ich: Ähm … was?
Emily: Ich würde gerne Weihnachten mit Ihnen feiern.
Ich: Wirklich?
Emily: Ja. Die Idee gefällt mir.
Ihr Lachen klang so warm und weich wie ihre Stimme. Den Heiligabend mit Emily zu verbringen war wunderschön. Wir saßen auf der Bank, sangen Weihnachtslieder, lachten und redeten über belanglose Alltagsthemen. Ich merkte immer mehr, wie unbekümmert Emily war. Es schien fast so, als könne sie mit allem auf der Welt fertig werden.
Als wir aus der Ferne die Kirchturmuhr zum zwölften Mal schlagen hörten, verabschiedeten wir uns Beide voneinander.
Emily: Danke für den schönen Abend.
Ich: Keine Ursache, aber ich danke auch dir.
Emily: Ob wir das irgendwann wiederholen können?
Ich: Im Park oder woanders?
Emily: Ich hätte da an ein Restaurant gedacht.
Ich: Klingt gut.
Emily: Hier.
Emily kramte in ihrer Tasche und gab mir schließlich einen Zettel.
Emily: Ruf mich an.
Emily trug bei unserem Essen ein Abendkleid und wirkte noch schöner als sonst. Nach dem Restaurant begleitete ich sie nach Hause. An der Tür blieb Emily stehen und bedankte sich für den Abend. Ich küsste sie. Es kam mir vor, als würden wir in unsere eigene Welt abtauchen. Als sich unsere Lippen voneinander lösten musste sie lachen.
Nach dem Tag im Restaurant traf ich mich oft mit Emily. Wir kamen uns immer näher und ich genoss die Zeit mit ihr. Ihre unbekümmerte Art sprang auf mich über und ich begann die Welt mit anderen Augen zu sehen und als sie mich fragte, ob ich nicht Lust hätte an Silvester spontan mit ihr ans Meer zu fliegen, stimmte ich sofort zu.
Ich war zuvor noch nie am Strand gewesen. Der Sand zwischen den Zehen, die kühle Brise, welche vom Meer her weht, es war ein angenehmer Ort. Ich sah auf das Meer hinaus und betrachtete die Spiegelung des Monds auf dem Wasser.
Emily: Gefällt es dir?
Emily hatte sich an mich gelehnt und ich legte meinen Arm um sie.
Ich: Und wie.
Emily: Früher bin ich mit meinen Eltern oft hierhergekommen.
Ich schwieg, es schien mir falsch Emily etwas über ihre Eltern zu fragen.
Emily: Seit diesem Tag vor zwei Monaten hat sich alles verändert.
Ich: Veränderung ist meistens nichts Gutes.
Emily: Wir leben jeden Tag mit dem Risiko, dass sich alles verändern kann. Veränderung ist etwas Alltägliches.
Ich: Und trotzdem sind wir nicht bereit für sie.
Emily: Wenn wir bereit für sie wären, dann könnten wir das Leben nicht mehr genießen.
Ich: Dennoch hast du Angst deinen Eltern davon zu erzählen.
Emily löste sich von mir. Sie schaute mich traurig an und begann zu weinen.
Emily: Du weißt doch nicht einmal, was sich für mich verändert hat.
Ich: Dann erkläre es mir. Ich werde dir helfen.
Emily: Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das!
Tränen kullerten über ihr Gesicht. Ich ging auf sie zu und nahm sie in den Arm.
Ich: Bitte Emily. Lass mich dir helfen.
Emily: Es tut mir so leid.
Ich: Was tut dir leid?
Emily: Dass ich es dir nicht schon damals an Heiligabend gesagt habe.
Ich: Was hast du mir nicht gesagt?
Die Sekunden zwischen meiner Frage und Emilys Antwort kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Eigentlich hatte ich nie an so etwas geglaubt, aber es entspricht der Tatsache, dass jede Sekunde zu lange dauert. Emily hob ihren Kopf und sah mir in die Augen. Ihre waren gerötet und noch immer sah ich kleine Zeugen der Trauer. Dann, ganz langsam, gingen ihre Lippen auseinander und sie sagte drei Worte. Drei Worte die reichten, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Emily: Ich habe Krebs.
Jeder Mensch fasst die Nachricht, dass eine geliebte Person schwerkrank ist, anders auf. Ich für meinen Teil bekam Gänsehaut und starrte Emily mit offenem Mund an.
Emily: Es tut mir so leid.
Ich spürte, wie Emily sich aus meiner Umarmung lösen wollte, aber ich ließ es nicht zu. Ich drückte sie an mich, schloss die Augen und flüstere irgendwelche zusammenhangslose Wörter.
Es war nicht meine Idee Emily mit einem Frühstück am Bett zu überraschen. Ich hatte es mal in irgendeinem Film gesehen und obwohl ich es kitschig fand, war es doch genau das richtige nach dem Abend des Vortags.
Ich strich Emily ihre Strähne aus dem Gesicht und weckte sie mit einem Kuss auf ihre Stirn.
Ich: Guten Morgen.
Emily: Hi.
Ich: Wie geht es dir?
Emily: Besser. Jetzt wo du es weißt.
Ich: Nichts wird sich ändern.
Emily: Das sagst du jetzt, aber …
Ich fiel ihr ins Wort und küsste sie. Dann stellte ich das Tablett auf das Bett und wir aßen – schweigend.
Ich war überrascht, wie wenig man Emily die Krankheit ansah. Nach unserem Urlaub an Silvester hatte sie mich einige Tage nicht sehen wollen uns als ich sie wieder traf, war sie genauso fröhlich und unbekümmert wie ich sie kennengelernt hatte.
Emily: Was machen wir heute?
Ich: Ich weiß nicht. Zu was hast du Lust?
Emily: Wir könnten ins Kino.
Ich: Hört sich gut an.
Wir liefen Hand in Hand die Straße entlang und unterhielten uns weiter.
Emily: Ich habe morgen einen Termin beim Arzt.
Ich schwieg und nickte nur.
Emily: Würdest du mitkommen?
Ich war überrascht und blieb stehen. Emily ging noch ein paar Schritte weiter, bis sie es merkte.
Emily: Was ist?
Ich: Willst du das wirklich?
Emily: Ja. Ich würde mich besser fühlen, wenn du dabei wärst. Der Arzt will mit mir die Chemotherapie besprechen und …
Ich: Ich komme gerne mit.
Emily: Danke.
Ich mag keine Krankenhäuser. Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn ich eines betrete. Emily hatte den ganzen Tag noch kein Wort mit mir gewechselt. Als ich sie abgeholt hatte setzte sie sich und schaute während der ganzen Fahrt aus dem Fenster. Jetzt, wo wir im Aufzug standen, fing sie an zu zittern.
Ich: Geht es dir gut?
Emily: Es geht schon.
Infolgedessen, dass die Therapie schon eine Woche nach unserem Termin starten sollte, bat mich Emily sie in den Park zu begleiten. Es tröpfelte, als wir uns auf die Bank setzten. Der See war inzwischen wieder aufgetaut und der kühle Wind ließ ein Blatt über ihn tänzeln. Wir hatten Februar.
Emily schob ihre Hände unter die Achseln und kuschelte sich an mich. Ich legte meinen Arm um sie und beobachtete das Blatt.
Emily: Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich die Chemotherapie wirklich machen soll.
Ich: Warum?
Emily: Aus dem gleichen Grund aus dem ich meinen Eltern noch nichts gesagt habe.
Ich: Angst?
Emily: Ja ...
Ich: Wovor?
Emily: Vor ihrer Reaktion. Ich will sie nicht weinen sehen.
Ich: Das ist eine normale Reaktion.
Emily: Du hast nicht geweint.
Ich schwieg. Emily hatte Recht. Ich war mir dessen nicht bewusst gewesen, aber es stimmte.
Ich: Ich schätze, dass ich einfach optimistisch bin.
Emily: Optimistisch?
Ich: Ich glaube daran, dass du wieder gesund wirst.
Emily: Warum?
Ich: Weil ich dich kenne. Ich habe gesehen, wie fröhlich du immer bist. Du hast so viel Spaß am Leben und wirst deshalb auch nicht aufgeben.
Emily: Der Tod ist nur eine weitere Station in unserem Leben, die wir passieren müssen. Wir sitzen unser ganzes Leben lang im Zug und steigen immer mal wieder um. Für unsere Hochzeit, für unseren neuen Beruf oder eben um zu sterben.
Ich: Das klingt fast so als hättest du aufgegeben.
Emily: Ich habe nicht aufgegeben, aber ich betrachte den Tod nicht als das Ende. Es ist der Anfang von etwas Neuem. Von Etwas, das ohne dich stattfindet, aber trotzdem passiert und durch dich beeinflusst wird.
Ich: Trotzdem hinterlässt du Menschen, die dich vermissen.
Emily schloss ihre Augen. Ich strich ihr die Strähnen aus dem Gesicht und streichelte ihr über das Haar.
Ich: Ich liebe dich.
Als Emily die Haare ausfielen machte ich den Scherz, dass ihr jetzt wenigstens keine Strähnen mehr ins Gesicht fallen könnten. Sie musste lachen und küsste mich.
Bevor wir ihre Eltern besuchten bat sie mich, ich solle doch eine Perücke kaufen, damit ihre Mutter nicht schon an der Tür zusammenbricht.
Emilys Eltern wohnten in einem großen Haus im Grünen. Ein großer Wald grenzte an das Anwesen in dem wir spazieren gingen, nachdem Emily es ihren Eltern alleine gesagt hatte. Ich fühlte mich fehl am Platz und war deshalb zum Auto zurückgegangen und hatte Radio gehört.
Emily meinte, dass ihre Eltern genauso reagiert hatten, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihre Mutter hatte angefangen zu weinen und ihr Vater hatte beide in den Arm genommen.
Emily: Danke.
Ich: Ich habe doch gar nichts gemacht.
Emily: Du hast mich gefragt, ob ich Weihnachten mir dir feiern will.
Emily schien es immer schlechter zu gehen. Sie wurde blasser, musste sich immer öfter übergeben und nahm immer mehr ab. Ich wohnte schon seit einigen Wochen mehr im Krankenhaus als zuhause. Ich hielt Emilys Hand, redete mit ihr, machte Witze, küsste sie und streichelte ihr über den kahlen Kopf. Die einzige Reaktion von ihr war die Erwiderung meines Händedrucks und ihr Lächeln, welches noch genauso schön wie am ersten Tag war. Wenn sie redete, dann geschah das sehr leise und schwach – trotz alledem aber immer noch mit der hellen, klaren Stimme.
Emily: Ich werde umsteigen, oder?
Ich: Nein. Dir geht es schon viel besser.
Emily lachte und schüttelte den Kopf. Dann hob sie ihre Hand und berührte meine nasse Wange.
Emily: Du bist ein schlechter Lügner.
Ich: Ich habe Angst.
Emily: Angst?
Ich: Davor, dass du dich in den anderen Zug setzten wirst.
Emily: Das darfst du nicht. Du darfst keine Angst haben. Wenn hier jemand Angst haben sollte dann ich, aber nicht du.
Ich: Ich liebe dich.
Als Emilys Eltern kamen verließ ich das Krankenzimmer und machte einen kleinen Spaziergang. Ich dachte über die Zeit mit Emily nach. Es waren die bisher schönsten Monate in meinem Leben gewesen.
Nachdem ich das Krankenhaus wieder betreten hatte kamen mir Emilys Eltern entgegen. Ihre Mutter weinte und ihr Vater nickte mir freundlich zu. Ich betrat Emilys Zimmer, setzte mich wieder an ihr Bett und nahm ihre Hand.
Ich: Ich weiß jetzt die Antwort. Du machst für mich das Leben aus. Unabhängig davon, ob du hier bist oder woanders. Du hast alles verändert.
Emily: Ich liebe dich.
Emily starb am 21.05.2010. Es war ein regnerischer Tag. Es kam mir wie ein Film noir vor, als ich den Anruf von Emilys Vater bekam, ich solle so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen.
Als ich das Zimmer betrat erfüllte mich Kälte. Emilys Eltern standen in der Ecke und weinten. Ich ging auf das Bett zu und sah Emily dort liegen. Sie sah aus wie immer, nur ganz anders. Ich legte meine Hand auf ihren Kopf und stich ihr über das Gesicht. Dann küsste ich sie ein letztes Mal auf die Stirn, verließ das Zimmer und musste leise lachen.
Jedes Jahr komme ich an Heiligabend in den Park, wische beide Hälften der Bank sauber, setzte mich und schließe die Augen. Ich höre meinem Herzschlag zu und genieße die Stille. Denn sie ist es, welche mich an Emily erinnert. An die Person, die mein Leben für immer verändert hat.
[tab='Kapitel 2']
Emma wendete sich von dem Laptop ab und drehte sich zu Michael um. Dieser hatte die ganze Zeit neben ihr gestanden und wartete jetzt gespannt auf ihre Meinung.
„Das Ende ist traurig.“, sagte Emma und schaute aus dem Fenster. Sie sah einzelne Regentropfen auf die Scheibe klatschen. Es war einer der Tage, an denen man am besten drinnen blieb und einfach nichts unternahm. Michael kratze sich am Kopf. „Das war der Sinn.“, antwortete er und folgte Emmas Blick zum Fenster. Sie musste lächeln. „Konntest du die Geschichte nicht mit einem Happy End enden lassen? Dass sie den Krebs besiegt und beide glücklich zusammen leben?“, fragte sie und stand von ihrem Stuhl auf, „Es wäre viel schöner gewesen.“
„Im wahren Leben gibt es keine Happy Ends.“, Michaels Antwort kam trocken und unerwartet. „Wie meinst du das?“, fragte Emma, während sie das Zimmer verließ und in die Küche ging. Michael blieb regungslos stehen – seinen Blick nicht von dem Fenster abwendend: „Happy Ends. Sie sind eine Erfindung der Menschen, damit sie wenigstens in Büchern oder Filmen glücklich sein können.“ Emma stand in der Küche und kippte etwas Kaffeepulver in die Maschine - sie musste lachen. „Aber ist nicht genau das der Sinn dahinter? Dass man mithilfe von Büchern und Filmen aus dem Alltag entfliehen kann und sieht, wie romantisch das Leben sein kann.“ „Mag sein, aber das Ende wird nahezu perfekt dargestellt. Es scheint fast so, als könne diese Menschen nie wieder etwas trennen und das ist nicht der Fall. Es gibt immer etwas, das alles auseinanderreißt. Perfekt ist nur die Illusion.“, Michael sah ein letztes Mal die Tropfen an die Scheibe klopfen, klappte den Laptop zu und ging in die Küche. „Willst du auch einen?“, fragte Emma und deutete auf die Kaffeemaschine. „Ja, bitte.“
Sie saßen sich schweigend gegenüber, als sie ihren Kaffee tranken und mit einem leeren Blick in den Raum sahen. Emma konnte Michaels Einstellung nicht so recht verstehen. Natürlich war das Happy End ein Stilmittel in fast allen Liebesfilmen oder Büchern mit diesem Thema, aber dieses perfekte Ende für das eigene Leben komplett zu verdrängen? Emma kam diese Reaktion doch ein wenig übertrieben vor.
„Was denkst du?“, Emma schreckte auf. Michael sah sie an und trank einen Schluck heißen Kaffee. „Ich frage mich, warum du so zu der Entwicklung des Lebens stehst?“. Michael verdrehte genervt die Augen, stellte die Tasse ab und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Dann verschränkte er die Arme hinter seinem Kopf und sah die Decke an. „Weißt du, “, fing er und richtete seinen Blick dabei ein wenig auf Emma, „ich habe nichts gegen ein Happy End. Meiner Meinung nach ist es einfach nicht möglich, dass sich zwei Menschen finden und ein Leben führen, wie wir es in Büchern lesen oder in Filmen sehen. Es ist auch nicht so, dass ich neidisch auf diese Personen bin. Selbstverständlich sind die Geschichten, die dort erzählt werden schön und romantisch, aber warum sollte ich der Wirklichkeit entfliehen und in meinen Geschichten etwas erzählen, was nicht meiner Meinung entspricht?“
Michael wendete seinen Blick wieder Richtung Decke und begann mit dem Stuhl zu wippen. „Ich meine nur, dass die Menschen so etwas nicht gerne lesen. Wenn schon eine Geschichte nicht gut endet, warum sollte es dann ihr eigenes Leben?“, erwiderte Emma. Michael seufzte. Emma stand auf, nahm ihre Tasse und ging zu der Spülmaschine, welche sie öffnete und damit begann das Geschirr einzuräumen. „Das musst du nicht machen.“, meinte Michael und löste sich aus seiner Sitzposition. Er stand auf und nahm Emma ein paar Teller aus der Hand. „Ich weiß, aber jedes Mal wenn ich komme hast du noch mehr da drinnen stehen.“, sagte sie lachend und deutete auf das volle Waschbecken. „Ich muss doch aufpassen, dass mein kleiner Bruder wenigstens ein bisschen Geschirr hat.“
Als Emma gegangen war, setzte sich Michael wieder vor seinen Laptop. Er verstand seine Schwester, aber in solch einer Stadt, wo kein Mensch seinen Nachbarn kannte, der nur fünf Schritte von einem entfernt wohnte, konnte man ein glückliches Ende einfach nicht erwarten.
Michael betrachtete die flimmernden Buchstaben auf dem Bildschirm.
Er schrieb ein paar Wörter nieder und löschte sie gleich darauf wieder. Dann stand er auf und ging zum Fenster.
Der Regen prasselte immer noch auf die Straße. Er kam ihm wie ein Meer aus kleinen Nadeln vor, die vom Himmel auf die Stadt fielen. Als seine Hand das Fenster berührte zuckte er kurz zusammen. Das Glas war ganz kalt – die Wärme wurde durch den Regen fortgewaschen.
Michael blickte nach draußen. Menschen rannten über den Gehweg und hatten eine Zeitung oder ihre Jacke über dem Kopf, damit die Nadeln sie nicht treffen konnte. Wasser spritzte jedes Mal auf, wenn sie in Pfützen traten und vermischte sich mit dem Stoff ihrer Hosen.
Andere Menschen wiederrum liefen ganz gemächlich die Straße entlang, einen Regenschirm in der einen und eine Zigarette oder Handtasche in der anderen Hand.
Eine Frau blickte zu Michaels Fenster. Er hob die Hand, aber sie lief weiter ohne ihn zu beachten. In der Ferne konnte man Sirenen hören, Autos hupten und irgendwo brüllte jemand.
Michael löste seine Hand von dem Glas und rieb sie an die andere.
„Diese Stadt ist das Letzte.“
Er kehrte dem Geräusch des Regens den Rücken zu, ließ sich auf sein Bett fallen und schloss seine Augen.
Nachdem er die Schlummertaste des Weckers drei Mal verfehlt hatte, schleuderte ihn Michael mit einer Handbewegung vom Tisch. Das Piepen hörte schlagartig auf und das Gerät blieb stumm in der Ecke liegen.
Michael drehte sich einmal um und zog seine Bettdecke über den Kopf.
Die Türklingel überhörte er bewusst und dachte gar nicht daran aufzustehen und demjenigen, der etwas von ihm wollte, zu öffnen. Der Person schien es aber wichtig zu sein, denn auf einmal ging das freundliche Drücken der Klingel in ein Sturmläuten über und zwang Michael dazu genervt aufzustehen.
Schlaftrunken torkelte er zur Sprechanlage und drückte den einen Knopf.
„Ja?“, fragte er den kleinen Kasten in einem genervten Ton.
„Mach auf.“, war die Antwort, welche anscheinend keine Kompromisse zuließ.
„Jacob? Was willst du hier?“, Michael lehnte sich an die Wand und machte keinerlei Anstalten den Türöffner zu betätigen.
„Mach auf.“, antwortete Jacob unfreundlich.
Michael haderte. Er blickte einmal durch seinen Flur und hoffte einen Grund zu finden, damit er seinem Kollegen nicht die Tür öffnen müsste.
„Du weißt schon, dass ich den ganzen Tag hier stehen werde, oder?“, meinte die Freisprechanlage und Michael drückte genervt auf den Türöffner.
Jacob war einer der Menschen, die man, wenn man sie auf der Straße sah, für einen Banker gehalten hätte. Er trug einen schwarzen Anzug sowie ein weißes Hemd mit roter Krawatte. Des Weiteren war er frisch rasiert und hatte kurze, dunkle Haare. Als Michael seine Wohnungstür öffnete, zeigte Jacob auf seine Uhr am Handgelenk und schüttelte den Kopf. Dann zwängte er sich an Michael vorbei und ging direkt in das Arbeitszimmer, welches indessen auch als Wohn- sowie Schlafzimmer herhalten musste.
„Fertig?“, Jacob klang genervt und tippte mit seinem dunklen Slipper auf den Holzboden.
„Ja.“, sagte Michael und ging zu seinem Laptop, „Einen Moment.“
Er öffnete eine Schreibtischschublade und holte einen USB-Stick heraus, den er gleich darauf in seinen Laptop steckte.
„Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie du so leben kannst.“, meinte Jacob und sah sich kritisch im Zimmer um.
Michaels Schreibtisch stand direkt vor dem einzigen Fenster im Raum, das Bett war links von ihm an der Wand aufgestellt. Darüber hinaus hatte Michael einen grünen Sessel, der optisch überhaupt nicht in die Wohnung passte, sowie ein großes Regal mit unzähligen Büchern.
„Wie soll ich denn sonst leben?“, Michaels Tonart war unfreundlich, aber etwas anderes wollte er Jacob auch nicht vermitteln, „Ich verdiene eben nicht am besten.“
„Das kommt davon, wenn du dich weigerst als richtiger Journalist zu arbeiten.“, meinte dieser und setzte sich in den Sessel.
Michael schwieg und zog seine neueste Geschichte auf den USB-Stick.
„Ich schreibe nicht damit ich reich werde. Ich schreibe, weil es das Einzige ist, was ich kann.“
„Und trotzdem bist du auf der letzten Seite.“
Jacob stand vom Sessel auf und wischte seinen Anzug mit der Hand ab.
„Nicht jeder versteht meine Geschichten.“, sagte Michael.
„Nicht jeder versteht deine Geschichten?“, Jacob musste sich ein Lachen verkneifen, „Deine Geschichten sind doch jedes Mal gleich. Schon einmal etwas von Happy End gehört?“
Michael zog den Stick aus seinem Laptop und warf ihn Jacob zu.
„Auf Wiedersehen.“, meinte er und deute auf die Tür.
Jacob lächelte und schüttelte den Kopf. „Wenn du weiterhin so deprimierend schreibst, fliegst du noch raus.“
Als Jacob die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, atmete Michael durch und strich sich durch die kurzen braunen Haare. Dann stand er auf und ging ins Badezimmer, wo er sich unter die Dusche stellte und das warme Wasser über seinen Körper laufen ließ. Nachdem er fertig war schaute er kurz in den Spiegel, ob er sich denn rasieren müsse, aber als er den Dreitagebart sah entschloss er sich dagegen und ging in die Küche.
Er gab etwas Pulver in die Kaffeemaschine und machte sich einen Toast. Dann ging er wieder in sein Arbeitszimmer, stellte den Kaffee sowie den Toast neben den Laptop und öffnete sein Schreibprogramm.
Michael ließ seine Finger knacksen, nahm einen kräftigen Schluck aus der Tasse und begann zu schreiben.
Er hielt die Hand des Mädchens fest. Er wollte nicht loslassen, nicht jetzt, nicht nachdem er es wusste. Sie hatten so viel durchgestanden und er würde sie nicht fallen lassen. Vielmehr würde er sie auffangen und festhalten, solange bis, bis es vorbei war.
Er sah ihr in die Augen. Sie waren wässrig und glitzerten im Schein der Straßenlaternen. Seine rechte Hand strich ihr langsam die Tränen aus den Augen. Sie fühlten sich klebrig an und sahen aus wie kleine Regentropfen. Ein gezwungenes Lächeln von ihr war die Belohnung. Auch wenn es aufgesetzt war, es tat ihm gut. Es war nicht unbedingt das Lächeln, es war vielmehr sie. So neben ihr zu sitzen und ihre Hand zu halten, das hatte er vermisst.
„Wenn ich sage, dass es mir leid tut würde ich lügen.“, ihre Lippen schlossen sich und ihre Augen sahen ihn traurig an. „Das verstehe ich. Allerdings tut es mir leid.“. Ein gequältes Nicken war die Antwort. Er verstand und schloss seine Augen. Unter seinen Liedern quollen kleine, schimmernde Zeugen seiner Trauer hervor.
Er spürte ihre Hand auf seiner Wange, eine Hand die er so vermisst hatte. Es war die Hand, die er so lange halten durfte und die er niemals loslassen wollte. Er konnte sie nach alldem nicht loslassen, er wollte sie nicht loslassen. Da waren noch, noch so viele Gefühle und schöne Erinnerungen.
Die Hand löste sich wieder von seinem Gesicht. Die Schmerzen, die Tränen, sein Händedruck. Alles wurde stärker. Er kniff die Augen zusammen. Die Tränen rannen und klatschten auf dem nassen Asphalt auf. Sie bildeten einen kleinen Bach, der immer größer wurde.
Er öffnete seine roten Augen und sah sie an. Ihr Kopf mit ihren langen blonden Haaren lag in seiner Armbeuge und ihr Oberköper wurde von seinem Bein gestützt. „Ich will nicht, “ diesmal ließ er die Augen offen und ein kleiner salziger Bach rann über seine Wangen, „dass es vorbei ist.“ Er beugte sich nach vorne und nahm sie in den Arm. Er roch ihr Parfüm. Er hatte es ihr zu Weihnachten geschenkt und sie trug es immer, wenn sie sich sahen, wie auch heute.
„Ist es nicht schon längst vorbei?“, fragte sie ihn, während sie langsam ihren Arm um ihn legte.
Er löste die Umarmung und blickte in den Himmel. Es regnete. Der Regen prasselte auf sie hinab und vermischte sich mit ihren Tränen. „Ich habe Angst davor.“, sagte er ohne sie dabei anzuschauen. „Denkst du ich habe keine Angst? Ich habe einen Fehler gemacht, diese eine Nacht. Sie war…“, sie stockte. „Sie war was? Die Rache? Habe ich es verdient, bin ich in deinen Augen so ein Mensch?“, er ließ ihre Hand los. Es waren nur ein paar Sekunde, bis er begriff was er getan hatte.
Ihre Augen hatten sich geschlossen. Das Blut hatte sich mit dem Regen vermischt und ran nun am Bordstein entlang. Es herrschte Stille.
Ihr Kopf lag immer noch in seiner Armbeuge und sein Bein stützte weiterhin ihren Oberkörper. Dieser lag jetzt aber nur noch leblos da. Da war nichts mehr durchnässt und diese Wunde war daran schuld. Dieser kleine rote Punkt, den man unter ihrer Bluse erkennen konnte. Langsam, ganz langsam erhob er sich. Torkelnd, Schritt für Schritt versuchte er sich fortzubewegen.
Da waren Polizeisirenen, ein entsetzter Frauenschrei. Es war ihm egal. Er wollte nur so schnell wie möglich von ihr weg. Durst überkam ihn, das Salz der Tränen war dafür verantwortlich.
„Stehen bleiben, legen Sie die Waffe auf den Boden!“
Von wem sprachen diese Menschen? Was für eine Waffe? Verwirrt lief er weiter, als plötzlich ein Schuss hinter ihm ertönte.
Langsam fiel er auf die Knie. Seine Hände schlugen auf dem nassen Asphalt auf, der sich sofort rot färbte. Sein Auge entdeckte ein Messer. Eine Person, die er nicht kannte hielt es in einer zittrigen Hand, fest umschlungen. Die Person versuchte das Messer loszulassen. Sie versuchte sich zu befreien. Verzweifelt sah er zu, wie die Person litt. Er schrie auf und klatschte mit dem Bauch auf den Boden – Wasser spritzte.
Zittrig und langsam drehte er seinen Kopf und sah sie noch einmal an. Er ließ das Messer los und schloss die Augen.
Michael nahm den letzten Bissen seines Toasts und las die Geschichte erneut.
Nachdem er fertig war schüttelte er den Kopf und klappte seinen Laptop zu. Er stand auf und zog sich um.
Obwohl es nicht regnete, hatte Michael seinen Regenschirm mitgenommen – in so einer Stadt konnte man nie wissen. Als er ins Freie trat blickte er zuerst in den Himmel. Er war blau und es sah nicht so aus, als würden die Nadeln heute erneut die Straßen malträtieren. Michael ging die Treppen hinunter und lief nach rechts. Er wusste nicht so Recht wo er eigentlich hinging, aber er hatte ohnehin nichts anderes zu tun. Seine neueste Geschichte war abgegeben und Jacob würde erst in einem Monat wieder vor seiner Tür stehen.
Die Zeitung, für die Michael schrieb, war eine der Größten im Umkreis und obwohl Michaels Bild neben seinen Geschichten klebte, war er noch nie darauf angesprochen worden. Jacob hatte immer gemeint, dass sie zu traurig wären und die Menschen nach einiger Zeit einfach gelangweilt vom immer gleichen Ende. Sein Chef sah es insgeheim zwar auch so, aber er meinte, dass die letzte Seite auch gefüllt werden müsste.
Michael blieb an einer roten Ampel stehen und sah auf die Uhr. Es war im vorhin nicht klar gewesen, aber er hatte fast den ganzen Vormittag verschlafen. Trotzdem fühlte er sich müde und schlapp – fast so als hätte er sich nur vorgestellt zu schlafen.
Die Kraft der Vorstellung war Michaels mächtigstes Instrument. Oft lag er einfach nur auf seinem Bett, schloss die Augen und floh in eine andere Welt. Fern von den vielen Menschen, die nur zu leben schienen, damit sie lebten. Fern von dem Lärm, der ihm auf Schritt und Tritt folgte. Und vor allem fern von all der Heuchelei mit der sich die Menschen umgaben. Diese gespielte Freundlichkeit, mit der sie sich auf der Straße begegneten und sich einen guten Tag wünschten, weitergingen, und ein paar Häuserblocks weiter schon wieder über dieselbe Person herzogen. Michael hatte genug von alledem. Er war es Leid über die Wahrheit zu schreiben, wenn sie keiner verstand. Jeder schien die Augen zu verschließen und blind durch das Leben zu tappen – geführt von einer leeren Hülle.
Die Ampel sprang auf Grün und die Passanten überquerten die Straße. Michael blieb stehen, zögerte kurz und folgte ihnen dann. Eigentlich hatte er gar keine Lust auf einen Spaziergang, aber es kam ihm irgendwie passend vor, wenn er den Tag damit verbrachte, ziellos durch die vielen Straßen zu laufen.
Es war Nachmittag, als Michael ein kleines Bistro betrat. Eine Kellnerin hieß ihn Willkommen, als Sie mit zwei Tabletts in den Händen an ihm vorbeihuschte. Michael nickte freundlich und setzte sich an einen der freien Tische. Eine andere Kellnerin kam zu ihm und nahm seine Bestellung auf.
„Spiegelei und ein Kaffee. Kommt sofort.“, sagte sie und ging Richtung Theke, wo sie einen Zettel an einen Nagel hing und eine Klingel drückte. Gleich darauf wurde der Zettel von einem großen, bulligen Mann abgerissen, der allem Anschein nach der Koch war.
Michael wunderte sich, warum man den Zettel an einen Nagel hing, wenn er eine Sekunde später ohnehin schon wieder abgerissen würde. Er sah sich im Bistro um. Es war das erste Mal, dass er hier essen ging – obwohl er schon oft vorbei gelaufen war. Die Kellnerinnen trugen gelbe, kurze Kleider als Uniform und tänzelten mit den Tabletts durch den Raum. Die Gäste saßen auf Stühlen oder großen Bänken, die mit rotem Polster überzogen waren, unterhielten sich miteinander und nahmen ab und zu einen kleinen Bissen oder Schluck. Das Licht der Sonne schien durch die großen Scheiben und blendete Michael. Er hielt seine Hand zum Schutz vor sein Gesicht und blickte zur Theke. Der bullige Koch stellte gerade einen Teller ab und betätigte die Klingel. Sofort huschte eine Kellnerin zu dem Teller und ging in Michaels Richtung.
„Guten Appetit.“, sagte sie freundlich und stellte ihm den Teller und eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Michael bedankte sich und begann zu essen. Es schmeckte überraschend gut und als die Kellnerin zurückkam um das Geld und die Teller entgegen zunehmen, versicherte Michael ihr, dass er nun öfter hier essen würde. Die Frau freute sich und öffnete ihm sogar die Tür, während sie mit der anderen Hand Teller balancierte.
Kurz nachdem Michael das Bistro verlassen hatte, begannen die Nadeln wieder mit ihrem kleinen Spiel. Er spannte seinen Regenschirm auf und lief gemächlich die Straße entlang. Eigentlich hatte er nicht wirklich Lust nach Hause zu gehen, aber er wusste auch nicht, womit er sich noch die Zeit vertreiben sollte.
Sein Blick fiel auf einen Obdachlosen, der zusammengekauert auf einem Stück Karton saß und eine Zeitung über seinen Kopf hielt – diese war jedoch so durchnässt, dass es sich nur noch um eine Frage der Zeit handelte, bis sie riss. Michael zögerte, ging dann aber auf den Mann zu und sprach ihn an.
„Was?“, meinte dieser mit grimmiger Miene und lugte unter seiner Zeitung hervor.
„Wollen Sie meinen Regenschirm?“, fragte Michael und ging dabei etwas in die Hocke.
„Ihren Regenschirm?“ Der Mann sah ihn verdutzt an.
„Ja, Ihre Zeitung scheint nicht mehr lange zu halten. Ich hab leider kein Geld mehr dabei, aber Sie können gerne meinen Schirm haben.“
Ein kleines Lächeln kam unter dem Bart des Mannes zum Vorschein. „Haben Sie vielen Dank.“, meinte er und schüttelte Michaels Hand.
Im Nachhinein ärgerte sich Michael ein wenig darüber, dass er den Regenschirm abgegeben hatte. Natürlich wollte er dem Mann helfen, aber nun war er es, der unter einem kleinen Vordach zitterte und darauf wartete, dass die Tropfen endlich weniger wurden.
Als es aber nach einer halben Stunde immer noch nicht nach einer Besserung aussah, rannte er durch den Regen nach Hause. Er trat in eine Pfütze und verzog das Gesicht.
Zitternd schlossen seine nassen Hände die Wohnungstür auf und er betrat den Flur. Er war von oben bis unten nass und lief direkt ins Badezimmer – hinter ihm konnte man eine wässrige Spur erkennen.
Nachdem das heiße Wasser seinen Körper erwärmt und er sich frische Klamotten angezogen hatte, legte sich Michael auf das Bett und schloss seine Augen.
Er wusste nicht wie lange er so da lag, aber als er die Augen wieder öffnete, dämmerte es draußen. Der Regen war mittlerweile schwächer geworden und man konnte es nur noch leise plätschern hören. Er erhob sich und schlurfte in die Küche, wo er den Kühlschrank öffnete und einen Schluck Milch aus dem Karton trank. Dann sah er auf die Uhr.
„20.“, sagte er mit gelangweiltem Unterton und streckte sich.
Das Klingeln des Telefons nahm er erst nach dem fünften Ton war. Langsam lief er in den Flur und hob den Hörer ab.
„Michael Cook.“
Am anderen Ende des Hörers meldete sich sein Chef.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Hat Jacob heute die Geschichte bei dir abgeholt?“
„Ja.“, Michael ging zurück in die Küche und gieß kaltes Wasser in einen Kochtopf.
„Hat er dir auch meine Nachricht überbracht?“, die Stimme des Chefredakteurs klang ungeduldig.
„Wenn sie damit meinen, dass ich rausfliege, dann ja.“, jetzt wanderten ein paar Spaghetti in das Wasser.
„Es ist nicht so, dass ich dich rausschmeiße.“, die Stimme klang nun freundlicher. Es folgte eine Pause, anscheinend wartete der Anrufer auf eine Antwort, da diese aber nicht kam fuhr er fort.
„Hör zu Michael. Du weißt, dass ich deine Geschichten immer bewundert habe. Sie sind gut, nur ist es eben nicht das, was die Leute lesen wollen. Die Menschen brauchen auch mal ein Happy End.“
Michael rührte die Spaghetti um. „Kann ich mir Urlaub nehmen?“
„Urlaub?“, sein Chef klang überrascht.
Das Wasser kochte inzwischen und Dampf machte sich im Raum breit.
„Ja, ich würde gerne für ein paar Wochen Abstand von alledem haben – um auf andere Gedanken zu kommen.“
Michael hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung.
„Wie lange?“
„Ich hätte an drei Wochen gedacht. Ich fahre an die Küste, schreibe ein bisschen und genieße die Stille.“, sagte Michael und streute etwas Salz in das Wasser.
„Wie du willst. Erhol dich gut.“
Michael verabschiedete sich und legte auf. Er brachte das Telefon zurück und stellte einen weiteren Topf auf den Herd - eine Packung Tomatensoße wurde aufgerissen und ebenfalls zum Kochen gebracht.
Während er aß, sah Michael ein wenig fern. Er zappte von einem Kanal zum anderen, bis er bei einer Dokumentation über Elefanten hängen blieb.
In der Nacht konnte er schlecht schlafen. Irgendjemand war draußen gegen ein Auto gestoßen und der Besitzer schien die Alarmanlage nicht zu hören.
„Kann mal einer das Auto da draußen klauen?“, brüllte einer von Michaels Nachbarn und fügte hinzu, „Sonst mach ich das gleich!“
Am nächsten Morgen stand Michael früh auf. Er duschte und machte sich einen Toast sowie ein Glas frisch gepressten Orangensaft. Als er Emma anrief um ihr zu sagen, dass er für ein paar Wochen an die Küste fahren würde, war diese überrascht – wünschte ihm aber viel Spaß.
Das Letzte, was er in seinen Koffer packte war sein Laptop. Dann schaltete er das Licht aus, verließ die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
[tab='Kapitel 3-5']
Diese musste ich in den nächsten Post packen, da ich ansonsten zu viele Zeichen gehabt hätte.
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