Noch immer riefen die Paladine durcheinander und bemühten sich, die letzten Flammen des Feuers zu löschen. Wenn sie damit fertig waren, würden sie bestimmt erst einmal prüfen, welcher Schaden insgesamt entstanden war. Danach würde es aber sicher nicht lange dauern, bis jemand an Laurie dachte oder bemerkte, dass Myra nicht da war.
Während Laurie und Myra sich zum Tempel schlichen, tippte Myra in ihr Smart-Rotom.
„Ich schreibe meinem Kontakt, dass er mir ein Frigometri in meine Box schicken soll“, erklärte sie leise.
„Ist der denn um die Zeit wach?“, fragte Laurie.
„Er wird wach werden“, antwortete Myra.
Am Tempel angekommen zog Myra eine Pokémon-Box aus der Tasche ihres Schneeanzugs – eines dieser praktischen kleinen mobilen Geräte, das den Zugriff auf alle gefangenen Pokémon gewährte. Laurie hatte aber keins, weil sie außer Glacey ohnehin keine Pokémon trainierte.
Ein Superball materialisierte sich in der Box. Myra zog ihn heraus und befreite das Pokémon. Es war tatsächlich ein Frigometri – ein Pokémon, das wie eine sehr große Schneeflocke mit einem finster dreinblickenden Gesicht aussah.
Kaum, dass Myra das Pokémon befreit hatte, ertönte ein lautes Knirschen. Die Tür des Tempels öffnete sich, indem ihre beiden steinernen Hälften sich auseinanderschoben.
„Es hat funktioniert“, hauchte Laurie, als die Tür offen war.
Myra rief das Frigometri zurück und steckte den Ball wieder in die kleine Box, die sie anschließend in ihrer Jackentasche verstaute.
„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Myra und zog eine Taschenlampe hervor. „Los!“
Sie liefen schnell die Stufen im Inneren des Tempels hinauf und gelangten in einen Raum, der genauso aussah wie der im Tempel des Stahlgiganten – mit dem Unterschied, dass die kreisförmigen Platten auf dem Boden, die es auch hier gab, in einem anderen Muster angeordnet waren. Wie beim Tempel des Stahlgiganten entsprach dieses auch hier dem Muster auf dem Vordach des Tempels – diesmal war es eben eine lange horizontale Linie von fünf Punkten, bei der über und unter dem mittleren Punkt jeweils noch ein weiterer war. Davon ab sah der Raum gleich aus – auch hier gab es gegenüber dem Eingang eine ungefähr humanoide Statue.
„Okay“, sagte Laurie, „wir müssen irgendwie verhindern, dass der Eisgigant erweckt werden kann. Ich dachte, die Statue hätte etwas mit ihm zu tun. Wenn wir sie zerstören …“
Sie sah, dass Myra den Kopf schüttelte, und brach ab.
„Die Statue ist massiv“, erwiderte Myra. „Aber …“ Sie zeigte auf eine der Bodenplatten. „Es ist so: Wenn du auf eine dieser Platten trittst, fängt sie an zu leuchten. Das war beim Stahlgiganten so und als wir alle Platten auf die Art aktiviert hatten, ist er erschienen. Nachdem wir ihn gefangen haben, leuchteten die Platten nicht mehr. Ich nehme an, dass dahinter irgendein Mechanismus steckt, der die Giganten aufweckt. Wenn wir also mindestens eine dieser Platten so beschädigen, dass dieser Mechanismus nicht mehr funktioniert, dann sollten wir eigentlich schon dafür gesorgt haben, dass der Eisgigant den Paladinen nicht mehr in die Hände fällt.“ Sie sah Laurie an. „Natürlich bedeutet das auch, dass wohl niemand mehr den Eisgiganten erwecken kann und er für immer hier weggesperrt ist. Aber wenn es um das Schicksal der Welt geht …“ Sie seufzte. „Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich vielleicht versuchen, den Eisgiganten zu fangen und ihn an einen sichereren Ort zu bringen, aber so …“
Laurie nickte. „Es gibt keinen anderen Weg, um sie aufzuhalten.“
„Gut, dann los“, sagte Myra und rief Kleffi aus seinem Pokéball hervor. „Versuchen wir es. Kleffi, Licht…“
Sie kam nicht dazu, den Befehl voll auszusprechen. Laurie sah nur, wie ein dunkelvioletter Strahl Myra traf und sie von den Füßen riss. Sie wurde durch die Luft geschleudert und landete einige Meter weiter auf dem Boden, wo sie sich beide Hände auf den Kopf drückte und wie wild zu schreien begann, als hätte sie unvorstellbare Schmerzen.
Laurie rannte schnell zu ihr und kniete neben ihr nieder.
„Myra!“, rief sie und versuchte ihre Freundin ruhig zu halten. Sie zappelte unkontrolliert auf dem Boden herum, und ihre Augen huschten wild umher, ohne wirklich etwas zu sehen. Kleffi schwebte unruhig über Myras Kopf und klirrte besorgt mit seinen Schlüsseln.
„Kein Grund zur Beunruhigung“, sagte eine kalte Stimme hinter Laurie.
Sie drehte sich zum Eingang um und sah Fynch dort stehen. Neben ihm schwebte sein Trikephalo.
Blitzschnell befreite Laurie Glacey aus ihrem Pokéball. Im Vergleich zu dem großen Trikephalo wirkte das Glaziola geradezu winzig, doch es stellte sich direkt tapfer zwischen Laurie und Fynch.
Lauries Herz klopfte wild. „Was haben Sie getan?“, fragte sie Fynch. Ihre Stimme zitterte. Was war das für eine Attacke gewesen? Was hatte sie mit Myra gemacht?
Fynchs Mund kräuselte sich zu einem grausamen Lächeln. „Wie ich schon sagte, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung“, meinte er gelassen. „Die Auswirkungen einer Finsteraura meines Trikephalo auf den menschlichen Verstand sind … unangenehm, aber das geht vorbei. Zumindest bei erstmaligem Einsatz. Nach drei oder vier Malen freilich werden die meisten verrückt.“
Laurie ballte die Fäuste und warf einen Blick auf Myra. Sie hatte aufgehört zu schreien, doch es schien, als sei sie nicht ganz bei sich. Sie lag auf dem Boden und keuchte. Kleffi schwebte immer noch über ihr und fiepte traurig.
Laurie wandte sich wieder Fynch zu. Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Angreifen? Auch wenn Glacey als Eis-Pokémon einen Typ-Vorteil hatte, so wusste Laurie trotzdem nicht, ob das gegen ein mächtiges Trikephalo ausreichen würde. Andererseits hatte Laurie keine wirkliche Option – Fynch würde sie und Myra sicher so oder so umbringen.
„Anführer …“, erklang plötzlich Myras Stimme hinter Laurie, wenn auch leise und zittrig. Laurie drehte sich wieder zu ihr. Myras Gesicht war bleich, doch zugleich lag darauf ein Anflug des spöttischen Lächelns, das sie gestern so oft gezeigt hatte. Lauries Herz verkrampfte sich.
„Ich dachte mir“, sagte Myra, nun mit festerer Stimme, „dass Laurie uns wegen der Übersetzung etwas vormacht. Also habe ich so getan, als sei ich auf ihrer Seite, und habe sie dazu gebracht, den Tempel zu öffnen.“ Sie grinste breit, packte dann grob Lauries Arm, verdrehte ihn ihr schmerzhaft auf dem Rücken und drückte sie zu Boden. Laurie schrie vor Wut und Schmerz auf.
Für einen Moment starrte Fynch sie beide an. Dann fing er an zu lachen. Es war das Lachen, dass Laurie heute schon gehört hatte, als der Schatten vor Fynch weggelaufen war. Grausam und ohne jede wirkliche Freude.
„Myra“, sagte Fynch schließlich, „für wie dumm hältst du mich?“
„Anführer“, sagte Myra, und Laurie hörte einen Anflug von Unsicherheit heraus, „Sie müssen mir glauben, ich …“
„Ruhe!“, schrie Fynch. „Wag es nicht, mich durch deine Lügen zu beleidigen! Ich weiß genau, dass du nie wirklich eine von uns warst. Ich weiß, wer dein Onkel ist, wenn du auch nicht seinen Namen trägst. Hast du wirklich geglaubt, wir würden nicht alle unsere neuen Mitglieder genau durchleuchten?“
Laurie spürte, wie Myra erst ihren Griff um ihren Arm lockerte. Anschließend half sie ihr hoch. Laurie sah Myras Gesichtsausdruck – er war ohne jede Hoffnung.
„Es tut mir leid, Laurie“, flüsterte Myra. Es klang resigniert.
„Was?“, fragte Laurie. Sie verstand nicht, was hier vor sich ging. „Wer ist dein Onkel?“
„Silverstone“, sagte Myra. „Der Professor, der deiner Mutter geholfen hat.“ Sie lächelte schwach. „Ich wollte fortsetzen, was sie und er angefangen hatten.“
Hinter Fynch traten nun weitere Paladine in den Innenraum des Tempels, alle in Begleitung von Pokémon. Laurie sank der Mut – sie saßen hier drin in der Falle, und der einzige Ausweg war von einer Übermacht versperrt.
„Bericht“, sagte Fynch.
Einer der Paladine – Laurie glaubte, dass es der Mann namens Eddie war – meldete sich: „Anführer, beinahe die Hälfte der Zelte ist verbrannt, der Rest konnte gerettet werden. Es gibt keine Spur vom Schatten, aber es sind Wachen postiert. Wenn er sich noch hier rumtreibt, werden wir ihn finden.“ Er klang gerade beim letzten Teil nicht wirklich, als sei er sich dessen sicher, doch Fynch schien es zu genügen, denn er nickte, bevor er sich wieder Myra und Laurie zuwandte: „Ruft eure Pokémon zurück. Es ist sinnlos, zu kämpfen.“
Laurie wusste, dass es wirklich keinen Sinn hatte. Sie rief Glacey zurück, und Myra tat das Gleiche mit Kleffi. Zwei der Paladine fesselten ihnen jeweils mit einem Seil die Hände auf dem Rücken. Laurie sah, dass die Maske von einem der beiden Leute mit getrocknetem Blut befleckt war. Das musste Sarah sein. Der Schatten hatte ihr vermutlich die Nase blutig geschlagen. Doch Sarah sagte nichts, sondern führte nur stumm den Befehl aus.
„Nun denn“, sagte Fynch und machte ein paar Schritte vor. „Erwecken wir den Eisgiganten.“ Er ging der Reihe nach über die kreisförmigen Platten, die im Boden eingelassen waren. Jedes Mal, wenn er auf eine von ihnen trat, leuchtete sie auf. Als er einmal auf alle getreten war, ertönte ein lautes Rumpeln. Laurie spürte eine plötzliche Kälte, als ob sich die ohnehin schon sehr niedrige Temperatur im Raum noch einmal um einige Grad abgekühlt hätte. Die Statue am Ende des Raumes fing an zu leuchten, erst schwach, dann immer heller, bis Laurie nicht mehr hinsehen konnte, ohne geblendet zu werden.
Als das helle Licht wieder abklang, erkannte Laurie, dass nun eine neue große Gestalt im Raum selbst stand. Eine Gestalt, dessen Körper offenbar komplett aus Eis bestand.
„Das ist Regice“, sagte Fynch, und der Triumph in seiner Stimme war unüberhörbar. „Der Eisgigant.“
Das Pokémon war in etwa so groß wie ein durchschnittlicher Mensch, und es sah auch entfernt humanoid aus – es stand auf zwei spitz zulaufenden kurzen Beinen, die einen massigen Oberkörper trugen. Dort, wo bei einem Menschen das Gesicht gewesen wäre, saßen sieben gelbe Punkte, die das gleiche Muster bildeten wie die Platten im Boden des Raumes. Der Eisgigant verfügte auch über zwei kurze Arme, an denen sich jeweils drei fingerartige Fortsätze befanden, auch wenn sich Laurie ziemlich sicher war, dass sie zum Greifen viel zu grob waren.
Der Eisgigant wandte sich den Menschen zu, erzitterte kurz und stieß dann einen hohen Schrei aus, der Lauries Ohren klingeln ließ. Womit das Pokémon schrie, wusste sie nicht – es schien keinen Mund zu besitzen.
Als Laurie das Pokémon so sah, keimte in ihr ein schwacher Hoffnungsfunke auf: Vielleicht war es zu stark, als dass Fynch es einfach so würde fangen können. Sein Trikephalo war schließlich im Nachteil, was den Typ anging, und gewiss war dieses legendäre Pokémon stärker als die meisten „normalen“ Pokémon. Vielleicht, dachte Laurie, würden sie und Myra zumindest im Chaos eines heftigen Kampfes fliehen können.
Doch Fynch holte etwas aus der Tasche seines Schneeanzugs hervor, und Lauries kleiner Hoffnungsfunke erlosch sofort, als sie sah, worum es sich dabei handelte: Es war ein Pokéball, doch kein gewöhnlicher: Seine untere Hälfte war weiß wie bei den meisten Pokébällen, doch die obere Hälfte war dunkellila mit zwei helllilanen Ausbuchtungen. In der Mitte des Balls prangte ein weißes „M“. Es war ein Meisterball, ein Ball, der alle Pokémon direkt beim ersten Versuch fangen konnte. Viele Trainer bekamen so einen Ball nicht einmal in Echt zu sehen, geschweige denn, dass sie ihn in den Händen halten durften.
„Er hat auch den Stahlgiganten mit einem Meisterball gefangen“, hörte Laurie Myra neben sich flüstern. „Die Paladine bekommen sie von irgendwoher.“
Fynch warf den Meisterball und der Eisgigant wurde eingesaugt. Der Ball wackelte ein paar Mal, doch dann blieb er liegen. Fynch hob ihn auf und drehte sich zu Myra und Laurie um.
„Nun“, sagte er und lächelte böse. „Auch der Eisgigant gehört jetzt zu uns. Myra, du warst uns wirklich eine sehr große Hilfe. Und auch dir, kleine Belford, gebührt mein aufrichtiger Dank. Insofern schmerzt es mich aufrichtig, dass ich euch nicht mehr länger leben lassen kann. Sarah!“
Der Paladin mit der blutbefleckten Mütze trat vor, doch nicht ohne ein merkliches Zögern.
„Ich glaube“, sagte Fynch, „es wäre sehr passend, wenn du die kleine Belford umbringen würdest. Immerhin hast du auch ihre Mutter damals die Klippe runtergestoßen.“
Laurie starrte Sarah an. Hatte sie nicht gesagt, Fynch hätte Lauries Mutter umgebracht?
„Ich …“, sagte Sarah. „Anführer, ich glaube nicht, dass ich das tun sollte.“
Fynch drehte ihr ruckartig seinen Kopf zu. „Du widersetzt dich meinen Befehlen?“
„Nein, Anführer“, erwiderte Sarah hastig, „natürlich nicht. Ich …“
„Diese Halluzinationen“ sagte Fynch leise, „Sie haben ganz offensichtlich deinen Verstand verwirrt. Vielleicht sollte ich dich …“
„Wir brauchen sie!“, rief Sarah dazwischen.
Fynch zog eine Augenbraue hoch. „Erkläre dich.“
„Wir haben immer noch einen Ort vor uns“, sagte Sarah. „Die Zwiespaltruinen. Ich kenne die Berichte unseres Teams dort. Es gibt auch dort eine Inschrift auf der Tür, und weder konnten unsere Leute sie entziffern, noch konnten sie die Tür öffnen. Wenn wir die kleine Belford umbringen, dann verlieren wir unseren größten Vorteil gegenüber dem Schatten. So sehr ich es selbst hasse, das sagen zu müssen, aber die Situation hat sich nicht geändert: Wir brauchen die kleine Belford. Auch wenn wir ihr nicht trauen können.“
Fynch dachte nach. „In der Tat, Sarah“, sagte er schließlich. „Eine gute Beobachtung.“
Sarah schien aufzuatmen. „Ich will nur, dass unser Vorhaben Erfolg hat, Anführer.“
„Gleichwohl … Ich kann es nicht tolerieren, in welchem Tonfall du mit mir redest.“
„Anführer, ich …“
Fynch schnippte mit den Fingern, und sein Trikephalo schoss eine Finsteraura auf Sarah ab. Wie Myra vorher riss es auch Sarah von den Füßen, und noch bevor sie auf dem Boden aufschlug, fing sie an zu schreien.
Laurie sah von ihr zu Fynch. Der Anführer schien es zu genießen, wie Sarah sich auf dem Boden wand und schrie, als ob sie unendliche Qualen leiden würde. Ihr Magnayen kam zu ihr gerannt und stützte hilflos seine Pfoten auf ihren Körper, wie um sie aus einem bösen Traum wachzurütteln.
„Es ist furchtbar“, sagte Myra leise neben Laurie. „Diese Attacke … Du denkst Gedanken, die du nicht denken willst, du siehst Bilder, die furchterregender sind als alles, was du dir vorstellen kannst und du fühlst Dinge, die du niemals fühlen möchtest. Niemals wieder jedenfalls. Es ist Folter.“
Schließlich beruhigte Sarah sich ein wenig. Ihr Magnayen leckte ihr aufmunternd das Gesicht ab. Laurie überraschte es, wie ein normalerweise eher finsteres und bösartiges Pokémon gegenüber seiner Trainerin eine solche Zuneigung zeigen konnte.
„Deine Ratschläge sind willkommen, Sarah“, sagte Fynch gelassen. „Deine Art, sie zu äußern, allerdings nicht.“
„Es … Es tut mir leid, Anführer“, erwiderte Sarah schwach.
„Steh auf“, sagte Fynch, und Sarah gehorchte. Anschließend wandte sich Fynch an Laurie. „Es sieht so aus, kleine Belford“, sagte er, „als ob unsere Vereinbarung erneut gelten würde. Hilf uns, und du und deine Freundin dürfen gehen. Aber wenn ich auch nur das kleinste Anzeichen dafür sehe, dass du mich noch einmal hintergehen möchtest, dann wird keine von euch beiden überleben. Verstanden?“
Laurie wusste, dass Fynch log. Egal, wie sehr sie ihm helfen würde, er würde sie und Myra ohnehin umbringen. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als stumm zu nicken.