Sehr interessanter Thread.
Hypochondrie ist ein Phänomen was heutzutage sicherlich deutlich häufiger aufritt als es früher der Fall war. Dieser Gesundheitswahn an den falschen Stellen sowie das dauernde krank-Sein hat jedoch denke ich mehrere Ursachen, die meines Erachtens nach gesellschafts- und systembedingt sind. Folglich ist nicht alles davon Hypochondrie. Ich glaube daher nicht an einen monokausalen Zusammenhang, der das Phänomen erklären kann.
Dass Leute erst einmal super vielen Mist glauben liegt an unseren Medien. Regelmäßig wird halt irgendwas benötigt was als Skandal dient und wenn gerade kein Plagiatsfall oder eine Spendenaffäre in der Politik zur Hand ist und kein englischer Royal ein Kind bekommt, dann wird halt eine höchst einseitige Studie über die Gefährlichkeit von irgendwelchen eigentlich doch nicht so gefährlichen Stoffen berichtet. Die Mutter meiner Freundin (Buddhistin, esoterisch) glaubt auch immer alles was sie im Fernsehen sieht und meint dann meiner Freundin (studiert im Medizin und ist schon im 9. Fachsemester) erklären zu müssen was gesundheitsgefährdent sei und was nicht. @Shorino als ehemaliger Soziologiestudent weißt du ja sicherlich über den Bildungsstand und den Horizont der Durchschnittsbevölkerung Bescheid und daher ist es dir ja bestimmt auch klar, dass da so gut wie gar kein Reflexionsvermögen da ist.
Der Trend zu Homöopathie und all dem Kram sehe ich wiederum in dem Verlangen nach Spirituellem. Unsere westliche Gesellschaft wendet sich gerade von der christlichen Religion ab. Jedoch sieht man bei vielen Menschen trotzdem noch ein spirituelles Verlangen. Neben dem Buddhismus ist Alternativmedizin und die damit verbundene Körperlehre da ein beliebtes Gebiet für das sich viele dieser Menschen interessieren. Ich kenne viele Leute, den kann man (oder auch meine Freundin, die Ahnung von Medizin hat) 10 mal erklären kann, dass 75% der klassischen Alternativmedizin Quatsch sind und auch dass die restlichen 25% auch in unsere modernen westlichen Medizin berücksichtigt werden, doch die Menschen wollen es einfach nicht höhren. Sie wollen halt an Seelen, Chakren, Chi und den ganzen Quatsch glauben. Mit dem Phänomen eng verbunden ist meiner Meinung nach der Ökologie-Wahn. Aus gutem Grunde gibt es heute auch viele postmaterialistische Wertsysteme, die ich begrüße. Wie bei vielen Wertsystem jedoch ist es so, dass es innerhalb dieser Systeme einen gewissen Konsenz gibt was man glaubt und was nicht. Daher ist der typische Vegetarier, der auf Ökostrom umgestiegen auch der Überzeugung, dass der Elektrosmog seiner Geräte ihn so belastet, obwohl die Symptome erst aufgetreten sind, nachdem die Abneigung von Elektrosmog in seiner Peer-Group Mehrheitsmeinung geworden ist.
Viele Menschen, die an solchen nicht oder schlecht erwiesenen Krankheiten leiden haben wohl auch andere Krankheiten und sind fehldiagnostiziert. Einerseits von inkompetenten Ärzten und andererseits, aufgrund eigenen Zutuns. Ein Großteil dieser Menschen wiederum hat wohl psychische Krankheiten. Diese sind in unserer Gesellschaft jedoch sehr stark stigmatisiert, sodass viele Leute sich das nicht eingestehen und die Probleme halt bei anderen Ärzten zu Lösen versuchen. Einerseits gibt es dann Ärzte, die die psychische Ursache selbst nicht sehen, es gibt Patienten, die den Hinweis auf mögliche psychische Ursachen aus Scham ignorieren und es gibt Ärzte, die die mögliche psychische Ursache nicht erwähnen, da sie so Patienten verlieren, denn Patienten gehen selten zu dem Arzt, der am besten diagnostiziert sondern sie gehen zu dem, der die für sie bequemste Diagnose (und damit verbundene Lösung) anbietet.
Zuletzt würde ich sagen, dass die trotzdem erheblich vorhandene Hypochondrie auch durch unsere moderne Gesellschaft bedingt sind. Durch die häufigen Praktika, Famulaturen, Praxiseinheiten... meiner Freundin bekomme ich mit wie häufig sich alleinstehende (Retner) ohne wirkliche Dringlichkeit ins Krankenhaus einliefern lassen. Viele Menschen fühlen sich allein und wenn man krank ist bekommt man schneller Aufmerksamkeit und daher sind Leute denen Aufmerksamkeit fehlt auch öfter krank. Ähnlich verhält es sich mit Leuten, die einfach eine sonstige leere im Leben haben. Zum Beispiel kenne ich viele Studenten, die nur für ihr Studium leben und privat keine Hobbies oder eigenen Interessen haben. Sobald sie dann mal nichts zu lernen haben sind sie krank, weil das auch eine Methode ist die Langeweile auszufüllen. Ob das jetzt beides Hypochondrie oder doch schon wieder psychisch krank ist, mag wohl jeder unterschiedlich bewerten.
All die Dinge beruhen meiner Meinung nach auf zwei Dingen, die es eben erst seit den letzten paar Jahrzehnten gibt. Einerseits ist die Informationsgesellschaft sehr stark daran Schuld. Die Verbreitung von falschem Wissen und die Bestätigung von Anderen, die dies ebenfalls glauben ist durch das Internet enorm gestiegen. Gleichzeitig hat aufgrund der Schnellebigkeit auch die Qualitat der anderen Medien deutlich nachgelassen. Das andere Problem ist die gestiegene Orientierungslosigkeit. Bis in die 60er war die Welt für die meisten Menschen noch einfach, Werte und Normen wurden durch die Eltern vorgegeben (und waren meistens religionsbasiert). Beruflich hat man das gemacht was der Vater gemacht hat und die Frau war oft Hausfrau. Freizeit gab es viel weniger und wenn war die viel homogener organisiert, Medien gab es sehr wenige und ansonsten hat sich die Mehrheit der Bevölkerung einfach noch in der Stammkneipe, im Ortsverein etc. getroffen. Dieses feste, eingende aber auch wegweisende (und für viele Menschen Sicherheit gebende) System ist halt zerfasert worden und damit hängt das alles meiner Meinung nach zusammen.
Weiterhin möchte ich jedoch noch betonen, dass es neben dem Trend zur Alternativmedizin auch den umgekehrten Trend zur Dauermedikation gibt. Der Kabarettist Volker Pispers hat mal von einem Hausarzt erzählt, der ihm gesagt hat, dass er dem Großteil seiner Patienten einfach mehr Sport, eine gesündere Ernährung sowie den Verzicht auf Alkohol und Zigaretten empfehlen müsste, jedoch verschreibt er lieber was, weil die Patienten das nicht hören wollen und sonst zu einem anderen Arzt gehen. Sie wollen die Ursachen nicht bekämpfen, sondern sie doktorn lieber an den Folgen herum. Wie bereits gesagt, habe ich des Öftereren Einblick in das medizinische System und kann bestätigen, dass die von Volker Pispers beschriebene Situation Alltag ist. Weiterhin gibt es auch unter Ärzten die Tendenz der Übermedikation. Unter vielen anderen Ärzten haben Hautärzte zum Beispiel einen schlechten Ruf, da sie (zu) schnell Salben mit Antibiotika verschreiben, was wiederum für einen erhöhten Aufbau von Resistenzen sorgt, was dann schlussendlich die Behandlung von anderen weitaus schwerwiegerenderen Erkrankungen erschwert. Weiterhin ist es leider eine Realität, dass die Pharmakonzerne Ärzte regelmäßig "entlohnen", wenn sie bestimmte Rezepte auch verschreiben, wenn es noch nicht ganz nötig ist. Eine gewisse Skepsis gegenüber der Medikation, die einem der Arzt verschreibt ist daher auch nicht völlig unangebracht.
Übrigens schalte ich Abends auch das W-Lan ab, ich kann sonst auch nicht schlafen... das liegt aber daran, dass Modem und Router direkt neben unserem Bett an der stehen (Kabelbuchse war halt da) und ich bei 9 brennenden und blickenden Lichtern einfach genervt bin :P