Kapitel 3: Erste Hürden
"Gut so! Und jetzt Feuerfeger!", rief Wes seinem Pokemon begeistert zu. Persephone stieß einen Kampfschrei aus. Das Lohgock sprang vor, während Flammen um ihre breiten Füße aufloderten. Sie trat ihrem Trainingspartner Zeus beherzt in die Flanke, sodass das Luxtra brüllend zu Boden fiel. Zeus war zu stolz um aufzugeben, doch er brauchte lange um wieder auf die Beine zu kommen und so entschied Wes, den Kampf zu beenden.
"Gute Arbeit. Beide ", kommentierte er zufrieden. Persephone strotzte wirklich nur so vor Kraft. Er würde sie in den ersten Kämpfen auf jeden Fall gut gebrauchen können. Lohgocks waren hervorragende Kämpfer und hatten von Natur aus einen regen Sportsgeist. Die Feuer-Kampfpokemon wurden um die zwei Meter hoch und hatten einen schlanken, humanoiden Körper. Der Kopf ähnelte eher dem eines Greifvogels, passend zu den Klauen, die an Stelle von Händen am Ende dünner Arme saßen. Die Beine waren von dunklem roten und gelben Gefieder bedeckt und proportional zum Rest des Körpers sehr breit. Dort lag die Stärke dieser Pokemon. Ihre Tritte waren eine nicht zu unterschätzende Waffe.
Wes hatte Persephone damals in Hoenn einem jungen Trainer abgekauft, der seine frische Karriere nach einer Niederlage in seinem ersten Arenakampf sofort wieder beendet hatte. Das damals eher ängstliche Flemli war über die Zeit zur wahren Amazone gereift und hatte letztlich nicht unerheblich dazu beigetragen, dass Wes es auf den dritten Platz in der Liga geschafft hatte. Der einzige Grund, dass er Persephone in letzter Zeit nicht mit in den Tartarus genommen hatte, war Cerberus. Das Hundemon war eigentlich immer seine erste Wahl und er wollte ungern zwei Feuerpokemon gleichzeitig verwenden. Und Cerberus war immerhin sein aller erstes eigenes Pokemon gewesen, klar, dass er ihn oftmals bevorzugte.
Während Wes sich an einen hölzernen Tisch in mitten der weitläufigen Wiese setzte, zog sich Zeus ein wenig von den anderen Pokemon zurück und legte sich so majestätisch wie möglich ins Gras. Der große grau-blaue Löwe konnte mit Niederlagen nicht gut umgehen. Schon gar nicht gegen die eigenen Teamkameraden. Wes ging eine Liste durch, die er sich gemacht hatte, um sein Training zu strukturieren. Zeus und Persephone waren die letzten beiden, die er heute hatte kämpfen lassen wollen. Zufrieden setzte er einen Haken an seine Notizen und gönnte sich einen Schluck kühlen Biers, das in der Frühlingssonne wirklich gut tat. Die letzten Wochen waren sehr konstruktiv gewesen, er fühlte sich fantastisch. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr ihm die akribische Arbeit mit all seinen Pokemon wirklich gefehlt hatte. Zu beschäftigt war er mit seinen Schulden und Sorgen gewesen. Nun wo er all seine Aufmerksamkeit dem Training widmete, fühlte er sich endlich wieder wie ein richtiger Trainer, der bereit war, die Welt im Sturm zu erobern.
In wenigen Tagen würde er in die Stadt zurückkehren und dann würde sich zeigen, was seine Mühen wert gewesen waren. Das Turnier im Orkus Kolosseum, für das ihn die Polizisten eingetragen hatten, würde bald mit den Qualifikationsrunden beginnen. Er war zuversichtlich es zumindest durch diese Vorausscheidung schaffen zu können. Es ging dabei doch eigentlich nur darum, die Spreu vom Weizen zu trennen, damit die Zuschauer nicht mit zu vielen Anfängern gelangweilt wurden. Wes blickte über seine Pokemon, die sich überall auf der Weide seiner Familie in verschiedenen Stadien der Entspannung herumtrieben. Ja, er war bereit. Sie waren bereit. Seine Augen schweiften weiter ab in Richtung einiger großer Felsbrocken, die am Rande des Geländes lagen. Kronos musste dort drüben sein, der Schatten der Steine gefiel ihm. So richtig in den Griff bekommen hatte Wes ihn bislang nicht und noch immer blieb er lieber von den anderen Pokemon fern. Das Training mit ihm war ein kaum zu bewältigender Kraftakt, da sich außer seinem Brutalanda Athene und Persephone niemand von seinen Pokemon mehr traute gegen Kronos zu kämpfen. Persephone trat noch immer an, weil sie jeden Kampf annahm und Athene liebte ihren Trainer so abgöttisch, dass sie sich für ihn auch mit den wildesten Pokemon anlegte.
Leicht lächelnd blickte Wes zu der großen blauen Drachendame, die in der Abenddämmerung döste. Unter einer ihrer roten Schwingen schaute Cerberus' Schnauze hervor, der den Schatten wohl nur zu gerne nutzte. In dieser Idylle konnte man leicht melancholisch werden. Fast wünschte er sich, er könnte noch ein paar weitere Wochen hier bleiben. Er musste über sich selbst lachen. In seinem Kopf klang er beinahe wie ein dummes Kind, das sich weigerte der harten Realität der Welt dort draußen ins Gesicht zu blicken.
Das Kolosseum Orkus war ein gigantisches Bauwerk. Wes musste den Kopf weit in den Nacken legen um über den Rand des Stadions hinaus blicken zu können. Als Jugendlicher war er einige Male mit seinem Onkel hierher in die Stadt gekommen, um im Kolosseum den Kämpfen zuzusehen. Nun würde er also endlich selber antreten.
Zugegebenermaßen, hatte er das Kolosseum etwas sauberer und irgendwie strahlender in Erinnerung gehabt, aber das mochte die jugendliche Begeisterung gewesen sein, die seinen Eindruck beschönigt hatte. Es handelte sich um ein ovalförmiges Gebäude mit steilen betongrauen Wänden. An deren Innenseite, so wusste Wes, waren stufenartige Tribünen mit Platz für wahre Menschenmassen. Das Stadion war wie ein antikes Amphitheater gebaut. Was ihm fehlte war die Eleganz jener Architektur. Das Kolosseum Orkus war zweckorientiert und man hatte auf Verzierungen verzichtet. Für schöne Arenen musste man schon nach Phenac.
Wes wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Cerberus zu seinen Füßen zu knurren begann. Der Rüde fletschte seine Zähne in Richtung einer jungen Frau, die es gewagt hatte sich seinem Trainer zu nähern. Mit Blick auf das Feuerpokemon hielt sie inne und blickte eher erstaunt als erschrocken.
Sie mochte etwas älter als Wes sein, aber der Eindruck entstand vielleicht nur wegen ihrer Aufmachung. Sie hatte ihr weißes Hemd in ihren engen schwarzen Rock gesteckt und trug darüber eine teuer aussehende dunkle Jacke. Ihr braunes Haar hatte sie zu einem festen Knoten gebunden, der ihr nicht wirklich gut stand. Mit ihrer dezenten Schminke unterstrich sie ihr professionelles Auftreten zusätzlich zu einer elegant aussehenden Handtasche, die sie in einer Hand baumeln ließ. Auf den ersten Blick war sich Wes nicht sicher, ob sie hübsch war oder nicht. Die Art wie sie lächelte machte ihn stutzig. Sie schien zu glauben, er habe sie erwartet.
"Kann ich ... dir irgendwie helfen?" fragte er. Von seiner Zeit im Tartarus hatte er sich angewöhnt nahezu jeden erst einmal zu duzten. Darüber dachte er schon gar nicht mehr groß nach.
Das Lächeln der Fremden wurde fröhlicher und sie schritt näher, den grummelnden Cerberus einfach ignorierend.
"Finde ich echt super, dass wir direkt beim "Du" anfangen können. Man muss ja nicht immer so steif sein!" Sie sah ehrlich gesagt so aus, als ob sie generell selbst der etwas steifere Typ wäre. Ihre Stimme war hoch und nervte Wes auf der Stelle. Und was sie gesagte hatte, war etwas verwirrend.
"Wollen wir dann mal rein gehen, ein paar Sachen musst du wohl noch anmelden."
Auffordernd winkte sie zum großen Tor, das den Eingang zum Kolosseum darstellte und durch das ab und zu einige Leute schritten. Wie immer bei Qualifikationsrunden war eher wenig Andrang auf den Rängen.
"Ähm, sollten wir uns kennen?" Cerberus gab seine Drohungen derweil auf, enttäuscht keine Beachtung zu finden, und suchte stattdessen mit geübtem Blick nach Kleinkindern unter den ankommenden Menschen, die er erschrecken konnte.
Die Frau klimperte verwundert ein paar Mal schnell mit den Wimpern und starrte Wes an, als hätte er sie beschimpft. Sie legte eine Hand auf seinen Oberarm, während sie mit der anderen auf sich deutete.
"Aber ... aber man hat dir doch wohl gesagt, dass du hier auf mich warten sollst?"
Als keine Reaktion kam, schien sie fast die Fassung zu verlieren und kramte hastig in ihrer Handtasche, während ihre Augen immer noch viel zu schnell auf und zu schlugen. Sie fand eine Visitenkarte und patschte sie dem verdutzten Wes in die Hand.
"Ich bin doch deine Managerin!" keuchte sie empört, was Wes dazu bewegte die Karte zu lesen.
Vanessa Lynch
Individuelles Karrieremanagement
Darunter stand etwas von einer Firma namens "Brook und Partner" und einige Telefonnummern und Emailadressen. Verständnislos drehte Wes die Karte in der Hand.
"Was soll ich mit einer Managerin?"
Die Frau namens Vanessa presste den Daumen und zwei abgespreizte Finger gegen ihre Stirn und schloss die Augen. Sie schüttelte langsam den Kopf und murmelte dann leise: "Das ist jetzt nicht wahr. Das kann nicht wahr sein."
Unterdessen entfernte sich Cerberus unauffällig um einige Ratzfratz zu jagen, die sich an einer Mülltonne zu schaffen gemacht hatten. Er hatte wohl keine Kinder gefunden. Wes folgte ihm nur aus den Augenwinkeln und wartete darauf, dass die Dame sich erklärte. Frau Lynch beendete ihr Gemurmel nun. Resigniert blickte sie auf.
"Also. Entweder man hat Sie ... dich nicht informiert oder ... oder ..." sie schien nach weiteren möglichen Erklärungen zu suchen. Wes beschlich das ungute Gefühl, dass diese Situation seine Schuld war. Die Polizisten hatten ihm so viel erzählt, so viele Kontakte gegeben und einfach nicht aufgehört zu reden. Und dieses "briefing", wie sie es genannt hatten, lag immerhin schon fast einen Monat zurück. Er hatte nicht wirklich aufgepasst und sich kaum etwas davon wirklich behalten. Warum auch? Schließlich wollte er nicht wirklich sein Leben aufs Spiel setzen und eine ominöse Verbrecherbande ausspionieren. Es konnte gut sein, dass man ihm zwischen der tausendsten Erklärung vorsichtig zu sein und der Ermahnung sich nicht zu leicht "rekrutieren" zu lassen, um keinen Verdacht zu erregen, vielleicht auch gesagt hatte, dass er diese Frau hier zu erwarten hatte.
"Also, ja ... da scheint es ein Missverständnis zu geben, " versuchte er den Verdacht von sich fern zu halten und setzte eine Unschuldsmiene auf. Scheinbar erleichtert, dass er sie nicht länger wie eine Verrückte ansah, lächelte die Frau nun wieder. Fast fröhlich meinte sie:
"Naja, das muss uns ja nicht in die Quere kommen, oder? Also? Gehen wir dich mal zu Ende anmelden!" Ohne auf seine Reaktion zu warten, schob sie ihn mit sanfter Gewalt in Richtung des Eingangs zum Kolosseum. Cerberus wurde zu dessen Missfallen in seinen Pokeball verfrachtet.
Es sah genauso aus, wie Wes es in Erinnerung hatte. Der Eingangsbereich war schlicht aber sauber. Hier und da hatte man eine kleine Palme in einem Topf auf den braun gefliesten Boden gestellt, in dem Versuch dem ganzen etwas optischen Reiz zu verschaffen. Insgesamt hätte man auch meinen können, man wäre gerade in ein etwas weniger protziges Opernhaus eingetreten. Wes wurde in einen Bereich gedrängt, den er freilich noch nicht kannte. An einer langen Theke saßen mehrere Männer und Frauen in hellblauen Hemden, welche die Anmeldungen wohl abfertigten. Auf dem Weg dorthin überflutete Vanessa Wes mit einem wahren Schwall an Worten.
"Natürlich wollen deine Sponsoren, dass du ein ordentlichen Management hast. Heutzutage muss ja so viel beachten werden und das soll dich ja nicht vom Wesentlichen abhalten. Du sorgst dafür, dass du viele Siege einfährst, ich sorge dafür, dass du berühmt wirst. Die Leute wissen ja oft gar nicht, wie viel Arbeit und Kalkül hinter den Stars steckt."
Wes wusste das zugegeben maßen wirklich nicht und konnte sich auch nicht recht vorstellen, was seine Managerin denn genau für ihn tun würde. Er war sich sicher, dass er das nur allzu bald herausfinden würde. Da sie aber gerade von Stars sprach, fiel sein Blick auf eine ältere Frau, die gerade in Begleitung einiger Männer in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen die Theke verließ, auf die Wes und Vanessa zusteuerten. Sie hatte sehr kurzes graues Haar und ein hartes, kantiges Gesicht. Ein Gesicht, dass Wes sofort als das von Odelia Bosch erkannte, amtierende Vize-Meisterin der Orre Landesmeisterschaft und eine der Favoriten auf den diesjährigen Titel. Wes sah ihr hinterher, wie sie mit ihrer Leibgarde das Kolosseum wieder verließ. Grob unterbrach er Vanessa in ihren Erklärungen.
"Hast du das gesehen? Das war Odelia Bosch! Was macht die denn hier? Sag mir nicht, die macht hier mit!"
Etwas überrascht blickte auch Vanessa nun zu der Eingangstür.
"Ja, auch Superstars müssen sich vorher anmelden. Aber ihre Wertung ist so hoch, dass sie an der Qualifikation natürlich nicht teilnehmen muss."
Wes nickte. Das ergab Sinn. Natürlich traten auch die ganz großen und berühmten Trainer in Turnieren wie diesen an. Das war es ja, was sie so bekannt und erfolgreich gemacht hatte. Außerdem mussten sie Punkte einfahren, um sich für die Endrunde der Landesmeisterschaft zu qualifizieren.
"Das heißt also, ich kann das Turnier hier eigentlich schon knicken?", seufzte er.
Energisch schüttelte Vanessa den Kopf und hob mahnend den Zeigefinger.
"So fangen wir hier gar nicht erst an. Positiv bleiben, wenn ich bitten darf."
Wes fand es etwas albern, wie sie ihn da belehrte. Es war fast wie eine Kindergärtnerin, die einem entmutigten Kind erzählte, dass Dabei-sein alles sei. Natürlich musste er für den Anfang nicht gleich jedes Turnier gewinnen. Erstmal musste er sich rein arbeiten. Aber zu wissen, dass eine der besten Trainerinnen der Welt teilnahm, raubte ihm doch etwas die Euphorie. Bosch war kontrovers, da sie so kalt und hart rüberkam und ihr Kampfstil absolut klinisch war. Doch konnte keiner ihre Klasse bestreiten. Gerade dieses Jahr setzten viele in Orre große Stücke auf sie, da sie das Land im internationalen Wettbewerb vertrat. Sie war einer der wenigen Faktoren, die die Leute dieses Landes zumindest ein bisschen vereinen konnte. Orre war traditionell schon immer ein Land für Einwanderer gewesen. Eine wirklich dominante Kultur gab es schon lange nicht mehr und alles war ein buntes Durcheinander aus Nachkommen von Migranten, neuen Migranten und allerlei Mixturen. Doch wenn Odelia Bosch oder einer der anderen großen Trainer das Land im Wettkampf mit anderen Ländern vertrat, dann gab es plötzlich Nationalismus in Orre. Verrückt eigentlich.
"Odelia Bosch ist ein hervorragendes Beispiel für gutes Karrieremanagement" , unterbrach Vanessa seine Gedanken. "Ihr Image als kalte, harte Strategin ohne Herz ... das ist alles geplant und so gewollt. Sie polarisiert, die Leute sprechen über sie. Nicht nur ihre Fähigkeiten heben sich von den anderen ab, sondern auch ihr Auftreten. Und das macht es einfach sie erfolgreich zu vermarkten." Sie sah ihn weit enthusiastischer an, als Wes selbst sich fühlte. Immerhin waren ihre Erklärungen hilfreich. Vanessa schob ihn nun zu der Theke, wo gerade ein junger Mann frei geworden war und mit professionellem Lächeln die nächste Anmeldung erwartete.
"Dich machen wir auch so berühmt, wart's nur ab!"
Unter all der Begeisterung Vanessas spürte Wes Unsicherheit. Etwas sagte ihm, dass dieses Getue nur ein Mittel war, um ihre eigene Nervosität zu überspielen. Er sollte sie bei Gelegenheit fragen, wie viele Klienten sie denn schon erfolgreich betreut hatte.
Nun reichte er dem Mann an der Theke seinen Ausweis und die sechs Pokebälle, die er mit sich führte. Ihm wurde erklärt, dass nur diese sechs vorher angemeldeten Pokemon in der Qualifikation verwendet werden durften und dass es insgesamt drei Kämpfe nach dem Prinzip "best of three" für ihn geben würde. Wes nickte. Das hatte er natürlich schon vorher gewusst.
Als die Registrierung seiner Pokemon vollendet war, trat er zurück und sah für einen Moment seine Überlegungen bestätigt. In den Augen seiner Managerin hatte kurz etwas unsicheres gelegen, wie sie dort stand und sich nervös umsah. Wes seufzte innerlich. Es war doch eigentlich egal, ob sie etwas taugte oder nicht. Er brauchte keine Managerin, das war alles eine Farce. Es gab nur ihn und seine Pokemon. Das war alles, was zählte.
Es war seltsam auf dem Kampfplatz zu stehen. Er hatte dieses Feld früher bloß von der Tribüne aus gesehen und nun stand er selbst hier. Der Boden war von einem saftig grünen Gras bedeckt, der blaue Himmel war wolkenfrei. Es war ein komplett anderes Gefühl hier als im Tartarus. Freier, schöner. Wes musste über sich selbst lachen. So was war ihm doch eigentlich komplett egal. Er sah zu den beinahe leeren Rängen, von wo aus einige wenige Gruppen an Zuschauern auf das in drei Teile geteilte Kampffeld blickten. Die Aufteilung war für die Qualifikation notwendig, um mehrere Partien zugleich austragen zu können. Jeder Platz hatte einen eigenen Schiedsrichter. Wes schenkte dem seinen, einer dünnen Frau mit grell gelber Uniform, kaum Beachtung. Letztlich sollten diese Leute bloß entscheiden, wann ein Pokemon verloren hatte, das wars doch.
Sein Gegner schien weitaus nervöser zu sein als Wes selbst und er schloss daraus, dass der junge Mann ebenfalls zum ersten Mal hier teilnahm. Wes rechnete sich durch seine Erfahrungen im Tartarus einen Vorteil aus. Die Schiedsrichterin gab ein Signal und ein Kribbeln erfüllte Wes. Es ging los! Der erste Kampf in einem echten Kolosseum!
Zwei Pokebälle schwirrten durch die Morgenluft und gaben die Kämpfer frei, für die sich die Kontrahenten entschieden hatten. Wes hatte Ares gewählt. Das Nidoking streckte seinen violetten, dinausaurierartigen Körper und Wes stellte zufrieden fest, dass die Speckschicht gewichen war und den Blick auf die harten Muskeln des Giftpokemons frei gegebenen hatte. Ares' Kontrahent war ein Impoleon. Das Wasserpokemon war ein großer blauer Kaiserpinguin, auf dessen Kopf eine drei zackige Krone saß. Ohne Umschweife gab die Schiedsrichterin die Partie frei und schon stürmte Ares auf Impoleon zu. Wes war bewusst, dass beide Seiten einen Typenvorteil hatten, denn Nidoking war ebenfalls ein Bodenpokemon, während Impoleons zweiter Typ Stahl war. Das konnte interessant werden.
"Doppelkick!", rief Wes, woraufhin Ares brüllend hochsprang und mit gestreckten Beinen auf seinen Gegner niederfuhr. Impoleon hob schützend seine Flossen und Ares prallte wütend ab. Die Flossen waren stahlhart und taugten scheinbar hervorragend als Schilder. Impoleon wirbelte um die eigene Achse und rasch bildete sich ein Strudel aus wirbelndem Wasser um das Pokemon. Die Attacke Whirlpool rauschte auf Ares zu und erfasste das Nidoking. Ares brüllte auf, als er umhergeschleudert wurde und schließlich klatschnass auf dem Boden aufschlug. Wütend stemmte er sich wieder auf seine massigen Hinterbeine und spielte drohend mit den Muskeln. Ares war leider ein wenig ungestüm und ließ sich leicht reizen. Wes musste erst einmal austesten, was dieses Impoleon so drauf hatte, bevor er Ares wieder losstürmen lassen würde. Ein Fernangriff hatte jetzt mehr Sinn.
"Los, Erdbeben!"
Ares stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab und sein massiger Körper landete wieder auf dem Kampffeld. Ein mächtiges Beben zuckte durch die Erde und die Erde zu Impoleons Füßen riss splitternd auf. Die Wucht des Bebens riss das Wasserpokemon von den Beinen, sodass es rücklings umfiel und mit einer Flosse in einer der entstandenen Erdspalten stecken blieb. Das war die Chance!
Ares verkürzte von einem tiefen Kampfschrei begleitet die Distanz zwischen den Kontrahenten und begann eine Folge mächtiger Hiebe, Tritte und Schläge mit seinem Schweif auf den Gegner niederprasseln zu lassen. Impoleon hatte alle Mühe sich wieder zu befreien und die wütenden Angriffe mit seiner freien Flosse abzuwehren. Der Trainer des Wasserpokemons rief einen Befehl, woraufhin Impoleons Flossen hell grau aufleuchteten und beherzt zum Gegenangriff ansetzte. Das sah stark nach Stahlflügel aus.
"Ares, zieh dich ein Stück zurück", befahl Wes hastig, doch sein Pokemon war in einen wahren Rausch verfallen und setzte die Fuchtler-Attacke unbeirrt fort. Das Impoleon steckte die Angriffe ohne die Miene zu verziehen ein und hieb dem Nidoking schwungvoll seine stählernen Flossen ins Gesicht. Ein roter Striemen zog sich nun quer über Ares' Stirn. Wes' Pokemon brüllte und tobte in Raserei. Impoleon nutzte die blinde Wut seines Gegners und brachte rasch ein wenig Distanz zwischen die beiden Kämpfer. Dann öffnete es seinen Schnabel und stieß einen harten Wasserstrahl aus, den Wes als Hydropumpe erkannte.
"Schaufler, schnell!"
Ares hörte seinen Trainer konnte jedoch nicht schnell genug reagieren. Die gegnerische Attacke traf ihn mit voller Wucht und katapultierte ihn quer über den Kampfplatz, wo er direkt neben Wes aufschlug. Zitternd versuchte er sich wieder aufzurichten, doch sein Körper war geschlagen, wo sein Geist noch weiter kämpfen wollte. Schließlich sank Ares erschöpft in sich zusammen.
"Nidoking kann nicht mehr weiterkämpfen, Impoleon ist der Sieger!" , verkündete die Schiedsrichterin. Auf der anderen Seite des Platzes verfiel der junge Mann in Freundenschreie, während Wes kopfschüttelnd den Pokeball hob.
"Das war enttäuschend, Ares. Wenn ich dir einen Befehl gebe, hast du zu gehorchen."
In einem roten Strahl verschwand das geschlagene Nidoking in seiner Behausung. Wes' Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Das war eine dumme, vermeidbare Niederlage gewesen. Wenn Ares bloß nicht so dickköpfig wäre! Das musste er ihm wohl oder übel noch austreiben, obgleich er das seit Jahren versuchte. Auch Impoleon wurde zurückgezogen. Die Kampfrichterin bedeutete den Kontrahenten, sich für Runde zwei bereit zu machen. Wes überlegte, wen er einsetzen sollte. Dieser zweite Kampf musste gewonnen werden, sonst ging der Gesamtsieg automatisch an seinen Gegner. Er musste auf jeden Fall eines seiner stärksten Pokemon verwenden. Entschlossen griff er nach Persephones Pokeball und schickte das Lohgock in den Kampf.
Flammen loderten an dessen Handgelenken, als es in freudiger Erwartung in Stellung ging. Aus dem Pokeball des anderen Trainers materialisierte sich ein blauer Drache, der aufrecht auf den Hinterbeinen stehend vielleicht ein-einhalb Meter hoch sein mochte. Seinem Spitzen Kopf waren seitlich zwei ovale Gebilde, die seine Ohren sein mochten. An seinen Unterarmen saßen sichelartige Auswüchse. Wes hatte so ein Pokemon noch nie gesehen, doch er ahnte, dass es sich um Knarksel, die Vorstufe von Knakrack handelte musste. Es sah letzterem einfach sehr ähnlich. Wahrscheinlich war es demnach ebenfalls vom Doppeltypen Drache und Boden und beherrschte ähnliche Attacken, je nachdem nah es an einer Entwicklung war. Persephone sollte dennoch mit ihm klar kommen.
Das Zeichen zu Beginnen wurde gegeben. Wes befahl seinem Pokemon aus der Distanz mit einem Flammenwurf anzugreifen. Persephone spie einen langen Strahl Feuers in Richtung des Gegners aus, der seine Arme hob und die Flammen gegen die Sicheln an seinen Unterarmen prallen ließ. Die Wucht des Angriff schob es einige Meter über den Boden, doch als es die Arme wieder senkte, wirkte es recht unversehrt. Es schien, dass Wes' Gegner oft darauf setzte, Attacken mit den Armen abzuwehren. Gut zu wissen.
"Persephone, setzt Protzer ein", befahl Wes nun ruhig. Er wollte Knarksel kommen lassen und sehen, was sein Gegner vorhatte. Das Lohgock leuchtete rötlich auf, während es die Arme seitlich von sich streckte. Mit Protzer erhöhte sich sowohl der Angriff, als auch die Verteidigung, was bedeutete, dass Knarksel zum Handeln gezwungen wurde, wollte es seinen Gegner nicht ungestraft mit dieser Verstärkung davon kommen lassen.
Auf Befehl seines Trainers hin, reckte der Drache seine Klauen und begann nun ebenfalls zu leuchten, jedoch in einem matten blau. Drachentanz. Wes ballte die Faust. Gar nicht mal blöd. Damit wurde auch Knarksel stärker und gleichzeitig schneller. Es war zugleich die Nachricht seines Kontrahenten an ihn: Was du kannst, kann ich schon lange.
Wes war entschlossen ihm zu zeigen, dass dieses Knarksel mit seiner Persephone nie im Leben mithalten konnte. Er schickte das Lohgock in den Nahkampf. Das Feuerpokemon ballte die Klauen zu Fäusten und setzte zu einem kräftigen Hieb an. Knarksel brachte sich mit einem Satz nach hinten in Sicherheit. Der Geschwindigkeitsschub machte sich klar bemerkbar.
"Nachsetzen, lass nicht locker. Himmelhieb!", lauteten Wes's Anweisungen. Persephone hetzte ihrem Gegner mit großen Sprüngen nach. Bald schon konnte der Drache nicht mehr ausweichen und kassierte einen Schlag unter das Kinn, welcher es hoch in die Luft schleuderte. Mit einem kräftigen Satz sprang Persephone hinterher und deckte seinen Gegner noch im Fallen mit einer Folge von Hieben ein, bis Knarksel schließlich schreiend in das Gras fiel.
Persephone machte einen Salto rückwärts und brachte sich herausfordern wieder in Kampfstellung. Knarksel hingegen kam mit Mühe auf die Beine. Dessen Trainer rief einen Befehl. Das Drachenpokemon stürzte sich mit leuchtenden Klauen auf das Lohgock. Wes entschied sich, es auf die Konfrontation ankommen zu lassen. Auf seinen Befehl hin loderte Persephones gesamter Körper in grellen Flammen auf und sie sprintete in unglaublichem Tempo auf ihren Gegner zu. Mit vollem Körpereinsatz rammte sie Knarksel und stieß es brennend zu Boden. Kurz zuckten rote Blitze über den Körper des Lohgocks und Persephone verzog das Gesicht. Flammenblitz verletzte leider auch den Anwender. Doch Wes wusste, dass der Kampf an dieser Stelle sowieso gewonnen war. Zeit es zu beenden.
"Hitzekoller!"
Persephone ging erneut in einer Flamme auf, diesmal war es ein wahres Inferno, dass von ihr ausging. Sie stieß einen Kampfschrei aus, ließ das Feuer zu einem turmhohen Flammenmeer anwachsen und visierte das Knarksel am Boden an. Dann entfesselte sie diese brennende Hölle auf ihren Gegner. Noch bevor die Flammen den Drachen erreichen konnten, verschwand dieser in einem roten Strahl und wurde in den Pokeball in der Hand seines Trainers zurückgezogen.
Das Feuer fegte über die Leere hinweg und ließ keinen Grashalm übrig.
"Knarksel wurde aus dem Kampf genommen, Lohgock ist der Sieger!"
Triumphierend schrie Persephone auf, ließ Feuer um ihre Handgelenke lodern und boxte einige Male pfeilschnell in die Luft, sodass nur die Schlieren der Flammen zu sehen waren. Sie lebte einfach für den Kampf, wusste Wes.
"Sehr gute Arbeit, wie immer", waren seine Worte an das Feuerpokemon, als er es zurücknahm. Sein Kontrahent hatte einen entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht, als er den Pokeball seines Drachen verstaute. War es eine Panikreaktion gewesen, Karksel vor dem Hitzekoller zu bewahren?
Es stand Unentschieden und die Zeit kam für den entscheidenden Kampf. Wes hatte Zuversicht gewonnen. Der Sieg durch Impoleon war doch letztlich nicht auf dessen Trainer sondern auf Ares' Dickkopf zurückzuführen und dieser zweite Kampf war eine klare Angelegenheit gewesen. Es konnte keinen Zweifel geben, dass Wes der bessere war. Seine Hand fuhr zu den Pokebällen an der Innenseite seiner Lederjacke. Wer sollte die letzte Runde bestreiten? Seine Finger streiften den Pokeball von Kronos. Einen Moment lang zögerte Wes. Nein. Er würde Kronos lieber in einem anderen Kampf verwenden. Falls er Probleme machte, sollte es nicht ausgerechnet im ersten Kampf sein. Stattdessen schickte er schließlich Amphitrite auf das Feld. Das Starmie stellte sich kampfbereit auf und ließ wie üblich die hintere Reihe Zacken hin und her kreisen. Sein Kontrahent würde ein Kramshef sein. Die große Krähe, dessen aufgeplusterte weiße Brust sich von dem sonst dunklen Gefieder stark abhob, kreiste abwartend über seinem Trainer und krächzte in Erwartung des Kampfes. Der Typvorteil war also auf Seiten des Gegners, da Starmie teils ein Psychopokemon war und der Vogel dagegen ein Unlichttyp war. Kein Problem, Amphitrite beherrschte eine Menge Attacken, die auch diese Situation abdeckten. Impoleon, Knarksel und Kramshef ... ob der andere Trainer wohl aus Sinnoh kam? Die drei Pokemon die er verwendete waren zumindest typisch für diese Region. Wes war leider nie dort gewesen.
Als der Kampf begann, leuchteten die Schwingen des Kramshef in dunklem Violett und es ging auf Kollisionskurs. Wes befahl Amphitrite auszuweichen, worauf der Seestern kreisend durch die Luft wirbelte und die Krähe unter ihm hinweg fliegen ließ. Doch Kramshef war vorbereitet. Es wendete und griff postwendend erneut an. Amphitrite konnte so rasch nicht reagieren und musste einen heftigen Treffer einstecken. Wütend blitzte der Rubin in seiner Mitte, während sich Kramshef zum dritten Mal auf das Starmie stürzte. Es handelte sich sichtbar um den Angriff Nachthieb. Starmie durfte von solcherlei Attacken nicht zu oft getroffen werden, wusste Wes. Er wartete ab, bis Kramshef nah genug gekommen war, dann rief er "Donnerwelle, schnell!"
Amphitrite sonderte knisternde Wellen Stroms ab, denen die Krähe nicht entkommen konnte. Blitze zuckend über den Körper des Vogels und das Pokemon wurde langsamer. Sein Angriff wirkte mit einem Mal behäbig. Das Starmie kreiste rasch rotierend durch die Luft und rammte das Kramshef nun, bevor dieses einen Treffer landen konnte. Empört krächzend nahm das Unlichtpokemon mit einigen kräftigen Flügelschlägen Abstand. Wes grinste siegessicher. Amphitrite war ein sehr schnelles Pokemon und durch die Paralyse würde Kramshef es nun sehr schwer haben, einen erfolgreichen Angriff durchzuführen.
Um seinen Gegner aus der Reserve zu locken, ließ er Amphitrite mit Eisstrahl angreifen. Aus dem Rubin in der Mitte des Wasserpokemons schoss ein bläulicher Blitz, der die Luft um ihn herum gefrieren ließ. Der Strahl aus purer Kälte zwang Kramshef dazu in Bewegung zu bleiben und ein Ausweichmanöver nach dem anderen zu fliegen. Sowohl Wes als auch der andere Trainer wussten, dass früher oder später die Donnerwelle dazu führen würde, dass Kramshef nicht rechtzeitig reagieren konnte, sodass es unweigerlich getroffen werden würde. Das zwang Wes' Gegenüber zu handeln. Er befahl seinem Pokemon die mächtige Attacke Sturzflug. Kramshef leuchtete auf und schoss von strahlender Energie umschlossen auf das Starmie zu, während es noch immer dem Eisstrahl auswich.
"Halt dich bereit", wies Wes sein Pokemon an, welches seinen Trainer gut genug kannte, um zu wissen, was dieser nun befehlen würde. Als Kramshef nur noch wenige Meter entfernt war, ließ Wes Amphitrite angreifen. Das Starmie wurde von grellen Blitzen umgeben, die es mit rotierenden Zacken auf seinen Gegner abfeuerte. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug die Attacke Donner in dem Kramshef und schickte es zu Boden. Es schlitterte über das Feld und kam schließlich kurz vor Amphitrite zum erliegen. Es hatte sichtlich das Bewusstsein verloren.
"Perfekt", sagte Wes anerkennend zu dem Starmie. Amphitrite mochte im Gegensatz zu seinen anderen Pokemon oft emotionslos und abwesend wirken, doch war der Seestern sehr intelligent. Oft war ihm klar, was sein Trainer plante, sodass Wes nur wenige Befehle geben musste. Ein hervorragender Kämpfer.
Gelassen nahm er entgegen, wie er von der Schiedsrichterin zum Sieger erklärt wurde. Das war er nun, sein erster gewonnener Kampf in einem richtigen Kolosseum. Irgendwie fühlte es sich nicht so besonders an, wie er angenommen hatte. Vielleicht würde sich echte Begeisterung erst im tatsächlichen Turnier einstellen, schließlich war das hier bloß die Qualifikation.
Mit überlegender Miene schüttelte er dem niedergeschlagenen Verlierer die Hand. Irgendwie wirkte dieser wütend. Bevor sich Wes zur Gänze abwenden konnte, hörte er den Anderen sagen:
"Das mit dem Hitzekoller war absolut unnötig. Richtig miese Nummer."
Wes wandte sich mit gehobenen Augenbrauen um. Schlechter Verlierer?
"Was genau hat dem Herrn an seiner Niederlage nicht gepasst?", fragte er deshalb höhnisch. Im Augenwinkel nahm er war, dass die Schiedsrichterin auf die beiden zukam, wahrscheinlich um sie vom Platz zu bitten, damit der nächste Kampf stattfinden konnte.
Der junge Mann setzte eine finstere Miene auf.
"Mein Pokemon war doch am Ende, es gab doch echt keinen Grund da noch so eine Attacke zu befehlen. Es hätte sich verletzen können."
Wes war einigermaßen baff. Waren diese offiziellen Kämpfe am Ende voller Waschlappen?
"Werd' erwachsen", kommentierte er abschätzig und entfernte sich nun endgültig, bevor die Schiedsrichterin ihn wegjagen musste. Wenn die alle hier so drauf waren, dann würde es ein Kinderspiel werden sich zu qualifizieren. Grinsend schritt er zurück in die Katakomben des Kolosseums, wo ihn seine wütend aussehende Managerin mit verschränkten Armen erwartete. Wes seufzte. Was konnte er denn in so kurzer Zeit bereits verbrochen haben?