“Ich will euch ja nicht stören ...”
Erschrocken ließ Luna Lucario los und sah sich nach der Quelle der Stimme um. Der typisch nervöse, etwas zögerliche Klang kam ihr bekannt vor.
“Komm her, Zigzachs. Ich möchte nicht schon wieder das ganze Unterholz nach dir absuchen. Also, was ist?”
“Kein Grund, unfreundlich zu werden. Ich wollte euch bloß sagen, dass Sodachita den halben Wald verrückt macht, weil sie euch sucht. Zumindest dich, Luna. Sie sagt, dass du sie heute besuchen wolltest und hat jetzt Angst, dass dir etwas zugestoßen ist. Wir anderen wären dir im Übrigen sehr verbunden, wenn du jetzt zu ihr gehst, bevor sie noch einen hysterischen Anfall bekommt. Sie kann …”
Luna erfuhr nie, was Sodachita konnte, denn sie war bereits losgerannt, am Zigzachs vorbei, dass tatsächlich etwas vorgetrottet war. Himmel, sie hatte Sodachita ganz vergessen! Sie hatte ihr doch versprochen, sich heute von ihr schwimmen beibringen zu lassen, etwas, womit das violette Pokémon ihr schon seit Monaten auf die Nerven gegangen war. Scheinbar lief Luna jede Sekunde ihres Lebens in Gefahr, plötzlich zu ertrinken, oder so etwas Ähnliches. Diese Sorge war seit dem letzten Hochwasser noch gestiegen. Zumindest in Sodachita, die sich allerdinds ständig um irgendetwas zu sorgen schien, so dass Luna meistens gar nicht mehr zuhörte, sondern ihr einfach ihren Willen ließ.
Sie hörte schnelle Schritte hinter sich und wandte sich um. Lucario folgte ihr.
“Ich lass dich doch damit nicht allein” rief sie ihr grinsend zu.
“Wie meinst du das?”
“Was denkst du, wie wird Sodachita reagieren, wenn sie von deinem Plan hört?”
Luna verlangsamte und blieb stehen.
“Oh.”
“Genau das meine ich. Wie wollen wir es ihr beibringen?”
“Äh. Vielleicht macht sie sich weniger Sorgen, wenn ich schwimmen kann.”
Lucario sah sie an.
“Du hast Recht. Sie hört nie auf, sich Sorgen zu machen.”
“Sie könnte mitkommen.”
“Nein. Das wäre zu gefährlich. Sie ist ein, äh, glitzerndes Pokémon oder so. Die Menschen würden ihr keine Ruhe lassen.”
“Du meinst schillernd.” Luna nickte, sagte jedoch nichts. “Du könntest sie auch fangen, wie mich.”
Luna lachte freudlos. “Und was soll ich ihr deiner Meinung nach sagen? ‘Auch, Sodachita, ich will demnächst eine weite Reise machen, du kannst gerne mitkommen, aber dann muss ich dich in einen kleinen Ball sperren’?”
Lucario lächtelte. “So in etwa. Vielleicht solltest du noch etwas an der Vormulierung arbeiten, aber so im Großen und Ganzen hatte ich mir das vorgestellt. Jetzt sollten wir uns noch eine Ausrede für dich einfallen lassen, warum du zu spät kommst.”
“Verschlafen?”
“Nein, die nehmen wir zu oft. Außerdem ist es bald Mittag. Nicht einmal du kannst so gründlich verschlafen. Und vergiss nicht, dass uns Igastarnish, Zigzachs und so ziemlich jedes Pokémon zwischen deiner Höhle und der Lichtung eben verpetzen könnten.”
Luna seufzte und ließ sich auf einen moosbewachsenen Baumstumpf sinken. “Das würden sie nicht tun. Außer … vielleicht hat sie ja schon mit einem von ihnen gesprochen. Du hast Recht, das geht nicht. Wie wäre es mit ‘Lucario wollte mir noch etwas zeigen, das hat länger gedauert als geplant, können wir jetzt bitte mit schwimmen anfangen’.”
“Ja, schnelle Ablenkung könnte funktionieren.”
Wieder nickte Luna nur und lief wieder los, wärend sie sich innerlich die Ausrede zurechtlegte.
Dann waren sie auch schon am Fluss angekommen. Die Mittagssonne schien durch die Blätter der großen Bäume am Ufer und besprenkelten die Landschaft mit goldenen Lichtflecken. Luna staunte wieder einmal darüber, wie hoch die Bäume direkt am Fluss wurden. Sie fröstelte leicht, als sie den Fuß ins kühle Wasser streckte. Es mochte ja schon Sommer sein, aber die Temperaturen im ständigen Waldschatten waren noch nicht so weit angestiegen, dass sie den Drang verspürt hätte da reinzuspringen.
“Sodachita!” rief sie laut. “Hier bin ich!”
Ein violetter Kopf tauchte aus dem glitzernden Wasser auf und schüttelte sich die Nässe aus den Augen. “Luna! Endlich! Ich bin so froh dass es dir gutgeht. Wie hast du geschlafen? Hast du heute schon etwas gegessen? Du bist wirklich viel zu dünn. Und getrunken? Du weißt, dass du im Sommer sehr viel trinken musst. Was hat dich aufgehalten? Ist alles in Ordnung?”
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf das Gesicht des jungen Mädchens und wurde gleich wieder unterdrückt, um einer zerknirschten, entschuldigenden Miene Platz zu machen. Man musste dieses unendlich nervige Geschöpf einfach lieben, dachte sie bei sich, als sie zu einer Antwort ansetzte. Umsonst, wie sich herausstellte.
“Das war meine Schuld, ich habe ihr keine Ruhe gelassen, weil ich ihre Hilfe beim Beerensammeln gebraucht habe. Ach, wenn ich doch nur geahnt hätte, dass dies der wichtigste Tag in Lunas Leben ist! Und ich wollte ihr nicht zuhören, als sie mir erklären wollte, dass sie heute unmöglich zu spät kommen kann! Dass sie heute schwimmen lernt! Es tut mir so schrecklich leid. Wenn du es mir doch nur früher gesagt hättest, hätte ich noch rechzeitig eine Party organisieren können, aber so konnte ich leider nicht viel tun.” betrübt blickte Lucario zu Boden und schüttelte den Kopf.
Ihre Freundin unterdessen starrte sie an und überlegte nicht zum ersten Mal, woher sie ihr schauspielerisches Talent hatte.
Dann beeilte sie sich, ihren Gesichtsausdruck erneut an die Sachlage anzupassen. Mal sehen … Sie brauchte etwas vorwurfsvolles gegenüber ihrer Freundin, die gerade wirklich eine Glanzleistung hingelegt hatte, dann musste sie noch ein wenig hilflos aussehen, also könnte sie sich ja sowiso kaum Lucario widersetzen, die das übrigens echt klasse hinbekommen hatte, dann musste sie ganz schnell die Begeisterung über diese nahezu perfekte Nummer verstecken, die sich hoffentlich nicht allzu deutlich abgezeichnet hatte, und dann noch vielleicht eine Art versöhnliches Lächeln?
Diese Überlegungen hatten nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, und als sie meinte, es einigermaßen überzeugend hinbekommen zu haben, wandte sie sich wieder Sodachita zu, die sich allerdings nicht sonderlich um Lunas Gesicht kümmerte, sondern misstrauisch Lucario musterte, als überlege sie, ob sich das blaue Pokémon wohl über sie lustig machte - sie mochte ja viele positive Eigenschaften haben, aber ein Sinn für Ironie hatte noch nie dazugehört. Diese eingehende Musterung half ihr allerdings nicht sehr, die die Mimik von Lucarios im Allgemeinen eher recht nichtssagend ist. Lunas Freundin war also quasi mit einem Pokerface zur Welt gekommen.
Daher musste Sodachita recht schnell aufgeben und wandte sich wieder an Luna. “Komm mit, weiter oben am Ufer gibt es einen kleinen Teich, der noch von der letzten Überschwemmung übrig ist. Hier ist die Strömung viel zu gefährlich, dir könnte ja sonst was passieren!”
“Ja, Sodachita”
“Jetzt sieh dich doch mal an, du bist ja total zerkratzt. Du solltest wirklich besser auf sie achtgeben, Lucario”
“Ja, Sodachita”
Der sogenannte “Teich” entpuppte sich rasch als eine Art große Pfütze, an der tiefsten Stelle vielleicht 20 cm tief.
“Ich bin mir ja absolut sicher, dass du alles gut durchdacht hast” begann Lucario langsam, die die ganze Zeit an Lunas Seite geblieben war, “aber mein kleines Hirn schafft es irgendwie nicht ganz zu begreifen, wie man schwimmen lernen soll, ohne wirklich im Wasser zu sein, wenn du verstehst, was ich meine”
Sie erntete einen bösen Blick.
“Das ist sicherer so” behauptete Sodachita eingeschnappt.
Luna seufzte - wenn auch sehr leise. Das würde ein sehr langer Tag werden.