Ich legte die Einführung in die Psychologie weg und starrte aus dem Fenster des Wohnzimmers meiner kleinen Wohnung. Draußen schien die Sonne, auch wenn es leicht bewölkt und etwas windig war. Nicht zum ersten Mal überkam mich der Wunsch, einfach nach draußen zu gehen. Doch irgendetwas hielt mich davon ab und ich konnte nicht genau sagen, was es war. Ich mochte mir einreden, dass es meine Pflicht war, für die Klausur nächste Woche zu lernen, aber das entsprach nicht der Wahrheit, denn auch das Buch, welches ich gerade noch gelesen hatte, stand in keinem direkten Zusammenhang zu meinem Studiengang oder der Klausur. Ich wandte nicht so viel Zeit mit Lernen auf wie empfohlen, aber das brauchte ich meist auch nicht. Dennoch blieb immer so ein kleines schlechtes Gewissen zurück, das ich einfach nicht abstellen konnte.
Ein langgezogener Seufzer entfuhr mir. Wahrscheinlich lag es einfach nur daran, dass ich allein war. Es würde meine Stimmung einfach nicht aufhellen, rauszugehen und die vielen Menschen zu sehen, die miteinander befreundet waren oder sich sogar liebten. Zufällig fiel mein Blick auf die Uhr an der Wand des Wohnzimmers. 15 Uhr. Noch drei Stunden, bis sich diese Stimme, die mich immer aufforderte, irgendetwas zu tun, legen würde. Fünfeinviertel Stunden, bis das Abendprogramm im Fernsehen richtig anfing und mir etwas geben würde, um nicht zu viel nachdenken zu müssen. Sieben Stunden, bis ich das erste Mal an Schlaf denken würde. Immer gleich, jeden Tag. Jeden Tag war ich gefangen in diesem zyklischen Käfig, den ich selbst errichtet hatte und den ich weder durchbrechen konnte noch wollte.
Ich nahm das Buch und ging in die Küche. Es war Zeit, Tee zu kochen. Diese Angewohnheit, jeden Tag eine Kanne Tee zu trinken, hatte ich schon in der Schule angenommen. Man könnte meinen, dass es die erste Stange des Käfigs war, aber damals war die Situation noch anders gewesen.
Annika…
Ich lächelte nostalgisch, verwarf aber den Gedanken. Der Wasserkocher erhitzte sich mit einem Rauschen, während ich das Tee-Ei mit der schwarzen Mischung füllte. Mein Denken schweifte jedoch weit weg von den routinierten Handgriffen, ohne dabei einen konkreten Ort anzusteuern. Es verlor sich irgendwo, ewig auf der Suche ohne jede Orientierung, ohne Karte, ohne Kompass, ja sogar ohne auch nur die entfernteste Vorstellung, was denn nun eigentlich das Ziel war.
Ein lautes Klingeln riss mich aus der mentalen Verlorenheit. Für einen Moment stand ich reichlich verwirrt da, denn es klingelte nie jemand bei mir, abgesehen von dem Postboten, der jedoch heute schon dagewesen war. Erst als es ein zweites Mal klingelte, setzte ich mich in Bewegung. Das entfernte Summen im Erdgeschoss ertönte, als ich auf den Schalter drückte, der die Haustür öffnete. Langsam drückte ich die Klinke meiner Wohnungstür herunter und horchte auf die Geräusche, die sich näherten. Es war nur eine Person und der Klang ihrer Schritte war weder besonders laut noch leise, als sie die Treppen zu meiner Wohnung emporstieg, die im vierten Stock lag. Ich selbst bezeichnete den Weg gerne als lang und anstrengend, auch wenn das natürlich wie eine Übertreibung klingen musste. Doch manchmal, wenn ich nach Hause kam, fühlte es sich an, als würde sich mit jeder Treppenstufe ein schweres Gewicht auf meine Schultern senken.
Ich wusste nicht, was genau ich erwartet hatte, vielleicht einen Angestellten eines Stromkonzerns, einen Vertreter eines Internetanbieters oder auch einen Zeugen Jehovas. Umso mehr überrascht war ich, als eine junge Frau mit mittellangen schmutzig-blonden Haaren und kräftiger Gesichtsfarbe auf dem Treppenabsatz erschien. Ihre kurze beige Hose und das weiße T-Shirt vermittelten nicht unbedingt einen fraulichen Eindruck. Sie lächelte mich freundlich an, ihre Augen funkelten in einem haselnussbraunen Farbton. Ich war für einen Moment verwirrt, doch obwohl sie sich verändert hatte, war sie dennoch wiederzuerkennen.
„Annika?“, fragte ich ungläubig, während sie auch schon die letzten Stufen hochstürmte und mich umarmte.
„Mann, tut das gut, dich mal wiederzusehen, Chris“, rief sie mir freudig ins Ohr.
„Äh, ja“, sagte ich und befreite mich sanft aus ihrer Umklammerung. „Geht mir ähnlich.“
Annika musterte mich ein wenig, ihr Blick war seltsam kritisch.
„Du hast dich verändert“, meinte sie. „Du siehst … ruhiger aus.“
„Ist das schlecht?“, fragte ich, da mir ihr Tonfall nicht entgangen war.
„Vielleicht“, murmelte sie, lächelte dann aber wieder und fügte hinzu: „Vielleicht aber auch nicht.“
„Na, danke“, sagte ich trocken.
„Ich zieh dich doch nur ein wenig auf“, lachte sie. „Und was meinst du zu mir?“
„Nun…“, sagte ich langsam, „du siehst ebenfalls anders aus. Du wirkst irgendwie lebhafter. Liegt wohl daran, dass du mehr Farbe bekommen hast. Wo warst du denn?“
„Meinst du vor Kurzem oder überhaupt?“
Annika hatte immer vorgehabt, viel zu reisen. Eine wirkliche Ausbildung hatte sie nie im Sinn gehabt, obwohl ihre wohlhabende Familie diese hätte finanzieren können. Stattdessen kam sie wohl nun für die Reisekosten auf. Es gehörte nicht viel dazu, um auf ihr Leben neidisch zu werden – keine Verpflichtungen, keine Notwendigkeit, irgendetwas zu tun, was man nicht tun wollte, sondern einfach die freie Gestaltung des Lebens, genau so, wie man es sich vorstellte.
„Überhaupt“, sagte ich. „Wobei du ja am Ende anfangen kannst.“
Ich bat sie herein in meine Wohnung.
„Ich habe gerade…“
„…Tee gemacht“, beendete Annika meinen Satz und zwinkerte. „Deswegen komme ich ja auch genau jetzt.“
Ich führte Annika in die Küche, bot ihr einen Stuhl am Esstisch an und zog dort das Tee-Ei aus der Kanne, denn der Tee hatte nun sicherlich lange genug durchgezogen. Anschließend holte ich mit lautem Geklirre zwei Tassen, zwei Untertassen sowie zwei Löffel aus einem Schrank und stellte sie auf den Tisch.
„Zucker?“ fragte ich.
„Gerne.“
Nachdem ich auch eine Zuckerdose auf den Tisch gestellt hatte, nahm ich selbst Platz. Annika goss sich bereits den Tee ein.
„Also?“, fragte ich, „Wo warst du denn alles?“
„Ach, hier und da, weißt du“, begann Annika bescheiden. „Kein wirklicher Plan, ich bin einfach da hingereist, wo ich gerade wollte. Zuletzt war ich in Thailand, das war sehr interessant, denn…“
Ich hörte ihr aufmerksam zu, während sie mir von diversen Reiseerlebnissen erzählte und dabei immer wieder mit der genauen zeitlichen Abfolge durcheinanderkam. Ich wusste nicht, ob ich sie wirklich beneidete. Zwar klang das alles sehr aufregend, aber ich hatte eigentlich nie einen wirklich starken Wunsch verspürt, mir die Welt anzusehen. Es genügte mir eigentlich, einfach zu Hause zu bleiben, in die Uni zu gehen und die Freizeit und die Ferien mit irgendetwas auszufüllen. Aber eine Reise zu organisieren und dann anzutreten bedeutete Arbeit und Stress, und war es das wirklich am Ende wert?
„Hörst du mir noch zu?“, schreckte mich Annikas Stimme aus meinen Gedanken.
„Äh, ja, klar“, sagte ich hastig.
„Nein“, erwiderte sie lachend. „Tust du nicht. Aber wundert auch nicht, ich rede ja fast nur von mir. Was hast du also die letzte Zeit so getrieben?“
„Ähm…“
„Ja?“
„Naja, studiert.“
„Und sonst?“
„Nun… Eigentlich nichts. Ich meine, das Studium nimmt Zeit in Anspruch und da kann ich mir nicht erlauben, zu sehr abzuschweifen.“
„Und in den Ferien?“
„Ähm… Ich weiß nicht. Irgendwas im Internet oder so…“
„Okay…“, sagte sie langsam. Ihre Miene war schwer zu lesen, sie wirkte ein wenig so, als ob sich das für sie ziemlich enttäuschend anhörte, aber ich glaubte auch ein seltsames Funkeln auszumachen, das ich früher immer bei ihr gesehen hatte, wenn sie irgendetwas ausheckte.
„Wann ist denn die Rückmeldefrist für das nächste Semester?“, fragte sie beiläufig.
„Oh, die läuft bereits“, antwortet ich. „Aber ich habe noch nicht den Sozialbeitrag überwiesen, das muss ich noch machen.“
„Ja… Diesbezüglich vielleicht ein Vorschlag…“
Ihre Stimme klang nun fast schelmisch, wie von jemandem, der ein großes Geschenk versteckt hat und kurz davorsteht, es gleich mit übertriebenem Vergnügen zu überreichen.
„Wie wäre es, wenn du vielleicht ein Urlaubssemester nimmst?“
„Ein Urlaubssemester? Wieso?“
„Weil du mich dann begleiten könntest.“
Mir verschlug es für einen Augenblick die Sprache.
„Was?“, stieß ich schließlich ungläubig hervor.
„Es war ja ganz lustig, alleine zu reisen, aber ich habe genug davon“, meinte Annika. „Also dachte ich, dass ich mir vielleicht eine Begleitung suchen sollte. Jemanden, den ich gut leiden kann, mit anderen Worten: Dich.“
„Aber… Ich habe ein Studium, das kann ich nicht einfach…“
„Doch, du kannst. Was ist schon ein Urlaubssemester? Viele Studenten nehmen doch irgendwann mal eins.“
„Darum geht es doch nicht. Ich wäre total aus dem Stoff raus, wenn ich mich ein halbes Jahr nicht damit beschäftige und überhaupt…“
„Was, überhaupt?“, bohrte Annika angriffslustig nach.
„Naja… Es wäre doch alles… Du weißt schon, so weit weg…“
Sie seufzte.
„Chris, ich möchte keineswegs deinen Lebensstil abwerten oder dir einreden wollen, dass in deinem Leben etwas fehlt. Aber… Möchtest du nicht einfach mal irgendetwas erleben? Etwas Anderes als den Alltag eines Studenten?“
„Naja, ich bin damit ganz zufrieden.“
„Das bezweifle ich nicht. Aber es täte dir vielleicht mal etwas Abwechslung ganz gut. Ich meine, denk doch mal an früher zurück: So viele Dinge, an die wir uns gern erinnern. Und wie viele ähnliche Erfahrungen hast du gemacht, seit du allein hier wohnst und studierst?“
Ich überlegte, doch da war tatsächlich nichts.
„Siehst du? Und weißt du, ich würde mich wirklich freuen, wenn du mit mir ein wenig reisen würdest. Es wäre wie in den guten alten Tagen – nur, dass wir diesmal nicht spielen oder träumen, sondern wirklich weg sind und alles mit eigenen Augen sehen.“
„Ich weiß nicht“, sagte ich unruhig. Das alles kam einfach viel zu plötzlich, es traf mich vollkommen unvorbereitet. Sicher, ich dachte oft genug darüber nach, mal wieder etwas Abwechslung in mein Leben zu bringen, aber das klang gerade nach ziemlich viel auf einmal.
„Sieh es mal so“, fuhr Annika fort, „Du würdest Erfahrungen machen, die irgendwann wichtig werden könnten. Du könntest im Ausland auch gut deine Englischkenntnisse verbessern und alles.“
Ich überlegte noch, als es erneut klingelte.
„Erwartest du noch jemanden?“, fragte Annika überrascht.
„Nein“, sagte ich. „Wahrscheinlich nur die Zeugen Jehovas oder irgendein Stromanbietervertreter. Moment bitte.“
Ich erhob mich, ging zur Tür und drückte auf den Knopf, der unten die Haustür öffnete. Schwere Schritte näherten sich im Treppenhaus. Zwei Männer in weißen Hemden erschienen auf dem Treppenabsatz.
„Guten Tag, Herr Pressler“, sagte einer von ihnen mit aufgesetzter Freundlichkeit. „Hätten sie vielleicht einen kurzen Moment Zeit, um…“
Weiter kam er nicht. Ich merkte, wie Annika mich beiseite schob und sich vor den beiden Männern aufbaute.
„Verpisst euch“, sagte sie mit zuckersüßem Lächeln und schlug die Tür zu.
„Ich wollte es etwas freundlicher ausdrücken“, sagte ich, „aber so ist auch gut.“
„Chris, man muss den Leuten sagen, dass sie einen nerven oder sie hören nie damit auf“, erwiderte Annika tadelnd und fuhr dann fort: „Aber jetzt mal Klartext: Möchtest du mitkommen?“
„Das muss ich mir erst noch etwas überlegen“, antwortete ich ausweichend.
„Ich sagte: ‚Klartext‘“, sagte Annika ernst und seufzte. „Aber du kannst natürlich so lange überlegen, wie du möchtest und auch ablehnen, ich werde dich nicht daran hindern. Aber ich möchte dir wirklich empfehlen, mein Angebot anzunehmen.“
Sie sah auf die Uhr.
„Ich muss gleich noch etwas erledigen. Wenn du drüber nachgedacht hast, ruf mich bitte an. Meine Nummer ist übrigens noch die gleiche wie früher.“
„Ich werde es mir überlegen“, versprach ich. Annika nickte, dann umarmte sie mich zum Abschied.
„Ich würde mich wirklich freuen“, flüsterte sie. „Denn weißt du, du bist nach wie vor mein bester Freund und es wäre echt toll, dich dabeizuhaben.“
„Danke“, erwiderte ich in Ermangelung von irgendetwas, das vielleicht besser klingen würde.
Annika öffnete die Tür und grinste mir zu.
„Ich erwarte also deinen Anruf“, fügte sie noch grinsend hinzu und verschwand anschließend im Treppenhaus. Ich hörte noch ihre langsam verhallenden Schritte und wie unten die Haustür ging, dann erst schloss ich meine Wohnungstür. Langsam ging ich in die Küche, während ich das, was ich eben gehört hatte, zu verarbeiten versuchte. Wie in Trance setzte ich mich an den Tisch und hob meine Teetasse zu meinen Lippen. Doch ich zögerte, hielt inne und stellte die Teetasse wieder zurück auf ihre Untertasse.
„Genug“, flüsterte ich, stand wieder auf und ging in mein Schlafzimmer, wo mein Handy auf dem Schreibtisch lag.