„Zur Hölle!“, schrie es Philip aus dem Handy ins Ohr. „Warum rufen mich dauernd irgendwelche Rätselfreaks an? Mir reicht es langsam!“
„Entschuldigung“, erwiderte Philip hastig, „wir dachten nur …“
Doch der Mann am anderen Ende der Leitung ließ ihn nicht ausreden. „Ich habe einfach nur die Schnauze voll und will meine Ruhe! Schreibt euch das hinter die Ohren: Ich habe mit eurem bekloppten Rätsel nichts zu tun, und wagt es ja nicht, hier noch einmal anzurufen!“ Es klickte kurz, dann herrschte Stille.
„Nun“, sagte Kim nach einigen Momenten, „Das war wohl nichts.“
„Das kannst du laut sagen“, seufzte Philip.
„Aber es muss doch die richtige Lösung gewesen sein …“ Kim sah nachdenklich auf ihren Notizzettel. „Hier, auf der Rätselkarte ist das Wort ‚Anruf‘ unterstrichen und wir kriegen aus diesem komischen Sudoku so viele Zahlen raus, dass es eigentlich nur eine Telefonnummer sein kann. Außerdem ist das doch am Anfang die Vorwahl von Frankfurt …“
„Ich weiß nur, dass es nicht funktioniert hat“, gab Philip trocken zurück. „Und scheinbar sind mehrere schon darauf reingefallen, sonst wäre der nicht so genervt gewesen.“
„Aber du hast doch die richtigen Zahlen rausgesucht?“, fragte Kim. „Die Farben der Zahlen in der richtigen Reihenfolge und …“
„Ja“, sagte Philip genervt. „Ich habe es dreimal überprüft, zur Hölle!“
„Du brauchst nicht so laut zu werden“, sagte Kim.
„Du hast leicht reden“, murrte Philip. „Du wurdest ja auch nicht gerade zusammengeschissen. Nächstes Mal kannst du ja anrufen.“
„Gerne, wenn wir wissen, wo der Fehler liegt.“ Sie starrte noch ein paar Sekunden auf den Notizzettel und dann auf das Zahlenraster, das eigentlich gar kein Sudoku war, sondern nur ungefähr so aussah. „Das verstehe ich nicht. Es passt doch alles …“
„Vielleicht ist unser Ansatz falsch. Wir könnten eine Hilfskarte ziehen.“
„Auf keinen Fall. Wir lösen das komplett alleine.“
„Offenbar nicht. Das Spiel ist scheiße.“
„Jetzt sei doch nicht gleich so ungeduldig. Das ist die Anfängerschwierigkeit, also …“
„… also sind wir richtig schlecht“, beendete Philip ihren Satz.
„Philip“, begann Kim vorwurfsvoll, doch Philips Handy klingelte. Philip sah kurz auf das Display und atmete erleichtert auf, als er sah, dass es nicht die Nummer war, die er gerade angerufen hatte.
„Ja, hallo, hier Philip Springmann“, meldete er sich ohne jede Begeisterung.
„Guten Tag, Herr Springmann“, antwortete die freundliche Stimme einer älteren Frau, „Mein Name ist Gerda Carlsen, ich wollte fragen, ob ich … also, ob mein Mann und ich die Dienste Ihrer Detektei in Anspruch nehmen könnten.“
„Hä, was für eine …“, begann Philip, dann begriff er. „Ach so, ja, ja natürlich!“ Er bemühte sich darum, seiner Stimme einen professionellen Klang zu geben. „Wenn Sie einen Augenblick warten möchten, würde ich schauen, ob Frau Egger gerade Zeit hat – sie war bis eben noch in einem Telefonat mit der Polizei.“
Kims Miene hatte sich merklich aufgehellt, als Philip diesen Anfang eines von ihnen beiden sorgfältig einstudierten Dialogs vortrug. Philip hielt das Telefon ein wenig von sich weg, stampfte hörbar mit den Füßen auf dem Boden und klopfte auf die Tischplatte. Kim hielt sich zur Dämpfung die Hand vor den Mund und rief: „Herein!“
„Frau Egger“, sagte Philip höflich, „da ist eine Klientin am Telefon. Möchten Sie gleich mit ihr sprechen oder sind Sie gerade beschäftigt?“
„Nein, nein, gar nicht. Der Herr Kommissar hatte nicht mehr viele Fragen. Geben Sie sie mir doch gleich.“
Kim nahm das Telefon von Philip entgegen und stellte den Lautsprecher an, damit er mithören konnte.
„Ja, hier Kim Egger, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag, Frau Egger, hier spricht Gerda Carlsen. Ich … Also, es gibt da einen Fall, mit dem ich Sie gerne beauftragen würde.“
„Verstehe, verstehe“, antwortete Kim eifrig. „Worum geht es denn?“
„Nun, es mag ein wenig banal klingen, wenn ich ehrlich sein soll und vielleicht ist das ja nichts für Sie …“
„Papperlapapp!“, unterbrach Kim sie energisch. „Banale oder unbedeutende Fälle gibt es nicht. Wir helfen Ihnen gerne, worum es sich auch handeln mag.“
Die alte Dame am Telefon schien kurz überrumpelt. Philip bewegte stumm seine flache Hand ein wenig über dem Tisch nach unten, um Kim zu signalisieren, dass es vielleicht besser sei, ein wenig leiser zu treten. Sie tat das mit einem Wedeln ihrer freien Hand ab.
„Oh, nun, also, wenn das so ist“, sagte Frau Carlsen schließlich. „Nun, dann … Also, jemand zerstört hier seit Kurzem unsere Gartenzwerge.“
Kim starrte für einen Moment geradeaus. „Ihre Gartenzwerge?“, echote sie. Philip musste sich zurückhalten, um nicht laut loszulachen. Kim deutete verärgert auf den Notizblock auf dem Tisch und Philip nahm sich diesen samt einem Stift.
„Ja, unsere Gartenzwerge, die meine Stieftochter mir letztens geschenkt hat. Es sind sehr schöne Gartenzwerge wissen Sie, aus Ton und bunt bemalt. Wir wollten deswegen ja die Polizei anrufen, aber … Nun, die hat sicher Wichtigeres zu tun und Sie hingegen … Also, ich meine …“
Kim machte ein Gesicht, als hätte man ihr eine Ohrfeige gegeben, während Philip mit den Achseln zuckte, als sei diese Einschätzung von Frau Carlsen eigentlich recht zutreffend.
„Nun, die Polizei würde sich in der Tat wohl nicht ausreichend darum kümmern“, meinte Kim zu Frau Carlsen. „Vermutlich würde man das Verbrechen als zu unbedeutend einstufen, um wirkliche Ermittlungen aufzunehmen. Insofern ist es sicher gut, dass Sie sich an uns gewendet haben – wir haben solche Vorurteile natürlich nicht.“
„Ähm, ja, genau das meine ich“, erwiderte Frau Carlsen.
„Vandalismus ist kein Kavaliersdelikt“, sagte Kim.
„Nein, sicher nicht.“
„Und wie es der Zufall will, sind wir gerade auch nicht sonderlich beschäftigt. Ich werde mich also gerne persönlich darum kümmern.“
„Das ist wunderbar“, sagte Frau Carlsen. Irgendwie klang sie ein wenig zaghaft, dachte Philip.
„Dann erzählen sie mal: Was ist denn genau mit ihren … Gartenzwergen passiert?“, fragte Kim.
„Nun, wie schon gesagt, jemand macht sie kaputt. Wir stellen die ja den ganzen Tag nach draußen und nachts auch und die letzten Tage habe ich halt, wenn ich die Zeitung aus dem Briefkasten hole, immer gesehen, dass ein oder zwei von ihnen kaputt waren.“
„Hm“, machte Kim. „Am Abend war also noch alles in Ordnung?“
„Ja“, sagte Frau Carlsen. „Da waren immer alle heil.“
„Nun gut“, murmelte Kim. „Sind ihnen irgendwelche Spuren aufgefallen?“
„Nein, keine.“
„Irgendetwas, das darauf hindeutet, wie genau die Gartenzwerge zerstört werden? Spuren eines Werkzeugs an den Scherben oder etwas in der Art?“
„Nein, mir ist nichts in der Richtung aufgefallen.“
„Interessant. Das klingt wirklich sehr interessant“, log Kim. „Nun, ich denke, das beste wäre es wohl, wenn ich und mein Assistent uns das vor Ort ansehen würden. Könnten Sie uns vielleicht Ihre Adresse geben?“
Etwa eine Viertelstunde später und nachdem sie ihr Rätselspiel eingepackt hatten, waren Kim und Philip auf dem Weg in die Lisztstraße. Es war nicht weit, und so konnten sie bei dem schönen Juniwetter zu Fuß gehen. Sie begegneten anderen Pärchen und Familien, die den freien Sonntag nutzten, um gemeinsam spazieren zu gehen. Philip dachte kurz an letzten Donnerstag, als Feiertag gewesen war. Kim und er hatten da eine Radtour gemacht. Das war zwar anstrengend gewesen, aber er würde jederzeit lieber wieder das machen anstatt wie heute eines dieser dämlichen Rätselspiele zu lösen. Fast war er dankbar, dass ihnen der neue Fall dazwischengekommen war.
„Gartenzwerge“, sagte Kim kopfschüttelnd. „Ich fasse es immer noch nicht. Warum müssen wir uns mit so etwas rumschlagen?“
„Ist nicht so, als könnten wir wählerisch sein“, sagte Philip. „Ich meine, was hast du erwartet? Dass wir die Mafia jagen?“
„Ich dachte, es wäre zumindest etwas Spannenderes als das.“
„Na ja, vielleicht wird es ja spannender, als wir denken.“
„Glaubst du doch selbst nicht.“
„Vielleicht ist es ja so etwas wie mit den sechs Napoleons.“
„Hm“, murmelte Kim. „Ja, doch … Etwas, das in den Gartenzwergen versteckt ist. Oder aber Watson und Lestrade haben diesmal recht und der Verbrecher hat einen an der Waffel.“
„Was könnte in den Gartenzwergen denn versteckt sein?“
„Hm, Drogen? Sind es heutzutage nicht immer Drogen?“
„Klingt plausibel.“
„Dann wäre auf jeden Fall die Stieftochter involviert. Sie schenkt diese Gartenzwerge ihrem Vater und ihrer Stiefmutter, und irgendein Dealer holt sich dann, was drin ist.“
„Du bist ja in Höchstform“, sagte Philip grinsend.
„Bin ich immer“, erwiderte Kim. Sie schloss im Gehen kurz die Augen, um die Sonne auf ihrem Gesicht zu genießen. „Deine Laune scheint das ja aber auch zu heben, mein lieber Philip.“
„Ach was“, sagte Philip.
Kim musste lächeln. Offiziell fand Philip die Idee mit der Hobbydetektei beknackt, aber sie konnte sehen, dass ihm diese Rolle doch irgendwie Spaß machte. „Ist jedenfalls schön, dass du meinen Unsinn mitmachst.“
„Ja, du kannst dich wirklich glücklich schätzen, mich zu haben“, erwiderte Philip trocken.
„Das beruht auf Gegenseitigkeit.“
„Zweifellos.“
Sie erreichten die Lisztstraße – es war im Grunde ein einziger, in einer Schleife verlaufender verkehrsberuhigter Bereich. Die hellen Pflastersteine blendeten fast in dem Sonnenlicht. Vor einem Haus saßen ein Mädchen und ein Junge auf der Straße und malten mit Kreide auf den Boden.
„Es gibt noch Kinder, die mit Kreide auf der Straße malen“, stellte Kim fest. „Und ich dachte, das sei aus der Mode gekommen.“
Sie suchten das Haus ihrer Auftraggeber und standen bald schon davor. Es war ein einfaches Haus mit weißer Fassade und blauem Giebeldach. Das Haus schien auf einem kleinen Hügel zu stehen, denn der zu Beginn ebene Vorgarten ging zum Haus hin in eine leichte Steigung über. Der zur Haustür führende Steinweg war nicht gerade, sondern schlängelte sich und wurde zu Beginn der Steigung von senkrecht zu ihm verlaufenden niedrigen Steinmauern eingerahmt Am roten Gartenzaun, der den Garten von den anderen Grundstücken abgrenzte, befanden sich Blumenbeete, und auf dem überaus akkurat getrimmten Rasen standen hier und da Gruppen von Stiefmütterchen in einem scheinbar zufälligen, aber hübschen Muster. Ein niedriger steinerner Brunnen sprudelte munter vor sich hin.
Ins Auge stach allerdings insbesondere etwas anderes, nämlich zwei bunte Scherbenhaufen. Einer davon befand sich in der Nähe des Brunnens, ein anderer neben einem der seitlichen Blumenbeete.
„Das scheinen wohl die Opfer zu sein“, bemerkte Philip ironisch.
„Ja, sieht ganz so aus“, erwiderte Kim und ging zu dem Scherbenhaufen in der Nähe des Brunnens. Sie zog einen Handschuh aus der Tasche ihrer kurzen Cargohose und stocherte in den Scherben herum.
„Im Ernst?“, fragte Philip. „Handschuhe? Willst du die kostbaren Fingerabdrücke nicht verschmieren, oder was?“
„Das ist ein Nebeneffekt“, sagte Kim. „Aber da wir vom Nehmen von Fingerabdrücken keine Ahnung haben, sollte dir eigentlich klar sein, dass es mir um etwas anderes geht, nämlich schlicht darum, dass ich mich nicht am Ende an den Scherben schneiden will.“
„Oh“, machte Philip. „Verstehe.“
„Ganz so verrückt bin ich dann doch nicht, hm?“
„Sorry“, sagte Philip.
„Schon okay. Wie wär’s, wenn du dir schon einmal den anderen anguckst?“
„Mache ich.“
„Und wärst du später so lieb, mich daran zu erinnern, dass ich mal google, wie man Fingerabdrücke nimmt?“
„Wusste ich’s doch.“ Philip zog seinen Notizblock hervor und machte sich pflichtschuldigst eine Notiz.
Kim untersuchte die Scherben. Der Gartenzwerg war aus bemaltem Ton, und er war in viele Teile zerbrochen. Kim schaute, ob im Gras außer den Scherben noch irgendwas lag, und fand unter den Scherben ein Licht, das im Boden verankert war. Wahrscheinlich hatte man den Gartenzwerg so platziert, das er auch in der Nacht schön angestrahlt wurde und gut zu sehen war. Was eigentlich ein Fehler war, denn wenn Kim die Scherben im Geiste zusammensetzte, kam nichts allzu Schönes dabei raus. Wer mit halbwegs gutem Geschmack stellte sich so etwas in den Garten?
„Hm“, murmelte Kim und wandte sich dann an Philip. „Was gefunden?“
„Ich habe mich geschnitten.“
Kim verdrehte die Augen, ging zu Philip und reichte ihm ein Pflaster, das sie aus einer ihrer Hosentaschen hervorzog. Diese kurzen Cargohosen waren praktisch, sie hatten so viel Stauraum für allen möglichen Kram.
„Danke.“ Philip klebte das Pflaster auf den kleinen Schnitt an seinem Finger. „Ich habe nichts gefunden außer einem kleinen Stein und einem Licht unter den Scherben.“
„Ja, bei mir war auch ein Licht … Wir sollten …“
„He!“, rief da plötzlich die Stimme eines Mannes. „Was machen Sie in unserem Garten?“
Die Tür des Hauses hatte sich geöffnet und ein älterer Mann, der sie misstrauisch anfunkelte, stand im Türrahmen. Sein Haar war fast vollkommen ausgefallen und lediglich ein dünner Kranz weißen Flaums verlief um die Seiten seines Kopfes.
„Sie müssen Herr Carlsen sein“, sagte Kim und lächelte betont freundlich. „Ihre Frau hatte mit uns telefoniert.“
„Ach“, sagte der Mann, und sein Misstrauen schien zu schwinden. „Na ja, wenn das so ist … Das heißt, ich bin mir nicht sicher, ob sie …“
„Friedrich?“, kam eine Frauenstimme aus dem Haus. „Was ist denn los?“
Eine ältere Frau mit schulterlangem, mausgrauem Haar erschien neben Herrn Carlsen.
„Die Detektive sind da“, sagte Friedrich Carlsen.
„Oh, wie schön“, erwiderte seine Frau und lächelte breit.
„Wir haben uns bereits den Tatort angesehen“, erklärte Kim gewichtig. „Sehr interessant, das alles.“
Philip nickte. „Wirklich äußerst interessant.“
„Möchten Sie nicht vielleicht reinkommen?“, fragte Frau Carlsen.
„Das wäre sehr nett, danke“, antwortete Kim. „Springmann, kommen Sie.“
Sie folgten dem älteren Pärchen ins Haus. Es war mit alten braun lackierten Holzmöbeln eingerichtet. Der ebenfalls hölzerne Dielenboden knarzte laut unter ihren Schritten und Kim fragte sich, wie man davon nicht genervt sein konnte. Vielleicht sollte das eine Art Schutz gegen Einbrecher sein? Statt einer Alarmanlage oder schnatternder Gänse im Vorgarten ein laut knarzender Dielenboden. Niemand käme unbemerkt ins Haus hinein.
Sie gelangten in ein Esszimmer, wo sie sich an den Tisch setzten. Ein Fenster ging hinaus zur Straße. Es war ziemlich warm.
„Möchten Sie vielleicht etwas trinken?“, fragte Herr Carlsen höflich.
„Danke, gern“, erwiderte Kim. „Einfaches Leitungswasser ist völlig in Ordnung.“
„Für mich auch, bitte“, fügte Philip hinzu. Herr Carlsen verschwand kurz in der Küche, an hörte zweimal das Rauschen des Wasserhahns und kurz darauf kam er mit zwei Gläsern in der Hand zurück.
Kim nippte an ihrem Glas und sagte dann: „Also, beginnen wir von vorne. Sie haben diese Gartenzwerge von ihrer Stieftochter geschenkt bekommen, sagten Sie?“
„Ja“, erwiderte Frau Carlsen. „Das war so vor ungefähr einer Woche. Wir hatten Hochzeitstag und sie hat uns diese Gartenzwerge vorbeigebracht.“
„Hm“, machte Kim. „Und sie haben die Gartenzwerge dann auch direkt aufgestellt?“
„Ja. Ich meine, sie machen sich doch gut im Garten, nicht wahr?“
„Natürlich“, log Kim. „Absolut.“
„Natürlich nicht alle auf einmal. Dazu wurden uns zu viele geschenkt. Der Garten sähe dann ja zu vollgestopft aus. Aber so ein, zwei waren eine hübsche Ergänzung.“
Philip schrieb „hübsche Ergänzung“ auf seinen Notizblock und setzte das „hübsche“ dabei in extra viele Anführungszeichen.
„Aber nach zwei Tagen – also, wir sind am Morgen aufgestanden und standen vor zwei Scherbenhaufen, als wir die Zeitung hereinholen wollten.“
„Sie haben in der Nacht nichts bemerkt?“, fragte Kim.
Das Pärchen sah sich kurz an. „Nun“, sagte Herr Carlsen, „nicht beim ersten Mal und eigentlich auch danach nicht. Das heißt, das erste Mal haben wir den Schaden erst bemerkt, als wir am nächsten morgen die Zeitung hereingeholt haben. Beim zweiten Mal ähnlich. Die Nacht danach – also die letzte Nacht – hatten wir einen leichten Schlaf und wir sind diesmal tatsächlich vom Klirren aufgewacht und direkt zum Schlafzimmerfenster, um zu gucken, ob wir jemanden sehen. Aber da war niemand auf der Straße.“
„Wie schnell waren sie am Fenster?“, fragte Kim.
„Sehr schnell“, sagte Frau Carlsen. „Wenn jemand die Gartenzwerge zerschlagen hätte, hätten wir ihn eigentlich weglaufen sehen müssen.“
„Hm“, machte Kim nachdenklich. „Haben Sie beim ersten Mal direkt die Polizei gerufen?“
„Nun, noch nicht“, sagte Frau Carlsen. „Wir dachten, das sei vielleicht eine einmalige Sache, vielleicht das Werk von ein paar betrunkenen Jugendlichen oder so. Also haben wir einfach zwei neue Gartenzwerge rausgestellt – wir hatten ja noch welche – und dachten, es sei damit erledigt.“
„Aber das war es nicht“, stellte Kim fest. „Wenn ich Ihre Aussagen von gerade richtig deutet, hat der Täter dreimal zugeschlagen und dabei also insgesamt sechs Gartenzwerge zerstört?“
„Das ist korrekt.“
„An welchen Tagen war das?“
„Also, das war von Mittwoch auf Donnerstag, von Freitag auf gestern und jetzt eben von gestern auf heute.“
„Hm“, machte Kim. „Also nicht von Donnerstag auf Freitag.“
„Ist das wichtig?“, fragte Herr Carlsen.
„Könnte sein“, erwiderte Kim. „Könnte auch nicht sein. Das wird sich erst noch herauskristallisieren. Sie haben aber die Polizei deswegen verständigt?“
„Ja.“ Frau Carlsens Stimme klang verächtlich. „Das war gestern schon, aber die wirkten nicht so, als wollten sie uns wirklich helfen. Als sei das alles nur eine Bagatelle, die ihrer Aufmerksamkeit nicht wert sei.“
Kim schüttelte bedauernd den Kopf. „So ist das leider manchmal mit den offiziellen Stellen.“
„Wem sagen Sie das?“, erwiderte die alte Frau.
„Haben Sie mit ihren Nachbarn schon darüber gesprochen, ob jemand etwas gesehen oder sonst wie bemerkt hat?“
Das alte Pärchen schüttelte wieder gemeinsam den Kopf. „Nein, wir sind nicht dazu gekommen“, sagte Herr Carlsen. „Ich meine, das wäre ja die Aufgabe der Polizei, nicht?“
„Oder unsere“, erwiderte Kim lächelnd.
Wenige Minuten später standen Kim und Philip auf der Straße vor dem Haus.
„Wir sollten uns überlegen, wie wir vorgehen“, sagte Kim.
„Erst einmal hätte ich eine Frage“, sagte Philip. „Warum genau nehmen wir nur 2 Euro die Stunde?“
„Weil wir erst noch anfangen. Wir können nicht direkt aufs Maximum springen, mein lieber Philip. Wir brauchen erst einen Ruf. Man erarbeitet sich einen Ruf, verdrängt alle Konkurrenten durch seine niedrigen Preise und sobald man das Monopol hat, erhöht man radikal. So funktioniert Wirtschaft.“
„Ich wusste nicht, dass wir uns gleich ein riesiges Detektivimperium aufbauen wollen“, gab Philip zurück.
„Und genau deswegen leite ich auch das Ganze. Ich habe wenigstens eine Vision.“
„Die Vision einer detektivischen Alleinherrschaft.“
„Exakt.“
„Also gut“, sagte Philip. „Und wie gehen wir jetzt vor?“
„Wir stellen den Nachbarn Fragen. Du gehst zu den umliegenden Häusern und ich rede mit den beiden da vorne.“ Sie zeigte auf die Mädchen, die mit Kreide auf die Straße malten. „Dann treffen wir uns wieder und tauschen uns aus.“
Das Haus der Carlsens stand quasi am Ende einer länglichen, zu beiden Seiten von Straße eingeräumten Insel, sodass es nur hinter ihm und auf den jeweils gegenüberliegenden Straßenseiten Häuser gab, aber keine, die unmittelbar daneben standen. Gegenüber von ihm hingegen war ein großes Grundstück, das durch einen Zaun von der Straße abgetrennt war, hinter dem wiederum hohe Bäume aufragten. Dahinter konnte man ein Gebäude mit dunkelblau gedecktem Dach sehen, das quasi eine große Villa war. Der Zaun hatte zwar ein Tor, doch wie Philip feststellen musste, war es verschlossen. Eine Klingel gab es nicht.
Whatever, dachte er, ging zu einem anderen Haus – einem roten Backsteinbau – und klingelte. Eine Frau mittleren Alters mit roten Haaren öffnete die Tür.
„Ja, bitte?“, fragte sie.
Philip erklärte höflich, dass er ein Detektiv und von den Carlsens beauftragt sei herauszufinden, wer ihre Gartenzwerge zerstörte und daher gerne wissen wolle ob ihr, der Frau Huntziger – wie er dem Klingelschild entnommen hatte – irgendetwas aufgefallen sei.
Die Frau starrte ihn irritiert an, lachte dann laut los und versicherte ihm, dass sie zwar nichts bemerkt habe, aber die ganze Geschichte wirklich unglaublich komisch sei. Sie wünschte ihm viel Erfolg dabei, den „Zwergenschlächter“ zu finden und ansonsten einen guten Tag. Hinter der verschlossenen Tür konnte Philip deutlich das Lachen weiter hören.
Als nächstes sprach er mit einem jungen Pärchen, das im Haus daneben wohnte, doch die beiden Frauen hatten ebenfalls nichts gesehen. Sie lachten zwar nicht wie die Frau vorher, doch auch sie schienen die Angelegenheit eher komisch zu finden. Allmählich kam Philip sich ein wenig dumm vor. Die beiden Frauen sagten aber noch, dass das Ehepaar Carlsen öfter Ärger mit Kindern gehabt hätte, weil diese Fußball gespielt und ihren Ball aus Versehen mehr als einmal auf das Gartengrundstück des Ehepaars gespielt hatten. Philip notierte sich das und war froh, wenigstens irgendwen mit einem Motiv zu haben.
Kurze Zeit später wurde er von einem wohl um die vierzig Jahre alten Mann in Hemd und Pullunder angebrüllt, weil er auf dessen penibel gemähten Rasen getreten war. Auf Philips Entschuldigung und Nachfrage hin, ob er etwas wegen der Gartenzwerge bemerkt hatte, brüllte der Mann nur noch lauter und schrie, dass die Carlsens das sehr wohl verdient hätten, denn sie hätten letztlich einen Preis für den schönsten Vorgarten erhalten, der rechtmäßig eigentlich ihm zugestanden hätte, denn sein Garten sei ja viel ordentlicher. Philip notierte sich, dass dieser Brüllaffe offenbar einen klitzekleinen Groll gegen die Carlsens hegte und darüber hinaus ein pedantisch-spießiger Idiot war.
Beim nächsten Haus wurde Philip nicht die Tür geöffnet, stattdessen sagte ihm ein Junge per Gegensprechanlage, dass er nicht mit Fremden sprechen dürfe und überhaupt kämen seine Eltern jeden Moment zurück.
Wenige Sekunden danach sprach Philip mit einem geschwätzigen alten Mann, der sich lediglich darüber wunderte, dass Frau Carlsen diese Gartenzwerge, ein Geschenk ihrer Stieftochter, wirklich im Garten aufstellte – die beiden hätten sich noch nie leiden können, aber vielleicht bemühe sich Frau Carlsen ja einfach in der letzten Zeit um ein besseres Verhältnis, was ja durchaus sein können, und dennoch glaube er, dass die Stieftochter der Frau Carlsen diese hässlichen Gartenzwerge eigentlich aus Bosheit geschenkt hätte, um sie in die Zwickmühle zu bringen, sie entweder im Garten aufzustellen und den dadurch sehr viel unansehnlicher zu machen oder aber sie wegzusperren, was dann aber wiederum der Stieftochter ermöglicht hätte, die Beleidigte zu spielen und sich darüber zu beschweren, dass ihr Geschenk offenbar nicht gefiele. Anschließend folgten noch weitschweifende Ausführungen über seine frühere Arbeit als Dachdecker. Philip entschied, nichts davon aufzuschreiben, da ihm die Hand schon ein wenig wehtat.
Seine weiteren Besuche ergaben eigentlich nicht viel weiter – noch einmal wurde er auf die Sache mit den fußballspielenden Kindern hingewiesen und jemand bestätigte ihm, dass der Brüllaffe – sein richtiger Name war Fresel – in der Tat ziemlich sauer auf die Carlsens war, aber eigentlich sei er wohl sauer auf so ziemlich jeden, unter anderem eben auch auf die Kinder, deren Fußball wohl auch gelegentlich auf seinem Grundstück gelandet war.
Philip setzte sich kurz auf den Rand des Bürgersteigs und blätterte seine größtenteils überflüssigen Notizen durch. Er unterstrich ein paar wichtige Sachen und kritzelte als Zusammenfassung die beiden Verdächtigen unter seine Aufzeichnungen: Fußballspielende Kinder und der Brüllaffe Fresel.
Kim lächelte freundlich, als sie an die beiden Mädchen herantrat. „Ihr malt aber schön“, sagte sie.
Die Mädchen sahen kurz zu ihr auf. Eines von ihnen war dunkelhäutig und hatte kurzes schwarzes Haar, das andere war hellhäutig und blond. „Wir dürfen nicht mit Fremden sprechen“, sagten sie wie aus einem Mund.
„Das verstehe ich“, sagte Kim rasch, „aber ich wollte nur ein paar Fragen stellen.“
„Wir dürfen nicht mit Fremden sprechen“, wiederholten die beiden Mädchen, wieder exakt gleichzeitig. Kim fragte sich, ob sie das geübt hatten. Es war irgendwie unheimlich.
„Ich sehe, ihr habt ein Haus gemalt“, fuhr Kim fort.
„Wir dürfen nicht …“
„Jaja, ich weiß“, unterbrach Kim sie. „Aber gehört vor so ein Haus nicht eine Wiese?“
„Wir haben kein Grün“, sagte das blonde Mädchen.
„So?“, fragte Kim und kramte aus ihrer Hosentasche ein kleines Set mit bunten Kreidestiften hervor, dass sie zum Markieren von Beweismitteln am Tatort oder zum Hinterlassen von Zeichen gekauft hatte. Es war noch nie zum Einsatz gekommen, aber jetzt war es offenbar gut, es dabeizuhaben. „Wenn ich euch diesen grünen Kreidestift gebe, redet ihr dann mit mir?“
Die Mädchen sahen sich an und zuckten dann mit den Achseln.
„In Ordnung“, sagte die Blonde.
„Na gut“, stimmte das andere Mädchen zu.
„Schön“, sagte Kim, lächelte und gab den beiden den grünen Kreidestift. „Zunächst einmal: Ich heiße Kim. Wie heißt ihr denn?“
„Ich bin Meti“, sagte das dunkelhäutige Mädchen.
„Ich heiße Sonja“, fügte das andere Mädchen hinzu.
„Schöne Namen“, sagte Kim. „Also, ich wollte euch etwas fragen. Kennt ihr die Carlsens?“
Beide Mädchen nickten. „Die haben uns immer angeschrien, wenn wir beim Fußballspielen auf ihr Grundstück gekommen sind.“
„Hm“, machte Kim. „Wisst ihr auch, dass die Gartenzwerge der Carlsens kaputt gemacht wurden?“
Die beiden Mädchen wechselten einen Blick. „Wir waren das nicht“, sagten sie dann wieder gleichzeitig.
Kim lachte. „Nein, nein“, sagte sie, „so meinte ich das nicht. Ich wollte nur fragen: habt ihr irgendwas gesehen? Ist euch irgendwas aufgefallen oder wisst ihr, wer das gewesen sein könnte?“
Die beiden schüttelten den Kopf.
„Das ist in der Nacht passiert, oder?“, fragte Meti. „Da müssen wir immer schon im Bett sein.“
„Und sonst? Ist euch tagsüber irgendwas aufgefallen oder habt ihr jemanden gesehen, der sich komisch verhält?“
Die beiden schienen nachzudenken. „Moritz spielt nicht mehr mit uns“, sagte Sonja schließlich.
Meti nickte. „Letzte Woche hat er mit uns noch Fußball gespielt. Aber wenn wir in den letzten Tagen gefragt haben, ob er rauskommt, ist er dringeblieben.“
„Er spielt die ganze Zeit auf seiner Switch“, sagte Sonja mit übertriebener Verachtung. „Ich glaube, er hat neue Spiele bekommen.“
„Nun, das ist ja eigentlich normal, dass er dann vielleicht erst einmal lieber drin bleibt und seine neuen Spiele spielt, oder?“, fragte Kim.
„Er kriegt von seinen Eltern nie was, wenn nicht Weihnachten oder sein Geburtstag ist“, sagte Sonja. „Das ist merkwürdig.“
„Wir finden es jedenfalls doof“, sagte Meti. „Er wollte uns helfen, besser zu werden.“
„Besser? Worin?“, fragte Kim.
Sonja zog eine offenbar selbstgebastelte Zwille mit rosafarbenem Gummiband aus ihrer Hosentasche. „Im Schießen“, sagte sie. „Moritz wollte uns zeigen, wie man damit gut trifft. Er ist der Beste darin. Jeder hier weiß das.“
Auch Meti zog eine Zwille hervor. Ihr Gummiband war grün. Kim war ein wenig verdutzt. Schossen Kinder heute noch mit Zwillen? Sie selbst hatte das nie getan. Vielleicht hatte sie was verpasst.
Dann kam ihr eine Idee. „Ihr sagtet, ihr hattet Ärger mit den Carlsens wegen dem Fußball. Moritz war dabei, oder?“
„Ja“, sagte Meti. „Er wurde von beiden sogar angeschrien.“
„Aha“, murmelte Kim.
„Nicht wirklich angeschrien“, sagte Sonja. „Aber sie haben ihm wohl eine gehörige Standpauke gehalten. Das erste Mal, als wir den Ball auf das Grundstück gespielt haben, kam der Herr Carlsen raus und hat Moritz – also, der war den Ball holen gegangen – kurz festgehalten und länger mit ihm geredet. Wir konnten das aber von der Straße aus nicht hören.“
„Und dann später“, sagte Meti, „haben wir den Ball aus Versehen noch einmal dahin gespielt und diesmal kam die Frau Carlsen raus und hat das Gleiche getan.“
„Moritz hat gesagt, es sei nicht schlimm gewesen, aber er war danach so schlecht beim Fußball, dass ihn das wohl doch fertig gemacht hat“, schloss Sonja. „Er war total abgelenkt und ist dann gegangen.“
„Da fällt mir ein“, rief Meti, „vor ein paar Wochen wurde er schon von diesem einen Mann angeschrien – Fresel heißt der. Wir haben nämlich eigentlich erst vor seinem Haus auf der Straße Fußball gespielt und da musste Moritz auch einmal den Ball von seinem Grundstück holen und der Mann hat ihn dann so angebrüllt, dass Moritz fast geweint hat.“
„Das war wirklich gemein“, stimmte Sonja zu. „Und der hat dann wohl noch mit Moritz’ Eltern geredet und dann hatte er Hausarrest für eine Woche.“
„Hat er vielleicht jetzt einfach wieder Hausarrest und darf deswegen nicht rauskommen?“, fragte Kim.
„Kann sein“, sagte Meti achselzuckend. „Aber dann wissen wir nicht, warum. Vielleicht haben die Carlsens mit seinen Eltern geredet.“
„Hm“, machte Kim. Sie hatte das Gefühl, heute sehr oft „Hm“ gemacht zu haben.
„Ach ja, jemand war in meinem Baumhaus“, sagte Meti.
„Was?“, fragte Kim.
„Mein Baumhaus.“ Meti zeigte auf die Baumgruppen gegenüber dem Haus der Carlsens. Tatsächlich hingen zwischen den Ästen einiger Bäume wohl Bretter, die eine Plattform bildeten. Relativ hoch. Kim merkte, wie ihre Hände beim Anblick schon ein wenig feucht wurden. Verflixte Höhenangst. Und da kletterten die Kinder einfach so rauf?
„Ich habe da eine Decke im Baumhaus“, sagte Meti, „und die lag vorgestern nicht mehr da, wo ich sie hingelegt hatte.“
„Da ist ein Zaun vor dem Grundstück“, sagte Kim. „Kommt man da einfach so drauf?“
„Der Zaun verläuft nicht um das ganze Grundstück“, erwiderte Meti. „Wenn man da vorne lang geht“, sie zeigte auf das Ende des verkehrsberuhigten Bereichs, „und dann nach rechts geht und dann wieder nach rechts, kommt man da hin.“
„Weiß Moritz von dem Baumhaus?“, fragte Kim.
Meti nickte. „Er war selbst oft da drin.“
„Verstehe“, sagte Kim und biss sich auf die Lippe. „Das ist wirklich sehr interessant.“
Kim setzte sich etwas entfernt von den beiden Mädchen auf den Bürgersteig und dachte nach. Auf den ersten Blick schien alles einfach, aber da war diese eine Sache, die sie einfach noch nicht einordnen konnte. Und das ärgerte sie. Wenn in Krimis ein Detail nicht ins Gesamtbild passte, dann war die Theorie, die man sich gebildet hatte, in der Regel falsch.
Sie dachte kurz an die Untersuchung der Gartenzwerge, die sie heute schon vorgenommen hatten. Philip hatte einen Stein gefunden. Sie nicht. Wobei …
Sie ging wieder zum Garten der Carlsens und untersuchte genauer den Scherbenhaufen, den sich heute schon einmal in Augenschein genommen hatte. Auch in der näheren Umgebung lag nichts in dem vollkommen akkurat und kurz gemähten Gras. Dann fiel Kims Blick auf den niedrigen Steinbrunnen in der Nähe, und sie sah hinein. Tatsächlich, da lag ein Stein auf dem Grund. Offenbar war er nach dem Aufprall hier reingehüpft. Das bestätigte zumindest einen kleinen Teil von Kims Theorie.
„Ich hoffe, du hast nicht nur hier herumgesessen und diese Scherben weiter untersucht“, hörte sie Philips Stimme hinter sich. Er war offenbar schlecht gelaunt.
„Kein Glück gehabt?“, fragte Kim.
„Viel Gelaber und ein Schreihals“, sagte Philip.
„Du Ärmster“, sagte Kim mitfühlend. „Aber hast du was rausgefunden?“
„Die Carlsens hatten Ärger mit den Kindern, weil die beim Fußballspielen ihren Ball in deren Vorgarten gespielt haben. Und es gibt da einen Typ namens Fresel, der die Carlsens wohl nicht mag, weil sie ihm irgendeinen Preis für den Garten weggeschnappt haben.“
„Ja, das deckt sich ungefähr mit dem, was ich rausgekriegt habe“, erwiderte Kim. Sie seufzte und berichtete Philip von ihrem Gespräch mit Meti und Sonja. „Es gibt da also diesen Jungen namens Moritz, der offenbar gut mit einer Zwille umgehen kann und wegen dem Fußball Ärger mit den Carlsens hatte. Bei beiden Scherbenhaufen liegen kleine Steine, während der Rasen sonst geradezu blitzblank ist. Außerdem weiß er über das Baumhaus da oben Bescheid.“ Sie wies auf die Bretterkonstruktionen in den Bäumen gegenüber.
„Du meinst, der war das?“
„Scheint mir die einzige Erklärung zu sein. Die Carlsens sagten, sie hätten niemanden weglaufen sehen, also wurden die Gartenzwerge wohl aus der Entfernung zerschossen, von einem in der Nacht sichtgeschützten Standpunkt aus. Und dieser Moritz geht noch zur Schule. Wann wurden die Gartenzwerge zerstört?“
„In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, von Freitag auf Samstag und von Samstag auf Sonntag“, sagte Philip, nachdem er kurz auf seinen Notizblock geschaut hatte.
„Eben. Letzten Donnerstag war Feiertag. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Schulkind, wenn es in der Nacht etwas erledigen möchte, darauf achten würde, dass es am nächsten Tag ausschlafen kann. Das passt gut zusammen.“
„Aha.“
„Aber weißt du, Philip … Dieser Moritz hat offenbar neue Spiele für seine Switch bekommen.“
„Ja und?“
„Und nach dem zu urteilen, was die Mädchen erzählt haben, kaufen ihm seine Eltern nie was, es sei denn er hat Geburtstag oder es ist Weihnachten. Und sie schienen dabei zu implizieren, dass sein Geburtstag jetzt gerade nicht war. Und dass nicht Weihnachten ist, merkt man gut an der Sommerhitze.“
„Brillante Schlussfolgerung.“
„Ich weiß. Also frage ich mich: Wie ist er an die Spiele gekommen, gerade jetzt, wo die Gartenzwerge zerschossen werden?“
„Vielleicht hat er Geld gespart und sie sich gekauft. Oder jemand anderes hat sie ihm geschenkt, wer weiß.“
„Und wenn es zusammenhängt?“
„Du meinst … Jemand hat ihn bezahlt, dass er die Gartenzwerge kaputt macht?“
Kim nickte.
„Dann kommt wohl nur dieser Fresel in Frage“, meinte Philip. „Der würde den Carlsens wohl nur zu gern eins auswischen.“
„Ja“, sagte Kim gedehnt. „Da müssten wir wohl Moritz zur Rede stellen und ihn ausquetschen. Der wird uns sicher alles erzählen, dann haben wir den Beweis.“
„Haben die Mädchen dir denn seine Adresse gegeben?“, fragte Philip.
„Nein, aber die lässt sich sicher herausfinden. Wahrscheinlich wissen das die Carlsens sogar selb…“
Kim brach mitten im Wort ab und fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. „Oh …“, murmelte sie. „Natürlich … Das ist … Das ist brillant! Ich hab’s!“
Philip war verwirrt. „Wie?“, fragte er. „Was hast du?“
Kim ignorierte ihn. „Aber es können wohl kaum beide … Nein …Es sei denn natürlich … Aber vielleicht auch nur einer … Ach, das ist gar nicht wichtig.“
Energisch ging sie auf die Haustür der Carlsens zu und klingelte Sturm. Philip folgte ihr verdutzt, obwohl er immer noch Bahnhof verstand.
„Schau nicht so belämmert drein, Philip“, sagte Kim eindringlich. „Das ist unser großer Auftritt jetzt.“
Philip kam sich Mühe, ernst dreinzublicken, obwohl es ihm sehr schwer fiel. Ein verwirrtes Ehepaar Carlsen öffnete ihnen die Tür.
„Was ist denn?“, fragte Frau Carlsen. „Haben Sie etwa … neue Erkenntnisse?“ Sie sprach sehr vorsichtig.
„Allerdings!“, sagte Kim entschlossen. „Dürften wir reinkommen?“
„Nun … Sicher“, sagte Frau Carlsen, und ihr Mann und sie selbstführten Kim und Philip wieder an den gleichen Tisch, an dem sie heute schon einmal gesessen hatten.
„Wir wissen, wer hinter der Zerstörung Ihrer Gartenzwerge steckt“, sagte Kim.
„Oh!“, machte Frau Carlsen.
„So …“, murmelte Herr Carlsen.
„Es gibt da einen Jungen in der Nachbarschaft – Sie kennen ihn sicher, sein Name ist Moritz und er hat wohl mehrmals seinen Fußball von ihrem Grundstück holen müssen.“
„Ach, der, ja“, sagte Frau Carlsen.
„Wir nehmen an, dass er sich in der Nacht auf dem Baumhaus gegenüber von ihrem Garten postiert und von da aus auf die Gartenzwerge mit seiner Zwille geschossen hat.“
„Er soll ein guter Schütze sein“, sagte Herr Carlsen, als sei ihm gerade etwas klar geworden.
„In der Tat“, sagte Kim. „Aber das ist nicht alles. Immerhin haben Sie ihn beauftragt, dass er die Gartenzwerge zerschießt.“
Die Carlsens starrten Kim für einen Moment an, dann sagten sie beiden gleichzeitig: „Woher wissen Sie das?“
Danach sahen sich die Carlsens gegenseitig überrascht an.
„Moment“, sagte Frau Carlsen, „du hast auch …“
„Ich wusste nicht, dass du schon …“, erwiderte Herr Carlsen.
„Sie beide haben“, sagte Kim gelassen. „Ohne dass die andere Person davon wusste. Und dann dachten sie jeweils, um die Scharade gegenüber der jeweils anderen Person aufrecht zu erhalten, sei es notwendig, so zu tun, als seien die kaputten Gartenzwerge ein herber Verlust, und als müsste der Täter gefunden werden.“
„Ich meine“, sagte Frau Carlsen, „diese Gartenzwerge waren so unfassbar hässlich, es war grauenvoll.“
„Fand ich ebenfalls“, stimmte Herr Carlsen zu. „Aber ich dachte, sie gefallen dir. Zumindest hast du das gesagt.“
„Weil sie von deiner Tochter waren!“, rief Frau Carlsen. „Ich wollte nur nett sein!“
Philip saß da und bemühte sich, das unwillkürliche Aufklappen seines Mundes zu verhindern.
„Sie dachten also, die jeweils andere Person wolle die Gartenzwerge aufstellen, und aus Rücksicht aufeinander haben sie mitgespielt“, sagte Kim. „Hätten Sie miteinander ehrlich geredet, hätte sich das vielleicht ganz anders lösen lassen. Sie selbst kaputt machen kam aber nicht in Frage – am Tag wäre es zu auffällig gewesen und nachts … Nun, so wie ihr Boden in diesem Haus knarzt, hätten Sie sich wohl kaum darum kümmern können, ohne die andere Person aufzuwecken.“
„Ich dachte, es wäre die eleganteste Lösung“, murmelte Herr Carlsen. „Dann hätte meine Tochter uns auch nicht vorwerfen können, ihr Geschenk nicht zu mögen. Was können wir für ein paar marodierende Jugendliche in der Nachbarschaft?“
Frau Carlsen nickte heftig. „Genau mein Gedanke.“
„Und Moritz“, fuhr Kim fort, „tja, der hat wohl schnell geschaltet, als sie ihn getrennt voneinander darum gebeten haben. Er konnte ja gewissermaßen doppelt abkassieren, also war das für ihn nur gut.“
„Unfassbar“, sagte Frau Carlsen kopfschüttelnd. „Ein Schuljunge hat uns reingelegt.“
„Im Wesentlichen haben Sie sich wohl selbst reingelegt“, warf Philip ein, um wenigstens auch irgendwas zu sagen.
„Na ja“, meinte Herr Carlsen betreten. „Aber das muss ja hoffentlich nicht jeder in der Nachbarschaft erfahren, oder?“
„Verschwiegenheit gehört zu unseren obersten Pflichten“, sagte Kim. „Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen. Allerdings würde ich sie darum bitten, Moritz die Sache nicht krumm zu nehmen. Er hat schließlich nur getan, wofür sie ihn bezahlt haben.“
„Natürlich“, sagte Frau Carlsen.
„Ansonsten …“ Kim lächelte freundlich, „ich möchte nicht unverschämt sein, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, dürfte ich um unser Honorar bitten. Wir waren ungefähr drei Stunden im Dienst, das macht also insgesamt …“
„Wenigstens dafür hat’s gereicht“, sagte Philip, als er an seiner Kugel Zitroneneis leckte. „Ist doch auch was.“
Kim zuckte die Achseln und biss ein Stück aus ihrem Sanddorn-Stracciatella-Eis. „Wir werden irgendwann mehr verlangen.“
„Wie bist du eigentlich auf die beiden gekommen?“
„Auf die beiden bin ich nicht gekommen. Es gab die Möglichkeit, dass es einer von ihnen war oder beide unabhängig voneinander. Deswegen habe ich nur gesagt: ‚Sie haben ihn beauftragt‘ – die Anrede konnten beide auf sich beziehen. Die Reaktion machte es dann klar.“
„Okay, und wie bist du dann darauf gekommen, dass es mindestens einer von ihnen war?“, fragte Philip.
„Nun, Sachen im Dunkeln zu treffen ist auch für einen Meisterschützen ziemlich blöd. Aber die Gartenzwerge standen neben oder auf den Gartenlichtern, sodass sie auch im Dunkeln gut zu sehen gewesen wären. Ziemlich bequem für den Täter also – man konnte annehmen, dass jemand die Gartenzwerge absichtlich so positionierte, damit sie ein gutes Ziel abgaben.“
„Ah“, sagte Philip. „Verstehe.“
„Du wirkst geknickt.“
„Ich bin halt nicht draufgekommen.“
„Ach, Philip“, sagte Kim, „bist du etwa neidisch?“
„Nein“, sagte Philip und wurde rot. „Absolut nicht.“
„Du bist niedlich, wenn du lügst. Aber keine Sorge, irgendwann wirst du so ein guter Detektiv sein wie ich. Hey, wenn wir zu Hause sind, müssen wir noch das Rätselspiel weitermachen. Dann kannst du direkt üben.“
„Äh, ja …“ Philip druckste ein wenig herum. „Was das betrifft …“
„Hm?“
„Also, ich hatte, während ich mit den Leuten gesprochen hatte, wohl einen Anruf von meiner Mutter verpasst und als ich in die Liste der ein- und ausgegangenen Anrufe ging, um da nachzusehen, ist mir aufgefallen, dass ich mich wohl heute bei dem Spiel einfach nur … verwählt hatte.“ Er lächelte schwach.
„Ach, Philip“, sagte Kim noch einmal, diesmal besonders mitleidig.
„Tut mir leid“, erwiderte er.
„Ts, ts, ts“, machte Kim. „In letzter Zeit bist du so … unaufmerksam.“
„Kann sein …“
„Ich glaube, wir müssen deine Detektivlektionen heute Abend noch einmal durchgehen.“
„Meine … Oh, du meinst …“
„Hm-hm“, machte Kim zustimmend und zwinkerte. „Und ich werde extra streng dabei sein.“