„Alle holen nun ihre Rucksäcke, packen ihre Jause ein und stellen sich draußen in einer Zweier-Reihe auf!“ Die Anweisungen des Psianas waren unmissverständlich direkt und gerade noch freundlich genug, sodass die junge Vorschul-Klasse nicht vor Angst erstarrte. Unter dieser autoritären Aufsicht traute sich niemand aus der Reihe zu tanzen, schon gar nicht Evoli! Evoli war nämlich froh, dass hin und wieder etwas Ordnung in das Chaos gebracht wurde, das die anderen Pokémon in die Runde brachten. Leider wurde sie nur zu gerne von ihren besten Freunden mit hineingezogen. Der heutige Tag war da keine Ausnahme. Der Schuldige: Pichu von nebenan. So gerne spielte sie mit ihm seit Kindheitstagen im Garten und erlebte Abenteuer, doch er zog das Unheil leider immer magisch an…
Die junge Truppe war erst seit fünf Minuten Richtung Wald unterwegs gewesen, schon begann Pichu von einer geheimen, verlassenen Hütte zu erzählen in der ein Schatz versteckt sein soll. Er war so begeistert, dass er schon zu hüpfen begann und seine Aufregung war irgendwie ansteckend. Plötzlich wurde Evoli neugierig. Eine Hütte mit einem Schatz? Das würde sie wahnsinnig gerne sehen, auch wenn es etwas gruselig klang. Pichu ließ sich in der Schlange zurückfallen – Evoli ebenfalls, weil sie schließlich in eine Zweier-Reihe gehen sollten. Bei einer leichten Biegung blieb er stehen und deutete in den Wald hinein. „Es ist nicht weit weg von hier, die Hütte ist gleich bei dem Bach habe ich gehört!“ – „Aber.. Psiana würde das bestimmt nicht erlauben!“ – „Nur ganz kurz, wir sind zurück bevor es jemand merkt, versprochen!“
Da Pichu bereits in den Wald losgehoppelt war und Evoli nicht allein Psiana erklären wollte, wieso er fehlte – und weil dieser Schatz so verlockend klang – folgte sie ihm in das Dickicht. Dickicht würde man es sonst nicht bezeichnen können, doch die kleinen Vorschul-Pokémon verschwanden auch zwischen noch so kurzem Gras schon bis zu den Ohren! Abseits des Weges drang deutlich weniger Licht durch das Blätterdach. Das Zwielicht verlieh den Ästen etwas Gespenstisches. Evoli folgte dem Pichu und seinen leicht glimmenden Wangen. Was wenn sie sich verliefen? Was wenn sie einem dieser wilden Pokémon begegneten? Pichu konnte schon ein bisschen kämpfen, aber keiner von ihnen könnte es mit einem größeren Gegner aufnehmen! Zum Glück wurde sie von diesen Gedanken schnell befreit. Pichu hielt an. „Wir müssen nur noch diese Böschung runterrutschen, dort muss sie sein. Ich hoffe es hat noch niemand den Schatz entdeckt!“ Seine Wangen leuchteten vor Begeisterung kurz heller – ein klares Zeichen, dass er noch recht wenig Kontrolle über seine Elektrizität hatte. Das Stirnrunzeln in Evolis Gesicht nahm er gar nicht wahr. So schnell konnte sie gar nicht schauen, da hoppste er schon den bewachsenen Abgang hinunter und schlitterte auf dem Hintern durch die Büsche, bis er nicht mehr zu sehen war. „Ohje was mach ich hier nur…“ sprach Evoli zu sich selbst, schloss die Augen und sprang ebenfalls…
Nach ein paar Metern wurde das Rutschen zu unkontrolliertem Kullern. Evoli verlor komplett die Orientierung und wurde von einem Busch zum nächsten gelenkt, bis sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich auf flachem Boden zum Stillstand kam. Ihr Fell war zerzaust und überall steckten Blätter und kleine Äste darin, die sie sogleich versuchte herauszuschütteln. „Sowas mach ich nie wieder!“ schimpfte sie und suchte die leuchtenden Wangen, doch von ihnen war keine Spur zu sehen. Evoli stand allein auf einem flachen erdigen Platz zwischen hohen Tannen. Vor ihr zog sich eine spitz zugebaute, hölzerne, alte Hütte hoch, die aussah, als wäre sie bereits Schauplatz von zahlreichen Gruselfilmen gewesen. Evolis Nackenfell stellte sich auf. „Wehe du versteckt dich, um mich wieder zu erschrecken…“ sagte Evoli mit leicht zittriger Stimme, doch sie wusste, das Pichu nicht so gemein war, um in so einer Situation so einen Scherz zu machen. Zögerlich ging sie ein paar Pfotenschritte auf die Hütte zu. Plötzlich tauchte ein Paar dreieckig-geformter Augen in einem Busch neben der Hütte auf, die ihr rot entgegenleuchteten. „Was tust du hier!“ zischte eine Stimme. „I..ich.. w..wollte nur… Sch..Schatz..“ stotterte Evoli und ging langsam wieder zurück. „MEIN SCHATZ! MEINER!“ kreischte die Stimmte. Spitze Zähne blitzten auf und das Pokémon dem sie gehörten zischte aus dem Busch heraus und stürzte sich auf Evoli. Im letzten Moment rollte sich Evoli zur Seite weg, um dem Angriff zu entgehen und brachte ein paar Meter zwischen sich und ihren Angreifer, den sie nun genauer erkennen konnte. Ein Rattfratz, jung aber trotzdem ein klein wenig größer als Evoli nahm sie wieder ins Visier. Es schnitt ihr den Fluchtweg ab und signalisierte deutlich, dass es zum Kampf bereit war.
Evoli legte nervös die Ohren an. Ein waschechter Kampf? Hier? Und ganz allein? Ihre Erfahrung beschränkte sich auf Balgereien mit Pichu, doch Kitzeln, Kneifen und Ohren-Ziehen konnte man nicht unbedingt als Kampferfahrung werten. Rattfratz setzte zum nächsten Tackle an. Wieder wich sie instinktiv aus und war plötzlich froh, dass sie zumindest diese Moves aus den Raufereien gelernt hatte. Leider schien genau das das Rattfratz zusätzlich zu verärgern. Als Evoli zurück zu den Büschen hastete um zu flüchten, bot sie sich leider als gutes Ziel an. Rattfratz traf den nächsten Tackle genau in die Seite von Evoli und warf sie zurück in die Mitte des kleinen Platzes. Sie schnaufte kurz und mühte sich wieder auf alle vier Pfoten hoch. Ans Entkommen war nicht mehr zu denken…
„Halte durch! Ich bin gleich da!“ die piepsende Stimme kam von oben und stammte von dem Pichu mit den leichtenden Wangen. Er dürfte nicht so weit runtergerutscht sein wie sie und versuchte nun an einer Steinwand zu ihr runterzuklettern. Die Tatsache, dass sie nicht mehr ganz allein war, ließ Evoli neuen Mut schöpfen. Ein bisschen musste sie noch durchhalten – und nur bei Durchhalten sollte es auch nicht bleiben. Rattfratz sah zu Pichu hoch und schien abgelenkt zu sein. Auch diese Situation kannte sie von den Spielkämpfen sehr gut! Der perfekte Zeitpunkt für einen Konter! Kurz schloss sie die Augen und stellte sich vor Energie zu sammeln, um einen Angriff vorzubereiten. Das Memmeon aus der Vorschulklasse hatte mal mit Evoli Zielübungen gemacht. Daran musste sie sich unbedingt erinnern! Sie öffnete die Augen, nahm Rattfratz genau ins Visier und schickte die sternförmige Energie auf den Weg. Der Sternschauer bestand zwar nur aus einem einzelnen Stern, doch dieser traf das Ziel genau auf dem Kopf. An den taumelnden Bewegungen war zu sehen, dass der Angriff Schaden verursacht hatte. Nicht genug, um Rattfratz in die Flucht zu schlagen. Wieder schnellte es vor in Evolis Richtung, wieder wich sie aus, doch ihr Gegner hatte aus den letzten Manövern gelernt und kam genau an ihrer Ausweichposition an, um dort seine Vorderzähne in Evolis Bein zu versenken. Die Zähne des jungen Rattfratz waren zum Glück kurz und noch ziemlich stumpf. Es blieb keine Wunde zurück, doch der Schmerz trieb ihr kurzfristig Tränen in die Augen. Mit einem Schweifschlag in sein Gesicht und einem Satz zurück befreite sich Evoli. Ihr Sternschauer war noch nicht stark genug. Ein gut platzierter Tackle könnte stattdessen vielleicht etwas bewirken. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Pichu bereits die Hälfte des Weges geschafft hat. Sie musste es also alleine probieren… nein! Sie WOLLTE es jetzt auch allein probieren!
Es war als wäre irgendwas in Evoli erwacht, das diesen Kampf führen wollte. Und sie wusste auch schon genau wie. Sie erinnerte sich an einen der Lieblingstricks von Pichu. Sie war auch flink und hatte es oft genug gesehen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Evoli stürmte los. Das Rattfratz, überrascht von der plötzlichen Angriffslust, machte sich bereit mit einem Angriff zu kontern, doch kurz bevor sie aufeinanderprallten, bremste Evoli so stark, dass Staub hochgewirbelt und direkt auf Rattfratz geschleudert wurde, das davon geblendet zurücktaumelte. Evoli rannte einen leichten Bogen um Geschwindigkeit aufzubauen und tackelte dann das Rattfratz so heftig von der Seite, dass es mehrere Meter zurückgeschleudert wurde und kurz liegen blieb. Wärme durchströmte den kleinen Körper von Evoli, als sie erkannte, dass sie diesen Kampf gewonnen hatte. Zu ihrer Überraschung richtete sich Rattfratz auf und warf ihr einen finsteren Blick zu, der sie zum Zittern brachte. War es etwa doch noch nicht zu Ende?
„Verschwinde von hier!“ die Stimme von Pichu war nun direkt neben ihr. Mit geballten Pfoten stand er da und begann zu knistern und zu funken, bis ein hellblauer Blitz in den Himmel stieß, der den ganzen Platz beleuchtete. Diese Warnung und die plötzliche Überzahl schienen dem Rattfratz schließlich zu genügen. Humpelnd zog es sich zurück und verschwand zwischen den Bäumen. Auch wenn es dabei alles andere als gefährlich aussah, war Evoli froh, dass es vorbei war. „Wahnsinn! Den hast du komplett fertig gemacht!“ rief Pichu begeistert. Evoli sah ihn verlegen an. Als sie erkannte, dass er nach dem Einsatz von Strom stark herumtaumelte, stellte sie sich neben ihn und bot an ihn zu stützen, was er auch dankbar annahm. „Wenn ich gewusst hätte, was du schon drauf hast… hey, ab sofort trainieren wir miteinander!“ Pichu war sichtlich begeistert. Evoli hingegen wusste noch nicht ganz, was sie davon halten sollte. Ihretwegen könnte es ruhig noch eine Weile beim Ohren-Ziehen bleiben. Immerhin waren sie doch noch nicht mal in der richtigen Pokémon Schule. „Und jetzt…“ setzte Pichu an „lass uns die Hütte erkunden!“ Er taumelte zur Hütte los. Sein Gang wirkte unnatürlich, was noch eigenartiger wurde, als er auf einmal zu schweben begann und plötzlich in der Luft mit den Pfoten ruderte, ohne dabei einen Zentimeter voranzukommen. Evoli erkannte die psychische Energie sofort, die Pichu umgab und drehte sich um. Psiana kam hinter ihnen näher. Die Augen leuchteten gefährlich durch den Einsatz der Psychokräfte. „Das werdet ihr ganz bestimmt nicht tun!“ Dieses Mal war in der Stimme eindeutig eine Drohung zu hören die die beiden nochmal kleiner werden ließ. „Mitkommen!“
Wenig später waren die drei bei der wartenden Truppe angekommen, wo bereits alle mit großen Augen und neugierigen Blicken auf sie warteten. Pichu blieb, weiterhin schwebend, in Psianas Gefangenschaft und musste in Reihe Eins weitergehen, bis sie den Picknick-Spielplatz im Wald erreicht hatten. Evoli war sich sicher, dass auf sie ebenso viel Ärger wartete und hatte bereits den Schweif schützend um sich geschlagen, als Psiana mit Pichu im Gepäck zu ihr kam, während sich der Rest der Klasse auf dem Feld verteilte. „Pichu hat mir bereits alles erzählt.“ Eröffnete sie mit strenger Stimme, sah dabei mit einem strengen Seitenblick zum kleinen Elektropokémon. „Das nächste Mal gibst du mir gleich Bescheid, statt jemandem in gefährliches Gelände zu folgen, um zu helfen, verstanden?“ Psiana machte Kehrt und ließ die beiden allein. „Was meinte sie? Was hast du erzählt?“ fragte Evoli. „Dass ich vom Weg abgekommen bin und abgerutscht bin und du nur helfen wollest, thihi“ Pichus Wangen wurden knallrot und Evoli war sich sicher, dass ihm bewusst war, dass Psiana ihn durchschaut hatte. Sie stupste dem Pichu dankbar in die Seite und er kicherte bloß. „Du bist so schlecht darin schuldbewusst zu spielen, weißt du das?“ sagte Evoli noch als Pichu bereits wieder aufgeregt zu sprechen begann. „Übrigens, jetzt wo du auch kämpfst, es soll einen wertvollen Edelstein geben, der in den Sümpfen versteckt ist. Er wird von einem Brutalanda bewacht, aber ich denke wenn wir uns gut abstimmen, können wir es besiegen. Wir brauchen auf jeden Fall Sternschauer und ich hab‘ auch einen neuen Trick gelernt! Morgen, wenn es dunkel ist…“ Evoli wusste, dass sie Pichu keinesfalls weiterreden lassen durfte. Ohne Vorwarnung stürzte sie sich auf ihn und begann ihn durchzukitzeln, bis statt Worte nur noch Lachen von ihm kam. Vor dem nächsten Abenteuer durfte es ruhig noch ein wenig bei Spielkämpfen bleiben!
~ Ende ~