Philipp Sanders saß an einem Schreibtisch in seinem Büro in der Londoner Innenstadt und starrte stumm und konzentriert auf die gegenüberliegende Tür, ohne sie wirklich zu sehen. Er hatte die schweren Schritte auf der Treppe gehört, ebenso wie die Stimmen im Vorzimmer, erst gedämpft und unverständlich, doch schließlich lauter werdend. Jemand war hier, der ihn sprechen wollte. Jemand, der ein ganz bestimmtes geheimes Codewort kannte, aber offenbar niemand von seinen Leuten war. Jemand, der vielleicht ein Problem darstellen würde. Und jetzt war er nach den immer schwächer werdenden Versuchen von Sanders Sekretär, ihn aufzuhalten, offenbar kurz davor, in sein Büro zu kommen.
Das Büro, in dem eigentlich alles falsch war. Die Regale und Schränke an den Wänden enthielten belanglose Akten, die bei einer Durchsuchung nur den Eindruck erwecken würden, als sei dies eine Agentur für Hauspersonal, doch in Wirklichkeit steckte natürlich etwas Anderes dahinter. Der Schein musste jedoch gewahrt werden, ein seriös wirkendes Büro war notwendig, mochte Sanders auch die Einrichtung und besonders die gepolsterten Stühle, auf denen er und seine „Klienten“ Platz nahmen, ein wenig kitschig finden.
Sanders öffnete leise die rechte Schublade seines Schreibtischs und holte aus ihr einen Revolver hervor, den er mit der rechten Hand unter den Schreibtisch hielt, sodass er in Richtung der Tür zeigte, aber nicht zu sehen war.
Die Stimmen aus dem Vorzimmer wurden hörbar lauter. Sie näherten sich offenbar der Tür.
„Ich wiederhole, Mr. Sanders ist gerade sehr …“, kam es dumpf von seinem Sekretär.
„Das kümmert mich nicht“, antwortete die barsche Stimme eines Mannes, der so klang, als würde man ihm nur selten widersprechen. „Mit ihm zu reden liegt außerdem in seinem eigenen Interesse.“
Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und ein großer, etwas älterer Mann um die Fünfzig trat ein, der durchaus bedrohlich wirkte – vielleicht war es die zornig gefurchte Stirn, vielleicht der Blick aus den kalten blauen Augen mit den hängenden Lidern, vielleicht lag es aber auch am borstigen Schnurrbart. Sanders war sich nicht ganz sicher, aber wahrscheinlich traf alles davon zu. Die hohe Stirn des Mannes war kahl; seine Haare waren nach hinten gekämmt. Zweifellos war er – auch seinem Akzent nach zu urteilen – ein Engländer, jedoch war sein Teint relativ dunkel, ganz so, als habe er viel Zeit an sonnigen Orten verbracht.
„Mr. Sanders“, sagte der Sekretär, „Es tut mir leid, ich …“
Sanders hob seine freie Hand und ließ ihn so verstummen. „Schon gut, Stebbins“, sagte er. „Ich kümmere mich um unseren Gast.“
Stebbins nickte und zog sich zurück, mit einem sichtlich nervösen Ausdruck auf seinem Gesicht. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, nahm Sanders sich erst noch ein wenig Zeit, sein Gegenüber zu mustern, wobei sich sein Eindruck der Gefährlichkeit dieses Mannes noch weiter verstärkte – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass er eine Hand in der Tasche seines Mantels behielt, was den Schluss nahelegte, dass auch er darin eine Waffe umklammert hielt.
„Mein Name ist Sebastian Moran“, sagte der Mann mit seiner harten Stimme. „Ich wurde geschickt, um mit ihnen über eine bestimmte Angelegenheit zu reden.“
„Wer hat Sie geschickt?“, fragte Sanders und hob eine Augenbraue.
„Ich fürchte, das geht Sie nichts an“, gab Moran geringschätzig zurück. „Sagen wir einfach: Es ist jemand, der sich durch Ihre Aktivitäten ein wenig gestört fühlt und daher ein Interesse daran hat, wenn Sie diese unverzüglich einstellen.“
„Meine Aktivitäten?“, fragte Sanders mit gespielter Überraschung.
Innerlich war er äußerst angespannt, auch wenn er nach außen hin ruhig blieb – zumindest glaubte er, dass ihm das gelang. Doch wer auch immer dieser Mann war, er wusste offenbar etwas und war somit eine deutliche Gefahr. Doch warum kam er zu ihm?
„Spielen Sie nicht den Unschuldigen“, sagte Moran. „Ihre kleine Gangstertruppe ist uns bestens bekannt. Ihr Sekretär schien ziemlich schockiert darüber, dass ich das Codewort wusste, mit dem Ihre Leute sich hier bei Ihnen für gewöhnlich anmelden.“
„Nun“, sagte Sanders gedehnt, „angenommen, ich wäre wirklich in irgendwelche kriminellen Aktivitäten verwickelt und sie wüssten davon: Warum kommen Sie dann zu mir? Sollten Sie nicht besser der Polizei alles mitteilen?“
„Wir halten Sie für schlau genug, der Polizei zu entwischen“, antwortete Moran. „Außerdem legen wir keinen gesteigerten Wert darauf, mit der Polizei in Kontakt zu treten.“
„Ah“, machte Sanders. „Darf ich das so verstehen, dass Sie – wer auch immer Sie alle sind – glauben, dass ich Ihnen Konkurrenz mache?“
„Möglich“, erwiderte Moran kalt. „Daher würden wir es vorziehen, wenn Sie zum Beispiel zurück nach Chicago gingen.“
Sanders zuckte ein wenig zusammen und bereute es sogleich, brachte es doch ein hämisches Grinsen auf das Gesicht Morans. Dieser Mann hatte sich offenbar genau über ihn informiert und wusste, woher er stammte.
„Wobei Sie dort natürlich immer noch gesucht werden dürften“, fuhr Moran beiläufig fort. „Auf jeden Fall ist ihre Anwesenheit in London sehr unerwünscht.“
„Schön“, sagte Sanders, der ein wenig wieder seine Fassung gewonnen hatte, „ich nehme an, es besteht keine Möglichkeit einer gütlichen Einigung.“
„Nein“, sagte Moran kopfschüttelnd. „Ich komme nicht zu Ihnen, um zu verhandeln, sondern schlicht, um sie zu warnen.“
„Mich warnen?“, fragte Sanders irritiert. Wofür hielt sich dieser Mann, dass er so ruhig darüber sprach?
„Ja. Entweder Sie verschwinden oder wir sehen uns gezwungen, andere Maßnahmen zu ergreifen. Sie allein wissen, ob Sie dieses Risiko eingehen wollen. Wir machen uns ja nur ungern die Hände schmutzig, wenn es sich vermeiden lässt.“
„Ich fürchte, diesmal werden Sie es tun müssen“, gab Sanders zurück, wobei er sich nicht mehr die Mühe machte, seinen Ärger zu verbergen.
Morans Augen funkelten bedrohlich. „Wissen Sie, ich habe in meinem Leben schon viele Tiger gejagt.“
„Was Sie nicht sagen“, meinte Sanders. Damit klärte sich für ihn, warum der Mann eine so dunkle Hautfarbe hatte – gewiss hatte er einige Zeit in Indien verbracht.
„Ja“, fuhr Moran fort. „Sie wehren sich natürlich. Ihre Gefährlichkeit ist dann am größten, wenn man sie in die Ecke gedrängt hat. Aber das änderte nie etwas daran, dass sie schlussendlich Teil meiner Beute wurden, die, nebenbei bemerkt, bisher unerreicht ist.“
Sanders spürte, wie Zorn in ihm hochkochte. „Raus“, sagte er leise.
Moran zog kurz die Augenbrauen hoch, dann zuckte er mit den Schultern und ging – rückwärts, die Hand mit dem mutmaßlichen Revolver in der Manteltasche immer noch auf Sanders gerichtet – zur Tür hinaus.
Sanders blieb zurück und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Konflikte unter Banden hatte es drüben in Amerika oft gegeben, aber das hier … Das hier war anders. Und doch: Er würde sich nicht vor jemandem verkriechen, der offenbar zu feige war, um selbst in Erscheinung zu treten. Nein, er würde den Kampf aufnehmen und diesen Engländern zeigen, dass mit amerikanischen Gangstern nicht zu spaßen war.
Einige Tage später saß ein hagerer Mann in einer Wohnung in der Baker Street und ordnete seine Gedanken über eine Reihe von Morden, die sich zuletzt in London ereignet hatten und allesamt zunächst wie Raubüberfälle aussahen, sich dabei aber sehr ähnelten. Einige der Ermordeten waren Amerikaner, und zwar welche, die in ihrer Heimat gesucht wurden. Bei den Ermittlungen der Polizei stellte sich heraus, dass sie hinter einer Reihe von Einbrüchen und Überfällen gesteckt hatten, die unter anderem zahlreiche Personen aus der Oberschicht geschädigt hatten. Die Polizei vermutete nun einen Streit innerhalb der Bande als Ursache für die nicht ganz plausibel inszenierten Tode, an dessen Ende sich einige – mutmaßliche, bisher nicht auffindbare – Mitglieder der Bande mit der – ebenfalls unauffindbaren – Beute aus dem Staub gemacht hatten.
Der Mann seufzte. Nach allem jedoch, was er wusste, schien es ganz so, als habe die Macht, die er mittlerweile hinter nahezu allen ungeklärten Verbrechen in dieser Stadt vermutete, ihm und der Polizei gewissermaßen die Arbeit abgenommen und London vor einer skrupellosen amerikanischen Gangsterbande beschützt. Natürlich würde ihn das nicht daran hindern, diese im Verborgenen agierende Macht letztlich auszuschalten – wenn er sie denn zu fassen bekäme.