Das war eigentlich eine der Ideen, die ich für den 9. Wettbewerb der diesjährigen Saison hatte - abgegeben habe ich jedoch etwas anderes, womit ich am Ende mehr zufrieden war. Jedenfalls aber habe ich aber mal das fertiggeschrieben, was der (etwas lange?) Prolog zu einer längeren Geschichte sein könnte, aber ... Ja, Faulheit und so. Wobei ich sogar schon ein bisschen an der Welt herumgebastelt habe, in der die Geschichte spielt, insofern kann man nie wissen, ob nicht irgendwann mal etwas daraus wird. Zum Verständnis: Besagte Welt soll in einigen Belangen der realen Welt ähnlich sein, aber sich dann doch in anderen unterscheiden; zum Beispiel darin, dass diese Welt noch noch sehr viel an unberührten und unerforschten Gegenden zu bieten hat. Vielleicht könnte man sagen, sie entspricht ein bisschen unserer Welt zu einem früheren Zeitpunkt, was allerdings der Tatsache, dass ich auch einige andere Technologien einführen würde, natürlich immer noch recht vereinfacht wäre. Da diese aber hier noch keine Rolle spielen, ist diese Beschreibung aber vielleicht zumindest hierfür ganz treffend. Und ich hoffe nur, dass Word wirklich vollständige Arbeit geleistet hat, als ich den Namen eines Charakters noch einmal ersetzt habe, sonst wird es wieder peinlich ...
Der schwarze Spiegel
„Also“, sagte Hannahs Onkel Nathanael ein wenig zerstreut, „ich bin dann jetzt kurz weg … Mach keinen Unsinn, klar? Du weißt ja, du darfst nicht …“
„Ja“, antwortete Hannah artig. „Der Keller ist tabu, ich weiß.“
„Gutes Mädchen“, erwiderte ihr Onkel und umarmte sie flüchtig, bevor er sie verließ. Kaum dass die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, fing Hannah an zu grinsen. Aufgeregt lief sie umher in der Eingangshalle der großen Villa und begutachtete aus nächster Nähe die ganzen Vitrinen, in denen die verschiedensten Gegenstände lagen, sodass man eher den Eindruck von einem Museum als von einem Wohnhaus bekam. Sie schnippte kurz mit dem Finger gegen das Glas eines Kastens, in dem ein alter Dolch lag. Alles war gut weggeschlossen, sodass neugierige kleine Mädchen es niemals berühren konnten. Aber sie war ja nicht mehr ganz so klein. Und außerdem …
Hannah zog den Schlüssel hervor, den sie gerade während der Umarmung ihrem Onkel aus der Manteltasche stibitzt hatte. Es war gar nicht so schwierig gewesen, ihm den Schlüssel abzunehmen, hatte ihn doch der Anruf von vorhin ein wenig aus der Bahn geworfen, wie eigentlich so ziemlich alles, was seinen Tagesablauf störte. Zum Glück für Hannah. Nicht, dass sie ihren Onkel verachten würde, tatsächlich respektierte sie ihn sehr und er spielte fast eine ebenso große Rolle in ihrem Leben wie ihre Eltern, wenn diese mal eine längere Forschungsreise antreten mussten, auf die Hannah nicht mitkommen konnte.
Angeblich hatte Onkel Nathanael früher ebenfalls viele Reisen unternommen, war ein Abenteurer gewesen, der überall angesehen war und vereinzelt auch gefürchtet wurde. Doch irgendwann zu einer Zeit, an die sich Hannah nicht erinnern konnte, war wohl irgendetwas passiert, dass den einst so abenteuerlustigen Mann grundlegend verändert hatte – er war dauerhaft zu seiner Villa und seinen Ländereien in Nibralia zurückgekehrt und hatte sich seit Langem nicht mehr aus den Landesgrenzen herausgewagt. Seitdem lebte er mehr vor sich hin, stets vertieft in irgendwelche Bücher, unablässig vor sich hin murmelnd und vom beträchtlichen Familienvermögen zehrend.
Manchmal erzählte er von früher, wie er Stürmen auf dem Meer getrotzt, wilden Tieren die Stirn geboten und fantastisch anmutende Gegenden erkundet hatte. Was davon alles stimmte, war natürlich nie ganz sicher, aber das war auch nicht wirklich wichtig, solange es sich nur um eine gute Geschichte handelte.
Was Hannah aber ärgerte, war die Tatsache, dass so Vieles für sie in dem Haus verboten war. Sie durfte sich nicht einmal für einen Augenblick die ganzen alten Dinge genauer ansehen. Doch jetzt hatte sie den Schlüssel, der in den Keller führte, also den Ort, der am meisten verboten war. Kichernd und beinahe hüpfend durchquerte sie die Halle, hin zu der Tür, die bis zu dem heutigen Tag immer für sie verschlossen gewesen war, steckte den Schlüssel ins Loch und jubelte innerlich, als er sich herumdrehen ließ. Knarzend schwang die alte Tür auf und enthüllte den Blick auf einen kleinen Flur, an dessen Ende eine steinerne Wendeltreppe nach unten führte. Hannah suchte im schwachen Licht, dass aus der Eingangshalle hereinströmte, die Wand nach einem Lichtschalter ab und hatte bald einen gefunden. Sogleich wurde der Gang von flackernden Lampen erhellt, was es Hannah ermöglichte mehr zu erkennen. An den Wänden waren seltsamerweise zusätzlich Halterungen befestigt, die den Eindruck machten, als hätten sich einst Kerzen oder kleine Fackeln in ihnen befunden. Vermutlich war der Keller früher anders erleuchtet worden, bis man irgendwann elektrisches Licht installiert hatte.
Hannahs Schritte klangen in der übrigen Stille überraschend laut. Ihr leiser Widerhall, die drückende Atmosphäre des Ganges und die Tatsache, dass es hier recht kalt war, ließen ihr einen kleinen Schauer über den Rücken fahren. Doch trotz ihrer Beklemmung ging sie entschlossen weiter und schließlich die Wendeltreppe hinunter, an deren Ende sie sich in einem weiteren Gang wiederfand, der von Türen zu beiden Seiten gesäumt war. Hannah betrachtete die nächste von ihnen: Sie war groß, aus massivem Holz und hatte eiserne Beschläge. Probehalber drückte Hannah die kalte und verstaubte Türklinke herunter und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass diese Tür nicht abgeschlossen war. Knarzend schwang sie auf und gab den Blick auf einen staubigen Raum frei, in dessen Mitte ein alter Schreibtisch stand. Viel mehr war da eigentlich auch nicht zu sehen, abgesehen von einem offenbar halbrunden Objekt, das mit der flachen Seite auf dem Schreibtisch lag und bei dem Hannah nicht von der Tür aus erkennen konnte, was es war. Sie trat näher heran und stellte fest, dass das Ding offenbar aus irgendeiner Art Gestein gemacht war, dessen Schwärze von einer Staubschicht verdeckt wurde. Hannah wischte über die Oberfläche, die eigentlich nicht rund, sondern recht uneben und grob behauen wirkte. Unter dem Staub verbarg sich ganz offensichtlich ein schöner Glanz.
Hannah hob das Ding vom Tisch auf – es dauerte einen Augenblick, bis sie ihre Finger darunter geschoben bekam – und drehte es so, dass sie die Unterseite sehen konnte. Da der Stein auf dieser Seite gelegen hatte, war kein Staub daran gekommen – sie glänzte nicht nur, sondern spiegelte sogar Hannahs Gesicht.
„Cool“, flüsterte sie und drehte den Stein ein wenig, der, so vermutete sie, eine Art Spiegel sein musste, aber eben einer, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Das einzige, was sie in diesem Moment wunderte, war die Tatsache, dass dieser Spiegel hier unten weggeschlossen war. Sicher, ihr Onkel hätte ihn sicher auch oben weggesperrt, aus Angst, sie könnte ihn kaputtmachen. Aber er hätte doch zum Beispiel in einer Vitrine sein können, anstatt hier versteckt zu werden – darüber wunderte sich Hannah ein wenig und war auch leicht enttäuscht: Sie hatte hier eigentlich irgendetwas erwartet, was, nun, „besonderer“ war. Dieser Spiegel war ganz nett, aber letztlich halt nur ein Spiegel. Sie legte ihn wieder zurück und seufzte. Nun, es gab hier unten ja noch andere Räume, also … Ihr Blick fiel auf die Schreibtischschubladen und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Vielleicht war da drin ja noch etwas Interessantes.
Die erste Schublade, die sie öffnete, enthielt offenbar viele alte Briefe. Sie waren von Hand geschrieben, und die Schrift sah eindeutig nach der ihres Onkels aus. Sie überflog den ersten, nur um festzustellen, dass er mittendrin abbrach:
Liebe Amelia,
ich habe deine Einladung erhalten, aber ich fürchte, ich muss ablehnen. Es ist im Moment sehr schwierig und ich weiß nicht, ob ich den Herausforderungen der Reise gewachsen wäre. Das mag dir komisch vorkommen, ich weiß, und ich wünschte wirklich, ich könnte es erklären. Das heißt … Es hat mit dem zu tun, was ich auf meiner letzten Reise gefunden habe; ich wünschte, ich hätte niemals diesen verfluchten Spiegel auch nur angerührt. Es ist so verrückt, dass ich es selbst nicht glauben will. Tatsächlich bist du die erste Person, der ich diesbezüglich schreibe, weil ich weiß, dass du nicht denken würdest, ich sei wahnsinnig geworden; selbst meine Schwester wäre vermutlich davon überzeugt, wenn ich ihr erzählen würde, was passiert ist. Es ist so, dass ich nicht der Mann bin, den du … Also, ich meine, wenn du überhaupt
Hannah runzelte die Stirn. Sie hatte nie von einer „Amelia“ gehört, aber mehr verwunderte sie die Zeile, in der vom „verfluchten Spiegel“ die Rede war. Ihr Blick wanderte zu dem Ding hin, das jetzt wieder auf dem Tisch lag. War dieses Ding doch in einer Art besonders, von der sie nichts wusste? Sie las ein paar weitere Briefe, doch darin stand nichts Neues. Tatsächlich war der Inhalt immer der Gleiche, nur anders formuliert – und in der Hinsicht klang jede Version des Briefes in ihren Ohren schlechter als die letzte, so zögerlich, fast schon peinlich. Jedoch schienen am Ende ein paar Dinge für sie festzustehen, erstens, dass irgendetwas mit diesem Spiegel war, zweitens, dass ihr Onkel dieses Irgendetwas aus irgendeinem Grund dafür verantwortlich machte, gewissen Dingen nicht oder nicht mehr gewachsen zu sein und drittens, dass er diese Amelia offenbar geliebt hatte. Hannah legte die Briefe zurück und konnte dabei ein schlechtes Gewissen nicht unterdrücken. Ihr Onkel hatte darin ziemlich verzweifelt geklungen und einige Stellen waren recht persönlich.
Als sie alles wieder in die Schublade gelegt hatte, biss sie sich auf die Lippe. War sie nicht doch bereits zu weit gegangen? Sie sollte nicht hier sein und wenn sie daran dachte, wie sie sich fühlen würde, wenn jemand ihre Briefe lesen würde … Nicht, dass sie wirklich jemandem Briefe schrieb, aber trotzdem war es nicht nett, das zu tun. Gleichzeitig war da aber immer noch ihre Neugierde – sie wollte gerne noch mehr von diesem Keller sehen. Außerdem hatte sie einige Schreibtischschubladen noch nicht durchsucht. Sie entschied sich daher letztlich doch, nicht schon wieder zu gehen; allerdings schwor sie sich, keine persönlichen Briefe mehr zu lesen, sollte sie welche finden.
In der nächsten Schublade fand sie zwar keine Briefe, aber etwas, das wie ein Tagebuch aussah. Die Versuchung war groß, zumal eine listige Stimme in ihrem Kopf sagte, dass sie ja nur geschworen hatte, keine Briefe mehr zu lesen, während von Tagebüchern nie die Rede gewesen war. Aber Hannah schüttelte nur den Kopf und schloss die Schublade wieder. Beim Inhalt der nächsten Schublade entfuhr ihr ein überraschter Laut: Dort drin lag eine Pistole – ein Revolver, soweit sie wusste – mit einem dazugehörigen Holster. Das war nun etwas, das sie aus anderen Gründen nicht anfassen wollte, da es ihr schlicht zu gefährlich war, auch wenn sie sich nicht sicher sein konnte, dass die Waffe überhaupt geladen war.
Als sie die Schublade zuschob, hörte sie plötzlich einen Aufschrei, der sehr dumpf klang und offenbar von oben zu kommen schien: „Nein!“
Es war unverkennbar die Stimme ihres Onkels, und im nächsten Moment folgten hastige Schritte über ihr. Hannah durchfuhr es kalt. Sie hatte eigentlich geplant, wieder aus dem Keller hinaus zu sein, bevor ihr Onkel zurückkam, nun jedoch würde er sie hier erwischen. Verflucht! Warum war er schon wieder zurück? Hatte er bemerkt, dass der Schlüssel fehlte? Vielleicht konnte sie so tun, als sei sie noch gar nicht in dem Raum gewesen. Hastig stand sie auf und schloss vorsichtig die Tür, als auch schon ihr Onkel die Wendeltreppe herunter gerannt kam.
„Du!“, stieß er keuchend hervor. „Hast du …“
Er führte den Satz nicht zu Ende und stürzte zu der Tür, aus der sie eben gekommen war. Kurz darauf griff er sich an den Kopf.
„Da ist kein Staub an der Türklinke!“, rief er aus, dreht sich zu ihr um und fuhr sich fahrig durch die Haare. Hannah wich einen Schritt zurück; ihr Onkel machte ihr in diesem Augenblick große Angst.
„Du warst da drinnen“, murmelte er, während seine Augen geradezu hervorzutreten schienen.
„Nein, ich …“, begann Hannah.
„Lüg nicht!“, schrie Onkel Nathanael, woraufhin Hannah zusammenzuckte; tatsächlich schien ihr Onkel sogar über sich selbst zu erschrecken. Er schien sich kurz wieder etwas zu beruhigen, während er mit der Zunge seine Lippen befeuchtete.
„Aber hast du auch … Ja, vielleicht hast du ja nicht …“
Er riss die Tür auf und verschwand in dem Raum. Kurz darauf ertönten ein Stöhnen und ein erneuter Aufschrei, langgezogen und verzweifelt: „Nein!“
Hannah trat vorsichtig in den Raum und sah, dass ihr Onkel vor dem Schreibtisch zusammengesackt war.
„Du hast ihn offensichtlich bewegt“, murmelte er schwach. „Hast du … auch in ihn hineingesehen?“
Hannah zögerte für einen Moment, nickte aber schließlich. Ihr Onkel stöhnte wieder.
„Dann habe ich wohl versagt“, murmelte er. „Ich …“
Plötzlich brach er in lautes Schluchzen aus und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Hannah war schockiert; ihr Onkel war, soweit sie ihn gekannt hatte, nie besonders selbstbewusst, furchteinflößend oder standhaft gewesen, aber das … Das war auch für ihn absolut ungewöhnlich. Umso schuldiger fühlte sie sich jetzt wegen der Briefe.
„Ähm“, machte sie leise, „warum ist das denn so schlimm? Das ist doch nur ein Spiegel, oder?“
Sie hatte zwar aus den Briefen herausgelesen, dass Onkel Nathanael aus irgendeinem Grund den Spiegel zu hassen schien oder Angst vor ihm hatte, aber das war ihr reichlich unglaubwürdig vorgekommen. Was sollte an einem Spiegel auch so schlimm sein?
Ihr Onkel nahm die Hände von seinem Gesicht. Er sah Hannah mit einem seltsamen Ausdruck an, als würde er sie jetzt erst erkennen.
„Warte“, sagte er langsam, „du wirkst wie immer …“
Er stand auf, trat auf Hannah zu und kniete sich vor ihr hin.
„Hannah, mein liebes Mädchen“, flüsterte er, „räum dein Zimmer auf.“
„Was?“, fragte Hannah, sicher, nicht richtig gehört zu haben.
„Du sollst dein Zimmer aufräumen.“
„Ich soll mein Zimmer aufräumen?“, fragte Hannah. „Warum?“
„Weil ich es sage. Räum einfach dein Zimmer auf.“
Hannahs Verwirrung wich einer milden Empörung.
„Ich soll jetzt mein Zimmer aufräumen?! Ich finde eher, dass du mir mal sagen solltest, was hier …“
Sie brach ab, denn ihr Onkel fing an, zu lachen.
„Du bist normal!“, rief er aus. „Du bist ja gar nicht verkorkst worden!“
Sein Lachen klang so unfassbar erleichtert, dass Hannah nur wieder verdattert dreinschauen konnte. Schließlich wurde ihr Onkel wieder still.
„Trotzdem“, sagte er plötzlich streng und erhob sich wieder, „hatte ich dir verboten, hier zu sein. Und den Schlüssel … ich weiß genau, dass ich ihn bei mir getragen habe. Du hast ihn mir geklaut, oder?“
Hannah sah zur Seite.
„Ja“, sagte sie missmutig.
Ihr Onkel streckte fordernd die Hand aus, und sie übergab ihm den Schlüssel zur Kellertür.
„Gut“, sagte er. „Die Strafe dafür …“ Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. „Darüber reden wir später.“
„Schön“, sagte Hannah in dem Wissen, dass er da sowieso nicht so hart sein würde, „wenn du mir endlich mal sagst, warum du dich so aufführst, Onkel. Was ist mit diesem Spiegel los?“
Ihr Onkel öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder und rieb sich die Stirn.
„Es …“, sagte er so lahm, dass Hannah schon ahnte, dass er ihr eine Lügengeschichte auftischen wollte, „Es ist nichts. Der Spiegel ist einfach … sehr teuer. Ich will nicht, dass du ihn kaputt machst.“
„Ach, komm schon, Onkel“, sagte Hannah und verdrehte die Augen, „ich weiß doch, dass das nicht stimmt.“
„Es ist aber …“
„Wer ist Amelia?“, fragte Hannah rasch.
Ihr Onkel schien von der Frage völlig überrumpelt zu sein. Als er antwortete, stammelte er nur: „Das … Du hast … Du hast die Briefe gelesen?“
Hannah nickte und fügte rasch hinzu: „Das tut mir leid, ich weiß, das war …“
„Ja, war es“, sagte Nathanael mit seltsamer Grimmigkeit in der Stimme. „Jedenfalls geht dich all das nichts an.“
Er wandte sich Richtung Tür.
„Komm, wir gehen jetzt nach oben.“
Hannah rührte sich nicht. Sie würde garantiert nicht mitgehen, ohne die Geschichte zu kennen, die hinter all dem steckte. Und ganz plötzlich kam ihr auch eine Idee, auch wenn sie wieder ein bisschen dazu führte, dass sie eins schlechtes Gewissen bekam. Ehe ihr Onkel etwas tun konnte, rannte sie zum Schreibtisch und hob den Spiegel wieder auf.
„Hannah!“, rief ihr Onkel. „Leg den sofort wieder hin, oder …“
„Erst, wenn du mir sagst, was hier los ist“, forderte sie. „Sonst schmeiße ich ihn auf den Boden!“
Nathanael hatte einen Schritt auf sie zugemacht, bleib bei den Worten aber abrupt stehen.
„Hannah, bitte …“, flehte er, und es kostete das Mädchen einige Mühe, die Verzweiflung in seiner Stimme zu ignorieren. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, eine eiserne Miene beizubehalten. Schließlich seufzte ihr Onkel resignierend.
„Gut“, sagte er matt, „du hast gewonnen. Weißt du, früher hätte ich mich nie so erpressen lassen.“
Er lachte verbittert und strich sich durch die ohnehin schon sehr zerzausten Haare. Sein Gesicht drückte Resignation aus.
„Es ist schwer zu erklären …“, begann er, schien sich dann jedoch anders zu besinnen. „Nein, eigentlich stimmt das nicht. Es ist nur schwer zu glauben.“
Er seufzte.
„Du weißt ja, ich habe das Gleiche gemacht wie deine Eltern: Ich bin viel herumgereist und war bei Expeditionen dabei, die so ziemlich ins Niemandsland führen, zunächst als Assistent, später mitunter auch als Leiter. Nun habe ich eines Tages Hinweise auf eine Forschungsreise eines gewissen Wilbert Hughes gefunden – der Name wird dir nichts sagen, da kaum einer etwas von ihm weiß, er war nun einmal nicht besonders bekannt. Ich wollte eigentlich nur herausfinden, was daraus geworden ist und habe schließlich seine Spur in Nordfredarien aufgenommen.“
Hannah nickte; der Kontinent Fredarien war, wie sie wusste, noch immer zu großen Teilen unerforscht, auch wenn es Spuren von Zivilisation dort zu finden gab. Seit ihrer Kindheit hatte sie immer wieder davon geträumt, diese geheimnisvoll wirkende Gegend selbst zu bereisen und dort Abenteuer zu erleben.
„Die Details sind nicht weiter wichtig“, fuhr Onkel Nathanael fort, „ich fand jedenfalls schließlich in einer ziemlich trostlosen Wüstengegend vereinzelte Überreste eines Lagers, und dabei war auch dieser Spiegel. Er ist aus geschliffenem und poliertem Obsidian – ein vulkanisches Gesteinsglas, das von manchen Völkern zur Herstellung von Schmuck oder auch von Waffen verwendet wurde und vielleicht noch wird – die Weltkarte hat ja noch einige weiße Flecken. Es kann sein, dass der Spiegel aus Fredarien stammt, vielleicht hat ihn aber auch Hughes oder einer seiner Leute von einer anderen Expedition mitgebracht; es ist zum Beispiel belegt, dass im antiken Tolania und im alten Grurifada ganz ähnliche Spiegel gefertigt wurden.“
Er machte eine Pause. Hannah wartete gespannt darauf, dass er weitersprach, denn noch war ihr Onkel ja nicht zu dem Punkt gekommen, der eigentlich interessant war.
„Nun, ich habe also diesen Spiegel in die Finger bekommen und in ihn hineingesehen – und das war ein Fehler.“
Nathanaels Gesicht verdüsterte sich weiter. Er kratzte sich an der Stirn und rieb sich die Augen.
„Ich weiß nicht, was genau passiert ist – mir wurde irgendwie … merkwürdig, meine Sicht verschwamm … Und dann …“
Er brach wieder ab, als fiele es ihm schwer, alles in Worte zu fassen.
„Im ersten Moment habe ich es nicht wirklich realisiert … Aber auf einmal hat alles angefangen, mir Angst zu machen. Ich fürchtete mich plötzlich vor Schlangen, vor Krabbeltieren, vor Krankheiten … Schließlich sogar vor den anderen Menschen.“
Hannah hatte aufmerksam zugehört und mittlerweile auch begriffen, worauf ihr Onkel hinauswollte, auch wenn es in der Tat sehr unglaubwürdig klang.
„Du meinst also“, sagte sie, „dass der Spiegel dich irgendwie … verändert hat?“
„Das ist die einzige Erklärung, die ich für meine Veränderung finden kann“, sagte Nathanael. „Und es ist ja auch irgendwie ganz logisch: Ich hatte vorher vor so ziemlich gar nichts Angst, oder vielmehr: Ich konnte meine Angst immer unterdrücken. Spiegel vertauschen bei unserem Bild immer etwas, kehren es um in sein Gegenteil. Man denkt ja immer, sie vertauschen links und rechts, in Wirklichkeit ist es ja vorne und hinten, aber das Prinzip ist das Gleiche.“
Hannah dachte nach. Es ergab auf eine gewisse Art Sinn, zweifellos, doch … Sie hatte oft genug von ihren Eltern und ja auch von Onkel Nathanael Geschichten über angeblich verfluchte und verwunschene Objekte mit seltsamen Kräften gehört – doch manchmal hatte man ihr dann zur Demonstration sogar das fragliche Objekt zeigen können. Dieses war dann zwar immer ein schön anzuschauendes und sicher auch wertvolles Stück gewesen, aber niemals hatte irgendetwas davon auch nur die kleinsten Anzeichen von Magie gezeigt. Und auch dieser Spiegel hatte bei ihr selbst offenbar nichts verändert.
„Aber Onkel“, sagte sie, „ich meine … Mir ist doch nichts passiert. Und Magie und alles … Das gibt es doch nicht wirklich, oder?“
„Ich weiß es nicht, Hannah“, seufzte ihr Onkel, während er sich die müden Augen rieb. „Ich weiß nur, dass ich im einen Moment noch ein mutiger Abenteurer und Forschungsreisender war und im nächsten ein Feigling, der sich vor seinem eigenen Schatten erschreckt.“
Onkel Nathanael sah mittlerweile ziemlich erschöpft aus, andererseits wirkte er vielleicht sogar ein bisschen erleichtert. Hannah war sich immer noch nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte, doch es schien ihm zumindest gut getan haben, sich darüber auszusprechen.
„Jedenfalls“, fuhr Nathanael wieder fort, „denke ich, dass du nun verstehen kannst, warum ich nicht wollte, dass du hier runterkommst und diesen Spiegel siehst. Ich bin froh, dass nichts Schlimmes passiert zu sein scheint.“
„Du hast mir gesagt, ich solle mein Zimmer aufräumen.“
„Ja. Ich dachte, wenn der Spiegel dich in dein Gegenteil verkehrt hätte, würdest du endlich mal tun, was man dir sagt.“
Er lachte nervös und verstummte aber nach kurzer Zeit wieder.
„Natürlich …“, sagte er, „Nun, wenn du doch noch irgendetwas merkst, dann sag es mir bitte, ja?“
Hannah nickte stumm, ohne wirklich zu glauben, dass das notwendig sein würde. Sie hatte aber noch eine Frage: „Onkel … Wenn du meinst, dass dieser Spiegel dich, nun, ‚verkorkst‘ hat, hast du jemals versucht, das irgendwie … wieder rückgängig zu machen?“
„Ha!“, lachte Nathanael bitter. „Du glaubst gar nicht, wie sehr. Ich habe hineingestarrt, bis ich Kopfschmerzen bekam, ich habe zahlreiche Bücher über Spiegel und Okkultes durchforstet und einige mitunter äußerst fragwürdige ‚Experten‘ für solche Dinge besucht, aber ich bin nicht weitergekommen. Überhaupt findet sich über diesen Spiegel nichts in der Literatur – zumindest nichts, wo ich mir sicher sein könnte, dass exakt dieser Spiegel gemeint ist. Natürlich findet man so ziemlich überall Zauberspiegel – und nicht wenige sollen ihre Besitzer am Ende verhext haben, und doch … Im Grunde wird nie erwähnt, dass es Spiegel aus Obsidian wären und überhaupt: Die Informationen sind dürftig und so gut wie alles ist Legende, Sage oder Märchen. Und dann wiederum müsste ich vielleicht einige eher gefährliche Gegenden besuchen, um ein paar Dinge zu überprüfen, was ich jetzt einfach nicht mehr kann. Ich kann natürlich andere Leute für mich arbeiten lassen, aber ich kann ihnen nie offen sagen, wonach genau ich suche. Ich kann ihnen ja nicht einmal gefahrlos den Spiegel zeigen.“
„Hm“, machte Hannah nachdenklich.
„Eigentlich habe ich es auch schon aufgegeben“, murmelte Nathanael. „Denn vielleicht ist es schlicht und einfach … meine Strafe.“
„Wie meinst du das?“, fragte Hannah. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man ihren Onkel für irgendetwas bestrafen müsste – dann wiederum war der Onkel, den sie kennen gelernt hatte, offenbar ein ganz anderer als der, der davor gelebt hatte.
„Ich habe“, sagte Nathanael zögerlich, „ein paar schlimme Dinge getan, die nicht … die ich besser nicht hätte tun sollen. Das ergibt sich wohl, wenn man viel herumkommt, und doch …“
Er brach ab und sah Hannah traurig an. Der Tonfall seiner Stimme drückte diesmal keine Verzweiflung aus, sondern Reue und Scham.
„Ich bin nicht wirklich immer der Held gewesen, den du aus meinen Geschichten kennst, Hannah. Aber ich möchte dir das nicht erzählen, noch nicht jedenfalls. Wenn du älter bist …“
Hannah nickte wieder, wenn auch sehr mechanisch; eigentlich war sie mit dieser Antwort nicht wirklich zufrieden. Sie hatte eigentlich den Eindruck, dass ihr Onkel sich damit herausreden wollte. Nur machte es die Vertröstung auf später, wenn sie diese denn ernst nehmen wollte, keinesfalls besser, ganz im Gegenteil: Was konnte so schlimm sein, dass sie es jetzt noch nicht hören durfte? Doch vielleicht war das tatsächlich eine Frage, die sie später noch einmal stellen sollte – nicht unbedingt erst, wenn sie „alt genug“ war, sondern vielleicht in einigen Tagen, wenn ihr Onkel sich vielleicht wieder etwas von diesem Verhör erholt hatte, das ihn deutlich anzustrengen schien. Aber für den Moment hatte sie alles herausbekommen, was sie wollte. Sie könnte zwar noch nach dieser Person namens Amelia fragen, nur konnte sie sich aus den Briefen zusammenreimen, dass es eine andere Forschungsreisende sein musste, in die ihr Onkel sich verliebt hatte.
Daher antwortete sie mit einem „Ja“, als ihr Onkel sie fragte, ob sie nun alles wusste, was sie erfahren wollte. Ihr wurde bewusst, dass sie immer noch den Spiegel in der Hand hielt. Sie legte ihn wieder mit der Spiegelfläche nach unten auf den Tisch. Anschließend verließ sie mit ihrem Onkel den Keller, während sie sich fragte, ob sie das, was sie eben alles gehört hatte, wirklich glauben sollte.