Kater
Als Feli aufwachte, hatte sie den Eindruck, sich gleichzeitig mies und gut zu fühlen. Sie hatte Kopfschmerzen, ein flaues Gefühl lag ihrem Magen und ihr Mund war trocken. Sie tat es trotzdem, ging zu ihrem Rucksack, der etwas weiter von dem Bett entfernt auf dem Boden lag, kramte eine kleine Pillenpackung daraus hervor und warf sich zwei Tabletten ein.
Kater. Sie hatte nie wirklich einen Kater gehabt. In erster Linie, weil sie nie trank, und wenn, dann nicht viel. Letzte Nacht hatte sie auch nicht viel getrunken. Soweit sie sich erinnerte, waren es nur drei Gläser Rosé gewesen. Anscheinend vertrug sie so ziemlich nichts. Vielleicht hatte sie die Gläser aber auch einfach zu voll gemacht. Es waren sehr große, bauchige Weingläser gewesen. Feli war sich nicht einmal sicher, ob das die richtigen für diese Art Wein gewesen waren. Vermutlich nicht. In ihrem Kopf entstand das Bild eines Weinkenners mit Monokel und Frack, der die Nase rümpfte.
Sie war schließlich von der Hotelbar auf ihr Zimmer getaumelt, hatte sich ins Bett geworfen und versucht zu schlafen, aber immer, wenn sie die Augen schloss, hatte es sich angefühlt, als würde die Welt um sie herum sich drehen. Es war wie der Sturz durch eine unsichtbare Spirale, die im Dunkeln verlief. Irgendwann hatte Feli entschieden, dass es wohl das Beste war, das Gift loszuwerden und solange die Augen geschlossen, bis ihr übel genug war, um dann ins Bad ihres Hotelzimmers zu gehen und sich zu übergeben. Zweimal.
Alles in allem ging es ihr nicht so mies. Ihr war nicht wirklich übel, nur hatte sie das unangenehme Gefühl, ihren Magen letzte Nacht komplett umgestülpt zu haben. Doch die Tabletten halfen, und bald war das verschwunden. Zurück blieb nur eine seltsame Empfindung, die irgendwo zwischen Klarheit und einem Gefühl der Endgültigkeit lag. Feli dachte an Bücher, die sie gelesen hatte: Wie oft hatte es in diesen einen „lowest point“ gegeben, an dem die Protagonistin einfach in eine Kneipe ging, sich betrank, Sex mit einer fremden Person hatte und einfach mal auf alle Verpflichtungen, die sie ohnehin nicht hatte einhalten können, pfiff, um sich am nächsten Tag irgendwie wieder aufzurappeln und weiterzumachen. Irgendwie hatte Feli den Eindruck, in einer ähnlichen Situation zu sein, auch wenn diese nicht vollkommen analog dazu war.
Das bedeutete, dass es jetzt wohl aufwärts gehen müsste. Tatsächlich: Abgesehen von dem flauen Gefühl in ihrem Magen fühlte Feli sich heute besser, als hätte sie letzte Nacht ihre temporäre Traurigkeit mit ihrem Mageninhalt ausgespuckt.
Sie sah aus dem Fenster: Die graue Wolkendecke, die die letzten Tage über dem kleinen Städtchen gehangen hatte, war aufgerissen und hin und wieder schien die Morgensonne durch die kleinen Löcher darin. Die Bäume an der Straße bogen sich unter einem starken Wind, die Straße war noch feucht vom Regen der letzten Nacht und hier und da glänzten Pfützen im Sonnenlicht.
Feli duschte und föhnte sich die Haare, zog sich an, nahm ihren Rucksack und ging raus auf die Straße, nachdem sie beim Frühstücksbuffet schnell einen Kakao runtergeschluckt und sich eine Zimtschnecke mit Zuckerguss mitgenommen hatte. Sie ging die Straße runter und verließ den kleinen Ort, ohne zu wissen, wo sie hinging, und als ihr danach war, verließ sie den Bürgersteig neben der breiten Straße und betrat eine weitreichende Wiese.
Das Gras war knöchelhoch und noch nass. Bald waren Felis Schuhe durchnässt und ihre Füße kalt, aber sie ging weiter, und irgendwann hörte die Wiese auf und ein Wald begann. Bald lief Feli über einen unebenen Boden, der von vertrockneten Kiefernnadeln und Buchenblättern bedeckt war, die an ihren nassen Schuhen kleben blieben.
Es war angenehm kühl und still. Nur das Rascheln der Baumkronen im Wind und das gelegentliche Klopfen eines Spechts waren zu hören. Der Wald wurde dichter und dunkler, und trotzdem ging Feli weiter, auch wenn ihr allmählich mulmig wurde. Aber sie beruhigte sich damit, dass sie jederzeit ihr Handy aus der Tasche nehmen und nachgucken konnte, wo sie war und wie sie wieder zum Hotel in der kleinen Stadt zurückkam. Oder sie konnte sich ein Transportmittel rufen. Es war leicht zurückzukommen, wenn sie es wollte. Momentan wollte sie es noch nicht.
Irgendwann war es so dunkel geworden, dass Feli fast dachte, die Abenddämmerung hätte eingesetzt. Vielleicht war es sogar so, denn sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Allerdings glaubte sie, dass sie wohl sehr viel erschöpfter sein müsste, wenn sie wirklich schon so lange unterwegs gewesen wäre.
Feli blieb stehen und sah nach oben: Das Blattwerk hoch über ihr war so dicht, dass kein Sonnenlicht durchfiel. Es war unfassbar still hier, als würden sich die Tiere des Waldes nicht in die Nähe dieser Dunkelheit trauen. Auch das Rascheln der Baumkronen war deutlich leiser geworden, als würde hier kein Wind mehr durchkommen. Vielleicht waren sie aber auch so weit oben, dass es nicht mehr zum Waldboden drang.
Feli atmete tief durch und genoss die kühle, frische Luft und die Ruhe. Es war angenehm und doch auch irgendwie bedrückend. Sie war hier ganz allein, und alles war dunkel. Ihr wurde ein wenig mulmig.
Nach ein paar Minuten ging Feli wieder los, in die Richtung, aus der sie gekommen war, auch wenn sie wusste, dass sie wohl kaum den Weg zurückfinden würde, den sie gekommen war. Aber das war auch nicht wichtig. Sie versuchte einfach, in die Richtung zu gehen, wo es heller wurde.
Feli wusste nicht, wie lange sie für den Rückweg brauchte, aber irgendwann kam sie wieder aus dem Wald heraus. In der Ferne, jenseits der großen Wiese, sah sie die Häuser des kleinen Örtchens, in dem ihr Hotel war. Soweit sie es feststellen konnte, war sie weit von der Stelle entfernt, wo sie den Wald betreten hatte, aber zugleich wunderte es sie doch ein wenig, dass sie überhaupt auf der gleichen Seite des Waldes herausgekommen war.
Während des Rückwegs merkte Feli, dass sie mittlerweile ziemlich hungrig war. Der Wind strich ihr durch die Haare und ließ sie ein wenig frösteln. Aber trotz des Hungers und der Kälte fühlte sie sich sehr viel besser als die Tage davor.
Im Speiseraum des kleinen Hotels begegnete sie Sascha. „Wo warst du?“, fragte sier und musterte sie ein wenig, wobei sier Blick an Felis verdreckten Schuhen hänge blieb.
Feli zuckte die Achseln. „An einem dunklen Ort.“ Dann lächelte sie. „Aber ich bin wieder zurück.“