So, das ist dann die Fortsetzung zu Überfall und Ein Gespräch unter vier Augen. Viel ist dazu eigentlich auch nicht zu sagen, für genauere Informationen sollte man wohl den entsprechenden Text bei Überfall lesen, der da im Spoiler steht. Ähem. Die Geschichte nähert sich hier jedenfalls der eigentlichen Konfrontation.
Der Himmel war von grauen Wolken verhangen, fast so, als wollte er Calebs Stimmung widerspiegeln – düster, trist und hoffnungslos. Zumindest beinahe, denn da war noch etwas in der Luft, oder vielmehr war es die Bewegung der Luft, der auffrischende Wind, welcher von Abenteuern zu künden schien. Nur war jetzt nicht der Zeitpunkt für Abenteuer gekommen, und Caleb wusste das.
Sein Blick ging hinunter zum Strand. Normalerweise lagen dort immer ein paar Pokémon, Jurob, Muschas, gelegentlich Corasonn. Doch sie waren verschwunden, als ahnten sie, dass etwas bevorstand. Die Rufe der über die Wellen fliegenden Mantax waren verschwunden, und an ihre Stelle war ein heiseres Krächzen getreten, dass offenbar zu einigen Kramurx gehörte, die am Himmel kreisten.
Düsterer hätten die Vorzeichen nicht sein können, dachte Caleb. Er schritt über den felsigen Boden hinauf zu dem Höhleneingang, in dem die Person lebte, von der er und die restliche Crew sich Rettung erwarteten.
Als er angekommen war, holte er tief Luft und fragte mit – wie er hoffte – fester Stimme in die Höhle hinein: „Captain?“
„Nur herein, Mr. Richards“, kam die prompte Antwort. „Ich nehme an, die Lage ist sehr ernst.“
Caleb trat in die Höhle, welche halbwegs wohnlich eingerichtet war: Leicht ramponierte Schränke mit Kartenmaterial, Büchern und Schriftrollen, von denen er nicht immer verstanden hatte, warum Lacurr an ihnen interessiert gewesen war; ein hölzerner Schreibtisch mit einem Stuhl dahinter; ein Bett mit zerlumpten Laken und zerlumpter Decke; und zuletzt das schwache Leuchten einer Lampe, die an der Decke angebracht war. Lacurr zufolge war es ein besonderer Kristall aus einer fernen Region, der in der Lampe angebracht war und das geisterhafte Licht spendete, das von ihr ausging. Aber Caleb achtete nicht sonderlich darauf, gerade nicht jetzt. Lacurr stand mit dem Rücken zu ihm vor ihrem Schreibtisch und schien sich über irgendwas darauf zu beugen, das er nicht sehen konnte.
„Sie sind hier“, sagte Caleb. „Die kaiserliche Marine. Insgesamt vier größere Kampfschiffe und zwei anscheinend schwächer bewaffnete Schiffe, die allerdings …“
„ … eine größere Anzahl an Landungstruppen beherbergen dürften“, vollendete Lacurr den Satz. Sie seufzte und wandte sich um. Die roten Augen des sprechenden Lucario schienen heute ein wenig schwächer zu funkeln als sonst.
„Wir haben sie wegen des Nebels heute Morgen nicht entdeckt“, fuhr Caleb fort. „Inzwischen …“
Er brach ab, doch wieder vollendete Lacurr seinen Satz. „Inzwischen ist es für eine tatsächliche Flucht zu spät, zumal der Wind für diese nicht so günstig steht.“
Caleb schluckte und nickte.
„Admiral?“, fragte Captain Bivar, als sie eintrat. „Sie wollten mich sprechen?“
Admiral Graves drehte sich um. Seine kalten grauen Augen musterten den Captain, und seine Mundwinkel zogen sich hoch zu einem freundlichen Lächeln. Er war nicht mehr ganz jung und ergraute allmählich an den Schläfen, aber das schien ihm nur umso mehr eine Aura der Autorität zu verleihen. Hinter ihm stand ein Schreibtisch mit Seekarten darauf. An beiden Wänden prangte das kaiserliche Wappen, mit einigen Bildern daneben, die Schiffe zeigten, auf denen der Admiral während seiner Laufbahn gedient hatte.
„Ah ja, Captain Bivar“, sagte Graves nun, „ich glaube, ich habe Ihnen noch nicht zu Ihrer Beförderung gratuliert.“
„Nun, ich hörte, Sie waren daran ohnehin nicht unbeteiligt“, erwiderte der Captain. „Das ist genug, denke ich.“
„Kaum einer hatte es je so verdient wie Sie“, sagte der Admiral und versank kurz in Gedanken. Bivar wartete respektvoll, bis Graves mit dem fortfuhr, weshalb er sie überhaupt gerufen hatte: „Was halten Sie von unserer Aufgabe?“
Bivar runzelte die Stirn. „Darf ich frei sprechen, Admiral?“
„Natürlich.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob der Aufwand von vier Kampfschiffen und zwei Truppentransportern gerechtfertigt ist, bedenkt man, dass unser Gegner nur ein einzelnes Piratenschiff ist, das an einer nach unseren Informationen unbewaffneten Basis vor Anker liegt.“
Der Admiral machte eine merkwürdige Kopfbewegung, die zugleich wie ein Nicken und ein Kopfschütteln wirkte. Bivar wusste, dass dies auch tatsächlich eine Mischung aus Zustimmung und Ablehnung bedeutete.
„Ich kann verstehen, dass Sie das denken, Captain“, sagte er. „Aber es geht ja weniger um das Schiff als um seinen Captain, nicht wahr? Madi Lacurr ist keine gewöhnliche Piratin, und das in mehrerlei Hinsicht.“
„Das ist mir bewusst, Sir. Dennoch, sie ist nur eine einzelne … Person, wenn man so will und ihre Mittel sind sehr begrenzt. Sie ist keine Bedrohung mehr, jetzt, da sie in die Enge getrieben wurde.“
Der Admiral seufzte.
„Ich gebe Ihnen insofern recht“, sagte er, „dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sie uns entkommt. Aber Sie sollten Sie nicht unterschätzen. Eigentlich hoffe ich zum Teil, dass die pure Überlegenheit unserer Seite sie dazu bringen wird, direkt aufzugeben.“
Der Captain hob verdutzt eine Augenbraue. „Meinen Erfahrungen nach ergeben sich Piraten selten so schnell.“
„Das ist korrekt“, sagte der Admiral, „aber wie ich schon sagte: Sie ist keine gewöhnliche Piratin. Ich habe ihre Überfälle studiert – ihr strategisches und taktisches Geschick bei den Überfällen ist größer als das jedes Piraten, den ich je das äußerst zweifelhafte Vergnügen hatte zu treffen. Und sie hat mehrmals demonstriert, dass sie sich lieber zurückzieht als in einem bereits verlorenen Kampf zu sterben. Manchmal habe ich fast den Eindruck, dass sie zu vorsichtig ist – deshalb meine Hoffnung, auch wenn ich natürlich nicht nur damit plane.“
„Landungstruppen heißt“, murmelte Lacurr, „dass sie auch damit rechnen, sie landen zu können. Also müssen sie einen Weg durch die Strudel und die Felsen kennen …“ Sie schloss die Augen und schien nachzudenken, bevor sie sie wieder aufriss. „Ich nehme an, das haben wir unserem Kameraden Howerton zu verdanken, den wir von unserem Überfall auf Anemonia City nicht wieder mitnehmen konnten. Er dürfte nicht nur unser Versteck, sondern auch die Position der Wege durch die Strudel verraten haben – wir müssen zumindest davon ausgehen, dass sie die beiden einzigen Wege kennen.“
„Und was tun wir jetzt?“, fragte Caleb.
„Eine naheliegende Lösung wäre, sich einfach zu ergeben“, meinte Lacurr nachdenklich.
Caleb wollte seinen Ohren nicht trauen.
„Sehen Sie mich nicht so schockiert an, Mr. Richards.“
„Captain, das können Sie doch nicht …“
„Wenn Verluste unvermeidlich sind, muss man sie gering halten. Ich hatte gehofft, Sie hätten das mittlerweile verinnerlicht.“
Caleb lief rot an, doch er zügelte seine Wut. Er hatte fast den Eindruck, dass er gerade wieder einmal auf eine Art getestet wurde, die für Lacurr typisch war.
„Captain“, sagte er ruhig, „wenn wir uns ergeben, sind die Verluste an Leben nicht absehbar, aber eines werden wir sicher verlieren: Unsere Freiheit.“
Lacurr musterte Caleb eindringlich, doch schließlich fing ein Lächeln an, ihre Lippen zu umspielen. „Gewiss“, sagte sie. „Also müssen wir wohl einen Ausweg finden. Das heißt, ich werde gleich veranlassen, unseren Gästen eine kleine Überraschung zu bereiten. Wenn es gut läuft, können damit zwei Schiffe ausgeschaltet werden, aber ich rechne mehr mit einem. Dann würde immer noch eins bleiben, gegen das wir kämpfen müssen.“
„Drei, meinen Sie“, sagte Caleb. „Die Truppentransporter nicht mitgezählt.“
„Nein, zwei. Zumindest vorläufig. Die Truppentransporter sind ohnehin eher zu vernachlässigen, da sie nicht wirklich für Seeschlachten ausgerüstet sein dürften.“
„Zwei Wege führen in die Inselgruppe hinein und damit zu der Insel, auf der das Piratenlager liegt“, sagte Admiral Graves und zeigte auf die Seekarte, die die vier Inseln abbildete. „Einer an der Nordseite, von der aus unsere Flotte auf die Inseln zufährt und eine an der Ostseite der Inselgruppe. Es ist also möglich, über zwei Arten von den Inseln zu fliehen, jedoch ist das Meer auf der Ostseite aufgrund von Felsen und Riffen sehr gefährlich, sodass man etwa wieder um ein Viertel der Inselgruppe herumfahren muss, um wirklich zu entkommen. Dieser Ausweg ist also eher ungünstig für unsere Feinde; dennoch halte ich es für das Klügste, hier nicht nachlässig zu sein. Die Garados und die Tandrak werden zu dieser Seite vorstoßen – sollten die Piraten einen Fluchtversuch auf diesem Weg starten, können die beiden Schiffe sie problemlos aufhalten. Die andere Hälfte der Flotte, also wir und die Lanturn, behält den Kurs von Norden bei. Damit sollte es nicht möglich sein, dass sie uns entwischen, denn wir versperren beide Fluchtrouten. Lacurrs Basis liegt auf der nordwestlichen Insel, die wir von zwei Seiten unter Beschuss nehmen können, wenn die Piraten Widerstand leisten sollten.“
Bivar sah auf die Karte und überlegte. Es schien nichts gegen diese Strategie zu sprechen. Wobei …
„Sie haben etwas einzuwenden?“, fragte Graves, der Bivars leichtes Stirnrunzeln gesehen hatte.
„Nicht direkt, Admiral“, sagte Bivar. „Darf ich nur vorschlagen, zusätzlich einen der Truppentransporter etwa hier“, sie zeigte auf einen Punkt unmittelbar nordöstlich der Inselgruppe, „zu positionieren. Unsere beiden Flottenteile werden einander nicht sehen können, aber den Truppentransporter würden sie sehen. Er könnte dann als eine Art Brücke für Signalübermittlung zwischen den Schiffen dienen. Natürlich sollte er schlussendlich auch die Insel erreichen, damit wir auf unsere volle Truppenstärke erreichen können, aber für einige Zeit wäre es wohl nicht schlecht, ihn an dieser Position zu belassen.“
Graves nickte langsam. „Ein guter Gedanke, Captain“, meinte er. „Wir werden das so machen, es gibt uns eine kleine Absicherung für unvorhergesehene Fälle.“
„Danke Admiral.“
„Nun gut. Sonst noch etwas?“
„Nein, Sir. Ich denke, an dem Plan ist nichts auszusetzen,“
„Schön, dann geben Sie ihn bitte an die Captains der anderen Schiffe durch.“
„Das werde ich tun, Admiral.“
Bivar nickte noch einmal militärisch knapp, dann verließ sie die Kabine.
„Die Flotte wird sich also vermutlich aufteilen“, meinte Lacurr. „Zwei Schiffe auf beiden Seiten, um uns jeden Fluchtweg abzuschneiden. Unsere einzige Hoffnung liegt darin, den beiden Schiffen auf der Nordseite zu entkommen – die Ostseite ist für eine direkte Flucht keine gute Möglichkeit, da wir danach wieder um die Inseln herumfahren müssten und uns somit die Schiffe auf der Nordseite uns vielleicht sogar noch den Fluchtweg abschneiden könnten, selbst wenn wir den östlichen Schiffen entkommen könnten. Nichtsdestoweniger müssen wir immer noch die nördlichen Schiffe ausschalten, idealerweise manövrierunfähig machen. Aber ob uns das gelingt, muss sich erst noch zeigen. Ich vermute aber, dass wir ein Schiff schon vor dem eigentlichen Kampf ausschalten können.“
„Wie?“
„Oh, das werden Sie sehen. Rufen Sie Miss García bitte zu mir. Sie muss sich darum kümmern – so schnell wie möglich. Und sagen Sie allen anderen, dass sie sich kampfbereit machen sollen. Bitte stellen Sie keine Fragen, sondern holen Sie Miss García sofort, dann muss ich es nicht für sie beide einzeln erklären.“
Caleb gehorchte und verließ die Höhle. Der Himmel war draußen immer noch grau, doch er fühlte sich ein wenig besser. Lacurr hatte einen Plan, was bedeutete, dass die Hoffnung noch nicht ganz verloren war. Was genau sie von Javiera wollte, war ihm nicht klar, doch da sie diejenige war, die sich mit Sprengstoffen am besten auskannte, war wohl anzunehmen, dass es damit zu tun hatte.
Graves ging ein wenig in seiner Kajüte auf und ab und überlegte, ob er etwas vergessen oder übersehen hatte. Immer sich selbst zu hinterfragen, das war die Lektion, die er als Captain von Admiral Ruc gelernt hatte – beinahe hätte sie einst das Piratenproblem in diesen Gewässern gelöst, teilweise mit Kämpfen und teilweise mit Verhandlungen. Jedoch war sie zu einer anderen Mission abkommandiert worden, bevor sie ihr Werk hatte vollenden können – eine Mission in Alola, von der sie nie zurückgekehrt war.
Graves selbst hatte versucht, Rucs Strategie fortzusetzen, was nicht ganz so erfolgreich gelaufen war wie bei ihr, dennoch glaubte er, damals auf dem richtigen Weg gewesen zu sein. Aber man hatte ihn durch Denton ersetzt, der mit seinem aggressiven Kurs nach und nach alles vernichtet hatte, wofür Ruc und Graves gearbeitet hatten – auch wenn unter ihm die Anzahl der Piratenüberfälle zurückgegangen waren.
Und währenddessen war Lacurr aufgetaucht – ein Pokémon mit menschlichem Verstand, das Menschen befehligte und selbst den stark befestigten Hafen von Oliviana City eingenommen hatte. Zweifellos hatten ihr dabei einige Fehler von Denton in die Karten gespielt und doch glaubte Graves nicht, dass das ein Zufall war. Lacurr schien ihre Gegner ziemlich gut einschätzen und sich ihre Reaktionen zunutze machen zu können. Aber diesmal konnte sie nicht entkommen. So gut sie auch sein mochte, die Übermacht war zu erdrückend.
Gleichwohl … Der Kaiser hatte ausdrücklich befohlen, dass Lacurr lebend gefangen genommen werden müsse. Graves wusste nicht, was er davon halten sollte, normalerweise sah es dem Kaiser nicht ähnlich, seine Feinde zu verschonen. Aber vielleicht wollte er sie auch lebend, um öffentlich ein Exempel zu statuieren. Oder aber er wollte einfach dieses Pokémon studieren. Überhaupt, die Pokémon … Nur wenigen gelang es, sie zu zähmen und im Kampf einzusetzen. Dabei könnten sie einen deutlichen taktischen Vorteil darstellen, wenn es nur gelänge, sie in Massen für Schlachten abzurichten. Andererseits, dachte Graves, wäre das vielleicht auch recht grausam …
Graves schüttelte den Kopf und fasste einen anderen Gedanken, der ihn schon lange verfolgte. Es gab etwas, das er Bivar nicht gesagt hatte. Etwas, das er niemandem gesagt hatte, weil er sich nicht sicher war.
Es hatte oft Brandanschläge auf Ausbildungsplätze und Basen der Marine im weiter entfernten Umfeld gegeben. Anschläge, die nicht das Werk Lacurrs zu sein schienen, sondern mehr zu terroristisch agierenden Widerstandskämpfern passten, die es nun einmal leider auch gab. Aber nun war sich Graves nicht mehr so sicher, ob man nicht auch das dem blauen Dämon zuschreiben musste. Dem Angriff auf Oliviana City war ein Überfall auf einen kleinen Stützpunkt vorausgegangen, bei dem sich Lacurr offenbar die Uniformen beschafft hatte. Anschließend war der Stützpunkt vollkommen vernichtet worden, um diesen Diebstahl zu vertuschen. Prinzipiell ähnelte die Methode den Anschlägen – jemand wie Denton hätte hier keine Verbindung hergestellt, da die Orte der Anschläge zu weit von dem Gebiet entfernt waren, in dem Lacurr mit ihrem Schiff aktiv war. Aber Denton hatte nun einmal nie wirklich gelernt, das größere Bild zu betrachten.
Das Problem war nur, dass oftmals Archive von den Anschlägen vernichtet worden waren, Archive, die Informationen über den Bau von Schiffen und Waffen und Berichte über Offiziere enthielten. Man hatte dann später immer angenommen, dass alles einfach vernichtet worden war, genau wie bei den Uniformen. Doch was, wenn das – wiederum genau wie bei den Uniformen – gar nicht wirklich der Fall gewesen war, sondern mit dem Brand gerade darüber hinweggetäuscht werden sollte, dass etwas fehlte?
Graves seufzte. Er hoffte, dass es nicht so war, aber wenn, dann konnte es gut sein, dass Lacurr alle notwendigen Informationen über ihre Feinde gesammelt hatte und somit bestens vorbereitet war.
Caleb betrat die große Höhle, in der die meisten Piraten sich gerade aufhielten. Ein paar überprüften unruhig ihre Waffen, andere starrten ins Leere. Jeder war sich offenbar der angespannten Lage bewusst. Selbst die Zubat, die in der Höhle waren, wirkten aufgeregt und flatterten wild unter der Decke umher. Hier und da standen Kisten mit Waffen und Vorräten. Auf einer davon erspähte Caleb Javiera und ging sogleich zu ihr.
Sie sah fragend auf, als sie ihn bemerkte. „Was ist, Caleb?“, fragte sie mit düsterer Stimme. Sie war normalerweise eine entschlossene, leicht spöttische Natur mit einem starken, aber doch beherrschten Temperament, jetzt allerdings wirkte sie wie alle anderen etwas geknickt. Nichtsdestoweniger hatte sie ihr leicht verwegenes Aussehen behalten – das lange Haar war zerzaust, das braungebrannte Gesicht dreckig und ihre Kleidung, die sich mehr für einen Mann zu schicken schien, war an mehreren Stellen eingerissen und hier und da auch verbrannt.
„Lacurr will dich sprechen, Javiera“, sagte Caleb zu ihr. „Sie hat einen Plan, wie wir entkommen können. Hoffe ich zumindest.“
„Ich nehme an, dann darf ich was in die Luft jagen?“, fragte Javiera sarkastisch, aber mit einem neu erwachten Funkeln in den Augen.
„Vielleicht“, sagte Caleb lächelnd. „Ich weiß es noch nicht. Wir sollen so schnell wie möglich zu ihr.“
Javiera seufzte und stand auf. „Na, dann wollen wir doch mal sehen, wie uns der blaue Dämon hier rauszaubern will“, meinte sie.
„Ihr anderen“, rief Caleb mit erhobener Stimme.
Die Gesichter der Piraten in der Höhle drehten sich zu ihm um, einige missmutig, doch andere mit einer gespannten Erwartung in ihrer Miene.
„Lacurr sagt, ihr sollt euch kampfbereit machen.“
„Was hat sie vor?“, fragte ein junger Pirat mit strohblondem Haar.
„Das weiß ich noch nicht“, erwiderte Caleb. „Aber ich bin zuversichtlich, dass sie uns auch diesmal zum Sieg führen wird.“
Die Menge tuschelte aufgeregt. Caleb wusste, dass die Nachricht davon, dass Lacurr wusste, was zu tun war, einen großen Effekt auf all die Leute hatte, die selbst erlebt hatten, zu was sie imstande war. Sie hatte nie wirklich einen Kampf verloren – manchmal freilich war sie geflohen. Aber wie sie schon selbst gesagt hatte: Wenn man nicht gewinnen konnte, musste man die Verluste gering halten. Und das war ihr auch in anderen ausweglos scheinenden Situationen immer gelungen.
„Also macht euch bereit“, sagte Caleb noch einmal. Eine kurze Stille trat ein, dann kam Bewegung in die Piraten. Jeder fing an, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, mit Pistolen, Säbeln, Messern, Gewehren und Beilen.
Caleb und Javiera jedoch eilten hinaus, zurück zu Lacurr.
Lacurr sah hinauf zu der kleinen Deckenlampe, in der das Licht des Kristalls leuchtete.
„Ach …“, murmelte sie. „Ich habe die kaiserliche Marine gegen mich und einen undisziplinierten Haufen zerlumpter und unterernährter Piraten auf einem morschen Schiff zur Verteidigung.“ Sie seufzte. „Warum habt ihr mir diesen Fluch auf den Hals gehetzt?“
Niemand antwortete ihr.
Lacurr schlug mit der Hand auf ihren Schreibtisch und bohrte den Metalldorn daran in das Holz. „Nun“, sagte sie verbissen, „ich werde den Fluch diesmal wohl nutzen müssen.“
Die Lampe an der Decke flackerte.
„Hört ihr mir also doch zu?“, fragte Lacurr misstrauisch.
Eine Antwort blieb aus.
„Ach, es spielt ohnehin keine Rolle. Ich wollte eurem Volk damals den bestmöglichen Ausweg anbieten, versteht ihr das überhaupt?“
Ein seltsamer Hauch fegte plötzlich durch die Höhle und Lacurr spürte, wie eine beinahe elektrische Spannung sie durchfuhr.
„Deshalb haben wir dich nicht getötet“, hörte sie eine Stimme in ihren Gedanken.
„Wie nett“, erwiderte Lacurr sarkastisch. „Jedenfalls, glaubt ja nicht, ich würde nicht wissen, was sich hier verbirgt. Ich weiß es genau, auch wenn ich ihm nie begegnet bin. Wenn hier ein Kampf stattfindet, dann ist nicht auszuschließen, dass es aufwacht und …“
Sie verstummte, denn sie spürte die Aura zweier Menschen. Richards und García, offensichtlich. Lacurr wischte ihre finsteren Gedanken beiseite und verschob eine Karte auf dem Schreibtisch so, dass man das Loch, welches sie gerade darin hinterlassen hatte, nicht sah.
„Ah, Mr. Richards“, sagte Lacurr freundlich, als Caleb mit Javiera in die Höhle kam. „Und Miss García, sehr gut. Ich nehme an, Richards hat Ihnen bereits gesagt, dass ich einen Auftrag für Sie habe.“
Javiera nickte. „Ich soll etwas in die Luft jagen, oder?“
„Ja, das ist richtig.“
„Gut, mache ich in ausweglosen Situationen eh immer am liebsten“, sagte Javiera grinsend.
„Ihr Enthusiasmus ist bewundernswert, aber verlieren Sie nicht die Kontrolle darüber“, sagte Lacurr. „Nun, was ich von Ihnen will, ist im Grunde ganz einfach: Wie ich Mr. Richards bereits erklärt habe, wird man von Norden und Osten auf unsere Insel vorstoßen und dabei die Flotte zweiteilen, um uns unsere Fluchtwege abzuschneiden. Das heißt, dass wir, wenn wir schnell sind, nur mit zwei Schiffen zu tun haben. Sie sollen nun dafür sorgen, dass mindestens eins davon zerstört wird, bevor der Kampf anfängt.“
„Gut, und wie genau soll ich das anstellen?“, fragte Javiera stirnrunzelnd.
„Dazu“, sagte Lacurr, „komme ich jetzt.“