Heftiger Regen prasselte auf die Windschutzscheibe, als Stephen Feinberg vorsichtig seinen alten VW die nasse und teils schlammige Straße entlangsteuerte.
Kurze Mythenmetzsche Abschweifung: Diese Geschichte wird selbstverständlich nicht von VW gesponsert. Als ob ich meine Kunst an Unternehmen verkaufen würde – ich bin nicht im Mindesten darauf angewiesen. Übrigens auch nicht auf Leser, die mir das unterstellen möchten. Und ja, das war eine Warnung an Sie.
Der Weg war in schlechtem Zustand und von zahlreichen Schlaglöchern durchsetzt, die das Ihre dazu beitrugen, die Fahrt holprig und geradezu halsbrecherisch zu machen. Gelegentlich donnerte es und kurz darauf zuckte ein Blitz über den schwarzen Nachthimmel. Die Bäume am Rand der Straße knarrten und ächzten, während sie sich unter gewaltigen Sturmböen verbogen. Nicht ohne Mühe hielt Feinberg seinen Wagen auf Kurs und verfluchte sein Navigationssystem, das ihn in diese gottverlassene Gegend geführt hatte, nur um eine halbe Stunde später plötzlich auszufallen. Mittlerweile war sich Feinberg sicher, dass dieser vom System als Abkürzung bezeichnete Weg wie schon so oft lediglich die längstmögliche Verbindung zwischen zwei Punkten darstellte.
Sicherlich werden einige Leser mittlerweile Zeit und Ressourcen einer Suchmaschine bemüht haben, um herauszufinden, was eine Mythenmetzsche Abschweifung ist. Denjenigen, die besagten Weg nicht gegangen sind, sei allerdings an der Stelle zum besseren Verständnis eine kurze Einführung gegeben: Besagtes Stilmittel der zamonischen Literatur wurde, wie der Name schon sagt, von Hildegunst von Mythenmetz erfunden und insbesondere in seinem herrlichen Märchen „Ensel und Krete“ mit großer Häufigkeit angewendet. Innerhalb der Mythenmetzschen Abschweifung ist es erlaubt, sich über alles Mögliche auszulassen, das Geschehen der Geschichte direkt zu kommentieren oder vielleicht auch mal den ein oder anderen nervtötenden Kritiker anzugreifen. Im Übrigen glaube ich, dass ich mich mit meinen Versuchen hier noch recht leserfreundlich verhalte – eine Leseprobe des oben erwähnten Märchens könnte nämlich zum Beispiel so aussehen: „brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli brummli…“
Die Scheinwerfer von Feinbergs Wagen durchbrachen die Dunkelheit nur noch unzulänglich und trotz hartnäckiger Arbeit seiner Scheibenwischer sah er alles fast nur durch einen verschwommenen Schleier. Zwar schälten sich aus der Finsternis am Straßenrand gelegentlich Laternen heraus, aber sie waren nicht erleuchtet.
Plötzlich allerdings tauchte etwas in der Ferne auf. Feinberg konnte es nicht genau erkennen, aber es schien sich um ein sehr schwaches Licht zu handeln. Vielleicht waren es einfach die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs. Möglicherweise waren es aber auch die Lichter eines Gebäudes und somit ein lange ausgebliebenes Anzeichen von Zivilisation, von Menschen – Menschen, die ihm sagen konnten, wo genau er überhaupt war und – noch wichtiger – wie er so schnell wie möglich wieder von hier wegkam.
Als Feinberg sich der Lichtquelle allmählich näherte, konnte er feststellen, dass sie sich nicht bewegte – es war also kein Fahrzeug, oder zumindest keins, welches in Bewegung war. Im Kopf ging Feinberg die Möglichkeiten durch, was eine feststehende Lichtquelle alles sein konnte – ein bewohntes Gebäude, sicherlich; ein stehendes Fahrzeug, vielleicht mit einer Panne – doch nein, wäre dann nicht auch das Warnblinklicht an, gerade bei diesen Sichtverhältnissen? Davon war jedoch nichts zu sehen, diese Möglichkeit war also nicht sehr wahrscheinlich. Feinbergs Laune sank ein wenig, als ihm bewusst wurde, dass vielleicht nur endlich mal eine der Straßenlaternen in Betrieb war.
Sein Wagen rumpelte weiter und es wurde nun deutlich, dass es keine einzelne Lichtquelle war, sondern mehrere nah beieinanderliegende Lichtflecke. Feinbergs Herz machte einen kleinen Hüpfer – das musste einfach ein Haus sein und tatsächlich: Langsam konnte er die Umrisse eines großen Gebäudes erkennen, dessen Fenster hell erleuchtet waren. Seine anfängliche Freude darüber verwandelte sich jedoch im nächsten Augenblick in jähe Enttäuschung, da ihm noch etwas Anderes auffiel.
Nun ja, ich gebe zu, dass die grundsätzlichen Elemente hier – Nacht, Unwetter, einsame Gegend, ein gruseliges Hau… oh, zu dem Haus sind wir ja noch gar nicht wirklich gekommen, das passiert gleich erst – wohl kaum Neuerfindungen des literarischen Rades sind. Es mag sein, dass Sie mir hier mangelnde Kreativität vorwerfen wollen. Dem kann ich erst einmal natürlich gerne entgegnen, dass Sie es ja besser machen und dann noch einmal ankommen könnten. Sie werden allerdings feststellen, dass es sehr schwierig ist, nicht irgendetwas zu beschreiben, was nicht schon einmal irgendwo dagewesen ist, während es nur allzu leicht ist, jemandem vorzuhalten, dass seine Ideen schon einmal irgendwo aufgetaucht sind. Aber vielleicht könnten Sie auch einfach aufhören, unbewusst eine derartige Kritik zu formulieren und schlicht mal versuchen, beim Lesen Spaß zu haben, auch wenn es schwer fällt.
Die Straße endete an genau diesem Haus, das von hoch aufragenden und dicht stehenden Bäumen umgeben war. Es gab keinen Weg, der weiterführte und keine Abzweigung, die am Gebäude vorbeiging. Feinberg wurde sich schlagartig der Tatsache bewusst, dass er tatsächlich seit über anderthalb Stunden Fahrt überhaupt keine Möglichkeit gesehen hatte, diese Straße zu verlassen. Er würde also notgedrungen den ganzen Weg zurückfahren müssen. Fluchend schlug er mit der Faust aufs Lenkrad und sah zu dem Haus herüber. Erst jetzt betrachtete er es genau: Es war ein großer Bau aus dunklem Stein, an dem seltsamerweise so gut wie alles schief wirkte: Das Dach, die Fenster, die Eingangstür, ja sogar das Haus selbst – alles neigte sich leicht zur Seite. Möglicherweise war das aber auch nur eine optische Täuschung, verursacht durch die schwache Beleuchtung und den Regen.
Feinberg unterdrückte ein Gähnen und sah auf die Uhr seines Autoradios, welches schon seit Stunden keinen Ton mehr von sich gegeben hatte. Es war halb zehn. Erst jetzt wurde Feinberg bewusst, wie sehr ihn die Fahrt angestrengt hatte – seine Augen brannten bereits ein wenig von der Anstrengung, sie offen zu halten und durch den Regen zu starren. Zwar könnte er nach einer kurzen Pause weiterfahren, doch beim Gedanken daran, wie lange er dann wohl noch unterwegs sein würde, kroch eine bleierne Schwere in seine Glieder, die ihn nicht mehr loslassen wollte. Seufzend sah er wieder zu den Fenstern des Hauses herüber und fasste einen Entschluss.
Er öffnete die Tür seines Wagens, stieg rasch aus und schlug die Tür wieder zu. Sogleich wurden seine Schuhe durchnässt, denn er stand in einer tiefen Pfütze. Er machte einen Satz nach rechts, wo er trockeneren Boden sah und betätigte die Fernbedienung an seinem Autoschlüssel, um das Fahrzeug abzuschließen, bevor er zu einem kurzen Sprint zur Tür des schiefstehenden Gebäudes ansetzte. Er suchte nach einer Klingel, doch da war keine. Stattdessen befand sich an der Tür aus massivem Holz eine große metallene Monsterfratze mit einem Ring in einem Maul voller spitzer Zähne. Zögerlich griff Feinberg danach und klopfte dreimal damit, während der Regen auf ihn einprasselte und bereits seinen Mantel durchdrang. Ein paar Augenblicke lang geschah nichts und Feinberg überlegte schon, ob er noch einmal klopfen sollte, als plötzlich im Haus dumpfe Schritte ertönten und sich unmittelbar danach die Tür mit einem lauten Knarzen öffnete. Feinberg hatte bereits zu sprechen angesetzt, doch er brach sofort ab, als ihm der Lauf eines Gewehrs direkt unter die Nase gehalten wurde.
Vielleicht ist das ein guter Zeitpunkt, um über den Titel dieser Geschichte zu reden. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich noch nie eine Horrorgeschichte geschrieben habe und auch im passiv-konsumierenden Bereich bezüglich dieses Genre eigentlich so gut wie keine Erfahrungen aufweisen kann. Allerdings schien es mir – als natürlich subjektivem Beobachter – doch so, als seien die Titel diverser Horrorgeschichten überraschend einfach gehalten. Ich hatte zum Beispiel überlegt, diese Geschichte „Das Haus“ zu nennen, aber der Titel ist meiner kurzen Recherche nach zu urteilen bereits vergeben – Sie erraten sicher, welchem Genre das fragliche Buch angehört. Woher kommt dieser Trend zu einfachen Titeln bei diesem Genre? Ich meine ja nur, dass so etwas wie „Das Haus“ eigentlich alles Mögliche heißen kann. Warum ist dieser Titel irgendwie unheimlich oder macht zumindest neugierig? Ich vermute, dass es schlicht an der Verwendung des bestimmten Artikels liegt. Wir wissen dadurch, dass es nicht irgendein Haus ist, sondern eben DAS Haus. Aber gleichzeitig haben wir nicht den leisesten Hauch einer Ahnung davon, was ihm diesen besonderen Status gibt. Genau das möchten wir aber nun gerne herausfinden und lesen deshalb das Buch. So ungefähr zumindest stelle ich mir das vor, allerdings wäre ich wohl ausnahmsweise nicht beleidigt, wenn jemand mit mehr Ahnung bezüglich der Wirkung von Titeln mir in diesem Punkt widersprechen würde.
Feinberg hob instinktiv die Hände und starrte auf die kleine Gestalt, die das Gewehr in der Hand hielt. Es war eine alte Frau mit faltigem Gesicht und wirren weißen Haaren, die mit einem geradezu hasserfüllten Gesichtsausdruck ein paar faulig aussehende Zähne fletschte. All das hätte einem gestandenen Mann bereits Angst einjagen können, doch das, was Feinberg wirklich erstarren ließ, waren die Augen der Frau: Eines von ihnen war bleich, trübe und farblos, während das andere in scharfem Kontrast dazu von einem leuchtenden und die Seele durchbohrenden Smaragdgrün war. Feinberg hatte den Eindruck, dass ihn dieses Auge zu röntgen schien, voller Misstrauen und Abneigung.
Die alte Frau öffnete den Mund, und ihre Stimme klang wie ein Krächzen aus der Tiefe einer finsteren Gruft, erfüllt von Verachtung und Bitterkeit: „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
Feinberg stammelte ein wenig herum, unfähig, klare Worte zu formulieren.
„Was Sie hier wollen, habe ich gefragt!“, keifte die Alte und zuckte mit dem Gewehrlauf.
„M-mein Name ist Stephen Feinberg“, stieß der durchnässte und nicht nur vor Kälte zitternde Mann hervor. „Ich, äh, also, ich habe mich ein wenig verfahren und…“
„Folgen Sie einfach der Straße zurück. Irgendwann kommt eine Abzweigung“, sagte die Frau missmutig.
„Ja, das ist wohl richtig und ich möchte mich keineswegs aufdrängen, aber wissen Sie, ich… Ich bin jetzt schon lange unterwegs und da dachte ich…“
Seine Stimme wurde schwächer und brach schließlich ganz ab. Die Augen der Alten weiteten sich für einen Moment, nur um sich direkt danach zu Schlitzen zu verengen.
„Nein!“, schrie sie und knallte die Tür zu. Feinberg stand für einen Moment da, immer noch zitternd. Das war deutlich gewesen. Seufzend ging er zurück zu seinem Auto, schloss es auf und setzte sich hinein. Seine Situation hatte sich nicht verbessert, im Gegenteil: Nun war er auch noch klatschnass und verfolgt von den unbarmherzigen Augen dieser alten Frau. Aber es half nichts, er musste nun den ganzen Weg zurückfahren, wenn er nicht gezwungen sein wollte, im Auto zu schlafen. Also resignierte er, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Das Auto stotterte, doch es sprang nicht an.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, flüsterte Feinberg verzweifelt und versuchte mehrere Male, den Wagen zu starten, doch ohne Erfolg, obwohl der Tank noch ausreichend befüllt war und auch kein Kontrolllämpchen blinkte. Feinbergs Blick ging wieder zu dem Haus hin. Dort noch einmal anzuklopfen war wirklich das Letzte, was er tun wollte. Er griff in seine Manteltasche und holte sein Handy hervor. Kein Netz, wie auch schon vor Stunden. Außerdem war es fraglich, ob irgendein Pannendienst zu dieser Zeit den weiten Weg bis hierhin machen würde, wo immer auch „hier“ denn nun genau sein mochte. Es blieb Feinberg folglich nichts Anderes üblich, als sich erneut zu dem merkwürdigen Gebäude und seiner Angst einflößenden Bewohnerin zu begeben. Er sprang also wieder aus seinem Auto, schloss es ab und rannte zum zweiten Mal zu der schief im Rahmen sitzenden Tür hinüber. Diesmal zögerte er nicht so lange – es half ja doch nichts – und klopfte schnell zweimal mit dem Ring.
Wieder dauerte es einen Moment, bis er Schritte hörte, doch diese waren unverkennbar fast die gleichen wie vorher, nur klangen sie diesmal leicht verändert in einer äußerst unguten Art und Weise, einem wütenden Stampfen nicht unähnlich. Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und erneut blickte Feinberg in den Lauf eines Gewehres.
„Ich sagte Ihnen“, zischte die kleine Gestalt, „dass Sie verschwinden sollen! Wir wollen Sie hier nicht haben!“
Feinberg horchte bei dem Wort „Wir“ auf, denn das konnte nur bedeuten, dass noch jemand in dem Haus war, jemand, der möglicherweise umgänglicher war als diese alte Frau, die nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben schien.
„Es tut mir wirklich leid, gnädige Frau“, versuchte Feinberg, höflich zu bleiben, „aber mein Wagen springt nicht mehr an und daher…“
„Ausreden!“, keifte die Frau in einer schrillen Tonlage. „Lügen! Sie wollen uns überfallen, Sie wollen uns bestehlen, Sie…“
„Was ist denn los, Tantchen?“, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Inneren des Hauses. Es war eine ruhige und angenehme Stimme, die zu einer weiblichen Person gehören musste. Die alte Frau knurrte.
Ohne den Blick von Feinberg zu richten, antwortete sie: „Nur ein dreckiger Herumtreiber, meine Kleine. Mit dem werde ich schon fertig. Geh du einfach…“
Weiter kam sie nicht, denn sie wurde ein wenig von der anderen Person, die gerade gesprochen hatte, beiseite geschoben. Ein kurzer Blick auf die andere Bewohnerin des Hauses reichte für Feinberg aus, um festzustellen, dass diese das genaue Gegenteil ihrer Tante war. Sie war eine junge Frau von vielleicht um die fünfundzwanzig Jahren und wirklich ungewöhnlich hübsch. Kastanienbraunes Haar, das ein wenig feucht wirkte, umspielte sanft ihr makelloses Gesicht, aus dem zwei kluge hellblaue Augen Feinberg entgegenblickten. Ihr schlanker Körper war mit einem weißen Nachthemd bekleidet.
Sie lächelte den Besucher strahlend an, als sie sagte: „Entschuldigen sie bitte Tante Harriett, sie ist einfach sehr misstrauisch gegenüber jedem Besucher. Und entschuldigen sie bitte auch meine Aufmachung, ich habe erst vor ein paar Minuten ein Bad genommen. Aber kommen Sie doch bitte herein, sie sehen ja ganz nass und durchgefroren aus.“
Sie trat zur Seite und bedeutete Feinberg mit einer Handbewegung, das Haus zu betreten. Er folgte stumm, jedoch nicht ohne dabei einen verstohlenen Blick auf die alte Frau zu werfen, die zwar ihr Gewehr heruntergenommen hatte, aber ihn immer noch voller Argwohn anstarrte. Im Haus war es angenehm warm und Feinberg glaubte, ein Kaminfeuer zu riechen.
„Vielen Dank“, sagte Feinberg hauptsächlich zu der jungen Dame gewandt.
„Oh, keine Ursache“, erwiderte diese lächelnd. „Ich freue mich immer über Besuch, wo es hier doch eine sehr einsame Gegend ist.“
„Mein Name ist übrigens Stephen Feinberg. Eigentlich wollte ich ja nur kurz nach dem Weg fragen, aber dann ist mein Wagen nicht mehr angesprungen und… Naja…“
Seine Gastgeberin nickte verständnisvoll.
„Sie können gerne hier übernachten, wenn sie möchten. Wir haben natürlich auch ein Telefon, mit dem sie morgen jemanden wegen ihres Wagens herrufen können. Ich heiße übrigens Laila, Laila Hartnell. Und das hier ist meine Großtante“, sie wies auf die alte Frau, „Harriett McGann.“
„Angenehm“, sagte Feinberg.
„Wir wohnen hier alleine“, fuhr Miss Hartnell fort, „Tante Harrietts Mann ist schon vor vielen Jahren verstorben und meine Eltern ebenfalls.“
„Das tut mir leid“, sagte Feinberg aufrichtig.
„Wer’s glaubt“, zischte Mrs McGann.
„Tante Harriett, bitte“, wies ihre Nichte sie zurecht, um sich sogleich wieder an Feinberg zu wenden: „Wenn Sie möchten, können Sie sich erst einmal im Wohnzimmer vor dem Kamin aufwärmen.“
„Gerne“, lächelte Feinberg. „Ähm, kann ich vielleicht meinen Mantel irgendwo zum Trocknen aufhängen?“
„Geben Sie ihn einfach mir, ich hänge ihn in unserem Trockenraum auf.“
Feinberg zog seinen Mantel aus und reichte ihn Miss Hartnell, die sogleich damit durch eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes verschwand, die vermutlich in den Keller des Hauses führte. Feinberg wurde sich bewusst, dass er jetzt mit Mrs McGann alleine war. Er nutzte die Gelegenheit, sich kurz umzusehen: Dies war offenbar eine Art kleine Eingangshalle, mit einer Garderobe links neben dem Eingang und jeweils zwei Türen auf jeder Seite des Raumes, die in angrenzende Zimmer führten. Eine Treppe neben der fünften Tür, durch die Miss Hartnell gerade entschwunden war, führte nach oben in ein höheres Stockwerk. An den steinernen Wänden des Eingangsbereichs hingen einzelne gemalte Bilder mit abstrakten Motiven, die an verzerrte und gekrümmte Menschen erinnerten. Feinberg fühlte sich trotz der Wärme des Raums nicht wirklich wohl, und die Stille, die nach Miss Hartnells Verschwinden eingesetzt hatte, drückte schwer wie eine Last auf ihm.
„Wo ist denn das Wohnzimmer?“, fragte er vorsichtig.
Stumm nickte Mrs McGann zu einer der beiden Türen rechts von Feinberg.
„Danke“, erwiderte dieser.
„Halten Sie sich von meiner Großnichte fern.“
„Wie bitte?“
„Sie haben mich schon verstanden“, knurrte die alte Dame. „Halten Sie sich von ihr fern. Sie hat hier zu bleiben, für immer. Und sie werden gefälligst verschwinden, so schnell wie möglich.“
„Ich hatte nicht die Absicht, irgendwie…“
„Ach nein?“, höhnte Mrs McGann. Sie grinste jetzt auf eine Art, die Feinberg gar nicht gefiel.
„Nein“, entgegnete er ruhig.
„Ich sage ihnen eins: Wenn Sie ihr zu nahe kommen, wird es Ihnen schlecht bekommen.“
„Ich verstehe nicht, wovon Sie reden, Mrs McGann.“
Die alte Dame wollte offenbar zu einer Antwort ansetzen, aber in dem Moment kam Miss Hartnell zurück.
„Nanu, wollten sie sich nicht im Wohnzimmer aufwärmen?“, fragte sie überrascht. „Sie werden sich noch erkälten.“
„Ich habe mit ihrer Tante geplaudert“, sagte Feinberg.
Miss Hartnells Miene verzog sich.
„Tante, du hast doch hoffentlich nicht…“
„Ich habe gar nichts gesagt“, empörte sich die alte Frau. „Hauptsache, der Kerl verschwindet morgen wieder.“
Sie schulterte ihr Gewehr, drehte sich um und ging die Treppe hinauf ins obere Stockwerk.
„Wehe, er macht Unsinn“, rief sie noch von oben herunter. „Dann fliegt er raus.“
„Es tut mir schrecklich leid“, sagte Miss Hartnell entschuldigend. „Sie ist etwas wunderlich. Sonst ist sie nicht… Nun, eigentlich ist sie manchmal noch schlimmer, um ganz ehrlich zu sein. Es ist nicht leicht…“
Sie sah etwas hilflos aus und Feinberg überkam das plötzliche Bedürfnis, sie zu trösten. Er stellte sich vor, wie es wohl sein musste, mit dieser Frau dauerhaft zusammen zu leben. Keine angenehme Vorstellung.
Tja, man könnte wohl meinen, dass damit doch alles in Butter ist. Ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett sicher auch und eine bezaubernde Gastgeberin. Nur die alte Frau ist wohl ein kleiner Störfaktor, aber man kann ja nicht alles haben. Jedoch – wäre es nicht besser, wenn sie nicht da wäre? Wenn sie einfach von jetzt auf gleich verschwinden würde? Ich könnte sie ja sterben lassen, denn schließlich steht sie dem Happy End der beiden anderen Figuren doch irgendwie entgegen. Und irgendwer muss ja sowieso sterben, denn das ist immer eine nette Möglichkeit, um zu zeigen, dass eine reale Gefahr existiert. In der Tat, mir fallen viele Geschichten ein, in der der Autor oder die Autorin zunächst irgendeinen eher unwichtigen und auch gar nicht so vermissenswerten Charakter umbringt. Wie zum Beispiel in And Then There Were None – der eine Kerl da war ja ein richtiges Arschloch. Nun gut, aber in der Geschichte kann man ja eigentlich niemanden wirklich leiden, nehme ich an… Übrigens sollte es wohl nicht überraschen, dass ich an dieser Geschichte jetzt schon mehrere Tage schreibe. Inzwischen ist es mal wieder fast ein Uhr geworden und was ich zustande gebracht habe, ist irgendwie kaum der Rede wert. Ach, was ist das doch alles anstrengend… Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, die tote Tante. Wussten Sie, dass das auch die Bezeichnung für Kakao mit Rum ist? Eine tote Tante? Habe ich erst einmal getrunken, das war auf Baltrum. Schöne Insel, sehr inspirierend, mit einem sehr feinen Sandstrand. Da sollten Sie mal irgendwann hinfahren, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Oder meinetwegen auch nicht – je weniger Touristen, desto ruhiger und ich mag es nun einmal ohne unnötig viel Lärm. Apropos Lärm – warum bleibt es in der Geschichte so still?
„Seien Sie unbesorgt“, versicherte Feinberg. „Ihre Tante hat nichts getan oder gesagt, was ich als beleidigend empfunden hätte. Außerdem bin ich Ihnen wirklich dankbar für Ihre Gastfreundschaft.“
Miss Hartnell lächelte ein wenig gezwungen, ganz so, als würde sie ihm den ersten Teil nicht ganz abkaufen.
„Oh, Ihr Zimmer“, sagte sie plötzlich. „Das muss ich Ihnen ja noch zeigen. Wenn Sie mir folgen möchten – es ist oben.“
„Oben?“, fragte Feinberg ein wenig entgeistert.
Die junge Frau kicherte. „Keine Sorge, es ist weit von Tante Harrietts Zimmer entfernt, da es auf der anderen Seite des Hauses liegt.“
„Na, da bin ich ja beruhigt“, grinste Feinberg. Er zog seine schlammigen Schuhe aus und folgte Miss Hartnell erst die Treppe hoch, dann anschließend nach links zu einer Tür, die sie öffnete. Sie betätigte einen Lichtschalter an der Wand neben dem Rahmen und im nächsten Moment flackerte eine alte Lampe an der Decke auf, die das Innere des kleinen Raumes erhellte. Viel an Einrichtung war nicht in dem Zimmer – ein geräumiges Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und ein Fenster mit alten Vorhängen, gegen das unablässig der Regen prasselte. Auf dem Boden lag ein alter, an manchen Stellen beschädigter Teppich. Die Wände waren in einem schmutzigen Grünbraun tapeziert. Nicht unbedingt ein Hotelzimmer, dachte Feinberg, aber für die Nacht sollte es wohl reichen.
„Das Bad ist übrigens direkt gegenüber“, sagte Miss Hartnell. „Im Schrank finden sie auch einen Schlafanzug. Mein Zimmer ist nebenan, wenn sie etwas brauchen sollten. Ich werde auch noch einige Zeit wach sein und lesen.“
„Danke für alles“, sagte Feinberg höflich und fügte hinzu: „Was lesen Sie denn so?“
„Oh, dies und das“, sagte Miss Hartnell unbestimmt. „Ich mag Geschichten von fernen Welten und Abenteuern. Aber ich lese auch sehr gerne Sachbücher zu Themen, die mich interessieren.“
„Wie was denn zum Beispiel?“
„Alles Mögliche. In letzter Zeit habe ich wohl ein gesteigertes Interesse für Psychologie.“
„Das klingt interessant.“
„Das ist es auch. Es ist wirklich erstaunlich, was alles im menschlichen Geist vorgeht – man bemerkt Vieles gar nicht. Da fällt mir ein“, fügte Sie hinzu, „was machen Sie eigentlich beruflich?“
„Ich arbeite für eine Werbeagentur. Tatsächlich war ich gerade erst auf einem Kongress und sollte ab morgen eigentlich Urlaub haben, aber dann…“
„… haben Sie sich verfahren“, beendete Miss Hartnell den Satz.
„Ja, genau.“
Feinberg runzelte die Stirn.
„Moment mal. Hatte ich Ihnen das erzählt?“
„Dass Sie sich verfahren hatten? Ja, hatten Sie. Wieso?“
„Nichts, ich dachte nur… Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das getan hatte. Aber ich nehme an, dass es wohl so war. Bin wahrscheinlich nur überarbeitet.“
Miss Hartnell lachte.
„Dann sollten Sie wohl ein wenig schlafen“, sagte sie. „Sicherlich sind sie ein wenig müde.“
„Da haben Sie sicherlich recht. Äh… Eine Frage noch, da ich sehe, dass in der Tür ein Schlüssel steckt: Stört es Sie, wenn ich abschließen würde?“
Feinberg bereute es sofort, diese Frage gestellt zu haben, denn Miss Hartnells Gesicht schien sich ein wenig zu verziehen. Für einen Moment glaubte Feinberg, ein seltsames Funkeln in ihren schönen Augen aufblitzen zu sehen. Doch in der nächsten Sekunde lächelte sie wieder freundlich, wenn auch leicht verwirrt.
„Warum sollten Sie das tun wollen?“, fragte sie.
„Nun, wegen… Also, weil… Sie wissen schon, wegen…“
Feinberg wollte es nicht aussprechen und hoffte, dass seine Gastgeberin auch so verstand.
„Ach so!“, rief Miss Hartnell und ihre Miene hellte sich spürbar auf. „Wegen Tante Harriett!“
„Ja“, murmelte Feinberg verlegen. Er fühlte, wie er rot anlief.
„Braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Ich kann verstehen, dass sie Ihnen ein wenig Angst gemacht hat.“
„Naja, Angst würde ich es nicht nennen…“
„Ich schon. Sie würde sicher jedem Menschen ein wenig Angst einjagen.“
„Sagen wir einfach, dass ich nur ungern zugebe, dass ich mich vor etwas fürchte.“
„Aus Höflichkeit meiner Tante gegenüber oder weil sie noch mehr Angst davor haben, dass man sie für einen Angsthasen halten würde?“
Miss Hartnells Gesichtsausdruck war wie auch ihre Stimme schelmisch und herausfordernd
„Nun, vermutlich von beidem ein wenig“, sagte Feinberg aufrichtig und zwinkerte der jungen Frau zu, welche die Augenbrauen hob.
„Ich sollte sie wohl jetzt wirklich schlafen lassen“, meinte sie, ohne dabei verstimmt zu klingen. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
„Danke, das wünsche ich Ihnen auch, Miss Hartnell“, erwiderte Feinberg.
„Oh, nennen Sie mich doch bitte Laila“, sagte die Frau lächelnd.
„Wenn Sie mich auch Stephen nennen.“
„Das will ich gern tun. Dann also gute Nacht, Stephen.“
„Danke, Laila, das wünsche ich Ihnen ebenso.“
Miss Hartnell verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Feinberg atmete tief durch. Seltsamerweise fühlte er sich unbeschwert und glücklich. Vielleicht lag es an der jungen Frau, denn sie faszinierte ihn ungemein – sie war freundlich, hilfsbereit, hübsch und schien auch etwas im Köpfchen zu haben. Fast schon zu schade, dass er morgen wieder fort sein würde. Er seufzte, ging zum Fenster und zog die muffigen Vorhänge zu. Anschließend wandte er sich dem Schrank zu, öffnete ihn und fand inmitten zahlreicher anderer Kleidungsstücke schließlich einen frischen Schlafanzug, in den er sogleich hineinschlüpfte, während er seine eigenen Sachen zum Trocknen über den Stuhl hing. Zuletzt ging er noch zur Tür, drehte den Schlüssel herum und schaltete das Licht aus, um sich danach in das Bett zu legen. Doch als er sich in den weichen Laken zurücklehnte, hörte er ein merkwürdiges Knistern, wie von Papier, das jemand zerknickt – es schien von unter seinem Kopfkissen zu kommen.
Ich hoffe nur, dass ich das noch bis zum Ende der Aktion fertig gestellt bekomme, langsam wird es schon ein wenig eng. Nun, wenigstens stört mich mein Mitbewohner nicht, weil er noch im Urlaub ist. Wir sind zusammen ein wenig durchs Land gefahren, haben uns dann aber getrennt, weil ich nach Hause wollte und er… Nun, er wollte noch ein wenig wandern. In einem Wald. Jedenfalls ist es dadurch auch ein wenig einsam in der Wohnung geworden. Ich sollte… Moment.
…
…
…
Tschuldigung, ich dachte, ich hätte aus seinem Zimmer ein Geräusch gehört. Manchmal glaube ich fast, er ist noch da, aber das ist natürlich unmöglich. Wie dem auch sei, zurück zur…
…
…
Ist das…
Feinberg griff langsam mit der Hand unter das Kissen und spürte sogleich einen schneidenden Schmerz im Finger. Er fluchte, zog die Hand wieder weg und steckte sich den blutenden Zeigefinger in den Mund. Am Papier geschnitten, dachte er zornig, dümmer geht es nicht mehr.
Im nächsten Augenblick wunderte er sich aber aufs Neue darüber, dass überhaupt Papier unter seinem Kopfkissen lag. Vorsichtig tastete er wieder danach und holte es hervor. In der Dunkelheit konnte er jedoch nicht viel erkennen, also stand er auf, ging zum Schalter neben der Tür und knipste das Licht wieder an. Es dauerte kurz, bis er sich nach der Dunkelheit wieder an den hellen Schein der Lampe gewöhnt hatte, doch sobald er auf das weiße Papier sah, erstarrte er. Dort stand, mit etwas geschrieben, das verdächtig nach Blut aussah, ein einziges Wort:
Feinberg klappte der Mund auf. Einen Moment starrte er nur auf das Blatt Papier, dann entglitt es seinen zitternden Fingern. Es schwebte zu Boden und blieb mit der beschrifteten Seite nach oben liegen, ganz so, als sollte er diese Botschaft auch weiterhin sehen. Feinberg trat einen Schritt rückwärts, sein Atem ging schnell und auf seiner Stirn war kalter Schweiß ausgebrochen.
Halt, dachte er, ruhig bleiben, immer ruhig bleiben.
Er atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. In diesem Haus wohnten – nach allem, was er wusste – zwei Frauen. Eine von ihnen musste diesen Zettel unter sein Kopfkissen gelegt haben, eine andere Erklärung gab es nicht. Aber welche von ihnen war es? Mrs McGann hatte offenbar etwas gegen Besucher und kein Problem damit, ihnen Angst einzujagen. Aber so etwas? Und warum war sie überhaupt so feindselig? Dann war da noch Miss Hartnell. Ein hübsches, kluges und unschuldiges Geschöpf – fast schon zu unschuldig, könnte man meinen. Aber warum sollte sie ihn so freundlich behandeln und dann diese Nachricht in seinem Zimmer platziert haben? War das ein makabrer Scherz?
Doch es half nichts. Diese Fragen konnte er nicht beantworten – es sei denn, er würde mit einer der beiden sprechen. Mit einem Mal befiel ihn aber wieder eine tiefe Müdigkeit. Nein, es war nicht mehr die Zeit, um mit irgendjemandem darüber zu reden. Feinberg hob den Zettel auf und legte ihn so auf den Schreibtisch, dass er die Nachricht nicht mehr sehen musste. Anschließend ließ er sich wieder aufs Bett fallen, allerdings war er noch viel zu aufgewühlt, um direkt einschlafen zu können. Erst nach etwa anderthalb unruhigen Stunden fielen ihm vor Müdigkeit und Erschöpfung die Augen zu.
Entschuldigen sie den Abbruch von vorhin, ich hatte wohl irgendetwas wie ein Stöhnen gehört. Aber vielleicht kam es aus der Nachbarwohnung… Nein, halt, da wohnt gerade keiner. Vielleicht kam es von oben – doch da ist eigentlich nur noch der Trockenboden, da wohnt also auch keiner. Merkwürdig. Aber eigentlich ist das auch gleichgültig, nehme ich an.
Wissen Sie, es war mir zu dumm, ganz alleine in meiner Wohnung zu sein. Daher habe ich mir jetzt einen Goldfisch in einem Aquarium gekauft, der mir ein wenig Gesellschaft leisten soll. Allerdings starrt mich Fischileinchen – wie ich meinen neuen Mitbewohner genannt habe – nur unablässig und vorwurfsvoll an. Außerdem knarrt der Boden in der Wohnung schlimmer denn je, das zermürbt allmählich meine Nerven.
Gestern war das Bett meines Mitbewohners durchwühlt, als habe jemand darin geschlafen. Aber in dieser Wohnung ist niemand außer mir – und Fischileinchen natürlich. Vielleicht hat er sich gegen mich verschworen, der kleine Hai. Ich glaube, ich muss ihn wieder loswerden, nur wie soll ich das anstellen, ohne Spuren zu hinterlassen?
Als Feinberg aufwachte, flutete fahles Licht durch den Spalt in den Vorhängen und erleuchtete notdürftig das Zimmer. Noch immer war das Trommeln der Regentropfen gegen die Fensterscheibe zu hören. Mit einem Gähnen richtete sich Feinberg auf, ging zum Fenster und öffnete die Vorhänge. Er sah, wie der Regen langsam die Fensterscheibe herunterlief und die Sicht nach draußen etwas verzerrte, was jedoch kein allzu großer Verlust war: Ein dichter Nebel verschluckte die Sicht auf alles, was mehr als fünfzig Meter entfernt lag und das Wenige, was man erkennen konnte, bestand in einem schlammigen Boden, durch den sich die kleine Straße zog, über die Feinberg hierhergekommen war und in vereinzelten Bäumen, deren kahle und schwarze Äste wie verrenkte Glieder abstanden. Der VW stand immer noch da, wo Feinberg ihn gestern abgestellt hatte, verdreckt und schlammverschmiert.
Plötzlich fiel Feinberg etwas ein. Er drehte ruckartig den Kopf zum Schreibtisch. Der Zettel von gestern Abend lag immer noch da. Zögerlich griff er danach, um die Botschaft zu lesen – und keuchte erschrocken, als er sah, was da stand:
Das ist doch nicht möglich, dachte Feinberg, das kann nicht sein!
Aber da stand das Wort, unauslöschlich, dauerhaft, ohne die geringste Spur, dass die vorherige Botschaft überhaupt existiert hatte. Feinberg rannte zur Tür und drückte die Klinke herunter. Abgeschlossen, doch der Schlüssel steckte nicht mehr im Schloss, sondern lag auf dem Boden. Irgendjemand musste diese Nacht in seinem Zimmer gewesen sein, um die Nachrichten auszutauschen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Der Zettel von gestern hatte nicht nur eine andere Botschaft getragen, er war auch leicht zerknittert gewesen, weil er sich ja zuerst auf ihn gelegt hatte – ganz im Gegensatz zu diesem neuen Zettel.
Feinberg besah sich das Türschloss. Es war so beschaffen, dass man den innen steckenden Schlüssel von außen mit etwas wie einem Schraubenzieher herausdrücken und die Tür dann mit einem Zweitschlüssel öffnen konnte. Das war Feinberg ganz und gar nicht geheuer. Nette Gastgeberin hin oder her, das war bei weitem kein kleiner Scherz mehr. Feinberg beschloss, diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen. Irgendjemand würde herkommen müssen, um seinen Wagen zu reparieren oder abzuschleppen oder aber ihn selbst wenigstens in die nächste Stadt zu fahren.
Moment mal… In die Stadt fahren…
Feinberg rannte wieder zum Fenster und starrte nach draußen. Dort stand nur sein Auto. Kein Wagen, mit dem die beiden Frauen hierhergekommen waren oder vielleicht mal wegfuhren, um Lebensmittel einzukaufen. Allerdings konnte er nur die Vorderseite des Hauses einsehen. Vielleicht stand ja hinter dem Haus ein Fahrzeug. Er beschloss, bei Gelegenheit danach zu fragen.
Erst einmal zog er sich jedoch seine mittlerweile wieder trockene Kleidung an und verstaute den Zettel mit der Nachricht in der Innentasche seines Anzugs. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet, dass es viertel vor neun war. Er schloss seine Tür auf, trat auf den Flur und stieß fast mit Miss Hartnell zusammen.
Ich habe letzte Nacht wirklich gar nicht gut geschlafen, denn ich hatte einen ziemlich üblen Albtraum: Ich lag ganz normal in meinem Bett, als plötzlich irgendjemand – oder irgendetwas – gegen meine Tür gehämmert und laut geschrien hat. Wirklich, mir klingeln jetzt noch die Ohren. Es war eine unerträgliche Stimme, ein lautes schrilles Stöhnen. Hörte sich fast an, als würde er im Sterben liegen. Irgendwann hat es aufgehört und ich bin aufgewacht - aber ich fühle mich, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Die Eltern meines Mitbewohners haben mich heute Mittag angerufen und gefragt, ob ich wüsste, wo er ist, weil er nicht an sein Handy geht. Ich habe ihnen natürlich gesagt, dass er noch im Urlaub ist – soweit ich weiß, jedenfalls. Sie schienen nicht wirklich beruhigt, obwohl es tatsächlich schon öfter vorgekommen ist, dass er abgehauen ist, ohne ihnen etwas zu sagen.
Ich habe mit dem Gedanken gespielt, Fischileinchen zu verschenken, aber das ist ein zu großes Risiko. Er weiß zu viel und könnte etwas ausplaudern.
„Oh, guten Morgen“, sagte Miss Hartnell fröhlich. Sie trug ein hübsches Kleid, das eigentlich gar nicht zur Jahreszeit passte.
„Guten Morgen, Miss… Äh, ich meine: Guten Morgen, Laila“, erwiderte Feinberg.
Die junge Dame lächelte, als er ihren Vornamen benutzte.
„Wenn Sie wach sind, können wir ja gleich frühstücken“, meinte sie.
„Das würde mich freuen, danke. Ich muss nur vorher einmal das Bad benutzen.“
„Oh, aber natürlich. Wir sehen uns dann gleich.“
„Ja.“
Miss Hartnell entschwand über den Zimmerflur und Feinberg wurde bewusst, dass er sie nicht nach der Nachricht gefragt hatte, die in der Innentasche seines Anzugs steckte. Vielleicht hätte er es tun sollen, wobei… Es war eigentlich nicht der richtige Zeitpunkt, denn es endete meist übel, wenn man den Tag mit einer Konfrontation begann. Nach dem Frühstück vielleicht, ganz beiläufig. Andererseits – nachdem er sich jetzt wieder etwas beruhigt hatte, kam ihm das alles irgendwie auch weniger gravierend vor. Vielleicht lag es an der Unbeschwertheit, die die junge Dame ausstrahlte. Diese Gedanken gingen Feinberg durch den Kopf, während er sich im Bad aufhielt und es mehr nebenbei betrachtete. Spärlich eingerichtet, hatte es nur eine Toilette, einen Badezimmerschrank, ein Waschbecken mit Handtuchständer und eine Dusche. Seufzend verließ Feinberg das Bad und zuckte zusammen, denn vor ihm im Gang stand die alte Mrs McGann.
„Na, endlich“, fauchte sie und drängte sich an ihm vorbei. „Eine Unverschämtheit, das einzige Bad im Haus so lange zu blockieren!“
Sie schlug die Tür zu, ehe Feinberg etwas erwidern konnte. Dieser beschloss, besser nicht zu warten, bis sie wieder herauskam und begab sich schnellen Schrittes ins Erdgeschoss. Er hörte ein Klimpern wie von Tellern und Besteck, folgte den Geräuschen und gelangte so schließlich ins Esszimmer, in dem Miss Hartnell gerade damit fertig wurde, den Tisch zu decken.
„Die Brötchen sind leider nur Aufbackbrötchen“, sagte sie entschuldigend. „Frische wären natürlich besser, aber so weit draußen…“
„Oh, gar kein Problem“, winkte Feinberg ab. „Allerdings habe ich mich bereits gefragt, wie sich überhaupt versorgen. Haben Sie überhaupt ein Auto, mit dem Sie in die nächste Stadt fahren können?“
„Nein, haben wir nicht“, sagte Miss Hartnell. „Wir lassen uns alles liefern, was wir brauchen.“
„Verzeihung, aber das klingt etwas umständlich.“
„Oh, überhaupt nicht. Ohne Auto können wir ja auch gar nicht weg.“
„Gar nicht? Nicht einmal… Keine Ahnung, in den Urlaub oder…“
„Nein. Ich habe fast mein ganzes Leben nur hier verbracht.“
Ihre Stimme hörte sich ein wenig verbittert an, als sie das sagte. Sie starrte aus dem Fenster, ihre Augen wurden ein wenig glasig.
„Es war ja ursprünglich nur ein Urlaub hier, wissen Sie, Stephen? Aber dann sind währenddessen meine Eltern gestorben und ich hatte nur noch Tante und Onkel, die hier wohnten… Damals war in der Nähe ein Sägewerk, das jetzt aber schon seit Jahren stillgelegt ist. Ich bin immer gerne in den Wald gegangen und habe da gespielt und mir vorgestellt, wie es wohl überall auf der Welt aussieht. Aber das weiß ich auch heute immer noch nur aus Büchern…“
„Das muss frustrierend sein. Warum … fahren Sie nicht einfach irgendwohin weg?“
„Weil es nicht geht…“
Feinberg runzelte die Stirn. Es war, als würde Miss Hartnell nicht mehr die Welt um sie herum sehen. Ihre Augen hatten sich nach innen gerichtet und die Art wie sie sprach, war seltsam und endgültig. Ihre Lippen umspielte ein merkwürdiges Grinsen, das auf unbestimmte Weise freudlos wirkte.
„Warum geht es nicht?“, fragte Feinberg vorsichtig und mit sichtlichem Unwohlsein.
Miss Hartnell zuckte heftig zusammen.
„Wegen Tante Harriett“, sagte sie hastig. „Sie … braucht mich, verstehen Sie?“
„Ganz genau“, ertönte eine krächzende Stimme. Nun erschrak auch Feinberg.
„Tante!“, rief Miss Hartnell überrascht.
„Schon will er dich mir wegnehmen“, sagte die alte Frau, die im Türrahmen aufgetaucht war.
„Hör auf, so etwas zu sagen!“, wies Miss Hartnell die alte Frau zurecht. „Er hat nichts dergleichen gesagt und du weißt sowieso, dass…“
„Ja?“
Miss Hartnell biss sich auf die Lippe.
„Halte dich einfach da raus“, sagte sie und der Anflug einer Drohung schwang in ihrem Tonfall mit, was Feinberg einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Ihre Augen funkelten angriffslustig.
„Wie du meinst“, erwiderte Mrs McGann ihren Blick. Eine angespannte Stille trat ein, in der die beiden sich einfach nur anstarrten, dann rührte sich Miss Hartnell. Sie lachte hell, wie um den unangenehmen Augenblick zu überspielen, doch in Feinbergs Ohren klang es gekünstelt.
„Entschuldigen Sie bitte, Stephen“, sagte Miss Hartnell. „Ich hoffe, Sie… Naja, also wir streiten eigentlich nicht so oft…“
Ihr Lächeln war so breit, dass es geradezu unheimlich wirken konnte. Feinberg räusperte sich.
„Oh, machen Sie sich keine Gedanken“, sagte er betont freundlich, aber mit äußerst belegter Stimme.
„Wir sollten wohl einfach frühstücken“, sagte Miss Hartnell zerstreut. Mit schlafwandlerischen Bewegungen ließen sich die drei am runden Esstisch nieder, mit maximalem Abstand zueinander. Jeder schien die jeweils anderen aufmerksam bis misstrauisch zu beäugen. Viel gesprochen wurde nicht, auch wenn Miss Hartnell sich gelegentlich bemühte, ein Gespräch anzustoßen. Feinberg fiel etwas Merkwürdiges auf: Miss Hartnell schien gar nichts essen zu wollen. Sie hob nur gelegentlich ihre Kaffeetasse an die Lippen, aber sie nahm nicht einen Bissen zu sich. Feinberg selbst konnte es ihr aber eigentlich auch nicht verübeln – er hatte ebenfalls keinen großen Hunger und schaffte daher nur ein kleines gebuttertes Brötchen. Nachdem er damit fertig war, wartete er noch kurz, doch offenbar wollte keiner der beiden Damen die Runde auf irgendeine Art auflösen.
Er hustete künstlich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
„Ähm, also… Ich möchte nicht drängen, aber… Nun, ich will Sie nicht länger als nötig belästigen, daher würde ich jetzt mit Ihrer Erlaubnis vielleicht gerne versuchen, jemanden zu erreichen, damit mein Wagen repariert wird oder ich hier abgeholt werden kann.“
Miss Hartnell sprang auf.
„Aber selbstverständlich“, sagte sie eifrig. „Wenn Sie mir einfach folgen möchten, das Telefon steht im Wohnzimmer.“
Feinberg erhob sich und ging mit ihr zusammen in das Wohnzimmer, welches wie wahrscheinlich jeder Raum in diesem Haus eher karg eingerichtet war, aber dennoch unerwartet gemütlich wirkte. Ein altes und bequem aussehendes Sofa stand an der Wand mit einem alten Fernseher auf einem Tisch direkt gegenüber. Vier kleine Gemälde zierten die Wände des Raumes und zwei Bücherregale zeugten von der Vielfalt der Themen, über die Miss Hartnell las. Auf einer Kommode schließlich stand ein geradezu antikes Telefon mit Wählscheibe.
„Danke“, sagte Feinberg und griff nach dem Hörer. Er wählte die Nummer des Service seines Automobilclubs und wartete, dass jemand abhob. Es brauchte zwei Sekunden, bis er bemerkte, dass nicht einmal ein Freizeichen ertönte. Tatsächlich hörte er gar nichts.
„Die Leitung ist tot“, sagte er.
„Oh…“
Miss Hartnell machte ein trauriges Gesicht.
„Das tut mir schrecklich leid. Aber wissen Sie, in zwei Tagen kommt der Mann, der uns mit Lebensmitteln und Büchern versorgt und dann…“
„Zwei Tage?!“, unterbrach Feinberg sie harsch.
Sie wich seinem Blick aus.
„Wie gesagt, es tut mir leid…“
Sie klang verzweifelt und Feinberg schämte sich plötzlich ein wenig.
„Tut mir leid“, sagte er und rieb sich die Augen, „Sie können ja nichts dafür, Laila.“
Er dachte kurz nach, dann fragte er: „Wann haben Sie zuletzt telefoniert?“
„Das… Das war wohl vor einigen Tagen. Ich habe unserem Lieferanten den Titel eines Buchs durchgegeben, das ich haben wollte.“
„Verstehe… Und in der Zwischenzeit bis heute ist also die Leitung zusammengebrochen…“
„Es ist ein sehr altes System.“
„Ja, das glaube ich auch.“
Feinberg lachte bitter.
„Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich hatte nicht vor, meinen Urlaub hier zu verbringen.“
„Das glaube ich gerne.“
„Also“, sagte Feinberg, „dann muss ich wohl einfach zwei Tage hier noch ausharren. Könnte deutlich schlimmer sein, glaube ich.“
Schlimmer… Ja, es wird irgendwie schlimmer. Diese Geräusche… DIESE VERDAMMTEN GERÄUSCHE! Wissen Sie, wie viel Schlaf mich die mittlerweile kosten? Jetzt knarrt es nicht nur, jetzt kommen auch Schreie und Stöhnen hinzu… Entweder werde ich verrückt oder irgendwas… Nun, das ist absurd. Jedoch – Fischileinchen ist weg. Ich habe keine Ahnung, wohin er verschwunden ist, er war einfach eines Morgens nicht mehr in seinem Aquarium. Ich dachte eigentlich, dass das mit den Geräuschen alles seine Schuld war – es hat hier ja alles erst wirklich angefangen, nachdem ich ihn gekauft hatte. Oder war das nur Zufall? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist er fort und ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Es kann doch niemand außer mir in die Wohnung, mal ganz davon abgesehen, dass ich inzwischen die Tür immer abschließe und das auch kontrolliere.
Feinberg sah aus dem Fenster. Der Regen hatte endlich aufgehört, was ihn auf eine andere Idee brachte.
„Hören Sie, ich will vielleicht mal sehen, ob ich herausfinde, was mit meinem Auto verkehrt ist, wo es gerade nicht regnet. Ich bin natürlich kein Experte für eine Wagenreparatur, aber versuchen kann ich es ja.“
„Sicher“, sagte Miss Hartnell.
Feinberg ging also zur Haustür, schlüpfte in seine immer noch von gestern dreckigen Schuhe und trat nach draußen. Es war ziemlich kalt draußen, wenn auch noch deutlich über dem Gefrierpunkt. Feinberg fröstelte es, noch bevor er das Auto erreicht hatte. Vielleicht lag das aber gar nicht an der Temperatur – diese Umgebung mit dem schwarzen Haus und den düsteren Bäumen mit den verkrüppelten Zweigen verursachte bei ihm einfach eine Gänsehaut. Passend dazu hörte er in der Ferne eine Krähe laut schreien.
Zunächst setzte Feinberg sich in seinen Wagen und versuchte mehrere Male, ihn zu starten – erfolglos. Anschließend öffnete er die Motorhaube und versuchte zu ergründen, ob irgendetwas beschädigt schien. Doch er fand nichts und war daher schnell mit seinem Latein am Ende. Das war einfach nichts für ihn. Seufzend schloss er seinen Wagen wieder ab und wandte sich dem Haus zu.
Bevor er jedoch die Tür erreicht hatte, fiel ihm etwas ein. Er drehte sich nach links und wanderte einmal um das Haus herum. Tatsächlich, es gab keine Garage und keinen Wagen. Er war also nicht angelogen worden. Dennoch konnte er es nicht so recht glauben: Jemand, der so abgelegen wohnte, musste doch einen Wagen haben, falls mal irgendein Notfall eintrat, falls man mal dringend und schnell von hier fortmusste. Aber da war nichts – anscheinend lebten die beiden Damen hier wirklich in annähernd perfekter Isolation. Etwas Anderes sprang Feinberg jedoch ins Auge – ein Trampelpfad, der zwischen den Bäumen hindurchführte.
„Wollen Sie einen Spaziergang machen?“
Feinberg sprang vor Schreck fast in die Luft, bevor er sich ruckartig umdrehte.
„Oh, Laila, Sie sind es. Bitte, erschrecken Sie mich doch nicht so.“
Miss Hartnell lächelte entschuldigend. Sie hatte sich gegen die Kälte einen Mantel übergeworfen.
„Tut mir leid. Ich hatte nur durch ein Fenster zufällig gesehen, dass Sie offenbar die Gegend erkunden.“
„In gewisser Weise, ja.“
„Dieser Pfad führt übrigens zum alten Sägewerk. Ich sagte ja, dass es stillgelegt worden ist.“
„Ja, das taten Sie… Wann war das eigentlich genau?“
„Das muss wohl gewesen sein, als ich zehn war, glaube ich… Meine Eltern waren da schon seit drei Jahren tot. Es wurde geschlossen weil, nun… Tante Harrietts Mann war der Besitzer gewesen und er ist dann auch gestorben. Es war ein Autounfall. Einige Leute verloren ihre Arbeit und waren unfassbar wütend.“
Ein kalter Wind frischte auf und ließ die Bäume rundherum knarzen und ächzen. Feinberg schüttelte sich ein wenig.
„Es ist kalt“, sagte er. „Ich werde wohl besser wieder hereingehen.“
„Ich komme mit.“
Als sie wieder an der Eingangstür waren, kam Feinberg noch ein Gedanke. Er entschuldigte sich kurz, ging zum Auto und holte seine Aktentasche heraus. Er würde mit irgendetwas die Zeit totschlagen müssen, da konnte er genauso gut auch ein wenig arbeiten.
Wieder im Haus zog er sich auf sein Zimmer zurück, setzte sich an den Schreibtisch und ging ein paar Unterlagen durch. Gelegentlich während des Tages kam Miss Hartnell zu ihm und fragte, ob er irgendetwas brauchte. Obwohl das sehr nett von ihr war, verneinte Feinberg stets, da er im Stillen beschlossen hatte, keiner der beiden Bewohnerinnen zu nahe zu kommen. Immer wieder dachte er an die beiden seltsamen Nachrichten, die er erhalten hatte und mit denen er noch niemanden konfrontiert hatte, auch wenn er nicht genau wusste, warum. Ihn beschlich nur das schwer abzulegende Gefühl, dass dafür einfach noch nicht die richtige Zeit gekommen war.
Am späten Nachmittag schließlich – es dämmerte bereits – klopfte es ein weiteres Mal an seine Tür.
„Ja, bitte?“, rief Feinberg, darauf gefasst, Miss Hartnell zu sehen, doch überraschenderweise war es Mrs McGann, die sein Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Jäh bekam er es ein wenig mit der Angst zu tun, doch zu seiner Verblüffung wirkte die alte Dame ausnahmsweise nicht feindselig.
„Hören Sie“, sagte sie eindringlich, „Sie müssen von hier fort, Sie müssen einfach!“
Feinberg machte eine ziemlich verdutzte Miene.
„Pardon?“, fragte er. „Ich fürchte, ich verstehe nicht…“
„Eben! Sie verstehen nicht, wie könnten Sie auch, Sie haben ja keine Ahnung, was…“
Sie brach ab, ihre Miene geradezu verzweifelt.
„Sie dürfen nicht hierbleiben… Wenn Sie es doch tun, dann… Laila… Sie dürfen ihr nicht zu nahe kommen, Sie müssen…“
Ihr Gestammel ergab in Feinbergs Ohren keinen Sinn.
„Mrs McGann, wenn Sie wünschen, dass ich das Haus verlasse, kann ich Ihnen wohl kaum widersprechen, aber wo sollte ich denn sonst hin? Mein Auto springt nicht an, mein Handy hat hier kein Netz, ihr Telefon ist offenbar auch nicht funktionstüchtig und in der Nähe ist offenbar auch sonst niemand, der mir helfen könnte, da bei allem Respekt Ihr Haus nun einmal sehr abgelegen steht.“
„Offenbar nicht abgelegen genug“, stöhnte Mrs McGann. „Warum wollen Sie nicht weg, wo doch sogar… I-Ich meine…“
Sie sah weg und Feinberg begriff plötzlich. Er zog das Blatt Papier aus der Innentasche seines Anzugs.
„Das haben Sie geschrieben, oder?“
Mrs McGann nickte stumm.
„Die andere Nachricht auch?“
Wieder nickte sie.
„Aber warum?“
„Weil Sie nicht hierbleiben dürfen! Aber… Bitte, sagen Sie nicht, dass ich das gemacht habe, ja? Bitte, ich kann nicht… Sie würde…“
Schritte ertönten. Instinktiv ließ Feinberg den Zettel wieder in seine Tasche gleiten.
„Hier bist du also, Tante“, sagte Miss Hartnell, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. „Ich habe dich schon gesucht.“
„Ich sage es Ihnen noch ein letztes Mal!“, keifte Mrs McGann plötzlich, „Verschwinden Sie von hier!“
Sie drehte sich um und stolzierte aus dem Zimmer heraus. Feinberg blieb verdutzt zurück, sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
„Worüber hat sie denn mit Ihnen geredet?“, fragte Miss Hartnell unschuldig lächelnd.
„Oh“, sagte Feinberg langsam. „Das Übliche, wissen Sie… Ich soll abhauen…“
„Das scheint Sie sehr mitgenommen zu haben. Ist sie laut geworden?“
„Ja, ziemlich. Das haben Sie doch gehört.“
„Das habe ich, nur seltsamerweise war das erst der Fall, als ich hier in das Zimmer kam. Man sollte doch meinen, dass ich sie schon früher hätte hören müssen, oder nicht?“
„Sie… Sie hat auch erst dann wirklich geschrien.“
„Sicherlich. Und ich nehme an, das hat keine tiefere Bedeutung.“
Miss Hartnells Lächeln wurde breiter. Feinberg starrte sie an und versuchte zu ergründen, was in diesem Lächeln verborgen lag.
„Trinken Sie gerne Weißwein?“, fragte Miss Hartnell völlig unvermittelt.
Feinberg wurde unruhig. Warum fragte sie so spezifisch nach Weißwein?
„Roter ist mir lieber“, sagte er zögerlich.
„Das trifft sich ausgezeichnet, ich wollte gerade eine Flasche öffnen. Es ist doch schön, mit einem Glas Wein vor dem Kaminfeuer zu sitzen, nicht wahr?“
„Gewiss, und ich danke ihnen für das Angebot, aber ich wollte eigentlich…“
„Oh bitte, Stephen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisten würden.“
„Ähm, ich, also… Ja, gut…“
„Danke, das freut mich“, sagte sie mit sichtlicher Genugtuung. Notgedrungen stand Feinberg auf und folgte ihr. Als sein Blick auf die Badezimmertür fiel, durchzuckte es ihn wie ein Blitz. In seinem Kopf hallte Miss Hartnells Stimme wieder, wie sie sich am vorigen Abend entschuldigte.
Ich habe gerade ein Bad genommen…
Hinzu kam Mrs McGanns Stimme, die ihn wütend anschrie.
Eine Unverschämtheit, das einzige Bad im Haus so lange zu blockieren!
Ein einziges Bad im Haus. Aber ohne Badewanne. Was bedeutete, dass Miss Hartnell gelogen hatte. Nur warum hatte sie das getan? Wenn sie geduscht hatte, hätte sie das doch auch einfach sagen können. Es sei denn, dass ihr Haar nicht vom Waschen nass war, sondern...
Weil sie draußen war.
Das Auto war nicht angesprungen, bevor er einmal an die Tür geklopft hatte. Erst danach hatte es Probleme gegeben. War Sie etwa nach draußen gegangen, während er an der Tür gewesen war und hatte schnell das Auto manipuliert? Aber das Haus hatte keinen anderen Ausgang, soweit er es gesehen hatte.
Das Telefon hatte nicht funktioniert…
Hatte sie die Leitung vielleicht selbst sabotiert?
„Sie wirken sehr nachdenklich“, hörte er Miss Hartnells Stimme wie aus großer Ferne.
„Ich…“
Er durfte sich nichts anmerken lassen.
„Ich bin nur noch beschäftigt mit einem kleinen Problem, das meine Agentur hatte.“
„Wirklich? Was denn für eins?“
„Äh…“, begann Feinberg lahm und versuchte, etwas zu erfinden, doch es wollte ihm nichts einfallen.
„Darüber darf ich leider nicht reden“, schloss er mit gespieltem Bedauern.
„Natürlich, natürlich“, erwiderte Miss Hartnell.
Ich weiß nicht mehr, was genau hier los ist. Bisher waren es wohl akustische Halluzinationen, aber nun… Ich wache auf, und es klebt Blut an meinen Händen. Ich blinzele, und es ist weg. Irgendwann ist es dann wieder da. Das Zimmer meines Mitbewohners war gelegentlich von innen abgeschlossen und dann wieder offen. Sein Fernseher geht manchmal an und zeigt dann nur Rauschen. Vergessen Sie bitte mal kurz die Geschichte mit diesem Kleinzwerg, oder wie auch immer ich ihn genannt habe. Es gibt jetzt Wichtigeres, worum Sie sich sorgen können. Mich zum Beispiel, denn allmählich glaube ich doch, dass mich irgendjemand bedroht. Ich verstehe nur nicht, warum. Ich habe nie jemandem etwas zuleide tun wollen. Ach ja: Raten Sie mal, wer gestern wieder da war: Fischileinchen. Er schwamm in seinem Aquarium. Nur dass er tot war. Es tut mir leid für ihn, auch wenn ich wohl gelegentlich unfair zu ihm war. Wer hat ihn bloß ermordet?
Im Esszimmer stand eine geöffnete leere Flasche Wein und daneben eine Karaffe mit dem roten Inhalt. Miss Hartnell goss in zwei Gläser etwas von der Flüssigkeit und reichte Feinberg eines davon. Dieser sah sich allerdings außerstande, etwas davon zu trinken.
Miss Hartnell nippte an ihrem Glas und zog die Augenbrauen hoch.
„Möchten Sie nicht probieren, Stephen?“, fragte sie.
„Doch, doch“, versicherte Feinberg und probierte ein wenig. Er schmeckte das Getränk jedoch kaum, dafür war er gerade viel zu angespannt. Er rief sich alle bisherigen Unterhaltungen mit Miss Hartnell und ihrer Tante wieder in den Kopf. Steckte irgendwo in alldem vielleicht noch etwas, was er übersehen hatte?
Sein Blick fiel auf die Tür zum Wohnzimmer. Dort drin befanden sich Regale mit Büchern zu allen möglichen Themen. Miss Hartnell hatte sich erst vor wenigen Tagen ein Buch bestellt, das hatte sie gesagt.
„Was für ein Buch haben Sie sich eigentlich bestellt?“, fragte Feinberg und sah Miss Hartnell scharf an.
„Wie bitte?“, fragte diese verdutzt.
„Das hatten Sie mir gegenüber erwähnt, nachdem wir festgestellt hatten, dass das Telefon kaputt war. Dass sie sich ein Buch bestellt hätten, bei ihrem Lieferanten.“
„Ach, das meinen Sie. Es war Eine Einführung in die Logik, kennen Sie das?“
„Nein.“
„Wie dem auch sei, das habe ich mir bestellt.“
„Und wo haben Sie von dem Buch gehört oder gelesen?“
„Wie meinen?“
„Wenn man ein Buch bestellt, muss man ja wohl zumindest wissen, dass es existiert. Wo haben Sie also den Titel des Buches her?“
Miss Hartnell biss sich auf die Lippe und Feinberg betrachtete sie dabei aufmerksam, während er zugleich einen Schluck von seinem Wein trank.
„Ich…“, begann Miss Hartnell. „Es war…“
„Ja?“
„Es war… im Internet.“
„Aha. Und warum konnte ich dann nicht auf dem gleichen Weg auch jemanden herbeirufen?“
Feinberg sprach eindringlich. Vielleicht lag es am Wein – er vertrug eigentlich nicht viel Alkohol – aber er fühlte sich mit jedem Wort mutiger und sah mit Genugtuung, wie Miss Hartnell seinem Blick auswich.
„Es funktioniert gerade nicht“, sagte sie.
„Inwiefern?“
„Probleme mit der Verbindung.“
„Warum haben Sie es nicht einmal als Möglichkeit erwähnt?“
„Weil es keine war, wie ich Ihnen gerade sagte.“
Ihre Stimme klang nun äußerst ungehalten., wurde jedoch in der nächsten Sekunde eine wenig weicher, als sie Feinberg zuckersüß zulächelte und sagte: „Trinken Sie doch noch ein wenig von dem Wein. Er ist gut, oder?“
Feinberg stellte sein Glas so heftig auf den Tisch, dass ein Teil seines Inhalts verschüttet wurde.
„Schluss mit den Spielchen“, sagte er. „Ich will wissen, was hier jetzt los ist. Sie halten mich hier fest, nicht wahr? Sie haben meinen Wagen sabotiert!“
„Sie sind paranoid, Stephen“, sagte Miss Hartnell verächtlich. „Warum sollte ich das tun?“
„Sagen Sie es mir.“
Miss Hartnell lachte, ein eiskaltes, spöttisches und grausames Lächeln, das Feinberg wieder eine Gänsehaut einjagte.
„Sie hätten einfach mitspielen können“, sagte sie, das Gesicht hasserfüllt. „Einfach ein wenig trinken, die Stimmung locker werden lassen und dann… Ist lange her bei mir, wissen Sie?“
„Wie bitte?“
„Sie sind erwachsen, das muss ich Ihnen nicht erklären.“
„Äh, ich bin verheiratet…“
„LÜGEN SIE MICH NICHT AN!“, schrie sie mit schriller Stimme. „Sie tragen ja nicht einmal einen Ring.“
„Sie sind verrückt“, sagte Feinberg kopfschüttelnd.
„Wer wäre nicht verrückt nach dem, was mir passiert ist?“
„Und das wäre?“
Ich habe mich vergewissert, dass mein Mitbewohner immer noch im Urlaub ist. Wie erwartet ist er das auch, allerdings hat er die Örtlichkeit gewechselt und statt im Wald zu campen macht er jetzt eine Flussfahrt. Jedenfalls ist es seine Stimme, die mich da die ganze Nacht lang anschreit, sobald ich die Augen auch nur für einen Moment schließe. Habe die ganze Wohnung nach Lautsprechern oder Ähnlichem abgesucht (zweimal!), aber nichts gefunden. Den toten Goldfisch habe ich im Klo bestattet. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, was er vielleicht erzählt hat, bevor er umgebracht wurde. Ich wünschte, ich könnte das herausfinden, aber das ist wohl nicht möglich. Aber sei es drum, denn irgendwie glaube ich, dass ich das nicht mehr lange durchhalte und daher…
„Sie hatte einen Unfall“, ertönte eine traurige Stimme.
„Oh, hallo Tante“, sagte Miss Hartnell und kicherte. „Ich habe mich schon gefragt, wann du dich wieder einmischst.“
„Laila“, flüsterte Mrs McGann, „Es reicht jetzt, bitte. Dieser arme Mann…“
„Armer Mann?“, sagte Miss Hartnell höhnisch. „Ich kann es doch spüren, Tante. Was er will, was er sich vorstellt, was er sich erwartet. Solange ich die liebe Gastgeberin spielte, solange war er zufrieden. Ich bin mir sicher, dass die übliche Masche bei ihm funktioniert hätte. Jeder Mann will gerne die einsame und eingesperrte Prinzessin retten, nicht wahr?“
„Einen Moment“, warf Feinberg ein, „was für ein Unfall bitte?“
Doch niemand beachtete ihn.
„Und das Beste ist“, grinste Miss Hartnell, „dass du es mir nur noch leichter machst, indem du versuchst, es mir schwerer zu machen. Du spielst die unsympathische alte Tante in der Hoffnung, dass es abschreckt, aber es macht mich nur umso anziehender. Dabei betonst du auch immer gerne, dass Sie mich dir wegnehmen wollen – wann immer man den Leuten erzählt, dass sie angeblich etwas wollen, neigen sie dazu, zu widersprechen und sich entgegengesetzt zu verhalten, aus purer Sturheit. Raffiniert von dir, aber es funktioniert nicht.“
„Laila… Warum kannst du nicht einfach gehen?“, fragte Mrs McGann verzweifelt. „Dein Leben hat schon vor so langer Zeit geendet…“
„Es wurde mir genommen!“, schrie Miss Hartnell. „All die Jahre, die ich hätte leben können, weg innerhalb eines Augenblicks, weil dein Ehemann ein bescheuerter Säufer war. Er kann von Glück reden, dass ihn sein Unfall später schnell getötet hat – ich aber bin auf der Straße verblutet!“
Sie wandte sich Feinberg zu.
„Wissen Sie, wie sich das anfühlt? Natürlich tut es weh, doch das kommt ja nur von den Verletzungen. Aber während allmählich das Blut aus einem hinausläuft, wird man langsam immer schwächer und bekommt höllischen Durst, der natürlich nicht gelöscht wird. Und permanent wird man dabei von Angst begleitet, bis man wahnsinnig wird – oder aber endlich stirbt. Doch ich wollte nicht sterben, nicht eine Sekunde lang. Ich wollte diese Welt sehen und erleben, was noch auf mich wartete. Ich war natürlich nur ein Kind damals – doch wenn der Unfall etwas mit sich gebracht hat, dann war es, dass ich erwachsen wurde.“
„I-ich fürchte, ich verstehe nicht“, stammelte Feinberg. „Wenn Sie sagen, Sie seien verblutet, heißt das…“
Er wagte nicht, den Gedanken auszusprechen, so absurd und gleichzeitig erschreckend kam er ihm vor.
„Sie wurde am nächsten Tag gefunden“, sagte Mrs McGann tonlos. „Oder vielmehr, ihr Körper wurde gefunden. Tot.“
Tränen standen in ihren Augen, als sie weitersprach: „Sie war so ein lebhaftes Mädchen gewesen. Und mein Mann – er wusste, dass man es ihm irgendwann nachweisen würde, glaube ich. Er saß tagelang nur stumm da und starrte an die Wand. Sein Auto hatte ja vom Unfall auch einen gewissen Schaden davongetragen, er war nur bisher noch nicht ins Visier der Ermittler geraten. Ich konnte ihm natürlich auch unmöglich verzeihen, denn ich habe Laila wirklich geliebt wie mein eigenes Kind. Also wollte er sich stellen. Aber auf dem Weg zur Polizei in der nächsten Stadt passierte ein weiterer Unfall und er starb dabei. Er war mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum gefahren – die Polizei dachte an Selbstmord, nachdem sie ihn als mutmaßlichen Verantwortlichen des ersten Unfalls identifiziert hatten. Ich glaubte das auch, jedoch… Eines Tages stand plötzlich Laila vor meiner Haustür. Ich wäre beinahe vor Schreck gestorben, als ich sie sah. Ich hatte das Haus eigentlich verkaufen und in die Stadt ziehen wollen, aber da sie immer noch auf Erden wandelte, fühlte ich mich immer noch verantwortlich für sie, sogar mehr noch, da es ja mein Mann gewesen war, der sie getötet hatte. Also nahm ich sie wieder auf – zuerst war es tatsächlich so, als ob ich mein kleines Mädchen wiederhätte, doch nach einiger Zeit fiel es mir auf… Sie war anders. Sie wirkte kalt, verschlagen und bösartig. Ich konnte förmlich spüren, wie sehr sie mich hasste und wollte mich daher nur umso mehr um sie kümmern. Und eines Tages kam mir ein furchterregender Gedanke, nämlich dass dieser zweite Unfall eben kein Unfall gewesen war, sondern dass Laila dafür die Verantwortung trug. Es war schrecklich, aber ich sah es letztendlich ein: Das kleine, fröhliche Mädchen, das ich einst gekannt hatte, war tot, gestorben auf dieser Straße. An ihre Stelle war eine grausame Frau getreten, die jeden einzelnen Menschen allein dafür hasste, dass er ein Leben genießen konnte, welches sie nie haben konnte.“
„Und nie werde haben können“, zischte Miss Hartnell. „Alles, was ich fühle, was ich sehe, was ich höre, schmecke oder rieche – es ist ein Schatten, ein Abklatsch des Wirklichen und Lebendigen, genau wie ich. Und dennoch – ich werde es mir nehmen, weil es das Beste ist, was ich haben kann.“
Feinberg klappte der Mund auf. Es konnte nicht sein, das war unmöglich, doch hier vor ihm stand eine Frau, die von sich behauptete, ein Geist zu sein und ihre Tante, die das bestätigte.
„Was ist, Stephen?“, fragte Miss Hartnell mit gekünstelt fürsorglicher Stimme. „Geht es dir nicht gut, mein Lieber?“
Sie trat einen Schritt auf Feinberg zu, welcher so hastig zurückwich, dass er gegen die Wand stieß.
„Bitte, Laila, lass ihn in Ruhe“, flehte Mrs McGann. „Lass ihn einfach gehen!“
„Tut mir leid, Tante, aber das kann ich nicht“, erwiderte Miss Hartnell ohne auch nur einen Hauch von Gnade in ihrer Stimme. „Er weiß nun zu viel – und außerdem brauche ich wieder ein Leben. Ich bin so kurz vorm Verhungern…“
„Dann nimm meins!“, schrie Mrs McGann. „Ich ertrage es sowieso nicht mehr, jeden Tag sehe ich dich und was aus dir geworden ist…“
Sie schluchzte heftig und schien einer Ohnmacht nahe.
„Du bist zu alt, Tantchen, das bringt mir nicht viel. Er aber – er ist noch jung, er hat noch sehr viel Leben in sich…“
Feinberg, der in den letzten Sekunden versucht hatte, sich unbemerkt Richtung Tür zu bewegen, erstarrte, als sie ihn wieder direkt ansah und sich gierig die Lippen leckte.
„Nein!“ rief Mrs McGann und griff nach dem Arm ihrer toten Großnichte. Mit einem Fauchen riss diese sich jedoch los und packte ihrerseits Mrs McGann.
„Vielleicht“, flüsterte sie grinsend, „vielleicht mache ich auch einfach Beides.“
Mit diesen Worten legte sie ihre beiden Hände um die Kehle der alten Frau und drückte fest zu. Mit Entsetzen sah Feinberg, wie die alte Frau im Todeskampf zuckte und würgte, als ihr Atem und Leben abgepresst wurden. Einen Moment lang schien sie in einem weißen Licht zu glühen, dann wurden ihre Bewegungen langsamer und sie sank in sich zusammen. Ihre Nichte stieß ihren leblosen Körper verächtlich von sich weg und lachte gellend. Feinberg wollte schreien, wollte weglaufen, doch weder Beine noch Stimme wollten seinem Willen gehorchen. Ganz langsam wandte sich Miss Hartnell ihm zu. Nun sah Feinberg auch, dass ihre Umrisse zu verschwimmen begannen, sie wurden unscharf und weniger klar. Als wabernde Gestalt trat sie auf ihn zu und legte ganz sanft eine eiskalte Hand auf seine Wange und die andere auf seine Brust. Sie schloss die Augen.
„Es klopft, Stephen“, hauchte sie sanft und leise. „Beständig und immer schneller klopft dein Herz, erhält dich am Leben… Ich brauche dieses Leben…“
Langsam näherte sie ihr dem Gesicht dem seinen und ließ ihre Hände gleichzeitig zu seinem Hals wandern.
„Es wird bald vorbei sein“, flüsterte sie, und Feinberg fühlte ihre Lippen auf seinen eigenen, während alle Luft aus seiner Kehle gedrückt wurde. Er konnte sich nicht einmal mehr wehren, sein ganzer Körper war bereits taub, leer und leblos, also versuchte er es auch gar nicht erst, sondern schloss nur die Augen und empfing die finstere Schwärze, die sich über ihn senkte.
Es ist vorbei. Ich fürchte, mein Mitbewohner steht nun direkt vor meiner Tür. Ich kann sein hartnäckiges Geklopfe hören. Ich glaube, er will mich mit in den Urlaub nehmen… Aber ich hatte das damals nicht tun wollen, es war ein Versehen. Warum gibt er mir die Schuld dafür? Nun gut, es lässt sich nicht ändern. Ich schreibe das hier nur noch schnell zu Ende und hoffe, dass es Ihnen gefallen hat. Für mich ist es dann jetzt wohl auch Zeit, zu gehen. Leben Sie wohl, mein geneigter Leser, und bitte verzeihen wenigstens Sie mir…
Es war ein lauer Sommertag, die Vögel zwitscherten und die Sonne malte durch die grünen Zweige der Bäume hindurch bizarre Schattenmuster auf den Boden. Monica jedoch konnte es nicht so ganz genießen, denn sie glaubte, sich ziemlich verirrt zu haben. Ihre Karte schien sie nirgendwohin geführt zu haben und allmählich machte sie sich auch Sorgen, weil sie nicht mehr viel zu trinken dabeihatte. Ihr großer klobiger Wanderrucksack lastete schwer auf ihren verschwitzten Schultern.
Plötzlich schien sich der Wald ein wenig zu lichten. Monica sah ein paar große und verlassen wirkende Gebäude und ein altes verwittertes Schild, auf dem man noch lesen konnte, dass hier wohl einmal ein Sägewerk gestanden hatte. Sie hielt inne und suchte ihre Karte ab, wo sie tatsächlich auch das Sägewerk fand – nur um festzustellen, dass sich in einem ziemlich großen Umkreis nicht auch nur das kleinste bewohnte Gebiet befand. Die Ausnahme dabei bildete nur ein einziges Haus, zu dem es noch ein paar Minuten zu Fuß war. Es konnte gut sein, dass es auch unbewohnt war, aber es konnte sicher nicht schaden dort einmal vorbeizuschauen. Kurze Zeit später stand Monica vor einem großen, schwarzen und schief aussehenden Gebäude. Es wirkte nicht verfallen wie das Sägewerk, doch es stand nirgendwo ein Auto, weshalb sie vermutete, dass es sich wohl um ein derzeit nicht bewohntes Zweithaus von irgendjemandem handeln musste. Nichtsdestoweniger ging sie um das Haus herum und wunderte sich, dass das Haus keine Klingel, sondern nur Türklopfer hatte. Sie betätigte probehalber einen davon und hörte zu ihrer Überraschung tatsächlich Schritte, bevor ihr eine hübsche junge Frau mit braunen Haaren und blauen Augen die Tür öffnete.
„Ja, bitte?“, fragte die Hausbewohnerin und lächelte freundlich.