Beiträge von Thrawn

    Ich muss sagen, dass bei mir generell immer sehr schnell die Augenbrauen im Haaransatz verschwinden, wenn gesagt wird, Kapitalismus sei doch in Ordnung, denn es gebe ja bei uns die Institution der sozialen Sicherung und so weiter. Ich stimme einerseits der These zu, dass diese Einrichtungen eine systemstabilisierende Wirkung haben, und ein Teil dieser Wirkung besteht in der freundlichsten Interpretation ja darin, die ganzen Ungerechtigkeiten, die der Kapitalismus produziert, irgendwie noch zumindest teilweise zu kompensieren. Auf diese Einrichtungen sozialer Absicherung zu verweisen und das damit zu kombinieren, den Kapitalismus gut zu finden, hat etwas sehr Widersprüchliches: Denn wenn der Kapitalismus so toll wäre, bräuchte es das alles ja nicht. Es ist für mich deswegen so merkwürdig, weil offenbar dann doch immer ein Bewusstsein darüber besteht, dass Kapitalismus eben nicht funktioniert und dass es Mechanismen braucht, die der Wirkweise seines Systems zuwiderlaufen. Die Errungenschaften sozialer Sicherung, so sie denn als solche angesehen werden, wurden (und werden immer noch, denn Vieles soll ja schon wieder eingedampft werden) gegen kapitalistische Interessen durchgesetzt. Ich verstehe es daher nicht, wenn sie dann herangezogen werden, um zu argumentieren, dass der Kapitalismus so schlimm nicht sein muss. Es ist, als würde gesagt werden, dass Brandstiftung nicht schlimm sei, weil die Feuerwehr ja das Schlimmste verhindere.

    Die andere Seite dieser Medaille ist dann noch, dass es ebenfalls seltsam ist, wenn einerseits einem kapitalistischen System zugestanden wird, mit einigen Einhegungen und Rahmenbedingungen zu funktionieren, und das dann aber als unmöglich für den Kommunismus behauptet wird. Wer Ersteres akzeptiert und sich Sorgen macht, dass es im Kommunismus wirklich keinerlei Privateigentum gebe oder keine Individualität (ich würde beidem widersprechen, aber das mal beiseitegelassen jetzt), müsste eigentlich keine Probleme haben, sich zumindest formal ein kommunistisches Grundsystem mit einigen zusätzlichen Rahmenbedingungen zu denken, die die fraglichen Bedenken adressieren. Es kann doch nicht sein, dass wir alle in einem Kapitalismus leben, in dem Wachstum und Profitstreben die Umwelt zerstören, unsere Daten klauen, die Kunst mechanisieren, unsere Diskurse vergiften sowie zunehmend die demokratischen Elemente unserer Gesellschaft erodieren und dann aber jedes Mal, wenn überlegt wird, etwas an den Grundstrukturen dieser gesellschaftlichen Verfasstheit etwas zu ändern, einfach mit geradezu apriorischer Gewissheit behauptet wird, dass alle Alternativen zweifellos schlechter und/oder zum Scheitern verurteilt sind.


    Ansonsten, wo es hier auch um persönliche Erfahrungen und Chancengleicheit geht: Ich selbst hatte nie materielle Sorgen, weil ich ja so ein verdammter Abkömmling der zwar nicht übermäßig reichen, aber relativ gut gestellten Bildungsbourgeoisie bin. Und genau das ist aber auch der Punkt: Ich hatte in meinem Leben definitiv mehr Chancen als viele andere Leute, die ich kenne, und das potenziert sich natürlich: Mein Studium wurde von meinen Eltern finanziert, ich musste nebenher nicht arbeiten. Daraus resultierte, dass ich mich viel aufs Lernen konzentrieren konnte. Dadurch bekam ich gute Noten, die dann, als ich dann doch als SHK und später WHK arbeiten wollte, bei der Bewerbung für entsprechende Stellen durchaus hilfreich waren. Es sollte nicht überraschen, dass solche Hilfskraftjobs um Einiges angenehmer sind als etwa kellnern zu müssen. Ich hatte schließlich genug Stunden an der Uni, um von meinen Eltern nicht mehr unterstützt werden zu müssen, aber von der Langzeitwirkung dieser Unterstützung – einer Unterstützung, die viele meiner Kommiliton*innen eben nicht hatten – habe ich damit natürlich nach wie vor profitiert. Und auch jetzt mit meinen guten Abschlusszeugnissen habe ich offensichtlich bessere Startbedingungen als viele andere. Hinzu kommen noch andere Dinge: Ich hasse es ja, Bewerbungen zu schreiben, aber weil ich neben allem Zeit hatte, um einer Schreibtätigkeit als Hobby nachzugehen, habe ich relativ wenige Probleme damit, Motivationsschreiben und alles zu verfassen. Andere Leute müssen sich sehr mühsam in so etwas reinfuchsen.

    Ich war selbst btw mal in der Tagesklinik wegen Depression und da war ein anderer Patient, etwa in meinem Alter, der lange obdach- und arbeitslos und jetzt eben depressiv war. Die Pointe: Weil er nur in der Notversicherung war, musste er die Therapie abbrechen, die er eigentlich gerade dringend brauchte. Von Chancengleichheit ist hier offensichtlich keine Spur, ich bin dieser Person gegenüber enorm privilegiert, während ihr im Gegenzug die Chance, an der Gesellschaft mitzuwirken und/oder sich selbst zu verwirklichen, einfach verwehrt wird. Und jeden Tag, wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich Obdachlose, jedes Mal, wenn ich in die sozialen Medien schaue, lese ich Berichte von Leuten, denen das Geld am Monatsende nicht reicht. All diese Dinge sind keine "Betriebsunfälle" des kapitalistischen Systems, sondern seine unmittelbaren Folgen.1 Und ich habe, nachdem ich vor Jahren auch noch dachte, dass sich das alles vielleicht irgendwie reformieren ließe, mittlerweile einfach doch sehr starke Zweifel daran, dass sich das alles ohne einen tiefergreifenden Systemwechsel beheben lässt. Dieser sollte natürlich nicht zu einer kommunistischen Gesellschaft führen, sondern zu einer anarchistischen, aber das können wir auch später klären.


    1Wer übrigens sieht, dass es diese Probleme gibt und trotzdem vor dem Kommunismus zurückschreckt, kann natürlich auch einfach John Rawls lesen und seine Gerechtigkeitsgrundsätze ernst nehmen. Der hegte am ende seines Lebens übrigens auch Sympathien für den Sozialismus. Ich frage mich, warum nur.

    Angesichts der Verfasstheit der katholischen Kirche dürfte es allgemein schwer sein, einen Papst jemals komplett gut zu finden, aber mit dem im Hinterkopf sind grundsätzlich natürlich Verweise darauf möglich, was jetzt nicht so ganz scheiße war. Dahingehend hatte ich vor einigen Monaten mal bei einem Abendessen nach einem Kolloquium ein Gespräch mit einem italienischen Wissenschaftsphilosophen, der angemerkt hat, dass Franziskus natürlich in vielerlei Hinsicht konservativ sei, aber er hat zum Beispiel ein hohes Verwaltungsamt im Vatikan auch mit einer Nonne besetzt, was den schönen Umstand zur Folge hatte, dass diverse Leute, die es absolut nicht gewohnt waren, Befehle von einer Frau entgegenzunehmen, genau das jetzt tun mussten. Zudem hat Franziskus der Faschistin Meloni zumindest hier und da auch Kontra gegeben, wenn es etwa um den Umgang mit Geflüchteten ging, und das ist wohl insofern relevant, als dass die katholische Kirche gerade in Italien immer noch Einiges an Einfluss hat – jedenfalls genug, dass die italienische Politik sich von ihr in der Regel lieber keine Rüge einfangen möchte. Und auch wenn es bei Franziskus hier und da eher bei symbolischen Akten blieb, so haben auch solche in Hinblick auf politische Diskussionsräume bzw. deren Verschiebung immer noch einen gewissen Einfluss; salopp gesagt ist der Papst halt jemand mit ziemlich großer Reichweite, und wenn der sich in der einen oder anderen Hinsicht für Menschenrechte ausspricht, hat das durchaus auch konkrete Folgen dafür, welchen Stellenwert die dann in der politischen Diskussion einnehmen.

    Natürlich lässt sich auch eine lange Liste an Dingen aufzählen, die jetzt eher weniger gut waren, von dem Statement, Kinder könnten auch mal geschlagen werden, angefangen und bis hin zu der Tatsache, dass Franziskus zwar einerseits Aufklärung wegen der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche forderte, aber dann eben auch einigen Verantwortlichen, die die Verantwortung für mangelnde Aufklärung trugen, den Rücken stärkte. Überhaupt ist dieses Thema ja immer noch nicht wirklich aufgearbeitet.


    Persönlich ist es mir auch nicht so wichtig, ein moralisches Urteil über die Einzelperson zu fällen, die da an der Spitze steht (wie gesagt wäre es wohl immer ein "Nicht gut" mit einem "Aber" von variierender Länge dahinter), aber wer diese Position künftig einnehmen wird, hat natürlich abseits aller religiösen Dimensionen auch ziemlich weitreichende politische Implikationen, und auf die zu schauen ist schon sinnvoll. Daher hoffe ich auch, dass der neue Papst jemand wird, der zumindest bei den Dingen, die Franziskus richtig gemacht hat, nicht wieder in die andere Richtung steuert, auch wenn mir der Einfluss der katholischen Kirche per se und der sie nach wie vor durchdringende Traditionalismus mit all seinen problematischen Aspekten natürlich auch nicht passen. Aber das dürfte ja ohnehin klar sein.

    wollte auch was mit waumboll machen und das ergebnis tut mir leid :crying:


    Das Waumboll, das ich mir beschwor,

    Steck ich auf einen Stecken

    Und reinige damit mein Ohr

    Bis in die letzten Ecken.