Felis Gesicht spiegelte sich in der Fensterscheibe, wenn sie nach draußen sehen wollte, denn es war bereits Nacht und damit dunkel geworden, während in dem Café, das 24 Stunden geöffnet hatte, natürlich noch Licht brannte. Lediglich etwas die Straße runter konnte sie eine kleine Neonanzeige eines Kiosks erkennen: „Closed“.
Feli rieb ihre Hände an der warmen Tasse Kakao, die auf dem Tisch stand, schloss die Augen und horchte auf den Regen, der leise an die Fenster des Cafés klopfte. Wie lange war sie schon hier? Es mussten Stunden sein. Außer ihr und der Kellnerin war niemand hier.
Feli spürte, dass sie ein wenig müde wurde, doch sie wollte nicht gehen, nicht hinaus in den Regen und in das Hotel, das am Ende der Straße auf sie wartete. Sie mochte dieses Café – es war wie ein amerikanisches Diner eingerichtet mit den schönen roten Polstern der Sitzbänke und dem schachbrettartig gefliesten Boden.
Vielleicht darf ich hier über Nacht bleiben, dachte Feli. Schließich hat es dauerhaft geöffnet.
In den letzten Stunden hatte sie nur auf den Tisch oder aus dem Fenster gestarrt und gelegentlich immer ein anderes Getränk von der Karte bestellt. Mittlerweile musste sie fast alles, was alkoholfrei war, probiert haben. Der Kakao, den sie gerade vor sich stehen hatte, war besonders gut – schön warm mit Hafermilch und der veganen Sahne, die vor Jahrzehnten üblich geworden sah. Feli nahm einen Schluck davon und lächelte, wobei sie es aber vermied, ihr Spiegelbild im Fenster anzusehen. Sie wusste, dass ihr Lächeln gleich wieder sterben würde, wenn sie es sah, denn es war nie ein wirklich glückliches Lächeln, sondern eines, das einen nur traurig machte, wenn man es sah. Feli hatte nie einen Menschen getroffen, der so lächelte wie sie – wahrscheinlich war das eine gute Sache.
Mit ein wenig Schuldbewusstsein sah sie auf den fast leeren Notizblock, der ebenfalls vor ihr auf dem Tisch lag, ein Kugelschreiber daneben. Ganz oben auf dem Papier stand eine einfache Frage:
WAS WILL ICH?
In der Zeit, die sie hier gesessen hatte, war ihr nicht eine Sache eingefallen, die sie wirklich hatte aufschreiben wollen.
Feli seufzte und nippte wieder an ihrem Kakao. Sie war wieder traurig, aber der süße Kakao löste bei ihr ein kleines Glücksgefühl aus, wann immer sie ihn schmeckte. Wenn sie doch nur immer weitertrinken könnte, dachte sie sich.
„Schreibblockade?“, schreckte die Stimme der Kellnerin sie aus ihren Gedanken.
„Was?“, fragte Feli und sah zu der Bedienung auf.
„Der Block“, sagte die Kellnerin. Sie war eine junge Frau mit freundlicher Stimme, ebenso freundlichem Lächeln und kurzen blonden Locken. Sie war hübsch auf eine warmherzige Art. „Du bist doch Autorin oder so?“, fragte die Kellnerin.
Feli schüttelte den Kopf. „Das … Das ist nur, um meine Gedanken aufzuschreiben.“
„Viel hast du wohl noch nicht gedacht“, scherzte die Kellnerin.
Feli nickte nur und starrte auf das weiße Papier. Offenbar wirkte sie dabei ziemlich niedergeschlagen, denn die Kellnerin sagte hastig: „Also, das sollte jetzt keine Beleidigung sein.“
„Schon in Ordnung“, sagte Feli und versuchte, auf fröhliche Art zu lächeln, obwohl sie genau wusste, dass es ihr misslang. „Es ist nur … Ach, es ist eigentlich nichts.“ Die Kellnerin musterte sie skeptisch. „Der Kakao ist wirklich lecker“, sagte Feli, um das Thema zu wechseln. Im gleichen Moment fragte sie sich, ob sie nicht mit jemandem über ihre Gefühle reden sollte. Sie wollte es. Aber gleichzeitig wollte sie es auch nicht.
„Danke“, sagte die Kellnerin. „Ist aber nur Hafermilch und Sahne, wie überall sonst auch.“
„Nein“, widersprach Feli. „Ich war schon in einigen Cafés und Restaurant und dieser Kakao hier ist besser als anderswo.“
„Vielleicht, weil hier noch Menschen arbeiten“, sagte die Kellnerin. „Maschinen … fehlt irgendwie immer noch irgendwas, denke ich. Du kommst wohl viel rum?“
„Ein wenig.“
„Was führt dich dann hierher?
Feli brauchte einen Moment, um darauf zu antworten. „Nichts Besonderes“, sagte sie schließlich. „Ich bin nur auf der Durchreise.“
„Wohin geht es denn?“
„Weiß ich nicht“, erwiderte Feli wahrheitsgemäß. „Ich habe kein Ziel.“
Die Kellnerin schien irritiert. „Du streifst also nur durch die Gegend? Keine Reise, um irgendwo die Sehenswürdigkeiten zu sehen?“
Feli schüttelte den Kopf. „So etwas interessiert mich nicht wirklich. Momentan zumindest.“
„Okay“, sagte die Kellnerin und zuckte mit den Achseln. „Jede Person macht heutzutage, was sie will, nicht wahr?“
Feli nickte, woraufhin eine unangenehme Stille eintrat. Die Kellnerin räusperte sich schließlich, meinte irgendwas von wegen, sie müsse weiterarbeiten und verschwand hinter dem Tresen durch eine Tür.
Feli schaute wieder auf das leere Papier und klappte schließlich frustriert den Block zu. Sie dachte daran, wie sie vor anderthalb Jahren die Universität hingeschmissen hatte, kurz vor ihrem Abschluss in Physik. Es war nicht, was sie gewollt hatte und rückblickend schien es ihr seltsam, dass sie so lange geglaubt hatte, es sei anders.
Die Leute um sie herum waren enttäuscht gewesen, auch wenn sie es sich natürlich nicht hatten anmerken lassen. Die Dozentin, die sie in ihrer Abschlussarbeit betreut hatte, hatte nur gesagt, sie solle sich das gut überlegen, ebenso wie ihre beiden Mütter. Aber wenn Feli versucht hatte, es zu erklären, hatte keine von ihnen wirklich Verständnis gezeigt. Sie hatten Felis Entscheidung akzeptiert und respektiert, aber nicht wirklich verstanden.
Eine Zeit lang hatte sie es mit verschiedenen Therapien versucht, aber es hatte nichts gebracht. Wann immer sie sich fragte oder gefragt wurde, was los war, konnte sie nichts anderes sagen als „Nichts“, und gerade das war der springende Punkt. Bei ihrer ersten Therapeutin hatte sie sämtliche Sitzungen stumm dagesessen und schließlich entschieden, dass es keinen Sinn hatte. Sie hatte versucht, andere Leute zu finden, aber die Ergebnisse sahen jeweils ähnlich aus.
Feli seufzte, trank den Rest ihres Kakaos und raffte ihre wenigen Sachen zusammen. Die Kellnerin war noch nicht wieder zurück, aber das war auch egal. Feli packte ihren Notizblock in ihre Umhängetasche, schloss den Reißverschluss ihrer Sweatshirtjacke und trat in den strömenden Regen hinaus, ohne sich die Mühe zu machen, die Kapuze aufzusetzen. Nach nur wenigen Augenblicken war sie komplett durchnässt. Einzig und allein ihre Umhängetasche war wasserdicht.
Vor Kälte ein wenig zitternd kam sie am Hotel an und trat in die angenehme Wärme der Lobby. Sie wählte an einem der Terminals ein freies Zimmer, während sie auf den Teppichboden tropfte.
Kurze Zeit später lag sie abgetrocknet und in einem der Hotelpyjamas auf dem Bett in dem kleinen Raum, der noch über einen Fernseher, eine kleine Kleiderkommode und ein angegliedertes Bad verfügte.
Feli kuschelte sich in die warmen Laken und schloss die Augen. Schlaf war schön. Im Schlaf war sie nie traurig.
Draußen trommelte der Regen weiterhin unaufhörlich auf den Asphalt der Straße.